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ISBN 978-3-492-97570-4
Oktober 2016
© Bernhard Hennen 2016
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016
Covergestaltung und -motiv: www.buerosued.de
Datenkonvertierung: Fotosatz Amann, Memmingen

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Vorwort

Warum schreibe ich Erzählungen? Seit vielen Jahren gelten Anthologien im Buchhandel als schwer verkäuflich. Warum also nicht nur Romane schreiben, haben sie doch ungleich bessere Chancen am Markt? Die schnelle Antwort lautet: Eine Kurzgeschichte bedeutet Abwechslung. Sie gibt mir Gelegenheit zu zeigen, dass ich mehr bin als nur der Autor von Elfen-Romanen.

Wer es ausführlicher wissen will, ist eingeladen, mir über die nächsten Seiten zu folgen und neben Bibliografischem zu den Geschichten auch ein wenig Biografisches zu erfahren.

Die große Zeit der Anthologien lag in den Sechziger- und Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Als Jugendlicher habe ich solche Kurzgeschichten-Sammlungen mit großer Begeisterung verschlungen. Meine Lieblingsreihe waren die Gespenstergeschichten aus aller Welt, die damals im Fischer Verlag erschienen sind. Blicke ich in den Band »Englische Gespenstergeschichten« aus der Serie, sehe ich dort, dass im September 1978 eine Auflage von 182000 erreicht wurde. Verkaufszahlen für eine Anthologie, von denen heute kein deutscher Verlag mehr zu träumen wagt.

Als ich Mitte der Neunzigerjahre begonnen habe, Storys und Erzählungen zu schreiben, war dieser Ruhm der Anthologien noch in guter Erinnerung, und es gab in Verlagen die Hoffnung, mit dem richtigen Konzept vielleicht wieder an einstige Erfolge anzuknüpfen. Bei mir sah es in jener Zeit so aus, dass ich meine ersten Gehversuche als Schriftsteller machte und auf keinen Fall nur als Autor von High-Fantasy festgelegt sein wollte. Meine erste Trilogie »Das Jahr des Greifen« war, dank der Unterstützung von Wolfgang Hohlbein, ein Erfolg. Gut leben konnte ich vom Schreiben aber bei Weitem noch nicht. Es waren die Jahre, in denen ich jeden Nebenjob angenommen habe, der sich bot, sei es als Weihnachtsmann zum Mieten, Schwertkämpfer auf Mittelaltermärkten, Filmvorführer, freier Journalist bei verschiedenen Radiosendern oder als Autor. Ganz gleich was ich getan habe, am Monatsende war das Konto meist überzogen. Damals waren Kurzgeschichten ein willkommenes Salär am Rande, auch wollte ich mich in dieser Zeit neben der Fantastik als ein Autor von historischen Romanen etablieren, und so war ich für jede Kurzgeschichte dankbar, die mir einen Ausflug in historische Epochen erlaubte. (Es dauerte ein paar Jahre, bis ich eingesehen habe, dass man – ohne Pseudonym – entweder das eine oder das andere ist, da die Leserschaft eine sehr geringe Schnittmenge bildet.)

Nach dem Erfolg von »Die Elfen«, bin ich viel freier geworden. Nun sind Kurzgeschichten für mich ein Experimentierfeld für Ideen, die ich in den Romanen der nächsten Jahre nicht umsetzen kann, aber dennoch nicht ganz begraben möchte. Ein wenig Urlaub vom Tagesgeschäft. Und doch gibt es zu vielen Erzählungen noch eine eigene Geschichte:

Mondträume, zuerst erschienen 1996, ist meine zweite Kurzgeschichte. Die Idee dazu wurde geboren, als mir befreundete Gaukler und Musiker von Burg Reuschenberg erzählten, die keineswegs erfunden ist. Ganz wie in der Geschichte drohte sie dem Braunkohlebagger zum Opfer zu fallen – was inzwischen auch geschehen ist. Mehrere Male habe ich die Burg besucht, habe mich von der Landschaft inspirieren lassen, war auf einem rauschenden Künstlerfest an einem romantischen Sommerabend, und langsam formte sich die Geschichte in mir. Und bis heute ist Mondträume eine der schönsten Liebesgeschichten, die ich geschrieben habe.

Virus erschien 2013 in der Anthologie Vom Tod, die von den geschätzten Kollegen Friedhelm Schneidewind und Frank Weinreich herausgegeben wurde. Seit Langem brütete ich an dem Thema, unter welchen Bedingungen ein Computervirus auch für Menschen tödlich werden könnte. Ganz unmagisch, in einer sterilen Welt der nahen Zukunft, war es eine schriftstellerische Herausforderung, die mich weit weg von den üblichen Pfaden geführt hat.

Wolfsträume von 2003 führt zurück an die Grenzen des Braunkohletagebaus. Während der Arbeit an Mondträume hatte ich den Journalisten Manfred Junggeburth kennengelernt, der mir die Geschichte des Bauern Peter Stump aus Epprath erzählte, der am 31. Oktober 1589 in Bedburg als Werwolf hingerichtet wurde. Eine Geschichte, die damals in halb Europa Aufsehen erregte. Gemeinsam mit Manfred entstand das Büchlein »Wolfsspuren«, in dem er die historischen Hintergründe des Werwolffalls ausleuchtete und ich die Novelle Wolfsträume beisteuerte. Und natürlich spielte auch im historischen Fall ein Gürtel eine ganz besondere Rolle, der jedoch nie aufgefunden werden konnte.

Ruth entstand 1996, für Das Magazin, eine Autorenzeitschrift in der Schweiz. Wer meine Elfen-Romane kennt, die regelmäßig zwischen 800 und 1100 Seiten haben, ahnt, wo hier die Herausforderung lag. Ich glaube ich habe noch nie so lange an so wenigen Seiten gefeilt, denn der erste Entwurf übertraf die Textvorgabe um mehr als das Doppelte.

Verwunschenes China erschien erstmals 2010 im Fantastikmagazin Nautilus. Seit vielen Jahren habe ich eine enge Bindung zu China, lebt doch der größere Teil meiner Verwandtschaft dort. Regelmäßig genieße ich es, dieses wunderbare Land abseits ausgetretener Touristenpfade zu erkunden. Und so entstand Verwunschenes China, das sich in einer Hinsicht von allen anderen Erzählungen in diesem Buch unterscheidet. Es ist keine erfundene Geschichte, sondern der Bericht über einen Spaziergang im Nebel, den ich tatsächlich unternommen habe.

