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Für Bruna,

erwachsene Komplizin einer glücklichen Kindheit

Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie mal war.

Niels Bohr

Übersetzung aus dem Italienischen von Luis Ruby

ISBN 978-3-492-96979-6

Mai 2015

© 2013 Sellerio Editore, Palermo

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015

Covergestaltung: Favoritbüro, München

Covermotiv: Oleg Znamenskiy/shutterstock.com

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Das Spiel der Paare

DIE ERFAHRUNG

Giacomo

Golfspieler, von Beruf Autor. Liebt Paola, was er aber manchmal zu vergessen sucht.

Paola

Architektin. Liebt schöne Dinge und ein ruhiges Leben. Trotzdem liebt sie auch Giacomo.

DIE JUGEND

Leonardo

Für den Lebensunterhalt programmiert er, fürs Überleben liest er. Liebt Letizia.

Letizia

Für den Lebensunterhalt bringt sie anderen das Lesen bei, fürs Überleben programmiert sie Leonardos Leben. Den sie liebt, trotz allem.

DAS GESETZ

Corinna

Polizistin im Rang eines agente scelto. Reich an Statur, nicht ganz so reich an Perspektiven.

Dr. Corradini

Polizeipräsident. Hoher Posten, niedere Beweggründe.

DIE ÜBELTÄTER

Der Bucklige

Im Einzelhandel tätig (verkauft nur für den Eigenkonsum).

Gutta

Wenn du ihn siehst, dann weißt du, wer er ist. Hauptsache, er weiß nicht, wer du bist.

DIE FACHMÄNNER

Costantino

Ohne Job, nicht ohne Sorgen. Die Variable, die verrücktspielt.

Tenasso

Ingenieur. Eine universelle Konstante.

DER VERLAG

Angelica

Giacomos Lektorin. Hält sich für hochprofessionell. Giacomo hält sie für eine professionelle Zimtzicke.

Dr. Luzzati

Verleger. Im fortgeschrittenen Alter, freundlich, herzkrank. Liest viel, veröffentlicht wenig, schläft noch weniger, lacht nie.

Anfang

Die Bedeutung eines Anrufs hängt immer stark von der Uhrzeit ab.

Klingelt das Telefon frühmorgens, so verheißt das in der Regel irgendetwas Unerwartetes: manchmal Lästiges, etwa eine Mutter, die mit Halsschmerzen aufgewacht ist und sich daher nicht in eine Großmutter verwandeln und das Enkelkind vom Kindergarten abholen kann, manchmal auch Angenehmes (da fällt mir gerade nichts ein), aber in jedem Fall Unerwartetes.

Im Laufe des Vormittags nehmen die eingehenden Anrufe verschiedene Bedeutungen an, nahezu alle mit dem Wort »Arbeit« verbunden: Da sind Meetings zu organisieren, Projekte abzuschließen, Rechnungen zu bezahlen und so weiter. Zur Mittagszeit wiederum klingelt das Handy so gut wie immer aus familiär-organisatorischen Gründen: Wenn du etwas essen gehst, dann lauf doch vorher noch schnell zum Bäcker; wenn du bei der Arbeit bleibst, holst du das Brot heute Abend im Supermarkt, da kannst du auch gleich noch Toilettenpapier mitbringen und ein Antistatikspray, danke.

Im Laufe des Nachmittags behelligt uns Meuccis geniale Erfindung aus sehr unterschiedlichen und nicht recht systematisierbaren Gründen, die jedoch häufig der persönlichen Sphäre zuzuordnen sind: Da werden telefonisch noch Mitspieler für den Hallenfußball gesucht, Geliebte vermelden, ihr Mann (oder ihre Frau) komme wegen Schneefalls nicht aus Bologna weg (oder aus Frosinone, das ist zwar selten, aber es kommt vor), und so weiter und so fort. Für das 21. Jahrhundert ist festzustellen, dass derartige private Mitteilungen in Form von SMS eingehen und oft nur dem Adressaten etwas sagen. Ihrem Wesen nach sind solche Nachrichten bewusst kryptisch, sie enthalten stets einen verborgenen Sinn, der einem externen Beobachter entgeht: Mal steckt das Rätsel in der Ausdrucksweise (»OK wr shn ns pkt 7 h m stdn ;)«), mal ist der Zusammenhang zwischen Sender und Inhalt unbekannt. (Trägt eine Nachricht wie: »In Bologna schneit’s ununterbrochen … hab das Spitzenhöschen an …« die Absenderadresse »Dipl.-Ing. Benazzi, Büro für Vermessungstechnik«, so kann das nur heißen, dass eine ausschließlich dem Empfänger bekannte Person ihn an einem diskreten Ort zu einem netten kleinen Quickie erwartet. Und zwar weder seine Ehefrau noch der Vermessungstechniker Benazzi.)

