Einleitung
Die Kinderseele streikt
Kapitel 1
AD(H)S, Autismus, Depression – Wenn Kinder und Jugendliche psychisch erkranken
Tic-Störungen und Tourette-Syndrom
Zwangsstörungen
Schlafstörungen
Depressionen
AD(H)S
Autismus
Kapitel 2
Gefährdete Kinderseele – Wenn professionelle Hilfe gefragt ist
Erster Schritt: Anamnese
Psychotherapeutische Behandlung
Medikamentöse Behandlung
Stationäre Behandlung
Aussicht auf Erfolg
Kapitel 3
Exkurs in die Neurobiologie – Wie Gehirn und Psyche zusammenhängen
Vor der Geburt
Nach der Geburt
Pubertät
Kapitel 4
Sprachlosigkeit, Schuldgefühle, Instabilität – Wenn die Familie zum Risikofaktor wird
Regenbogenfamilien
Trennungsfamilien
Eltern mit psychischen Erkrankungen
Kapitel 5
Mobbing, Leistungsdruck, Überlastung – Wenn die Schule zum Risikofaktor wird
Aus Lernlust wird Lernfrust
Ein Motivationsproblem
Unwissen und Fehldiagnosen
Kapitel 6
Anpassungsdruck, Spielsucht, Dauerkonsum – Wenn die sozialen Medien zum Risikofaktor werden
Verändertes Lernen
Soziale Kommunikation
Gaming und Sucht
Kapitel 7
Aufklärerische Verantwortung und liebevolle Zuwendung – Auswege für Kinder und Jugendliche
Nachwort
Danksagung
Anmerkungen
Einleitung
»Der Sprung aus dem Fenster schien der einzige Ausweg für mich zu sein. Ich wollte sterben. Ich habe fast zwei Jahre lang darüber nachgedacht. Heute bin ich froh, dass es nicht geklappt hat. Aber die Gedanken an das Sterben sind geblieben.«
Jonas, 17 Jahre
Jonas kam zum ersten Mal in meine Sprechstunde, als er gerade siebzehn geworden war, ein groß gewachsener und sportlicher Jugendlicher. Zunächst war er zurückhaltend und einsilbig. Dennoch bemerkte ich eine ausgeprägte psychische Belastung: Jonas schaute mich kaum an, er sprach mit leiser und monotoner Stimme. Und er schien von meinen Fragen ein wenig genervt zu sein. Schließlich war ich nicht der Erste, der ihn nach dem Warum fragte.
Sechs Wochen zuvor hatte Jonas das Fenster in seinem Zimmer geöffnet – und war hinausgesprungen. Aus dem dritten Stock. Er hat vermutlich nur deshalb überlebt, weil sich direkt vor dem Mehrfamilienhaus, in dem er mit seinen Eltern lebte, ein schmaler Grünstreifen befand, auf dem er aufgekommen war.
Zwanzig Minuten lang lag Jonas verletzt am Boden, bis ihn Passanten entdeckten und die Feuerwehr alarmierten. Unfallchirurgen in der Notaufnahme diagnostizierten eine schwere Schädelprellung und mehrere Knochenbrüche bei ihm, doch zum Glück nichts Lebensbedrohliches. Ein Psychologe im Krankenhaus stellte darüber hinaus eine schwere Depression fest und empfahl Jonas einen stationären Aufenthalt in einer Jugendpsychiatrie. Aber Jonas lehnte ab, er wollte nach Hause. Da er nicht volljährig war, hätten seine Eltern sich darüber hinwegsetzen können. Doch trotz großer Bedenken erklärten sie sich mit Jonas’ Wunsch einverstanden.
So kam er kurz nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus aufgrund seiner anhaltenden Niedergeschlagenheit in meine Praxis.
Ob Kinder und Jugendliche überhaupt Depressionen haben können, werde ich oft gefragt. Unseren Kindern fehle es doch an nichts, höre ich häufig, nie sei es ihnen so gut gegangen wie heute. Sie sind melancholisch? Ja. Traurig? Natürlich. Aber Depressionen? Ist das nicht übertrieben? Eine »richtige« Depression hätten doch nur Erwachsene. Dieser Irrglaube ist immer noch weit verbreitet.
Doch was ist eigentlich der Unterschied zwischen negativen Gefühlszuständen und einer Depression? Nun, das ist nicht schwer zu erklären: Traurigkeit und melancholische Verstimmungen sind Gefühle, die jeder von uns kennt, so wie Glück und Kummer, Freude und Angst, Liebe und Einsamkeit. Diese Emotionen begleiten uns durch das gesamte Leben, sie gehören zu unserer Persönlichkeit. Sie sind nicht Zeichen einer Erkrankung, sondern Ausdruck unserer Gefühlswelt. Und die ändert sich oft täglich – mitunter sogar noch schneller.
Eine Depression hingegen ist eine psychische Erkrankung, die von einem Arzt diagnostiziert wird. Eine Depression kann bereits im Kleinkindalter auftreten. Davon betroffene Menschen spüren im Extremfall: nichts. Nur andauernde Leere und emotionale Taubheit.
Den Unterschied zwischen Traurigkeit und Depression nachzuvollziehen fällt psychisch gesunden Menschen vielfach schwer. Daher reagieren sie zuweilen genervt oder mit Unverständnis auf die Antriebslosigkeit eines depressiven Menschen. Häufig bekommen Betroffene zu hören, dass sie sich einfach nur zusammenreißen sollen, dann werde schon wieder alles gut. Doch das ist ein großer Irrtum.
Selbst ich als Facharzt kann manchmal nur erahnen, was diese innere Leere, diese gefühlte Hoffnungslosigkeit für die betroffenen Kinder und Jugendlichen bedeutet.