Tod im Labyrinth wurde bislang nur in der Anthologie »Götter, Sklaven und Orakel« (1996) veröffentlicht. Schuld an dem Setting dieser Geschichte ist das Schiffsfresko von Thera (Santorin), einer kleinen griechischen Insel, auf der vor etwa 3500 Jahren ein Vulkanausbruch eine Stadt konservierte. Die Bilder von Grabungen dort, zusammen mit den Illustrationen des Künstlers Peter Connolly, haben mich schon in meiner Jugend geprägt und den Wunsch in mir geweckt, dies alles eines Tages in einem Roman oder zumindest einer Kurzgeschichte lebendig werden zu lassen.

Zu meinen archäologischen Wurzeln führt auch die Geschichte Stürmische Zeiten aus dem Jahr 2000. Es war mein Kindheitstraum, Archäologe zu werden und nach versunkenen Städten zu suchen. Und so kam es, dass ich Jahre später Vorderasiatische Altertumskunde studierte. Im Institut bin ich nie von einem Zen-Bogenschützen bedroht worden, doch ist die Geschichte eine Hommage an diese Jahre und die WG, in der ich damals lebte. Und auch an jene Ballettlehrerin, deren im Herbstwind tanzenden Staubmantel ich nie vergessen werde.

Viele Jahre lang hatte ich den Plan, zwei große Kreuzzugs-Romane zu schreiben. Zu Recherchen reiste ich in die Türkei, den Libanon, nach Syrien und Israel, Jordanien, den Gaza-Streifen und Ägypten. Wunderbare Reisen, aus denen viele Eindrücke ihren Weg in andere Bücher fanden. Die Kreuzzugs-Romane sind nie entstanden, aber es blieben zwei Kurzgeschichten, die als Vorbereitung und zur Finanzierung eines Teils der Reisen dienten. Der Stab aus Elfenbein, aus der Anthologie »Von Mönchen, Mägden und Gesindel« (1995), und Das goldene Tor, erschienen in »Morde hinter Klostermauern« (1996).

Exklusiv für diese Anthologie entstand die Geschichte Die Verschlingerin der Toten. Meine jugendliche Begeisterung für Archäologie und Gespenstergeschichten fand hier eine Symbiose. Insbesondere war es mir ein Vergnügen, auf dem schmalen Grat zwischen Realität und Fantastik zu balancieren. Fast alle Schauplätze sind authentisch, und auch die verwickelten Familienverhältnisse Echnatons sind keineswegs erfunden. Und wer starke Nerven hat, mag sich über Google einmal auf die Bildersuche nach KV35YL machen. Doch Vorsicht, am Ende dieses Weges findet sich das Bild einer etwa 3300 Jahre alten Leiche.

Ebenfalls neu ist die Erzählung Geister lügen nicht. Lange schon brüte ich über Geschichten um einen »Inspektor« in einer Fantasywelt und darüber, wie ein Ermittler wohl arbeiten würde, wenn Totenbeschwörung eine Variante für die Aufklärung von Mordfällen wäre. Würde dies das Ende aller Morde bedeuten? Oder nur neue Varianten von Morden heraufbeschwören?

Heutzutage ist es ein Abenteuer für einen Verlag, eine Anthologie herauszugeben. Ich freue mich, im Piper-Verlag einen Lektor gefunden zu haben, der nicht davor zurückschreckt, abenteuerliche Wege zu gehen. Dieses Buch hat mich in den letzten Monaten noch einmal mit vielen alten und auch neueren Träumen konfrontiert. Es hat Spaß gemacht, in so viele verschiedene Welten abzutauchen, und ich hoffe, es finden sich immer noch viele Bücherfreunde, die facettenreiche Leseabenteuer so sehr zu schätzen wissen wie Carsten Polzin und ich.

Bernhard Hennen,

an einem Sommerabend 2016

MONDTRÄUME

Frank hatte den Lärm des Festes hinter sich gelassen. Die Mauern aus verwittertem Ziegelstein und die Stallungen schirmten ihn gegen die aufgesetzte Fröhlichkeit der anderen ab. Sie alle waren einmal seine Freunde gewesen … vor langer Zeit jedenfalls. Sie hatten gemeinsam studiert und sich dann fast zwanzig Jahre lang nicht mehr gesehen. Wie hatte Rolf nur glauben können, dass sie noch zusammen feiern könnten! Sie prahlten damit, wie weit sie es im Leben gebracht hatten, oder tauschten hohle Höflichkeiten aus.

Frank schlenderte die Reihe der Autos entlang, die vor der Scheune standen – und lächelte. Sie sagten mehr über ihre Besitzer aus, als dies viele Worte vermocht hätten. Da war Annas alte Ente mit dem vergilbten Anti-Atomkraft-Aufkleber auf dem Heckfenster. Sie war eine geschiedene Sozialarbeiterin in Birkenstock-Schuhen und ließ auch heute noch keine Demonstration aus.

Gleich daneben stand Manfreds Porsche. Das neueste Modell. Na klar! Er leitete eine Werbeagentur in München. Hier gab es keine Aufkleber, keine Plüschfiguren … Das einzige individuelle Accessoire war das Handy, das auf dem Beifahrersitz lag.

Ein Stück weiter … sein alter Diesel. Die Sitze abgewetzt, eine Straßenkarte auf der Ablage über dem Armaturenbrett, zwei zerknüllte Strafzettel für Falschparken und eine leere Cola-Flasche auf der Rückbank. Was sagte das einem Fremden über den Charakter des Wagenbesitzers?

Doch der Wagen passte zu ihm. Frank trank einen Schluck aus der Weinflasche, die er vom Fest mitgenommen hatte. Zu den frustrierendsten Erkenntnissen des Älterwerdens gehörte, dass Klischees in der Regel stimmten. »Zeig mir dein Auto, und ich sage dir, wer du bist«, murmelte er leise und schlenderte weiter, bis er die Ecke der großen Scheune erreichte. Der Mond stand hoch am Himmel, man konnte weit über die abgeernteten Kornfelder sehen. Rechts von der Burg leuchtete ein zweites, fahles Auge am Nachthimmel: einer der Scheinwerfer des riesigen Braunkohlebaggers, der keinen Kilometer entfernt am Rand der großen Grube stand. Sein Schaufelrad zeigte drohend auf den Bergfried. Die Belagerung von Raubrittern, die marodierenden Söldnerhaufen des Dreißigjährigen Krieges und zwei Weltkriege, all das hatte die kleine Burg überstanden, und jetzt sollte sie mitten im Frieden zerstört werden. Ein Jahr noch, und der Bagger würde dort stehen, wo sie jetzt stand.

Darum hatte Rolf sie zu diesem Fest eingeladen. Er wollte Abschied nehmen von Burg Reuschenberg. Seit einem halben Jahr waren die Stallungen und Wirtschaftsgebäude schon verlassen, und er hatte das Grundstück ohne Schwierigkeiten anmieten können, um auf seine Art Abschied zu nehmen.

