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IM BANN DES RUDELS

Eine Novelle aus der Welt der Lions

KAPITEL 1

Er entdeckte sie im selben Augenblick, in dem sie aus dem Haus trat, auf der Veranda ihres Daddys hin und her tigerte und in den Wald blickte, der ihr Zuhause umgab. Seine Brüder hatten sie als »süß« und »irgendwie hübsch« beschrieben, ihm aber gleichzeitig befohlen, sich von ihr fernzuhalten, weil ihre großen Schwestern das gar nicht gerne gesehen hätten. Aber seine Brüder hatten sich geirrt. Sie war weder süß noch irgendwie hübsch.

Sie war atemberaubend.

Gegen seinen 1971er Plymouth GTX gelehnt, beobachtete Egbert Ray Smith – Eggie für sein Rudel und all jene aus dem United States Marine Corps, die über seine Existenz Bescheid wussten –, wie die Wölfin leise seufzte und die Augen verdrehte. Hin und wieder schüttelte sie auch den Kopf. Eggie wusste genau, warum. Sie tat es wegen all der Streitereien im Haus hinter ihr. All diese verdammten Streitereien. Wenn er gewusst hätte, was ihn zu Hause erwartete, dann wäre er überhaupt nicht zurückgekommen. Eggie hasste es ohnehin, wenn er zu etwas gezwungen wurde, das die Vollmenschen als »Ferien« bezeichneten, während seine Kollegen beim Militär von »Urlaub« sprachen. Er brauchte keine Ferien. Er wollte keine Ferien.

Er hatte das Glück, zu den ganz wenigen Leuten auf der Welt zu gehören, die ihren Job tatsächlich mochten, und sein Job war das Töten. Aber nicht einfach willkürliches Töten. Er war kein mordender Mistkerl. Nein, Eggie tötete für einen guten Zweck, um seine Artgenossen und andere Gattungen und Spezies zu beschützen, die er zwar nicht sonderlich mochte und die auch ihn nicht großartig kümmerten – aber er fand trotzdem, dass sie Schutz verdient hatten, genauso wie jeder andere, der sich in ein vollkommen anderes Wesen verwandeln konnte.

Eggie war gut im Töten. Manche würden wahrscheinlich sogar behaupten, es sei das Einzige, worin Eggie Ray Smith überhaupt gut war. Also, warum zwang man ihn dann, das Einzige sein zu lassen, was er gut konnte, nur »weil Eggie uns allmählich nervös macht«, wie seine Kollegen bei den Marines zugegeben hatten. Eggie verstand auch gar nicht, wie er das – angeblich – angestellt hatte. Er hatte nichts anderes getan als an jedem anderen Tag.

Aber weil seine gesamte Einheit – die Einheit ohne Namen und ohne Nummer, die nur jenen bekannt war, die sich Reißzähne und Krallen wachsen lassen konnten, wann immer sie es wollten – der Ansicht gewesen war, er bräuchte »eine Pause«, machte Eggie nun eben Pause.

Da er also in den kommenden ein, zwei Monaten nichts anderes zu tun hatte – je nachdem, wann seine Vorgesetzten ihn wieder benötigten –, war Eggie nach Hause zurückgekehrt.

Und bis vor drei Minuten war er noch davon überzeugt gewesen, dass es sich dabei um die dämlichste Entscheidung handelte, die er seit Langem getroffen hatte, unter anderem, weil seine Brüder so verzweifelt versuchten, sich ein Weibchen an Land zu ziehen. Für die meisten Wolfswandler bedeutete »ein Weibchen an Land ziehen« natürlich einfach, ihre Auserwählte zu verführen oder sie mit einem noch immer zappelnden Wapiti zu umwerben.

Zu dumm nur, dass die Smith-Männer nicht so waren wie die meisten Wolfswandler.

Keiner von Eggies Brüdern schien die Bedeutung der Worte »umwerben« oder »verführen« zu verstehen. Stattdessen stritten sie sich mit ihren Wölfinnen. Ununterbrochen. Mit Eggies beiden älteren Brüdern, Benjamin Ray und Frankie Ray, und mit seinem jüngsten Bruder, Nicky Ray, war es schon schlimm genug gewesen, vor allem, weil sich eine ihrer Frauen in eine echte Weitspuckerin verwandelte, wenn sie richtig wütend wurde.