Es lässt sich ansatzweise nachvollziehen, wenn man das Theaterstück Der Sohn kennt: Der französische Schriftsteller Florian Zeller beschreibt darin sehr einfühlsam und geradezu exemplarisch den Gefühlszustand eines depressiven Jugendlichen: In Person des 17-jährigen Nicolas, der sich angesichts der Trennung seiner Eltern und der Anforderungen des bevorstehenden Abiturs innerlich immer weiter von seiner Umwelt zurückzieht.
Gleichzeitig sehnt sich Nicolas nach Hilfe. Seine Eltern sind jedoch mit ihren eigenen Problemen beschäftigt und stehen ihrem Sohn anfangs mit Unverständnis gegenüber. Mehr und mehr erkennen sie ihre eigene Hilflosigkeit gegenüber den immer deutlicheren Symptomen. Als die Eltern nach einem ersten Suizidversuch Nicolas gegen den ärztlichen Rat aus dem Krankenhaus wieder mit nach Hause nehmen, erschießt er sich kurz darauf während des Abendessens im Nebenzimmer. Die Eltern bleiben mit ihrer Trauer, ihrer Ratlosigkeit und ihren Schuldgefühlen zurück.
Wie bei Nicolas ist auch bei den meisten Betroffenen keine alleinige Ursache für ihre Depression zu finden; das gilt für Kinder genauso wie für Jugendliche und Erwachsene.
In jedem Fall aber gilt es für mich als Psychiater, der Hoffnungslosigkeit zu begegnen, die mit der Depression einhergeht, und gemeinsam mit den Betroffenen wieder eine Zukunftsperspektive zu entwickeln. Diese zwei Ziele sind von zentraler Bedeutung für die Behandlung.
Ich arbeite inzwischen seit mehr als 25 Jahren in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. In dieser Zeit hat sich vieles verändert, in unserer Gesellschaft wie in meinem Fachgebiet. Depression ist nur eine, wenn auch eine sehr schwerwiegende psychische Erkrankung im Kindes- und Jugendalter. Mit Sorge beobachte ich seit geraumer Zeit, dass die Zahl psychischer Leiden bei Kindern und Jugendlichen deutlich gestiegen ist und weiter steigt.
In der Öffentlichkeit wird diese Zunahme nicht genügend wahrgenommen – und wenn doch, so wird sie oft als Folge schulischer Probleme betrachtet. In die Diskussion geraten dann regelmäßig die Auswirkungen von Konzentrations- und Aufmerksamkeitssyndromen, die unter den Abkürzungen »ADS« (Aufmerksamkeitsdefizitstörung) und »ADHS« (wenn Hyperaktivität hinzukommt) bekannt sind.
In vielen Medien werden sie als Modediagnosen bezeichnet. Sie haben den Ruf, allein aufgrund schlechter Schulleistungen diagnostiziert und schließlich therapiert zu werden, damit ehrgeizige Eltern den Schulerfolg ihrer Kinder optimieren können. Dabei wird übersehen, dass gerade diese Art psychischer Störungen nicht zugenommen hat, weder in Deutschland noch anderswo.1
Eine Therapie ist gleichwohl enorm wichtig, da das AD(H)S – wenn es nicht ausreichend behandelt wird – zu zahlreichen sozialen Problemen und psychiatrischen Folgestörungen mit einem langen Leidensweg führen kann, vom Kindesalter bis weit ins Erwachsenenalter. Die alleinige Fokussierung auf Leistungsprobleme in der Schule greift daher zweifelsohne zu kurz.
Ein kurzer Rückblick in die noch junge Geschichte der medizinischen Beschäftigung mit psychischen Problemen von Heranwachsenden lohnt an dieser Stelle.
Bis zum Beginn der Neuzeit wurde die Kindheit nicht als eigenständige Lebensphase wahrgenommen. Kinder wurden vielmehr als kleine Erwachsene betrachtet. Sie wurden schon in jungen Jahren zur Arbeit herangezogen. Ihrer psychischen Entwicklung schenkte bis weit in das 17. Jahrhundert hinein kaum jemand Beachtung. Erst im Zuge der Aufklärung änderte sich die Einstellung zu Kindern. Sie wurden nun mehr und mehr als eigenständige Personen mit eigenen Bedürfnissen wahrgenommen.
Im Jahr 1887 erschien das erste deutschsprachige Lehrbuch zur Kinder- und Jugendpsychiatrie2, verfasst von dem Psychiater und Universitätsprofessor Hermann Emminghaus (1845–1904), der sich intensiv mit naturwissenschaftlichen Aspekten psychiatrischer Erkrankungen beschäftigte. Er prägte den Begriff der Psychopathologie, der krankhaften Veränderung des Seelenlebens.
In der Folgezeit konnte sich die Kinder- und Jugendpsychiatrie nach und nach als eigenständiges Fachgebiet etablieren. Zunehmend setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Kombination verschiedener Ansätze – etwa aus der Medizin, der Psychologie und der Heilpädagogik – für eine erfolgreiche Behandlung Heranwachsender notwendig ist.
Zudem gab es wertvolle neue Erkenntnisse zur normalen kindlichen Entwicklung und damit auch zur Abgrenzung zu psychischen Auffälligkeiten: Bahnbrechend waren insbesondere die Erkenntnisse des Entwicklungspsychologen Jean Piaget (1896–1980) zur kognitiven Entwicklung von Kindern und diejenigen der Ärztin und Reformpädagogin Maria Montessori (1870–1952), die wie niemand zuvor das Hauptaugenmerk auf die Beobachtung kindlicher Signale legte; auf dieser Grundlage entstanden die Montessorischulen und -kindergärten.