Like a sex machine dröhnte es über die niedrigen Dächer der Ställe. Ob Musik, ein bisschen Gras und Rotwein wohl reichten, um die alten Zeiten noch einmal heraufzubeschwören? Sie hatten die wilden 68er nur um drei Jahre verpasst, und obwohl die Uni noch das Flair der Hippiezeit atmete, hatten sie doch nicht mehr richtig dazugehört.

Hinter den Scheunen lag dichtes Unterholz, also musste Frank einen Bogen über den Acker machen, um auf die Rückseite der Burg zu gelangen. Dort standen alte Kastanien, deren Wipfel sich fast so hoch wie das spitze Schieferdach des Bergfrieds erhoben. An der Mauer vorbei lief ein ausgetrockneter Wassergraben. Er kletterte hinunter. Seine Finger strichen über die rissigen Mauersteine, und mit der Flasche prostete er den alten Ziegeln zu. Was diese Steine schon alles gesehen haben mochten.

»Ein schöner Platz, nicht wahr?«, erklang hinter ihm eine Stimme. Frank drehte sich um und spähte zu den Kastanien hinüber. Eine Gestalt löste sich aus dem Schatten der Bäume und stieg die Böschung zu ihm hinab.

Rolf!

»Du bist nicht auf deinem Fest?«

»Du bist doch auch nicht dort. Es war mir zu laut und …« Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht ist es ein Fehler gewesen, die alten Zeiten noch mal raufbeschwören zu wollen? Ich weiß nicht. Aber ich glaube, ich hätte lieber allein Abschied nehmen sollen.« Er legte den Kopf in den Nacken und blickte zum Vollmond hinauf. »Eine schöne Nacht. Ich liebe dieses Licht. Es gehört zu Feenmärchen, Geistergeschichten und … zur großen Liebe. Was glaubst du, wie viele Pärchen sich in dieser Nacht und unter diesem Mond ewige Treue schwören? Und wie viele Schwüre werden halten?«

Frank zuckte mit den Schultern. »Ich denke, die meisten werden schon bald Geschichte sein. Eine romantische Erinnerung …« Er nahm einen Schluck aus der Flasche.

»Ja, Geschichte …« Rolf seufzte leise. »Weißt du, manchmal glaube ich, dass im Mondlicht Vergangenheit und Gegenwart nicht mehr so streng voneinander getrennt sind. Sie fließen ineinander über … jedenfalls an Orten, die eine lange Geschichte haben, so wie die Feenhügel in Irland oder eben diese Burg. Die Menschen und das Land, sie sind eins.«

Verstohlen musterte Frank seinen Freund und fragte sich, was für ein Kraut er wohl geraucht hatte. Für einen Endvierziger hatte sich Rolf ganz gut gehalten. Zumindest äußerlich … Er war schlank, fast schon hager. Sein schulterlanges schwarzes Haar war von grauen Strähnen durchzogen, das Gesicht glatt rasiert. Ein wissendes, fast zynisches Lächeln spielte um seine Lippen und stand im Gegensatz zu seinen dunklen, melancholischen Augen. Er war ein ausgemachter Frauentyp, schien sich aber nichts daraus zu machen. Weder war er verheiratet, noch gab es Affären – er hatte sich ganz der Kunst verschrieben. Rolf liebte Klimt, Schiele und die Werke der Jahrhundertwende. Seine mystischen Bilder standen seit einigen Jahren bei den Kölner Galeristen hoch im Kurs, und er lebte gut von seiner Kunst.

Fast zärtlich strich er über die Mauer des Bergfrieds. »Jeder dieser Steine könnte dir eine Geschichte erzählen, Frank. Trotzdem wird man sie zu Staub zermahlen. Es gibt nichts, was sie vor dem Bagger dort hinten bewahren kann. Und so wie sie vergehen, werden auch die Geschichten aufhören zu bestehen. Siehst du das vermauerte Fenster da oben? Einer dieser Steine kennt meine Geschichte. Ich habe sie noch nie jemandem erzählt, und trotzdem bin ich sicher, dass es hier an diesem Ort etwas gibt, das zwar nicht greifbar ist, aber das um mich weiß.«

Ein Windstoß fuhr rauschend durch die Blätter der Kastanien. Frank fröstelte es. Er blickte den Bergfried hinauf. Das vermauerte Fenster war deutlich zu erkennen. Die Steine wirkten alt. »Willst du deine Geschichte nicht mit mir teilen? Dann wird sie weiterbestehen … zumindest für eine Weile.«

Rolf sah zu den Kastanien hinüber, als suchte er dort Rat. Eine Weile standen sie schweigend nebeneinander. Die Stille wurde beklemmend.

»Wie viel hast du eigentlich getrunken?«

»Was soll die blöde Frage?« Frank hielt die fast leere Flasche hoch. »Willst du jetzt die Zeche eintreiben?«

Rolf sah ihn mit versteinerter Miene an. Offenbar war ihm seine Frage sehr ernst. »Ich möchte wissen, wie betrunken du bist. Wenn du noch zu nüchtern bist, werde ich dir meine Geschichte nicht erzählen. Ich möchte, dass du mir glaubst. Trink auch den Rest, und dann sage ich dir, warum ich seit zwanzig Jahren immer wieder an diesen Ort komme.«

Einen Moment lang maßen sie einander mit Blicken. Rolf wirkte ganz ruhig.

»Ich kenne ein paar Leute, die dich für ziemlich verrückt halten würden.« Frank blickte auf die Flasche in seiner rechten Hand. Weniger als ein Glas voll war übrig geblieben. Er würde sich auf dieses Spiel einlassen. »Auf der anderen Seite habe ich schon immer was für Verrückte übrig gehabt.« Er lachte, hob die Flasche an die Lippen und leerte sie in einem Zug.