Aber nichts übertraf Eggies jüngeren Bruder, Bubby Ray, und seine Dämonenwölfin aus der Hölle, Janie Mae Lewis. Sein Daddy mochte Janie Mae, weil sie genau die Art von Wölfin verkörperte, die er sich für all seine Söhne als Gefährtin wünschte: stark, selbstbewusst – von Natur aus ein Alphaweibchen. Aber gerade weil Daddy Janie Mae so gerne mochte, musste Bubba natürlich besonders schwierig sein. Er musste Spielchen spielen. Und was noch schlimmer war: Janie Mae reagierte darauf mit ihren eigenen Spielchen. Die beiden hatten sich zwar noch nicht einmal offiziell gepaart, hatten aber bereits zwei kleine gemeinsame Jungen. Außerdem war die Wölfin mit Bubbas drittem Kind schwanger, aber sie hatten sich trotzdem noch nirgendwo als Familie niedergelassen. Stattdessen pendelten sie zwischen den Territorien der Rudel in Smithtown, Tennessee, und Smithville, North Carolina, hin und her – und stritten sich dabei scheinbar die ganze Zeit.

Eggie verstand diese ganzen Streitereien nicht. Ehrlich gesagt, stritt er sich nie mit irgendwem. Das musste er nie. Er starrte diejenigen, die sich mit ihm streiten wollten, entweder so lange an, bis sie abzogen, oder er tötete sie einfach. Ein Dazwischen gab es nie, also was hatte diese ganze Zankerei für einen Sinn? Unglücklicherweise schien Bubba nicht dieselbe Philosophie zu verfolgen. Alles, was er mit Janie Mae tat, war streiten. Tatsächlich hatte Eggie kaum einen Fuß in das Haus seiner Eltern in Tennessee gesetzt, als ihn seine Brüder auch schon zurück in seinen Wagen verfrachtet hatten, bevor er sich im nächsten Moment auf dem Weg nach North Carolina befunden hatte. Und das war weiß Gott das Letzte gewesen, was er hatte tun wollen.

Bis zu dem Moment, als er sie sah.

Ja, sie war eindeutig die jüngste der Lewis-Schwestern. Die, von der keiner aus der Familie Lewis je gesprochen hatte, wenn Eggie in der Nähe gewesen war. Obwohl diese Schwester – seiner Meinung nach – viel hübscher war als die anderen vier. Sie hatte langes, glattes braunes Haar, das durch einen Mittelscheitel geteilt war und ihr süßes kleines Gesicht mit diesen großen braunen Augen und ziemlich prallen Lippen umrahmte. Außerdem verfügte sie – er konnte es nicht anders ausdrücken – über die niedlichsten Wangen aller Zeiten. Obwohl er sich nicht ganz sicher war, ob Wangen wirklich niedlich sein konnten. Genau wie beim Rest der Familie Lewis war ihre Nase lang und markant, aber sie selbst war kleiner als ihre Schwestern und kaum größer als einen Meter siebzig. Für ein Lewis-Weibchen war das ziemlich klein. Für ein Smith-Weibchen sogar geradezu winzig.

Eggie spielte mit dem Gedanken, zu ihr hinüber zu gehen und sich vorzustellen, wie Männer es eben taten, wenn sie eine hübsche Frau sahen, die sie gerne kennenlernen wollten. Aber dann fiel ihm wieder ein, wer er war. Er war Eggie Ray Smith, ein ausgebildeter Killer. Was sollte ein Mädchen wie sie mit einem Wolf wie ihm schon anfangen? Würde sie erwarten, dass er mit ihr plauderte? Ihr Blumen schenkte? Eine Herde Wapitis für sie erlegte? Außerdem hasste ihre komplette Familie ihn bereits aus Prinzip. Womit er sein Geld verdiente, galt unter anderen Gestaltwandlern nicht unbedingt als ehrenwert, obwohl es nötig war, damit sie alle in Sicherheit leben konnten.

Nein. Es war am besten, sich nicht mit hineinziehen zu lassen … in gar nichts. Es war am besten, wenn er genau dort blieb, wo er war. Hier. In seinem Auto. Und darauf wartete, dass das Gebrüll endlich ein Ende nahm, damit er sich ein Hotel in der Stadt suchen und ein bisschen schlafen konnte.

Weiter auf diese Frau auf der Veranda zu starren, war daher keine besonders gute Idee, weshalb er beschloss, stattdessen seine Füße zu betrachten. Bis er jemanden atmen hörte.

Und das war nicht er selbst.

Von all den Gelegenheiten, bei denen Darla Mae Lewis’ Chef sie für einen »Besuch« hätte nach Hause schicken können – einen Besuch, auf den er aus irgendeinem Grund bestanden hatte –, warum hatte es ausgerechnet diese sein müssen?