Die ersten Erwähnungen psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen reichen allerdings viel weiter zurück. So berichtete bereits im 17. Jahrhundert eine wissenschaftliche Abhandlung aus England über Menschen mit starken Konzentrationsstörungen und motorischer Unruhe, bei denen man heute wahrscheinlich ein ADHS diagnostizieren würde.3
Und im Struwwelpeter, den Heinrich Hoffmann (1809–1894) im Jahr 1844 als Weihnachtsgeschenk für seinen Sohn verfasste, werden klassische kinderpsychiatrische Erkrankungen beschrieben: Der Suppen-Kaspar hat Essstörungen, Hanns Guck-in-die-Luft Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen und der Zappelphilipp ist hyperaktiv. In der Geschichte vom bösen Friederich beschreibt Hoffmann einen »argen Wüterich«, der das Mobiliar zerschlägt und Tiere quält. Das entsprang nicht der blühenden Fantasie eines Schriftstellers, sondern beruhte auf eigener Beobachtung: Heinrich Hoffmann war Kinderarzt.
Auch Wilhelm Busch (1832–1908) beschrieb wenig später in der Bildergeschichte Max und Moritz (1865) eindeutige Störungen des Sozialverhaltens. Die zeitliche Nähe dieser Schriften war sicherlich kein Zufall, denn in der Epoche des Biedermeier wurde auch der Erziehung der Kinder zunehmend mehr Aufmerksamkeit geschenkt. In diese Zeit fällt daher nicht zufällig die Eröffnung des ersten deutschen Kindergartens im Jahr 1840 durch den Pädagogen Friedrich Fröbel (1782–1852).
In den Heidi-Geschichten der Schweizer Schriftstellerin Johanna Spyri (1827–1901), die erstmals 1880 und 1881 erschienen, kommen ebenfalls psychische Probleme zur Sprache: In der Person von Klara, die nach einem Kutschunfall, durch den sie ihre Mutter verliert, eine psychosomatische Gangstörung erleidet und im Rollstuhl sitzt. In der heilen Welt der Schweizer Berge lernt sie schließlich wieder zu laufen, indem sie emotionale Zuwendung durch Heidi erfährt, Zutrauen zu sich gewinnt und ihre Trauer über den Tod der Mutter überwindet.
Die Erkenntnisse über psychosomatische Störungen bei Kindern und Jugendlichen ließen im Laufe der Zeit ein ganz neues Fachgebiet entstehen – und führten zu einer zunehmenden Verzahnung mit der klassischen Kinderheilkunde, die rein körperliche Leiden behandelte. Das war ein Gewinn für beide Seiten.
Nach meinem Medizinstudium in Kiel und Berlin begann ich 1991 die Facharztausbildung im Rudolf-Virchow-Krankenhaus, damals die Universitätsklinik der Freien Universität Berlin. Die Fachrichtung der Kinder- und Jugendpsychiatrie gab mir die Möglichkeit, in zwei sehr unterschiedlichen Disziplinen Erfahrungen zu sammeln, die mich im Laufe des Studiums zunehmend interessierten: die Psychiatrie und die Kinderheilkunde. An einer Universitätsklinik arbeiten zu können, was zur damaligen Zeit keine Selbstverständlichkeit war, empfand ich als Privileg.
Es war spannend, mitzuerleben, wie in den Jahren nach der Wiedervereinigung die Medizin der Westberliner und Ostberliner Universitätskliniken nach und nach unter dem Dach der Humboldt-Universität zur heutigen Berliner Charité zusammenwuchsen. Dabei zeigte sich, dass die Vorstellungen über den Umgang mit psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen in vielen Bereichen übereinstimmten, in manchen aber auch deutlich voneinander abwichen.
Die Chefärztin einer Ostberliner Klinik berichtete in der Zeit, dass Magersucht (Anorexie) in den damaligen Ostblockstaaten so gut wie nicht vorkam, außer in Ungarn. Man könnte meinen, dass Magersucht aus ideologischen Gründen totgeschwiegen wurde. Aber das war nicht der Fall. In den osteuropäischen Ländern waren die westlichen Normen zum Körperbild noch weitgehend unbekannt; nur in Ungarn, das am stärksten an westlichen Lebenseinstellungen orientiert war, hatte sich das »westliche Schlankheitsideal« verbreitet.
Ein anderes Beispiel ist die Sauberkeitserziehung der Kleinkinder. Nach diagnostischen Kriterien gilt das unwillkürliche Einnässen eines Kindes (Enuresis) erst ab dem Ende des vierten Lebensjahres als psychiatrische Störung. In der ehemaligen DDR hingegen sollte die Sauberkeitserziehung schon im zweiten Lebensjahr abgeschlossen sein. Für viele ostdeutsche Familien ist das bis heute die Zeitspanne, die als normal empfunden wird.
Unterschiedliche gesellschaftliche Bedingungen und Erwartungen beeinflussen demnach die Wahrnehmung und Definition von Krankheiten in entscheidender Weise. Bei Essstörungen haben sich die Gesellschaften schnell angeglichen, was bei anderen Krankheitsbildern nicht der Fall ist. Magersucht etwa ist heute in Ost- und Westeuropa annähernd gleich verteilt.4
Während des Studiums und meiner Ausbildung zum Facharzt war es mir immer wichtig, andere medizinische Bereiche kennenzulernen. Parallel zu meinem Medizinstudium habe ich in der Pflege erwachsener Psychiatrie-Patient*innen in einem Krankenhaus gearbeitet. Während der Facharztausbildung wechselte ich vorübergehend in die Kinderheilkunde der Berliner Charité. Zudem arbeitete ich eine Zeit lang in einer Klinik in England in der Neugeborenen-Intensivmedizin.