»Gut.« Rolf wirkte erleichtert. »Kannst du dich an Anna erinnern?«

»Was heißt hier, kannst du dich an Anna erinnern? Sie ist doch oben auf der Party! Ich hab sie erst vor einer halben Stunde gesehen.«

»Ich meine, ob du dich noch daran erinnerst, wie sie früher war. Sie war wie eine Göttin! Alle haben sie angebetet. Freie Liebe und Unschuld, Drogen, der Traum von Kalifornien … Sie war die Verkörperung aller Hippie-Ideale – für mich jedenfalls. Und einen Sommer lang waren wir beide zusammen!«

»Ich weiß …«, brummte Frank halblaut. Der Wein war ihm zu Kopf gestiegen. Er musste sich setzen und lehnte sich dabei an die Mauer. Durch sein dünnes Hemd spürte er die Wärme, die die Ziegelsteine den Tag über gespeichert hatten. Rolfs Stimme schien etwas Körperliches bekommen zu haben. Wie ein warmer, sanfter Strom spülte sie durch seinen Kopf und ließ ihn zu fremden Gestaden davontreiben. Rolf hatte recht gehabt. Die Vergangenheit schien plötzlich näher gerückt. Diese unbeschwerten Sommer …

»Am Ende des Sommers war sie dann auf einmal mit Janosch zusammen. Ich hab es damals nicht fassen können. Sie hat mich sitzen lassen. Einfach so. Er war in Indien gewesen … Er kannte die Welt, und ich, ich habe mich eine ganze Woche lang nur noch betrunken. Dann bin ich mit der Bahn raus aufs Land gefahren, weil ich es in der Stadt nicht mehr aushalten konnte. Dort hab ich weitergetrunken und bin von Kneipe zu Kneipe gezogen. Ich war völlig am Ende, wollte mir sogar das Leben nehmen. Mit einem Messer in der Hand lag ich irgendwann unter einem Baum. Ich sehe es noch so deutlich vor mir, als wäre es gestern gewesen. Ein Brotmesser. Das Mondlicht schimmerte silbern auf der Klinge. Ich kämpfte mit mir … Nicht, dass ich Angst vorm Sterben gehabt hätte. Ich hab mich nur davor gefürchtet, dass ich Schmerzen haben würde. Wahrscheinlich habe ich eine ganze Weile so dagesessen und auf das Messer gestarrt. Dann plötzlich … hinter mir … erklang eine Frauenstimme. Du musst die Hand in kaltes Wasser halten, dann wird es nicht wehtun, sagte sie.«

»Sie hat dir eine Anleitung zum Selbstmord gegeben! Sonst hat sie nichts gesagt?«

Rolf schüttelte den Kopf. »Sie stand einfach nur da und betrachtete das Messer. Sie war etwas kleiner als ich und von zierlicher Statur. Ihr rotblondes Haar fiel ihr über die Schultern bis auf den Rücken. Sie trug ein langes weißes Kleid, das hell im Mondlicht leuchtete. All meine Gedanken an den Tod waren mit einem Mal dahin. Sie erschien mir wie das Leben selbst. Ich habe das Messer weggeworfen, weil ich ihr keine Angst machen wollte.« Rolf lachte leise. »Was sie damals wohl von mir gehalten hat?« Schweigend blickte er zu den Kastanien hinüber.

»Und weiter? Was ist dann passiert?«

»Sie hat sich neben mir ins Gras gesetzt und mich in den Arm genommen. Ich weiß nicht, ob du so was schon einmal erlebt hast. Wir brauchten nicht zu reden, um uns zu verstehen. Sie hat mich bloß angesehen und wusste, was los war.«

»Und was ist aus deiner geheimnisvollen Fremden geworden? Das hört sich ja an, als hättest du in dieser Nacht deine Frau fürs Leben gefunden. Wie kommt es dann, dass du immer Junggeselle geblieben bist?«

Rolf ignorierte die Frage. »Ich war ziemlich betrunken in dieser Nacht. Irgendwann bin ich eingeschlafen. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, lag ich nackt im Gras. Meine Kleider waren ordentlich zusammengefaltet, und darauf lag eine verwelkte, weiße Rose. Da vorn, unter der Kastanie, hatte ich gelegen.« Rolf zeigte auf einen der mächtigen Bäume, die am Burggraben wuchsen.

»Du, kannst dich an nichts mehr erinnern? Du weißt nicht mal, ob ihr miteinander geschlafen habt?« Frank lächelte. So betrunken könnte er niemals sein! »Was wurde aus ihr?«

»Als ich wieder halbwegs bei Sinnen war, bin ich losgezogen und habe sie gesucht. Auf der Burg kannte sie aber niemand. Auch in den Nachbardörfern hatte sie noch nie einer gesehen. Fast schien es, als wäre sie in jener Nacht genauso unter den Kastanien gestrandet wie ich. Ich hab dann sogar eine Suchmeldung in die Zeitung gebracht. Doch alles war vergebens. Sie blieb spurlos verschwunden. In den Dörfern ringsum fing man schon an, mich für einen Verrückten zu halten, aber das war mir egal. Auch wenn ich sie nicht wiederfinden konnte, hatte sie meinem Leben einen neuen Halt gegeben. Ich fing an zu malen und hatte ja auch einigen Erfolg. Nachts aber bin ich immer wieder zur Burg hinausgefahren und habe hier im Schatten des Turms gesessen und auf sie gewartet.«

»Hast du sie wiedergesehen?«

»Ja. Fast drei Monate später. Es war eine kalte Herbstnacht, und ich hockte wieder mal hier unter dem vermauerten Fenster. Der Mond stand hell wie eine Laterne am Himmel. Ich hatte mir einen Joint gedreht, um die Kälte zu vergessen, und wartete. Es muss weit nach Mitternacht gewesen sein, und ich wollte gerade gehen, als sie plötzlich zwischen den Bäumen stand und mir zuwinkte. Wir waren bis zur Morgendämmerung zusammen … Drei Tage später habe ich auf die Anzeige hin, die ich in die Zeitung gesetzt hatte, einen Brief bekommen. Er war von einem Bauern aus Angelsdorf. Neugierig bin ich zu ihm rausgefahren, denn obwohl ich schon zwei Nächte mit der schönen Fremden verbracht hatte, wusste ich noch nicht einmal ihren Namen. Alles Mögliche habe ich mir auf dem Weg zu dem Bauern ausgemalt. Dass sie seine Tochter sei und schwanger war oder dass er sie aus irgendeinem Grund einsperrte. Schließlich kannte sie ja niemand aus den Dörfern und von den Höfen. Aber es kam alles ganz anders. Der Bauer, ich glaub, er hieß Mertens oder so, hat mich freundlich empfangen. Er hat mich mit sich in ein kleines Zimmer voller Bücher und Antiquitäten genommen und mir einen ziemlich mörderischen Kaffee gekocht. Er war so was wie ein selbst ernannter Dorfschreiber, sammelte Geschichten über die Gegend und wetterte gegen die großen Bagger, die das Land zerstörten. Irgendwann hat er dann angefangen, mich über das Mädchen auszuhorchen, und je mehr ich ihm erzählte, desto ernster wurde er. Schließlich riet er mir eindringlich, mich nicht mehr mit ihr zu treffen. Sie sei mein Verderben. Dann erzählte er mir eine krause Geschichte über eine Isabelle, die vor über dreihundert Jahren auf der Burg gelebt hatte. Ich hab ihm natürlich nicht geglaubt. Trotzdem wirkten seine Worte wie ein schleichendes Gift. Ich fragte mich, warum sie sich nur bei Vollmond mit mir treffen wollte und warum sie niemand kannte.