Ganz ehrlich, nur ein Chef mit eigenem Rudel konnte auf so etwas bestehen. Ein vollmenschlicher Chef hätte das weiß Gott niemals getan. Wenn es nach Letzteren ginge, dann würden sie ihren niederen Angestellten nie auch nur eine einzige Pause gönnen. Aber Darla arbeitete nicht für einen Vollmenschen. Nein, sie war die Souschefin in der Patisserie eines Van Holtz Steak House in San Francisco, und die Van-Holtz-Wölfe verstanden das Rudelleben. Was auch der Grund dafür war, dass ihr Boss – Küchenchef und Alphamännchen der Van Holtz’ in San Francisco – urplötzlich und völlig aus dem Blauen heraus darauf bestanden hatte, dass Darla sich ein wenig »Rudelzeit« gönnte. Etwas, das die meisten Wölfinnen, die aus irgendeinem Grund von ihrer Familie getrennt waren, durchaus genossen. Aber andererseits musste sich von denen auch keine mit diesen verfluchten Streitereien herumärgern!

Als Darla vor zwei Wochen ihren Vater angerufen hatte, waren nur er, Darlas Momma und ihre Brüder zu Hause gewesen. Ihre Schwestern hatten sich noch in Smithtown, Tennessee, aufgehalten und sich mit den unfassbar nervtötenden Smith-Brüdern herumgeschlagen. Also war Darla freudig quer durchs Land getrampt – was sie gerne tat, auch wenn sie ihren Eltern nicht unbedingt davon erzählte. Als sie jedoch ihr Zuhause in North Carolina erreicht hatte, waren ihre verfluchten Schwestern bereits wieder zurück gewesen und hatten mitten in einer ihrer verfluchten Streitereien gesteckt! Allerdings nicht miteinander, was Darla auch schon kaum aushalten konnte, sondern mit diesen verdammten Smith-Wölfen.

Und dabei handelte es sich noch nicht einmal um einen einzigen großen Streit, sondern um mehrere einzelne! Francine Mae, die Älteste, stritt sich mit ihrem Gefährten Benjamin Ray darüber, in welche Lewis’schen Familienangelegenheiten Benji seine große Smith-Nase hineinstecken konnte und in welche nicht. Roberta Mae und Frankie Ray waren damit beschäftigt, darüber zu debattieren, ob Robbies Rock lang genug war – anscheinend war er das nicht –, während Janette Mae und Nicky Ray über Nixon diskutierten. Über Nixon, ausgerechnet!

Aber schlimmer als all das war, was sich zwischen Janie Mae und Bubba Ray Smith abspielte. Die beiden führten nun schon seit Jahren eine On-off-Beziehung. Sie spielten alle möglichen Spielchen miteinander und versuchten, den jeweils anderen eifersüchtig zu machen. Als Janie mit ihrem ersten Sohn schwanger gewesen war, hatte praktisch die ganze Familie einen Seufzer der Erleichterung ausgestoßen, in der Annahme, dass die beiden damit endlich offiziell zu Gefährten werden und mit all dem Gezanke aufhören würden.

Unglücklicherweise war das jedoch nicht passiert. Stattdessen war das Gezanke nur noch schlimmer geworden. Viel schlimmer. Und jetzt, zwei Söhne später, während das dritte Kind unterwegs war, tingelte das Pärchen zwischen North Carolina und Tennessee hin und her, wobei einer für gewöhnlich dem anderen folgte, und hielt, um sich zu streiten, gelegentlich auf halber Strecke auf einem der Rastplätze an, die vermutlich etwas Besseres verdient hatten.

Sollte es wirklich so schwierig sein? Sollten Liebe und Fürsorglichkeit wirklich so lächerlich dumm und anstrengend sein? Darla glaubte das nicht. Genauso wenig wie ihre Freunde in San Francisco es glaubten – eine liebenswürdige Mischung aus Gestaltwandlern und Vollmenschen, die sie kennengelernt hatte, als sie mit achtzehn von zu Hause ausgezogen war, um ihr Praktikum in einem Van-Holtz-Restaurant in Baltimore anzutreten. Mein Gott, es war 1974! Wundervolle Dinge geschahen überall um sie herum. Die Zeiten änderten sich. Es gab so wunderbare Musik, und die Menschen begriffen allmählich, dass Kriege und Gewalt nicht die Antworten auf alle harten Fragen des Lebens darstellten. Jetzt war die Zeit zu reisen und die Welt zu erleben, und neue, interessante Menschen, Religionen und Spezies zu entdecken.