Meine Doktorarbeit habe ich dann auf dem Fachgebiet der Erwachsenenpsychiatrie geschrieben: über kognitive Prozesse bei Depressionen. Ich untersuchte, ob sich die mit einer Depression häufig auftretenden Konzentrations- und Leistungsstörungen nach einer erfolgreichen Therapie der Depression im gleichen Maße verbessern. Das war nicht der Fall. Sie hielten oftmals noch an und führten für längere Zeit zu Problemen im Alltag. Auch nach einer Besserung der Stimmung können Probleme im alltäglichen Leben also weiterbestehen. Für meine Arbeit als Kinder- und Jugendpsychiater ist das eine wichtige Erkenntnis. Hinter Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen verbergen sich mitunter ganz andere psychische Erkrankungen: neben Depressionen auch Angsterkrankungen, in seltenen Fällen bipolare Störungen und manchmal sogar beginnende Schizophrenien.
Nach meiner Rückkehr an die Charité intensivierte ich meine Kontakte in die Kinderneurologie, ein Gebiet, das sich mit Nervenerkrankungen im Kindesalter befasst. Dazu zählen beispielsweise Epilepsien, Stoffwechselerkrankungen, genetische Störungen, Fehlbildungen des zentralen Nervensystems, aber auch Kopfschmerzsymptome wie eine Migräne. Mir wurde rasch klar, dass diese Kinder ein deutlich erhöhtes Risiko haben, neben ihren körperlichen und kognitiven Problemen auch psychische Symptome zu entwickeln.
Inzwischen ist dieser Zusammenhang gut erforscht: Im Vergleich zu gesunden Kindern ist das Risiko für psychische Probleme deutlich erhöht.5 Dennoch ist die Versorgung dieser manchmal schwer entwicklungsgestörten Kinder bis heute nicht ausreichend gewährleistet. Es fehlen speziell auf ihre besonderen Bedürfnisse ausgerichtete Behandlungsangebote. Vieles bleibt der Eigeninitiative der Eltern überlassen, die sich mit der Situation und der intensiven Pflege oft überfordert und alleingelassen fühlen.
Zwar weisen Fachleute immer wieder auf diesen Missstand hin, doch spezielle stationäre Behandlungsangebote gibt es kaum. Und die Ausbildungsrichtlinien der verschiedenen Psychotherapierichtungen tragen den speziellen Anforderungen, die eine Behandlung dieser Kinder mit sich bringt, nicht Rechnung.
Bis heute ist die Therapie solcher Mädchen und Jungen ein Schwerpunkt meiner Arbeit. Seit 2001 führe ich mit zwei wunderbaren Partnerinnen eine Gemeinschaftspraxis im Berliner Stadtteil Schöneberg. Unterstützt werden wir von einem Team von Expert*innen verschiedener Fachrichtungen: Psycholog*innen, Rehabilitationswissenschaftler*innen, Sozialarbeiter*innen, Sozialpädagog*innen, Gesundheits- und Krankenpfleger*innen sowie medizinischen Fachangestellten.
Mehr als 4 000 Familien suchen uns jedes Jahr auf. Unser Einzugsgebiet reicht über alle Berliner Bezirke und die ostdeutschen Bundesländer bis nach Bayern und Niedersachsen. Viele Familien nehmen eine weite Anreise in Kauf, weil es bei ihnen vor Ort keine Anlaufstellen gibt. Spätestens nachdem die Diagnose gestellt ist, drängt sich jedoch die Frage nach einer wohnortnahen Behandlung auf.
Eine medikamentöse Behandlung lässt sich noch recht problemlos organisieren, anders bei psychotherapeutischen Behandlungen, die einen direkten Arzt-Patienten-Kontakt erfordern. Auch wenn die Zahl der Praxen im ländlichen Bereich langsam zunimmt, kommt es meist zu längeren Wartezeiten, und wertvolle Zeit geht dabei verloren. Die Familien müssen noch immer bis in die nächstgrößere Stadt fahren. Daher gilt es, nach Alternativen zu suchen. Wenn Engpässe bestehen, kann in manchen Fällen etwa eine Verhaltenstherapie durch eine Gesprächspsychotherapie ersetzt werden, für die es vielleicht ein größeres Angebot vor Ort gibt. Umgekehrt gilt das genauso. Dennoch bleibt die Unterversorgung ein Problem, das es zu lösen gilt.
In unserer Praxis behandeln wir das gesamte Spektrum psychiatrischer und psychosomatischer Erkrankungen. Dabei lernen wir Familien aus allen gesellschaftlichen Schichten kennen, erleben unterschiedliche kulturelle Einstellungen und sehr vielfältige Familienformen. Eines wird immer wieder deutlich: Alle Eltern eint die Sorge um eine gesunde Entwicklung ihrer Kinder. Doch viele Eltern sind unsicher, ob ihre Sorge es rechtfertigt, unsere Praxis aufzusuchen. Denn sie haben das Gefühl, dass die anderen Familien im Wartezimmer schwerwiegendere Probleme haben.
Ich kann nur immer wieder betonen, dass für mich der individuelle Leidensdruck der Kinder und Eltern ausschlaggebend dafür ist, ob sie uns um Hilfe bitten. Ob tatsächlich psychiatrische Hilfe notwendig ist, lässt sich oft bereits in einem ausführlichen Erstgespräch klären.
Manche Eltern empfinden auch eine große Scham und glauben, in der Erziehung ihrer Kinder etwas grundlegend falsch gemacht zu haben. Ich erwidere dann, dass für die meisten Fälle psychischer Erkrankungen nicht in erster Linie eine falsche Erziehung die Ursache ist. Aber das Erziehungsverhalten kann natürlich Auswirkungen auf den Verlauf einer Erkrankung haben. Daher ist es ein wichtiger Teil der Anamnese, also des ausführlichen Arztgesprächs zu Beginn einer Behandlung. Von wesentlicher Bedeutung ist zudem die Stärkung der Kompetenz der Eltern; dazu gehört etwa das Wissen über eine Erkrankung und deren Behandlung.