Ich war mir nicht mehr sicher, ob ich noch Traum von Wirklichkeit unterscheiden konnte. Zwar nahm ich mir vor, sie bei unserem nächsten Treffen genau zu befragen, doch als sie dann endlich wieder vor mir stand, waren meine Lippen wie versiegelt. Nur an meine Fragen zu denken, schnürte mir die Kehle zu und machte mir Angst. Ich ahnte schon damals, dass unsere Beziehung etwas Besonderes sein würde. Etwas, das sich nicht nach den gewöhnlichen Vorstellungen von Glück und von dem Zusammensein mit Frauen messen ließ. Natürlich war ich oft einsam in den vielen Nächten ohne sie. Aber ich hatte die Kunst … Ich habe gemalt, und seit ich sie kannte, habe ich jegliches Interesse an anderen Frauen, an sogenannten normalen Beziehungen verloren. Sie hat mich in die Geheimnisse dieses Landes eingeweiht, und ich habe gelernt, dass die Wunden, die der Bagger in die Erde reißt, nie mehr verheilen werden. Der Boden ist wie ein Geschichtsbuch, und jede Generation lässt ein paar Seiten in diesem Buch zurück, die der Kundige noch nach Jahrhunderten zu lesen vermag. Isabelle hat mich diese Art des Lesens gelehrt. Sie wusste, wo einst die Gutshöfe der römischen Grundherren gelegen hatten, kannte das verschwundene Dorf Kutzde und führte mich tief in den Wald zur Ottersenke, wo die bleichen Äste der abgestorbenen Eichen wie Knochenhände zum Himmel ragten. Vieles von dem, was ich in meinen Bildern gemalt habe, habe ich wirklich gesehen, wenn ich mit Isabelle nachts durch das Land streifte. Ich weiß, wo die Ubier zu ihren Göttern gebetet haben, ich kenne auch die Mithras-Schreine der Legionäre und die …«

Frank war der Kopf schwer vom Wein geworden. Die Stimme seines Freundes klang wie von ferne, und seine Geschichte erinnerte an die Märchen aus Kindertagen. Zuletzt glaubte er sogar, Isabelle hinter Rolf stehen zu sehen …

Als Frank erwachte, waren seine Kleider klamm vom Morgentau. Neben ihm lag die leere Weinflasche im Gras. Er war allein. Immer noch klang ihm Rolfs Stimme im Ohr, aber er konnte sich nur vage an die Geschichten seines Freundes erinnern. Auch war er nicht mehr imstande zu unterscheiden, was noch Erzählung gewesen war und was schon zu seinen Träumen gehörte.

Wahrscheinlich war es Rolfs Absicht gewesen, ihn zu verwirren. Deshalb auch die Sache mit der Weinflasche. Er hatte ihn in eine ganz besondere Stimmung bringen wollen, in der er für die krausen Geschichten, die er erzählte, empfänglicher war. Man brauchte sich ja nur Rolfs Bilder anzusehen, um zu wissen, was in seinem Kopf vor sich ging.

Müde rappelte Frank sich auf. Hoffentlich war in der Burg schon jemand wach. Er würde jetzt einen großen Kaffee brauchen oder vielleicht ein paar Stunden in einem richtigen Bett. Er war zu alt, um einfach so eine Nacht im Freien zu verbringen. Jeden Knochen spürte er.

Im Hof der Burg herrschte Chaos. Überall standen leere Flaschen und Gläser herum. Niemand war mehr zu sehen. Vermutlich hatten die meisten in der letzten Nacht länger ausgehalten als er und schliefen jetzt in den Feldbetten, die Rolf besorgt hatte, ihren Rausch aus.

Am Ende des Hofes erhob sich der mächtige, grau verputzte Bergfried. Die Fenster, die zum Hof zeigten, waren mit rotem Sandstein eingefasst. Früher war der Turm ein Symbol für Macht und Schutz gewesen, doch diesmal würde er die Herren von Reuschenberg nicht mehr retten.

Eben war er noch müde gewesen, jetzt erklomm er neugierig die Stiege zum Rittersaal. Von dort musste es einen Zugang zum Turm geben. Er hatte sich die Burg gestern Abend gar nicht angesehen, nun aber hatte die frische Morgenluft seine Unternehmungslust geweckt. Schlafen konnte er immer noch.

Die Tür zur Treppe des Turms stand weit offen. Zwei Bahnen rotgoldenen Lichtes stachen durch die Finsternis. Irgendwo draußen zwischen den Kastanien ertönte der keckernde Ruf eines Eichelhähers. Vorsichtig nahm Frank Stufe um Stufe. Die hölzerne Stiege knarrte unter jedem seiner Schritte.

Auf einem Absatz, an dem eine halb geöffnete Tür lag, machte er halt, um zu verschnaufen. Keuchend lehnte er sich gegen eine Fensternische. Durch den Türspalt wirkte das Zimmer auf der anderen Seite des Treppenabsatzes völlig dunkel, so als wären dort Vorhänge vor die Fenster gezogen. Oder sollte dort jene Kammer mit dem vermauerten Fenster liegen, das er gestern Nacht gesehen hatte?

Ein flatterndes Geräusch ließ ihn aufschrecken. In der Fensternische war ein bunter Vogel gelandet. Der Eichelhäher! Neugierig stellte er den Kopf schief und lugte zu Frank herein. Der Vogel schien genau zu wissen, dass ihn die Scheibe schützte. Ja, er pickte sogar herausfordernd mit dem Schnabel gegen das Fenster. Oder wollte er ihm den Weg in das dunkle Zimmer zeigen? Leise lachte Frank. Ein Vogel, der ihm den Weg wies! Das hörte sich an wie eine von Rolfs fantastischen Geschichten!

Entschlossen trat er zur Tür. Sie war nur einen Spaltweit geöffnet. Es reichte gerade aus, um sich hindurchzuzwängen. Frank konnte den Schatten einer Gestalt erkennen, die mitten in der Kammer vor einem wuchtigen Himmelbett zu stehen schien.

»Wer ist da?«

Schweigen.

Frank griff nach dem eisernen Knauf und wollte die Tür weiter aufziehen, damit mehr Licht in die Turmkammer fiel. Doch sie bewegte sich kaum. Es war, als wären ihre Angeln festgerostet. Wütend verpasste ihr Frank einen Stoß mit der Schulter, sodass die eisernen Scharniere ein kreischendes Geräusch von sich gaben. Doch der Erfolg war minimal. Die Tür hatte sich nur um wenige Zentimeter bewegt.