Aber Darlas Familie war in einer Welt gefangen, zu der Darla nicht mehr gehören wollte. Einer Welt, in der es nur darum ging, um seine Stellung im Rudel zu kämpfen. Im Gegensatz zu ihren Vollblut-Gegenstücken behielten Wolfswandler ihre Stellung nie ihr ganzes Leben lang. Sie wollten entweder immer mehr oder weniger oder etwas ganz anderes, aber niemals das, was sie bereits hatten. Und jeder mit ein paar Gehirnzellen konnte sehen, dass Janie das Alphaweibchen des Smith-Rudels werden wollte. Sie konnte und würde nichts weniger akzeptieren, selbst wenn das bedeutete, dass sie Bubbas Momma aus ihrer momentanen Position als Alphaweibchen vertreiben musste. Sicher, das war nun mal Janie Maes Art. Und Darlas restliche Schwestern gaben die perfekten Betaweibchen ab, obwohl sie älter waren. Sie würden dafür kämpfen, dass Janie bekam, was sie wollte, auch wenn das bedeutete, dass sie sich mit ihren eigenen Gefährten deswegen so richtig in die Haare kriegten.

Blieb nur die Frage, was Bubba Ray von alldem hielt. Da er in ein paar Jahren dreißig werden würde und ein Männchen war, wusste er nicht, was zur Hölle er wollte. Vor allem nicht, wenn es bedeutete, dass er vielleicht seine eigenen Eltern davonjagen musste. Aber wie das wahre Alphamännchen, das Bubba eines Tages höchstwahrscheinlich sein würde, würde er entscheiden, was er wollte, wenn er verdammt noch mal bereit dazu war. Etwas, worüber Janie Mae ganz und gar nicht glücklich war. Denn auch wenn sie heute, in diesem Moment, noch nicht unbedingt das Alphaweibchen sein musste, wollte sie doch gerne eine Garantie, dass es eines Tages passieren würde.

Deshalb gingen die Streitereien weiter. Und weiter. Und weiter.

Wenn Darla gewusst hätte, dass das passieren würde, so lange sie da war, dann hätte sie sich ihre Pause in einer der Kommunen gegönnt, von denen ihr eine ihrer Freundinnen erzählt hatte. Oder sie wäre nach Europa geflogen und noch einmal durch Frankreich getrampt. In Frankreich gab es weiß Gott eine ganze Welt aus edlem Gebäck, das Darla noch entdecken und erforschen konnte und deren Herstellung sie erlernen konnte. Aber sie war nicht in Frankreich, sie war hier.

Vielleicht konnte sie sich ja in ein oder zwei Tagen absetzen. Wieder verschwinden, nachdem sie ein bisschen Zeit mit ihren Eltern verbracht hatte, vor allem mit ihrem Daddy, der diese Streitereien genauso sehr hasste wie sie. Bis dahin musste sie sich jedoch damit zufriedengeben, sich einfach zu verziehen, wenn sich im Haus mal wieder dieser ganze unnötige Mist abspielte.

Darla sprang die Stufen hinunter und lief in den Wald. Sie war noch nicht weit gekommen, als sie den Geruch eines unbekannten Wolfes im Revier ihrer Eltern witterte, den der Wind zu ihr wehte.

Sie blieb stehen und drehte sich um. Darla schnupperte erneut in die Luft und rief: »Hallo?«

Ein Zweig knackte hinter ihr, und sie wirbelte herum und fuhr sofort die Reißzähne aus dem Zahnfleisch, als sie die Waffe sah, die auf sie gerichtet war. Der Mann, der die Waffe in der Hand hielt, blinzelte überrascht. Aber es dauerte nur einen kurzen Moment. Einen kurzen Moment der Verblüffung und Verwirrung beim Anblick der Reißzähne einer jungen Frau mitten im Nirgendwo. Dann zielte der Vollmenschen-Mann wieder mit seiner Waffe, und Darla fuhr ihre Krallen aus und machte ihren Körper für die Verwandlung und zum Angriff bereit – in der Hoffnung, dass ihr die Überraschung, wenn er sie in ihrer Wolfsgestalt sah, die wertvollen Sekunden bescheren würde, die sie brauchte, um ihm die Kehle herauszureißen.

Darlas Muskeln begannen zu zittern, bevor sie nur wenige Sekunden später absprang und sich mitten in der Luft verwandelte, während sie auf den Mann zuflog. Es knallte jedoch nie ein Schuss aus der Waffe. Der Wolf, den sie vorhin gewittert hatte, stand nun hinter dem Menschen. Die Hand, mit der dieser die Waffe hielt, war zerquetscht, und sein Genick war gebrochen.