Wesentlich leichter lässt sich die Bedeutung eines Anrufs beschreiben, der zwischen acht und neun Uhr abends eingeht; was immer Ihnen der Anrufer partout zu der Zeit mitteilen muss, in der Sie Ihre wohlverdienten Bucatini auf die Gabel rollen, wird Ihnen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Abend verderben. Unschwer zu deuten ist auch der Grund eines Anrufs mitten in der Nacht: In seltenen Fällen geht es um die Geburt eines Neffen, viel wahrscheinlicher jedoch um den Tod eines älteren Verwandten.

Um es kurz zu machen, der Augenblick des Tages, an dem man am häufigsten aus angenehmem Anlass telefoniert, ist nach dem Abendessen: Da melden sich zum Beispiel Freunde, um zu besprechen, welchen Film man sich ansehen oder in welcher Kneipe man sich auf einen kurzen Plausch treffen könnte. Oder es kommt der lange und erfreuliche Anruf von jemandem, den man seit Längerem nicht gesehen hat, der weit weg wohnt und mit dem man nur zu gern mal wieder ein schönes Stückchen Zeit verbringen würde. Zum Beispiel ein Sohn, der im Ausland studiert.

»Dauert diese verdammte Telefoniererei noch lange?«

Paola sah ihren Mann an und holte schon Luft, um zu antworten. Dann beschloss sie, es bleiben zu lassen, und vertiefte sich wieder in den Architectural Digest.

Die Stille wurde unverzüglich, wenn auch nicht vollständig vom fernen Klimpern einer unverständlichen Sprache überdeckt, und deren Kadenz war so wellenartig wie unerbittlich. Der charakteristische Tonfall eines Kombattanten, der noch nicht aufgegeben hat, sondern alles nur Menschenmögliche tun zu müssen glaubt, um seinen Gesprächspartner zu überreden, und der zu diesem Zweck auf drei oder vier immer gleichen, nutzlosen Argumenten herumreitet. Paola wandte sich ein weiteres Mal ihrem Mann zu, der erneut aufgestanden war und nun begonnen hatte, im Zimmer auf und ab zu laufen.

»Giacomo, beruhige dich doch.«

»Wir haben schon einen im Haus, der es ruhig angehen lässt. Und der telefoniert seit geschlagenen fünfundvierzig Minuten.«

»Er spricht mit seinem Sohn, Giacomo. Der meldet sich doch nie. Und jetzt, wenn er einmal angerufen wird …«

»Ja, ja, das glaube ich gern. Wenn er dem armen Sohnemann jedes Mal so auf die Nerven geht, sobald er ihn am Apparat hat, dann ist das doch kein Wunder. Und sag jetzt nicht, es liegt an der Entfernung und daran, dass sie sich nie sprechen. Wenn du mich fragst, hat er ihm schon den letzten Nerv geraubt, als er noch zu Hause wohnte. Dass der Junge zum Studium nach London gegangen ist – übrigens auf meine Kosten –, wird wohl seinen Grund haben.«

Paola erhob sich seufzend und ging langsam Richtung Küche. Von dort aus hörte man, wie sie Seelan in höflichem Ton fragte, ob er das Telefonat vielleicht etwas abkürzen könne. Giacomo erwarte einen wichtigen Anruf.

Giacomo malte sich den Blick seines Hausdieners aus. Seelan verstand es, einem mit beiläufiger Miene das Gefühl zu geben, ein Sklaventreiber zu sein, und zwar immer, wenn etwas von ihm verlangt wurde (eine der Verrichtungen, für die Giacomo ihn im Einklang mit dem Gesetz und seinem eigenen Gewissen bezahlte, und nicht zu knapp). Das Ansinnen, mit dem Paola gerade an ihn herangetreten war, hatte er wahrscheinlich mit dem Ausdruck eines Schäferhunds quittiert, der an Leukämie erkrankt ist. Kurz darauf kam Paola zurück ins Zimmer, und die beiden Eheleute sahen sich an.