Dann eben nicht, dachte er wütend und drückte sich durch den Spalt. Seine Hand glitt über die Wand links vom Türrahmen und tastete nach einem Lichtschalter. Aber da war nichts.

»Wer bist du?« Die Gestalt in der Kammer hatte sich ein wenig in seine Richtung gedreht. Ihr Kopf war seltsam angewinkelt. Er schien fast auf der rechten Schulter aufzuliegen.

»Komm schon, was soll das Spiel? Bist du es, Rolf?«

Frank trat vor und packte die Gestalt am Arm. Wie schwerelos schwang sie ihm entgegen. Jetzt erst sah er den kurzen, armlangen Strick, der um den Deckenbalken geschlungen war. Die Gestalt hatte sich ihm vollends zugedreht, und er blickte in das leblos lächelnde Gesicht Rolfs. Ein umgestoßener Stuhl lag neben ihm.

»Du … verdammter Idiot.« Frank packte seinen Freund bei den Hüften und stemmte ihn hoch. Doch jeder Rettungsversuch war sinnlos. Der Körper war kalt und steif.

»Warum …?« Vorsichtig ließ er den Leichnam wieder hinab. Rolfs Zehenspitzen berührten fast den Boden. Er musste den Strick sehr genau bemessen haben. Aber warum …? Was war der Grund?

Franks Blicke wanderten durch den karg möblierten Raum. Seine Augen hatten sich jetzt an die Dunkelheit gewöhnt. Da gab es ein Himmelbett, dessen Pfosten bis zur niedrigen Decke hinaufreichten. Eine schön geschnitzte Kommode stand an einer der Wände. Neben dem umgestürzten Stuhl lag etwas Helles.

Frank kniete nieder und griff danach. Eine welke Rose … weiß.

Drei Monate waren seit Rolfs Selbstmord vergangen, als Frank den Wagen vor dem großen Gutshof parkte. Er hatte lange gezögert hierherzukommen. Selbst jetzt noch war er sich nicht sicher, ob er das Richtige tat.

An den Wänden des alten Backsteinhauses waren blinkende Sicheln aufgehängt. Zwei alte eiserne Pflüge standen vor den Stallungen.

Aber nun, da er hier war, sollte er wenigstens fragen. Er öffnete die Wagentür und trat durch das hohe Tor auf den Innenhof. Rechts aus den Stallungen war das Klappern von Blecheimern zu hören.

»Was wollen Sie hier?« Ein alter Mann in zerschlissener Cordjacke und blauen Arbeitshosen trat aus dem Stall. Sein faltiges Gesicht sah aus, als hätte ihm ein ganzes Jahrhundert seinen Stempel aufgeprägt. Nur die grauen Augen wirkten noch jugendlich.

»Ich suche einen Herrn Mertens. Er soll sich mit der Geschichte dieser Gegend auskennen. Man hat mir gesagt, ich könne ihn hier auf diesem Hof finden.«

»Und was wollen Sie von Mertens?«

»Ich habe ein paar Fragen zur Burg Reuschenberg.«

Der Alte hustete und spuckte auf den gepflasterten Boden. »Ich hab damit gerechnet, dass noch einer wegen des toten Malers kommen würde. Ich hatte ihn gewarnt, aber er wollte nicht auf mich hören. Dummer Kerl! Ich bin Mertens. Kommen Sie mit rein! Ich koch uns einen Kaffee, und dann fragen Sie mich.«

Der Bauer brachte Frank in ein kleines Zimmer, dessen Wände mit Regalen bedeckt waren, in denen sich Bücher, zerbrochene Öllämpchen, verrostete Eisenstücke, Schulhefte und aller nur erdenkliche Plunder stapelten.

»Mein Museum«, erklärte der Alte stolz. »Alles, was Sie hier sehen, stammt aus den Äckern rund um Angelsdorf. In den Büchern und Schreibheften finden Sie alles über die Geschichte und die Geschichten dieser Gegend. Sie kommen doch wegen der Französin, nicht wahr?«

»Isabelle?«

»Ja genau, so hieß sie. Jetzt setzen Sie sich erst mal.« Der Alte schlurfte aus dem Zimmer und ließ Frank mit den Trophäen der Vergangenheit allein. Als er zurückkam, brachte er ein Tablett mit einem dampfenden Kaffeekessel und zwei angeschlagenen Tassen mit.

»Waren Sie ein guter Freund von diesem Künstler?«

»Wir kannten uns schon sehr lange. Aber ob wir im landläufigen Sinne Freunde waren … Sein Tod berührt mich. Ich frage mich auch immer wieder, ob ich es hätte verhindern können. Es scheint, als wäre ich der Letzte gewesen, mit dem er gesprochen hat. Er hat mir eine seltsame Geschichte erzählt, über diese Isabelle. Ich bin an dem Abend schon etwas betrunken gewesen und weiß nicht, ob ich alles richtig verstanden habe. Deshalb bin ich hier. Er hat Ihren Namen genannt.«

Der alte Bauer goss sich eine halbe Tasse Kaffee ein, füllte den Rest mit Milch auf und versenkte dann vier Zuckerwürfel in dem hellbraunen Gebräu. »Er hätte sich nicht auf Isabelle einlassen dürfen. Sie hat schon früher einem Herrn von Reuschenberg das Leben gekostet. Er war der Letzte aus dem alten Stamm … Ich nehme mir die Freiheit, auch Ihren Freund einen Herrn von Reuschenberg zu nennen, immerhin hatte er den ganzen Besitz gepachtet. Nach ihm wird es keine Burgherren mehr geben. Im Dezember werden die großen Kastanien und die anderen Bäume gefällt, dann kommen die Archäologen und zuletzt der Bagger. In einem Jahr wird es so sein, als hätte es die Burg niemals gegeben.« Mertens rührte gedankenverloren in seinem Kaffee.