Darla änderte ihre Flugrichtung, um den Wolf nicht zu verletzen, machte eine Rolle rückwärts und knallte mit ihrem Wolfskörper gegen einen großen Baum. Als sie auf dem Boden landete, blickte sie zu dem Wolfsmännchen hinauf. Obwohl sie ihn nicht persönlich kannte, wusste sie sofort, dass er ein Smith war. Normale Wölfe hatten weder so breite Schultern noch so dicke Hälse. Außerdem hatte er einen Vollbart und dunkles Haar, das bis zu seinen Schultern hinunter und über sein Gesicht hing, weswegen sie sich fragte, wie er überhaupt irgendetwas sehen konnte.

Er machte einen Schritt auf sie zu und seine Wolfsaugen funkelten zu ihr hinunter. Zumindest … nahm sie an, dass er sie anfunkelte. Es war schwer zu sagen.

Darla rappelte sich auf, aber der Smith-Wolf mit dem funkelnden Blick zog das größte Jagdmesser hervor, das sie jemals gesehen hatte. Todsicher, dass er ihr im nächsten Moment die Kehle aufschlitzen würde, weil er sie nach Smith-Maßstäben als Schwächling betrachtete, wich sie vor ihm zurück und drückte sich mit dem Rücken gegen den Baum.

Er tötete sie jedoch nicht, sondern drehte sich um, warf das Messer durch die Luft und spießte damit den Vollmenschen auf, der sich ihm von hinten genähert hatte.

Erst in dem Augenblick wurde Darla bewusst, dass der erste Vollmensch nicht allein gewesen war. Gott! Wie viele Vollmenschen trieben sich denn bitte in ihrer kleinen Stadt herum? Und wo war die städtische Polizei? Wo waren die anderen Smith- und Lewis-Wölfe? Die Bären? Die Löwen? Hingen denn alle nur noch in der Kneipe rum und betranken sich? Inwiefern war das bitteschön akzeptabel?

Aber was am allerwichtigsten war: Warum schienen ihr all diese Vollmenschen-Männer zu folgen? Ganz ehrlich, Darla wäre ernsthaft in Schwierigkeiten geraten, wenn dieser überdimensionierte Smith-Wolf nicht gewesen wäre, der aussah, als würde er niemals lächeln.

Der Wolf ging zu dem Vollmenschen hinüber, der mittlerweile auf die Knie gefallen war, alles Leben aus seinem Körper gewichen. Bevor seine Leiche zu Boden fiel, zog der Wolf sein Messer wieder aus dem Kopf des Menschen und schnappte sich die Waffe aus der Hand des anderen Mannes. Der Wolf hatte die Waffe gerade in den Bund seiner Jeans gesteckt, als der nächste Vollmensch angriff.

Darla hätte den Wolf gern vorgewarnt, aber das musste sie gar nicht. Er bewegte sich blitzschnell und zog ein zweites Jagdmesser aus einer Scheide an seinem dicken Oberschenkel. Er riss es nach oben, schnitt die Innenseite des Oberschenkels des Mannes auf, stellte sich dann vor ihn, kreuzte die Klingen und trennte dem Menschen beinahe den Kopf ab.

Wieder schaute der Wolf zu ihr hinunter und legte einen großen Zeigefinger an seine Lippen. »Schhh«, flüsterte er und verschwand im Wald.

Auch wenn Darla nichts sehen konnte, reichte ihr das, was sie hörte: die Laute sterbender Männer, als der Wolf einen nach dem anderen tötete. Etwas, das in Darla normalerweise blankes Entsetzen ausgelöst hätte. Sie war schließlich Pazifistin. Und trotzdem … war sie nicht entsetzt. Sie wusste nur nicht, warum.

Dann spürte sie etwas Klebriges unter ihrer Pfote. Sie lehnte sich nach unten und schnupperte daran. Blut. Ihr Blut.

Es musste passiert sein, als sie gegen den Baum geknallt war. Sie wusste zwar, dass sie hart dagegen geprallt war, aber sicher nicht so hart. Sie spielte mit dem Gedanken, nach ihrer Familie zu schreien. Zu heulen. Oder sogar nach dem Wolf zu rufen. Aber sie fühlte sich mit einem Mal ganz schwach und müde.