Aufgrund zahlreicher neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse haben sich die Therapie- und Diagnostikmöglichkeiten bei vielen psychischen Erkrankungen verbessert. Nach wie vor stehen aber das persönliche therapeutische Gespräch mit den Patient*innen sowie die Beratung der Eltern im Vordergrund. Neue und weiterentwickelte psychotherapeutische Ansätze sind hinzugekommen. Und ebenso – falls nötig – eine Behandlung mit modernen Medikamenten, die sich durch gute Verträglichkeit und weniger Nebenwirkungen auszeichnen (vgl. Kap. 2).
Grundsätzlich geben wir Mediziner*innen einer ambulanten Behandlung, bei der das Kind in der Familie bleibt, den Vorzug. Manchmal aber rate ich zu einem stationären Klinikaufenthalt. Das ist herausfordernd für die Familien: Eine Trennung vom eigenen Kind für drei bis sechs Wochen, manchmal noch länger, bei gleichzeitig eingeschränkten Besuchsmöglichkeiten ist eine große Belastung. Auch für die Kinder ist das mit Ängsten und Sorgen verbunden. Aber viele Patient*innen, denen ich dazu rate, profitieren von einer solchen längerfristigen stationären Therapie.
Glücklicherweise ist die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen inzwischen deutlich zurückgegangen. Ein Praxisschild mit der Aufschrift Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Hauswand schreckt nicht mehr ab. Es scheint zunehmend selbstverständlich zu sein, Hilfe bei psychischen Störungen in Anspruch zu nehmen. Ich stelle sogar fest, dass immer mehr Jugendliche von sich aus nach Beratung suchen. Von zehn Betroffenen äußern zwei bis drei selbst den Wunsch nach Hilfe. Eine solche Eigenmotivation verbessert die Erfolgsaussichten einer Therapie erheblich.
Doch an einem hat sich nichts geändert: Unsere Gesellschaft beschäftigt sich noch immer vor allem mit den Erkrankungen Erwachsener. Die Bedürfnisse und psychischen Probleme von Kindern und Jugendlichen werden viel zu selten in der Öffentlichkeit und in den Medien thematisiert. Wie psychische Erkrankungen bei Kindern entstehen und welche gesellschaftlichen Folgen das hat – das wird immer noch fast ausschließlich in medizinischen und psychologischen Fachkreisen diskutiert. Mit diesem Buch möchte ich dazu beitragen, das zu verändern.
Denn in den vergangenen Jahren konnte ich zwei besorgniserregende Entwicklungen beobachten: Die Zahl der Eltern und Kinder, die in unsere Praxis kommen, steigt stetig. Außerdem nimmt die Schwere der Erkrankungen zu.
Der Kinder- und Jugendreport der Krankenkasse DAK, der im November 2019 erschienen ist, bestätigt meinen Eindruck. Demnach leidet jedes vierte Schulkind in Deutschland unter einer psychischen Störung. Jedes hundertste Kind hat eine Depression diagnostiziert bekommen, ebenso jedes hundertste eine Angststörung. Beides tritt häufig zusammen auf. Jungen und Mädchen mit krankhaftem Übergewicht haben sogar ein zweieinhalb- bis dreimal so hohes Risiko für eine depressive Störung. Und leidet bereits ein Elternteil an einer Depression, so ist das Risiko für ein Kind um mehr als das Dreifache erhöht.
Hochgerechnet sind insgesamt etwa 238 000 Kinder in Deutschland im Alter von 10 bis 17 Jahren derart von Depressionen und Angststörungen betroffen, dass sie ärztlichen Rat suchen. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Depressionshäufigkeit noch einmal um fünf Prozent gestiegen. Zugenommen haben auch psychosomatische Störungen, zu denen etwa Magen- und Darmbeschwerden, Kopf- und Rückenschmerzen sowie Ohrgeräusche und Schwindel zählen. Ähnliches gilt für Essstörungen, die längst nicht mehr nur Mädchen betreffen, und Lernstörungen.
Derzeit besuchen etwa elf Millionen Kinder und Jugendliche eine allgemeinbildende oder berufsbegleitende Schule. Legt man die Daten der DAK zugrunde, dann haben insgesamt etwa 3,7 Millionen Heranwachsende in Deutschland psychische Probleme. Das ist jeder Dritte.6
Sind diese Daten repräsentativ? Oder sind sie lediglich eine zufällige Erhebung einer einzelnen Krankenkasse?
Offenbar nicht. Denn sie schreiben eine Entwicklung fort, die die Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) des Robert-Koch-Instituts in Berlin seit 2003 dokumentiert. Die Ergebnisse zeigen, dass zu Beginn der Datenerhebung »nur« jedes fünfte Kind in der Altersgruppe von null bis 17 Jahren an psychischen Auffälligkeiten litt, es also deutlich weniger Betroffene gab als heute. Auch die erste Auswertung der zweiten Erhebungswelle der KiGGS-Studie bestätigt, dass die Erkrankungszahlen weiter zunehmen.