»Und wer ist diese Isabelle? Wie kann sie zwei Burgherren ins Unglück gestürzt haben? Und wo steckt sie jetzt? Können Sie mir das erklären? Ich würde gerne mit ihr reden, ihr ein paar Fragen stellen über Rolf.«

Der Bauer schüttelte den Kopf. »Isabelle kann man nicht erklären. Entweder glaubt man an sie oder nicht. Sie werden Sie in keinem Geschichtsbuch und in keiner Chronik aus dieser Gegend finden. Man sagt, sie sei aus Frankreich gekommen, aber auch dafür gibt es keinen Beweis, nur ihren Namen. Und was ist schon ein Name? Zu Zeiten meines Großvaters haben die alten Bauern noch viel von ihr geredet. Ich habe diese Geschichten aufgeschrieben. Heute gibt es kaum mehr jemanden, der von ihr weiß. Man sitzt eben abends nicht mehr zusammen und erzählt sich die alten Geschichten.« Geräuschvoll schlürfte Mertens seinen Kaffee und räusperte sich. »In den letzten Jahren des Dreißigjährigen Krieges haben die Kaiserlichen gegen die Franzosen kämpfen müssen. Auch hier in der Gegend hat es ein paar Scharmützel gegeben. Zu dieser Zeit muss Johann Freiherr von Reuschenberg, der Letzte dieses Zweigs der Familie, die schöne Isabelle kennengelernt haben. Darüber, wer sie war und woher sie kam, gehen die Meinungen auseinander. Manche sagen, sie war Fähnrichin unter dem Weibervolk, das die französischen Truppen begleitete, und dass sie mit dem Stecher, dem Rapier der Lanzenreiter, wie ein Mann zu fechten verstand. Andere wieder behaupten, sie sei nur eine Marketenderin oder gar eine Trosshure gewesen. Es ist auch nicht mehr bekannt, unter welchen Umständen sie den Freiherrn Johann kennengelernt hat und was den Obristlieutenant in blinder Liebe zu ihr verfallen ließ. Sie müssen wissen, dass der Reuschenberger ein verdienter Offizier war und angeblich sogar der berühmte Johann von Werth zu seinen Freunden zählte. Na ja, jedenfalls hat der Reuschenberger irgendwann seinen Abschied genommen und ist mit seiner Isabelle auf die Burg zurückgekehrt. Dort ließ er verkünden, dass er die schöne Fremde zum Weibe nehmen wolle.

Das war allerdings ein Skandal, denn zum einen war sie keine Dame von Stand und zum anderen auch noch eine Hugenottin. Heute mag man darüber vielleicht lächeln, doch zu jenen Zeiten waren dies gleich zwei schwerwiegende Gründe, sich nicht miteinander zu vermählen. Aber der Reuschenberger war ein Dickkopf. Als er merkte, welchen Unmut seine Heiratspläne hervorriefen, sagte er das Fest ab. Auf die Hochzeit mochte er deshalb trotzdem nicht verzichten. Er bestellte sich einen lutherischen Pfaffen und wollte sich in aller Heimlichkeit im Rittersaal seiner Burg vermählen lassen. Ja, er hatte sogar vor, zum Glauben der Empörer überzutreten.«

Mertens unterbrach seine Erzählung und nippte noch einmal an der Kaffeetasse. Dann schüttelte er den Kopf. »Man sollte mit dem Reuschenberger vielleicht nicht allzu streng ins Gericht gehen. Nach allem, was man so hört, muss diese Französin schon außergewöhnlich schön gewesen sein. Und Charakter hatte sie auch. Aber ich schweife ab. Irgendwie ist der Plan zu dieser heimlichen Hochzeit Maximilian von Reuschenberg zu Setterich zu Ohren gekommen. Er war ein Schwager Johanns und gehörte zu den Deutschordensrittern. Ein erzkonservativer Mann. Am Tag der Hochzeit stürmte er an der Spitze einiger Kürassiere den Rittersaal und verlangte von Johann, dass der seine Buhle Isabelle zum Teufel schicke. Ja, er behauptete sogar, die Französin sei eine Hexe, die Johann mit einem bösen Liebeszauber belegt habe.

Doch Johann war nicht der Mann, sich in seinen eigenen Wänden Befehle erteilen zu lassen. Er zog blank und drosch auf die Kürassiere ein. Im Handgemenge muss sich dann ein Schuss gelöst haben. Die Kugel schlug dem Reuschenberger durch den Hals und streifte auch noch den Pfaffen am Arm. Johann war auf der Stelle tot. Während noch alle erschrocken auf den Toten starrten, nahm Isabelle das Rapier aus der Hand ihres Liebsten und stach den Kornett nieder, aus dessen Büchse die tödliche Kugel stammte. Damit war der Bann gebrochen. Maximilian forderte, man solle die Hexe packen und auf einen Scheiterhaufen zerren. Wacker fechtend zog sie sich bis zur Turmstiege zurück und flüchtete in das Zimmer, das Johann für ihre Hochzeitsnacht hatte herrichten lassen. Es war eine kleine Turmkammer, und angeblich war sie mit Hunderten von weißen Rosen geschmückt worden.

Isabelle verriegelte die Tür, doch gab es aus der Turmkammer kein Entkommen für sie. Sie hörte, wie die Soldaten draußen mit schweren Äxten gegen die Tür schlugen, und sie wusste, dass man ihr keine Gnade gewähren würde. So zog sie das Laken vom Hochzeitsbett, knüpfte eine Schlinge daraus und erhängte sich an einem der Deckenbalken der Kammer.

Maximilian, der Deutschordensritter, raste vor Zorn, dass ihm die Hexe entkommen war. Als Selbstmörderin und Verfemte hat sie natürlich kein christliches Begräbnis bekommen. Sie wurde in ungeweihter Erde zwischen den Kastanien auf der Rückseite des Bergfrieds verscharrt. Weil mit Johann der letzte Spross aus der Hauptlinie der Reuschenberger gestorben war, gingen die Burg und alle anderen Güter an die Reuschenbergs zu Setterich. Böse Zungen behaupten, es sei kein Zufall gewesen, dass sich ein Schuss aus der Büchse des Kürassierkornetts gelöst habe, doch darüber kann ich mir kein Urteil erlauben.

Tatsache ist jedoch, dass das Gesinde der Burg behauptet, von diesem unglückseligen Tag an sei Isabelles Geist im Turmzimmer und unter den Kastanien umgegangen. In Vollmondnächten hat man ihr Gesicht häufig am Fenster des Turmzimmers gesehen. Deshalb ließ einer der Nachfahren des Deutschordensritters das Fenster vermauern. Außerdem wurde eine schwere Tür vor der Kammer angebracht, die man seit der Bluthochzeit immer verschlossen hielt. Es war gewiss kein Zufall, dass Ihr Freund ausgerechnet dieses Zimmer für seinen Selbstmord ausgewählt hat. Als Pächter wird er den Schlüssel zu der Tür bekommen haben, und durch mich kannte er Isabelles Geschichte.«

»Aber warum hat er das getan? Welchen Grund gab es für ihn? Er hatte Geld, er war beliebt … Sicher, manchmal war er ein komischer Kauz, doch abgesehen von dem Abend des Festes habe ich ihn nie schwermütig erlebt.«