Vielleicht, wenn sie einfach nur für eine Weile die Augen zumachte 

Eggie erledigte den letzten Vollmenschen, indem er eine Hand auf den Mund des Mannes presste, während er mit einem seiner Lieblingsmesser ein Loch von dessen Darm bis zu seinem Magen aufschlitzte. Als der Mann zu gurgeln aufhörte, ließ er die Leiche zu Boden fallen, nahm ihm die Waffe ab und kehrte zu dem kleinen Lewis-Mädchen zurück. Er hielt kurz an, um sein zweitliebstes Messer aus dem offenen Mund eines der anderen Männer zu ziehen und wischte es schnell an der Kleidung des Mannes ab, bevor er die Klinge wieder in die Scheide schob.

Dann trat er aus dem Wald auf die kleine Lichtung.

»Alles okay?«, fragte er die Wölfin, ließ seinen Blick dabei über die Bäume schweifen und hielt nach weiteren herumlungernden Vollmenschen Ausschau – übrigens die einzige Spezies, die er kannte, die herumlungerte. Als er jedoch keine Antwort erhielt, konzentrierte er sich voll und ganz auf sie.

Sie sah aus, als würde sie schlafen, aber das bezweifelte er. Das arme, kleine Ding war zu verängstigt für ein Wolfsnickerchen gewesen. Er ging zu ihr und hockte sich neben sie, und seine Wolfsaugen nahmen sofort das Blut wahr, das auf den Blättern, in denen sie gelandet war, bereits eine Pfütze gebildet hatte. Er erinnerte sich daran, wie ihr Körper gegen den Baum geprallt war, zog sie ein Stück vom Stamm weg und sah, dass allem Anschein nach ein tief hängender Ast daraus hervorragte.

Vorsichtig tastete Eggie den Nacken der Wölfin ab und fand die Wunde. Wenn sie ein Vollmensch gewesen wäre, wäre sie jetzt tot, aber sie war eine Wölfin, und das hatte ihr das Leben gerettet.

Seufzend blickte sich Eggie zu dem Pfad um, der zurück zum Haus der Familie Lewis führte. Er konnte immer noch hören, wie sich ihre und seine idiotische Verwandtschaft zankten, und um ganz ehrlich zu sein, war er verflucht noch mal ziemlich unzufrieden mit den grundlegenden Sicherheitsmaßnahmen dieser Stadt. Das jemand derart unbehelligt in ihr Gebiet eindrang, hätte es in Smithtown niemals gegeben. Sämtliche Auswärtige wurden bereits an der Grenze ihres Territoriums abgefangen, und falls sich ihre Anwesenheit dabei als reines Versehen herausstellte und sie nichts gesehen hatten, was sie nicht hätten sehen sollen, wurden sie wieder ihrer Wege geschickt, begleitet von dem guten alten Tennessee-Gruß: »Wir mögen hier in der Gegend keine Fremden.« Falls sie hingegen absichtlich versuchten, auf Smithtown-Gebiet einzudringen oder etwas beobachteten, was sich nicht so einfach erklären ließ – dann wurde die Sache ganz anders gehandhabt. Und oft von den Weibchen der Stadt.

Smith-Weibchen mochten es wirklich ganz und gar nicht, wenn Fremde in ihr Territorium eindrangen.

Aber allem Anschein nach wurden die Dinge in Smithville, North Carolina, ganz anders gehandhabt, wo vollmenschliche Hexenzirkel und eine bunte Mischung aus allen Spezies allesamt in Sünde zusammen lebten. Das war einfach nicht richtig. Wölfe gehörten unter Wölfe. Bären unter Bären. Katzen unter Katzen. Und Füchse gehörten sofort an Ort und Stelle eingeschläfert. Das war die richtige Art, die Dinge zu handhaben. Aber er fand es ganz und gar nicht richtig, die hübsche kleine Lewis-Wölfin wieder zu ihren Verwandten oder ihrem Rudel zurückzubringen, die bereits dabei versagt hatten, sie zu beschützen.

Deshalb tat er es auch nicht.

Nein. Stattdessen hob Eggie Ray Smith das kleine Mädchen hoch und trug es zu seinem Wagen. Sicher, er hatte seine Brüder hierhergefahren, aber die würden auch auf eigene Faust wieder zurückkommen.

Außerdem wusste Eggie, dass er, wenn er sich beeilte, den Stützpunkt der Marines ganz in der Nähe erreichen konnte, wo die Wunden der Wölfin von einem anständigen Gestaltwandler-Arzt versorgt werden würden und er anschließend vielleicht sogar mit einem der Bereitschaftstransporte seines Teams zurück nach Hause fahren konnte. Auf die Art musste er sich keine Sorgen darüber machen, die gut neun oder zehn Stunden zurück nach Tennessee fahren zu müssen.