Was die KiGGS-Studie außerdem ergab: Kinder und Jugendliche, die in Familien mit niedrigem Einkommen aufwachsen, sind überdurchschnittlich häufig von psychischen Auffälligkeiten betroffen. So ist beinahe jedes vierte Mädchen und fast jeder fünfte Junge aus Familien mit wenig finanziellen Möglichkeiten psychisch auffällig, aber nur etwa jedes 15. Mädchen und jeder achte Junge aus Familien mit hohem sozioökonomischem Status.7
Ein Umstand, der nachdenklich machen muss. Zumal Kinderarmut in Deutschland zunimmt und laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung bereits auf 2,8 Millionen Kinder zutrifft. Am größten ist der Anteil – wenig überraschend – in den Stadtstaaten: Bremen, Hamburg und Berlin.8
Nun bedarf natürlich nicht jedes dritte Kind unmittelbar einer psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlung. Aber die Heranwachsenden offenbaren mit ihren Problemen einen enormen persönlichen Leidensdruck. Besorgniserregend ist vor allem, dass klar erkennbare psychische Erkrankungen wie Depressionen und Angstzustände, Essstörungen wie Anorexie und Bulimie und Drogenmissbrauch weiter zunehmen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die zweithäufigste Todesursache im Jugendalter – nach Verkehrsunfällen – keine körperliche Krankheit ist, sondern ein Suizid.9
Bisher hat sich glücklicherweise keine*r unserer Patient*innen das Leben genommen, aber mit Suizidgedanken und suizidalen Handlungen sind wir häufig konfrontiert. Die Anlässe sind für Außenstehende manchmal schwer nachzuvollziehen, aber für die Kinder sind sie real und bedrohlich: Wenn etwa eine 5-Jährige nach einem Streit mit der Mutter das Fenster ihres Kinderzimmers öffnet und damit droht, hinauszuspringen, da sie sterben wolle. Oder ein 8-Jähriger, der wegen seines Lispelns derart gehänselt wird, dass er zu Hause immer einsilbiger wird und seinem Vater eines Abends sagt, dass es wohl besser wäre, wenn er gar nicht auf der Welt sei. Solche Fälle nehmen wir sehr ernst.
Gewiss haben junge Kinder entwicklungsbedingt noch keine Vorstellung davon, was der Tod bedeutet. Aber aus verbalen Ankündigungen können durchaus spontane Handlungen werden. Mitunter steckt hinter solchen Drohungen ein Machtkampf mit den Eltern, um eigene Wünsche durchzusetzen. Manchmal liegt aber auch eine tiefer gehende Belastung zugrunde, die es zu klären gilt.
Aufgrund der für mich äußerst plausiblen Zahlen zur Zunahme psychischer Erkrankungen von Heranwachsenden, die ich in meiner täglichen Arbeit bestätigt sehe, stellen sich drängende Fragen:
Zeigt sich eine zunehmende Überforderung unserer Kinder angesichts der Anforderungen einer sich immer schneller wandelnden Gesellschaft?
Welche Faktoren sind es genau, die für die Entwicklung von psychischen Störungen unserer Kinder ausschlaggebend sind?
Können bereits Kinder und Jugendliche unter einem Burn-out-Syndrom leiden, weil sie den Anforderungen des Alltags und der Schule nicht mehr gerecht werden?
Müssen wir davon ausgehen, dass Depressionen – nach den Herz-Kreislauf-Erkrankungen mittlerweile die zweithäufigste Volkskrankheit weltweit – oft schon in der frühen Kindheit beginnen?
Welchen Einfluss haben psychischen Erkrankungen von Eltern auf die Entwicklung der Kinder?
Die Antworten auf diese Fragen sollten nicht länger nur in der medizinischen Fachwelt diskutiert werden. Sie müssen in die Gesellschaft getragen werden.
Insbesondere gilt es, unseren Blick auf die Pubertät zu richten. Denn gerade in dieser Phase kommt es zu starken Umbauprozessen im Gehirn. Das erklärt auch die emotionale Instabilität und Impulsivität vieler Jugendlicher und es verdeutlicht, weshalb sich aus emotionalen Krisen psychische Erkrankungen entwickeln können. Wenn weitere Risikofaktoren hinzukommen, wie eine genetische Vorbelastung, psychisch erkrankte Eltern oder familiäre Armut, ist dies umso mehr der Fall.
All diese Faktoren möglichst früh bei der Betrachtung jeder Patientin und jedes Patienten zu erkennen, ist die Aufgabe von Mediziner*innen und Psycholog*innen. Ein besonderes Augenmerk müssen wir auch auf die sozialen Umstände richten. Denn für diese sind wir als Gesellschaft verantwortlich, können sie beeinflussen und verändern. Nur dann ist effektive Hilfe überhaupt erst möglich.
Die größten Probleme für Kinder und Jugendliche entstehen oft dort, wo sie in direktem Austausch mit anderen stehen: in der Familie, in der Schule, im Freundeskreis sowie in sozialen Gruppen wie Sportvereinen. Dort sollten sie bestenfalls Geborgenheit und Zuwendung erfahren, aber auch Verlässlichkeit, die Vermittlung von Regeln im Zusammenleben und Bildung. Doch im Alltag kommt es in diesen sozialen Beziehungen immer wieder zu Problemen und Überforderungen, die das Risiko für psychische Erkrankungen erheblich steigern:
In den Familien: durch instabile oder dysfunktionale Strukturen, etwa infolge einer konfliktreichen Trennung oder von Suchterkrankungen der Eltern.
Durch schulischen Leistungsdruck: Lern- und Leistungsprobleme zählen zu den häufigsten Gründen, unsere Praxis aufzusuchen.
Durch soziale Ausgrenzung und Mobbing: Fast ein Fünftel aller Schüler*innen war bereits Opfer von Onlinemobbing.10
Durch übermäßigen Handy- und Internetkonsum: Das Suchtpotenzial der Neuen Medien ist enorm und überfordert viele Kinder und Jugendliche.
Diese Aspekte müssen offen diskutiert werden. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Kinder und Jugendliche in den meisten Fällen sehr bereitwillig darüber Auskunft geben, wenn Vertrauen aufgebaut ist und sie sich ernst genommen fühlen. Oftmals tun sich die Eltern deutlich schwerer damit, über Probleme zu sprechen, selbst wenn sie offensichtlich sind. Dadurch kann in der Familie eine Sprachlosigkeit entstehen, die zu einem emotionalen Rückzug und einer erheblichen zusätzlichen Belastung der Kinder führt.
Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Beobachtung, dass Kinder und Jugendliche heute immer häufiger psychisch erkranken? Welche Bedeutung hat das für unser Zusammenleben in den Familien, in den Schulen, in einer sich ständig wandelnden Gesellschaft? Wie können wir Heranwachsende unterstützen, die unter einer psychischen Erkrankung leiden? Wie können wir sie bestenfalls überhaupt davor schützen, psychisch zu erkranken? Ist ein verlässliches und stabiles Elternhaus allein ausreichend, um ein gesundes Aufwachsen zu ermöglichen? Oder bedarf es zusätzlicher Unterstützung? Und die vielleicht wichtigste Frage: Was macht Kinder resilient, also widerstandsfähig gegen psychische Erkrankungen? Dazu wird intensiv geforscht. Denn immer wieder lässt sich beobachten, dass trotz vergleichbarer Vorbelastung und gleichen sozialen Verhältnissen das eine Kind psychisch erkrankt, ein anderes aber nicht.
Mit diesem Buch möchte ich versuchen, auf all diese Fragen Antworten zu geben. Einfache Erklärungsmuster gibt es dabei nicht. Die zahlreichen Fallschilderungen aus meiner langjährigen Berufspraxis geben zum einen den betroffenen Kindern und Jugendlichen eine Stimme. Zum anderen lassen sich wertvolle Erkenntnisse daraus ableiten. Zwar ist jedes Kind, jeder und jede Jugendliche und jede Familiengeschichte anders, gleichwohl ist festzustellen, dass niemand mit seinen Problemen alleine ist, wir alle können von den Erfahrungen anderer profitieren.
Und nicht zuletzt möchte ich mit diesem Buch die gesellschaftlichen Ursachen für die psychischen Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen offen benennen. Denn nur, wenn wir diese kennen, können wir unsere Kinder wirkungsvoll schützen.
Kapitel 1
Als Kinder- und Jugendpsychiater begegne ich seit vielen Jahren den unterschiedlichsten menschlichen Schicksalen und den unterschiedlichsten Krankheitsbildern. Manche Patient*innen sehe ich nur kurze Zeit, andere sind mehrere Jahre bei mir in Behandlung.
Mittlerweile kommen sogar Eltern mit ihren Kindern in unsere Praxis, die früher selbst bei uns in Therapie waren. Sie kommen aus eigenem Antrieb, nicht weil sie jemand geschickt hat. Das ist keineswegs ein Anzeichen übermäßiger Besorgnis. Die Eltern wissen vielmehr, dass es bei vielen Störungen ein genetisches Risiko für ihre Kinder gibt. Sie möchten ihren Kindern ersparen, was sie selbst in der Kindheit durchgemacht haben: belastende Zeiten in der Schule, im Sportverein oder im Umgang mit Freund*innen und innerhalb der Familie.
Häufig haben die Eltern bei ihren Kindern schon frühzeitig Probleme beobachtet, die sie selbst von früher kennen: beispielsweise Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben oder Rechnen – oder auch Konzentrations- und Aufmerksamkeitsprobleme und große innere Unruhe. Sie wissen aus eigener Erfahrung, dass diese Störungen sich nachteilig auf das soziale Leben, die schulischen Leistungen und damit auch auf das Wohlbefinden auswirken. Und ihnen ist klar, wie wichtig es ist, frühzeitig und genau hinzuschauen.
Andere Eltern, ohne eine solche biografische Erfahrung, fragen mich oft, wie sie denn möglichst schon im Anfangsstadium problematische Veränderungen bei ihren Kindern erkennen können, die Hinweise auf psychische Probleme geben. Auf diese Frage gibt es keinen allgemeingültigen Ratschlag.
Es ist vielmehr so: Der überwiegende Teil psychischer Erkrankungen beginnt schleichend und ist nicht sofort zu erkennen. Also nicht wie bei Fieber, das schlagartig auftritt und meistens nach kurzer Zeit wieder abklingt. Es sind eher kleine Verhaltensauffälligkeiten, die scheinbar plötzlich auftreten, und wieder verschwinden. Einige Zeit später kehren sie zurück, dann vielleicht schon deutlicher, etwa wenn ein Kind sich mehr und mehr von seiner Umwelt zurückzieht.
In solch einem Fall stellt sich mir die Frage, ob womöglich ein bestimmtes Ereignis die Probleme hervorgerufen hat – oder ob die Eltern schon zuvor ähnliche Symptome beobachtet haben. Ich frage nach, ob das Kind vielleicht grundsätzlich Probleme mit seinen Emotionen hat, also beispielsweise häufiger aggressiv oder traurig ist.
Darüber hinaus gibt es Auffälligkeiten, die zunächst gar nicht als problematisch wahrgenommen werden: etwa das nervöse Zucken eines Mundwinkels oder das Zwinkern eines Auges. So etwas wird als kindliche Marotte vielleicht nicht weiter beachtet. In vielen Fällen verschwindet es auch einfach wieder. Aber es kann sich auch um eine beginnende sogenannte Tic-Störung handeln. Insbesondere Kinder im Alter zwischen fünf und zehn Jahren sind davon betroffen.
Es handelt sich dabei um nicht kontrollierbare, regelmäßig oder unregelmäßig auftretende Muskelkontraktionen, meist im Gesichtsbereich. Oder auch ein Räuspern, ein Schmatzen oder ein Schnalzen mit der Zunge. Lassen sich solche Tics über einen längeren Zeitraum beobachten, muss unbedingt genauer hingeschaut werden. Denn die Symptome treten häufig gemeinsam mit anderen Problemen auf, etwa einem AD(H)S. Es sollte in jedem Fall eine Hirnstrommessung (EEG) vorgenommen werden, um andere Erkrankungen, wie zum Beispiel eine Epilepsie, auszuschließen. Aber auch virale und bakterielle Erkrankungen können einen Tic hervorrufen. Insofern sollten auch eine Streptokokkeninfektion und eine Borreliose infolge eines Zeckenbisses als Auslöser in Erwägung gezogen werden.
Die Mehrzahl der Tic-Störungen hat langfristig eine sehr gute Prognose. Viele klingen etwa ab dem 14. Lebensjahr ab. Dann müssen sie zwar weiterhin beobachtet werden, aber es ist keine Behandlung erforderlich.