Der alte Bauer schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht sagen, dass mich sein Ende überrascht hätte. Ich weiß nicht, ob Sie an Geister glauben, junger Mann. Er jedenfalls tat es. Er hatte sich in den Geist der schönen Isabelle verliebt. Zwei Wochen vor seinem Tod hat er mich noch einmal besucht. Er war in heller Aufregung und wollte von mir wissen, was mit den Geistern und dem Land geschehen wird, wenn die Bagger kommen. Isabelle hatte behauptet, sie werde vergehen, wenn die Burg und ihr Grab zerstört würden. Deshalb kam er zu mir. Er wollte wissen, ob ich der gleichen Meinung sei, und dabei hat er mir erzählt, dass er sich seit Jahren in jeder Vollmondnacht mit Isabelle treffe und sie ein Paar seien. Er war schon verrückt, Ihr Freund …«

»Und was haben Sie ihm geantwortet?«

Mertens schenkte sich eine zweite Tasse ein und musterte die Wolken aus Milch, die durch den dunklen Kaffee zogen. »Was die Geister angeht, junger Mann, da müssen Sie Ihre Antwort schon selbst finden. Doch eins ist gewiss. Was hinter dem Bagger zurückbleibt, ist ein Land ohne Geschichte. Was bleiben könnte, wären die Geschichten. Sie zu behalten, liegt an den Menschen, die hier wohnen. Doch ich habe Ihnen ja schon mal gesagt, dass man sich nicht mehr abends trifft, um von lang vergangenen Zeiten zu erzählen. Was will man auch von denen erwarten, die das Land ihrer Ahnen gegen ein bisschen Geld eintauschen. Ein Reichtum, von dem schon in ein oder zwei Generationen nichts mehr übrig sein wird. Wenn ich meinen Hof verlassen muss, dann mit den Füßen voran. Aber Angelsdorf wird vorerst wohl noch von den Baggern verschont bleiben. Und wie mein Sohn und meine Enkel dann später entscheiden werden …« Er zuckte mit den Schultern. »Wer weiß das schon? Es ist müßig, gegen den Bagger zu kämpfen. Man kann nur verlieren. Das haben alle begriffen, die hier wohnen. Die anderen sind einfach stärker. Ich glaube, auch Ihr Freund wusste das. Deshalb hat er sich am Ende der letzten warmen Sommernacht, die ihm mit Isabelle noch geblieben war, das Leben genommen. Er wollte nicht in einer Welt ohne sie weiterleben.« Mertens setzte die Tasse ab. »Aber genug jetzt von den alten Geschichten. Ich muss mich noch um meine Kühe kümmern. Ich hoffe, ich habe Ihnen ein wenig weiterhelfen können. Mehr weiß ich jedenfalls auch nicht zu erzählen, und es ist nicht gut, noch nach Einbruch der Dämmerung von frisch Verstorbenen zu sprechen.«

Frank bedankte sich. Es war offensichtlich, dass der Alte, selbst wenn er noch mehr über Isabelle wissen sollte, nicht darüber reden wollte. Frank schlug eine halbherzige Einladung zum Abendessen aus und stieg in den Wagen.

Vorsichtig blickte er sich um. Es war früh dunkel geworden an diesem Novembernachmittag, und das schmiedeeiserne Tor zum Friedhof war schon verschlossen. Er wollte nicht, dass man ihn dabei erwischte, wie er über die niedrige Mauer kletterte. Also wartete er, bis der Mond hinter den Wolken verschwand.

Rolf hatte sich gut auf seinen Tod vorbereitet. Er hatte eine kleine Gruft auf einem Friedhof nicht weit von der Burg gekauft. Seine Beerdigung hatte ohne großes Aufsehen stattgefunden. Ein Notar hatte den letzten Wünschen entsprochen. Sein ganzes Geld hatte Rolf einem kleinen Heimatmuseum vermacht.

Franks Blick suchte nach dem großen Baum, unter dem die Gruft lag. Er war erst einmal hier gewesen. Friedhöfe waren ihm unheimlich. Überall auf den Gräbern leuchteten kleine rote Totenlichter. Frank hatte diesen Abend mit Bedacht gewählt. Es war Vollmond, und er wollte auf seine Art von Rolf Abschied nehmen. Er griff nach den Blumen, die er auf der Mauerkrone abgelegt hatte und folgte dann dem schmalen Weg zwischen den Gräbern. In einiger Entfernung erklang der keckernde Ruf eines Eichelhähers.

Rolfs Grab lag ganz am Ende des Friedhofs, weitab von den letzten Ruhestätten der braven Bürger. Eine mächtige Kastanie streckte ihre weiten Arme über den eigenartigen Grabstein. Der Notar hatte Frank erzählt, dass Rolf das Monument auf einem alten Friedhof, der geräumt worden war, gekauft hatte. Eine bronzene Frauengestalt mit fließenden Gewändern und langen Haaren kauerte halb kniend, halb liegend über dem schwarzen Grabstein, der in verschnörkelten Buchstaben Rolfs Namen trug. Sie erinnerte ein wenig an die weiße Frau, die auf den Bildern auftauchte, die Rolf nicht verkauft hatte.

Hatte es den Geist der schönen Isabelle wirklich gegeben, oder war er nur der überreizten Fantasie des Malers entsprungen? Eine Traumgestalt, die sich aus unerfüllten Sehnsüchten manifestiert hatte. Frank dachte an die welke Rose, die neben dem Stuhl im Turmzimmer gelegen hatte. Wie war sie dorthin gekommen? Hatte Rolf sie mitgenommen?

Frank blickte auf den Strauß von weißen Rosen, den er mitgebracht hatte. Die Blumen hatten den ganzen Tag im Wagen gelegen und ließen jetzt die Köpfe hängen. Doch er war sich sicher, dass sie Rolf so besser gefielen. Er legte sie auf die schwarze Grabplatte. Ein Windstoß hatte die Wolken zerrissen, und fahles Mondlicht fiel auf den Friedhof.

Er wollte nicht in einer Welt ohne sie weiterleben. Die Worte des alten Bauern gingen Frank nicht aus dem Sinn. Er glaubte nicht, dass Mertens recht hatte. Aber … vielleicht hatte Rolf einen Weg gefunden, um mehr als nur ein paar Vollmondnächte mit Isabelle zu teilen.

Er hatte die letzten Bilder des Malers gesehen. Es waren lichtdurchflutete Sommerlandschaften gewesen, und es schien, als hätte Rolf die Melancholie, die bis dahin seine Gemälde beherrscht hatte, hinter sich gelassen.

Ein schriller Vogelruf ließ Frank aufschauen. Auf dem untersten Ast der Kastanie saßen zwei Eichelhäher. Einer der beiden Vögel nickte ihm zu. Dann flogen sie davon, dem Mond entgegen, und von ferne klang ihr Rufen wie Gelächter.