Jap. Das klang nach einem guten Plan. Also legte er die Wölfin vorsichtig auf den Rücksitz seines Autos und breitete eine Decke aus dem Kofferraum über ihr aus. Sie befand sich noch immer in ihrer Wolfsgestalt, und das war wahrscheinlich auch am besten so. Auf die Art würde sie vermutlich schneller heilen.

Nachdem er sie versorgt hatte, setzte sich Eggie hinters Lenkrad und ließ den Wagen an. Er erwachte rumpelnd zum Leben. Seine Brüder sorgten immer gut dafür, dass sein Auto gewartet wurde, ganz gleich, wie lange er von zu Hause fort war. Er wusste das wirklich zu schätzen, als er aus dem Wald auf die Straße fuhr, mit einer verwundeten Wölfin auf der Rückbank und dem Blut mehrerer Vollmenschen-Männer noch immer an seinen Händen.

Letzteres war allerdings ein wenig bedauerlich … Er hasste es, wenn sich seine Hände so klebrig anfühlten.

KAPITEL 2

»Smith!«, bellte eine Stimme hinter Eggie. »Was zur Hölle tun Sie hier? Warum sind Sie nicht irgendwo anders, wie man es Ihnen befohlen hat?«

Mürrisch wandte Eggie den Blick von seinem verwundeten Schützling ab und schaute über seine Schulter zu dem Löwenmännchen, das hinter ihm stand – und starrte es an, bis sich der Major räusperte und ihn anblaffte: »Gut … aber machen Sie schnell und verschwinden Sie wieder. Verstanden?«

Der Löwe wandte den Blick ab und entfernte sich hastig, und Eggie richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Wölfin und das medizinische Team, das sich um sie kümmerte.

Der Arzt, eine Hyäne, kicherte leise und sagte: »Wir müssen die Wunde nähen und ihr ein Antibiotikum geben, um eine Infektion zu vermeiden.« Er sah den Schakal an, der neben ihm stand. »Holen Sie ihr was zum Anziehen. Ich werde sie zur Verwandlung zwingen müssen, wenn ich fertig bin.«

Die Hyäne richtete sich auf. »Und Sie? Wollen Sie die ganze Zeit da stehen bleiben und mich mit Ihren Freak-Augen anglotzen?«

»Mit Reißzähnen zur Welt gekommen und kichert wie meine jüngste Nichte, aber ich bin der Freak?«

Die beiden funkelten einander an, bis ein Schwarzbär an den Tisch trottete. »Smith. Hab dir ’ne Transportmöglichkeit organisiert.«

»Gut.« Eggie deutete auf die Wölfin. »Näh sie schnell wieder zusammen, Kichererbse.«

Die Hyäne verschränkte die Arme vor der Brust. »Vielleicht bin ich ja zu beschäftigt. Ich hab auch noch andere Pflichten.«

Eggie neigte den Kopf nach unten und blickte zu der Hyäne hinauf, während er seine Reißzähne aus dem Zahnfleisch wachsen ließ, begleitet von einem tiefen Knurren, das sich zu seinem Markenzeichen entwickelt hatte.

»Okay, okay.« Die Hyäne hob die Hände in die Luft. »Mach Platz, Rin Tin Tin. Ich hab doch gesagt, dass ich mich um sie kümmern werde.«

Um sicherzugehen, dass der Mistkerl wirklich verstand, dass Eggie keinen Scherz machte, kläffte er einmal laut und genoss, wie die Hyäne rückwärts stolperte, bevor er sich abwandte und davonstolzierte. Der Schwarzbär – er hieß McMartin und war sein Teamleiter – folgte ihm. Eggie mochte Bären nicht, aber McMartin konnte er tolerieren. Wahrscheinlich, weil er ein Schwarzbär war und Schwarzbären zwar genauso still waren wie Grizzlybären, aber nicht so entsetzlich schreckhaft – und ganz sicher nicht so lächerlich riesig wie Eisbären.

»Was kann ich sonst noch für dich tun?«, wollte McMartin wissen.

»Finde heraus, wer sie tot sehen will.«

»Bist du sicher, dass sie es auf sie abgesehen hatten?«

»Ja. Ganz sicher.«

»Sollte sich ihr Rudel nicht darum kümmern? Das ist es doch, was Wölfe füreinander tun, oder?«

Eggie blieb stehen und drehte sich zu dem Bären um, sagte jedoch kein Wort.