Anders war es im Fall des heute 16-jährigen Sören, einem zugegebenermaßen etwas speziellen Fall.
Die Eltern kamen zu mir in die Praxis, als Sören elf Jahre alt war. Sie berichteten, dass ihr Sohn unwillkürliche Muskelkontraktionen im Gesicht und auch im Schulterbereich hatte. Außerdem stieß er seit drei Monaten unkontrollierte Laute aus. In der Schule war er deshalb schon mehrfach gehänselt worden.
Ich erlebte Sören als einen freundlichen und aufgeweckten Jungen, der den Schilderungen seiner Eltern ruhig und zugewandt folgte. Doch je länger das Gespräch dauerte, desto unruhiger wurde er. Gleichzeitig traten einige Tics im Mundbereich auf, die sich verstärkten und zu ausfahrenden Bewegungen der rechten Schulter und des Armes führten. Schließlich hörte ich auch ein Räuspern. Als ich Sören darauf ansprach, wirkte er zunächst ein wenig verlegen. Ich fragte ihn, ob er die Tics kontrollieren könne, was er bejahte. Allerdings könne er dann in der Schule dem Unterricht nicht mehr so gut folgen. Seine Leistungen hätten sich wohl deswegen verschlechtert.
Die Eltern erzählten, dass Sören schon immer ein unruhiges Kind gewesen sei. Mit fünf Jahren sei ihnen erstmals aufgefallen, dass er oft den rechten Mundwinkel verzog. Der Kinderarzt und die Erzieherin im Kindergarten hätten ihnen damals geraten, es einfach zu ignorieren und Sören nicht weiter darauf anzusprechen. Die Symptome verschwanden nach einigen Wochen tatsächlich wieder, quasi über Nacht.
In der Grundschule fiel es Sören aber von Beginn an schwer, sich für längere Zeit zu konzentrieren. Seine Eltern wurden von den Lehrer*innen mehrmals auf sein impulsives Verhalten angesprochen. Da Sören aber gut in die Klasse integriert war und auch gute Leistungen zeigte, wurde seine Impulsivität weitgehend toleriert.
In der 3. Klasse traten die Tics erneut auf. Diesmal jedoch nicht nur am Mundwinkel, auch die Nase und die Augenpartien waren betroffen. Der Kinderarzt nahm verschiedene Untersuchungen vor, die allerdings ohne Ergebnis blieben. Sören sollte schließlich sogar mittels einer Punktion Gehirnflüssigkeit aus dem Rückenmarkskanal entnommen werden, um auszuschließen, dass eine Borreliose das Gehirn befallen hatte.
Doch dazu kam es nicht mehr, da die Tics wiederum plötzlich verschwanden. Der Kinderarzt vermutete eine seelische Problematik und riet zu einer Psychotherapie, um der Ursache auf den Grund zu gehen. Nach langem Suchen fand die Familie einen psychoanalytisch orientierten Kindertherapeuten. Einen unbewussten seelischen Konflikt konnte der Therapeut rasch ausschließen. Auch mögliche Begleitstörungen wie eine Depression, eine Angst- und Zwangsstörung oder eine soziale Phobie waren nicht erkennbar. Nach einigen Monaten fiel dann wieder ein Räuspern auf – und auch die Tics traten erneut auf. Schließlich riet der Psychotherapeut den Eltern zu einem Termin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, um die Symptome fachärztlich abklären zu lassen.
Ich vereinbarte mit den Eltern und Sören einen Intelligenztest sowie einen Konzentrations- und Aufmerksamkeitstest. Dabei geht es mir nicht nur um die Testergebnisse. Vielmehr lässt sich während dieser Untersuchungen gut beobachten, ob unter der Anstrengung die Tic-Symptome verstärkt auftreten. Sörens Untersuchungsergebnisse zeigten eine hohe Intelligenz, aber deutliche Probleme in Bezug auf seine Konzentration und Aufmerksamkeit. Je stärker Sörens Konzentration abnahm, desto intensiver machten sich die Tics bemerkbar. Anzeichen für eine Depression oder eine Zwangserkrankung ergaben sich bei meinen Untersuchungen nicht.
Aufgrund der Symptomatik und der Vorgeschichte stellte ich die Diagnose eines Tourette-Syndroms. Dabei handelt es sich um eine Kombination aus gleichzeitig auftretenden motorischen und sprachlichen Tics. Im Extremfall führt es zum Grimassenschneiden, Herumwerfen des Kopfes und zum Herausschleudern aggressiver oder obszöner Ausdrücke. Man nimmt an, dass bei Betroffenen aufgrund einer Gehirnreifungsstörung die Bewegungskontrolle eingeschränkt ist. Untersuchungen haben ergeben, dass einzelne Hirnbereiche anders ausgebildet bzw. durchblutet sind als bei Gesunden.
In weniger schweren Fällen, können Betroffene die Symptome bis zu einem gewissen Grad selbst steuern. Manchmal lässt sich diese Selbststeuerungsfähigkeit allein durch eine Verhaltenstherapie erlangen, mitunter muss sie durch ein Medikament unterstützt werden. Dazu riet ich auch bei Sören. Diese Behandlung sollte seine Konzentrations- und Aufmerksamkeitsfähigkeit verbessern. Tatsächlich konnte er sich im Lauf der Zeit wieder besser auf schulische Dinge fokussieren, gleichzeitig ließen die Tics nach.
Heute ist Sören 16 Jahre alt. Er berichtet zwar, dass er ab und an noch den Impuls verspürt, einen Tic auszuführen – er muss es aber nicht mehr tun. Insofern sind die Symptome fast völlig verschwunden. Ein Tourette-Syndrom ist nach heutigem Stand der Wissenschaft zwar nicht vollständig heilbar, aber zumindest gut kontrollierbar.