»Na schön«, seufze McMartin nach einer vollen Minute. »Ich erledige das.«

»Gut.«

»Und der Pilot muss wissen, wohin du …«

»Tennessee.«

Und dann, ohne ein weiteres Wort, ging Eggie davon, um sich die Waffen zu besorgen, die er benötigte.

Darla machte die Augen auf, schloss sie jedoch sofort wieder. Durch das Schaukeln des Autos und das grelle Licht, das durch das Fenster hereinfiel, war ihr ein wenig flau im Magen.

»Was ist hier los?«, fragte sie. »Wo bin ich?«

»In meinem Auto«, knurrte sie eine Stimme an.

Sie zwang sich, ein Auge zu öffnen und den Mann anzuschauen, der den Wagen fuhr. Jetzt erinnerte sie sich wieder an ihn. Das Smith-Männchen von letzter Nacht. Das war doch letzte Nacht gewesen, oder? Sie hatte das nicht geträumt?

Darla räusperte sich und machte das Auge wieder zu, denn selbst diese kleine Bewegung verursachte ihr schlimme Schmerzen. »Warum bin ich denn in deinem Auto, äh …?«

»Eggie.«

»Eggie?« Sie machte das eine Auge wieder auf. »Dein Name ist Eggie

»Egbert Ray. Aber alle nennen mich Eggie.«

»Oh.« Tja, in ihrer Familie gab es auch ein paar ziemlich einzigartige Vornamen, also wer war sie schon, darüber zu … zu 

»Warte mal … Egbert Ray?« Jetzt riss sie beide Augen auf und starrte den großen Wolf offen an, der neben ihr auf dem Fahrersitz saß. »Du bist … Egbert Ray Smith?«

»Jap.«

»Der Egbert Ray Smith?«

»Ich kenne nur einen.« Er sah sie an, seine Augen noch immer in Wolfsform. »Und der bin ich.«

Darla stieß die angehaltene Luft aus und wusste, dass es eher wie ein Schaudern klang.

Keine Panik, ermahnte sie sich selbst. Keine Panik.

Sie war sich sicher, dass alles in Ordnung war. Das alles in bester … Ordnung war. Wahrscheinlich gab es eine vollkommen logische Erklärung dafür, dass sie zusammen mit Egbert Ray Smith in einem Auto saß. Einen völlig logischen Grund.

Aber als sie daran zurückdachte, was er vergangene Nacht mit diesen Vollmenschen-Männern gemacht hatte, fiel Darla auch wieder ein, was sie im Laufe der Jahre so alles über Egbert Smith – Eggie – gehört hatte. Er war noch nicht mal dreißig, und trotzdem war der Wolf schon einer der meistgefürchteten Killer des Smith-Rudels weltweit. Sie erinnerte sich noch gut an die erleichterten Seufzer ihrer Nachbarn, ebenfalls Smiths, als sie es erfahren hatten: »Dieser Junge ist jetzt bei den Marines.«

Dieser Junge. Genauso hatten sie ihn alle immer genannt. Dieser Junge. So als fürchteten sie sich davor, seinen Namen auszusprechen. So als könnten sie ihn dadurch zu sich rufen. Ihn heraufbeschwören, wie der Hexenzirkel in ihrer Heimatstadt es ausgedrückt hätte. Obwohl ihre Schwestern dafür bekannt waren, dass sie ihre Männer sofort unterbrachen, wenn diese Eggie auch nur erwähnten, schienen seine Brüder nie Angst vor ihm zu haben. Aber um ehrlich zu sein, gab Darla nicht allzu viel darauf. Ihrer Meinung nach war keiner der Smithtown-Jungs besonders helle.

Darla schaute aus dem Fenster, bewegte dabei aber noch immer nur ihre Augen, da jede Bewegung ihres Halses mit Schmerzen verbunden war, auch wenn sie keine Ahnung hatte, warum. »Wo sind wir?«, fragte sie, da sie die vorüberfliegende Landschaft nicht erkannte.

»Tennessee.«

Ihre Finger ballten sich zu Fäusten. »Tennessee? Warum … Wann … Ich verstehe nicht …«

»Dir geht’s gut.«

»Mir geht’s nicht gut! Du hast mich aus der Sicherheit meines Rudels und aus dem Zuhause meiner Familie entführt und mich über die Grenze des Bundesstaats gebracht!«

»Von wegen Sicherheit.«

»Was soll das denn heißen? Von wegen Sicherheit?«

»Du wurdest dort angegriffen. Von Vollmenschen.«