Seit Menschengedenken, genauer, seit er sich einem chirurgischen Eingriff am Knöchel unterzogen hatte, um einen kleinen Geburtsfehler zu korrigieren, machte Seelan keinen Finger mehr krumm. In den ersten Tagen nach seiner Rückkehr war er bei Giacomo wie ein Kriegsheld empfangen worden. Es erschien ganz natürlich, dass er nicht gleich wieder voll arbeitete, sondern sich immer mal wieder ein Päuschen im Sessel gönnte, den Fuß ordentlich auf einen Schemel gestützt zur Förderung der Durchblutung. Doch dann vergingen die Wochen, die Pausen wurden unmerklich länger, anstatt sich nach und nach wieder zum üblichen Arbeitsrhythmus zu verdichten, und etwa sechs Monate nach der Operation mussten Giacomo und Paola der Wahrheit ins Auge sehen: dass Seelan nur herumhing, den ganzen Tag las, Obstsaft trank (ausschließlich Ananas, anderes Obst konnte er nicht leiden) und nur hin und wieder den Kaminsims abstaubte, in der stolzen Pose eines Überlebenden. All das, wohlgemerkt, nicht bei sich zu Hause, sondern bei Giacomo. An dem Ort also, wo er jeden Morgen um acht Uhr vorstellig wurde, mit derselben metronomischen Pünktlichkeit, mit der er auch seinen Lohn einstrich, jeweils am 27. eines Monats zuzüglich Weihnachtsgeld im Dezember. Ihn zu entlassen kam schlichtweg nicht infrage: Einmal hatten sie sich nach einer schlaflosen Nacht dazu durchgerungen, Maßnahmen zu ergreifen, aber noch bevor sie am Morgen etwas sagen konnten, teilte Seelan ihnen mit dem gebührenden väterlichen Stolz mit, Junis, sein Erstgeborener, sei am Imperial College in London angenommen worden. Ein prestigereicher Studienort und seit Tony Blairs Zeiten auch ein kostspieliger: etwa dreitausend Pfund Sterling im Jahr allein für die Einschreibung, wie der Hausdiener sie mit besorgter, aber auch gewitzter Miene wissen ließ. Die Absichten seiner Arbeitgeber lösten sich begreiflicherweise in Luft auf, um sich dann unerklärlicherweise zu einem paradoxen Angebot zu verdichten. Seelan nahm das vierzehnte Monatsgehalt nach einem ersten höflichen Abwinken großzügig an.

Während die beiden Blicke wechselten, in denen sich all dies widerspiegelte, betrat der Hausdiener mit gewohnt abgekämpfter Miene den Raum.

»Na, Seelan, was gibt es Neues von Junis?«

Der Hausdiener sammelte sich kurz und stieß dann einen Seufzer aus, der noch einen an Zahnschmerzen leidenden Kriegsverbrecher zu Mitleid gerührt hätte.

»Ich glaube, es geht ihm nicht gut, Signora.«

»Probleme mit den Prüfungen?«, fragte Paola mit Erstaunen, das nicht vorgetäuscht war. Seelans Sohn war aufgeweckt, intelligent und überaus eifrig, außerdem neigte er nicht zu Klagen. Wahrscheinlich kam er nach der Mutter.

»Nein, mit den Prüfungen kein Problem. Das läuft gut, wie immer. Aber jetzt er hat Mädchen kennengelernt und will sie vorstellen. Ein gutes Mädchen, sagt er. Denk an dein Studium, sage ich. Ich weiß nicht, was er sich hat gesetzt in den Kopf.«

»Ach komm, Seelan. Er ist doch noch jung.«

»Das ich sage ihm auch. Du noch jung. Aber er ist jung und stur. Er glaubt, dass er es schafft, weil er bis jetzt immer hat geschafft. Und ich sage: Lenk dich nicht ab, sage ich. Du musst denken an Studium, nicht an Mädchen. Und dann er lacht.«

»Na ja, Seelan, das ist doch normal …«

»Ja, ich schon kapiere. London ist schwieriger Ort zum Leben. Und er sich fühlt allein. Vermisst Zuhause. Vermisst Zuhause, die Familie. Bruder und Eltern.«

»Ihr könntet dorthin ziehen«, wagte sich Giacomo vor, der einen Hoffnungsschimmer aufblitzen sah. Während Paola ihm einen bitterbösen Blick zuwarf, schüttelte Seelan wehmütig den Kopf.

»Ach, glaube ich nicht. Klima in London nicht gut für meinen Fuß. Tut immer noch viel weh. Jeden Tag, der geht vorbei, ich fühle immer schlechter. Ich …«

Zum Glück klingelte in diesem Augenblick das Telefon.

»Einunddreißig bis sechsunddreißig … einundvierzig bis sechsundvierzig … Nummer einundfünfzig und dreiundfünfzig. Da haben wir’s.«

Die Tür ging auf, und zwei Typen betraten das Abteil. Der erste war klein und mager und hatte eine schwarze Lederjacke, schwarze Brillengläser und spitz zulaufende Koteletten. Kurioserweise war er gleichzeitig kahlköpfig und langhaarig: Die wenigen Strähnen, die an den Seiten seines Schädels überlebt hatten – auch sie waren schwarz –, hatten offenbar seit Längerem keine Schere gesehen; sie waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, vermutlich um das Selbstvertrauen zu stärken. Dem Langhaarigen folgte wortlos ein Bursche im Trainingsanzug und mit millimeterkurz gestutzten Haaren. Er hatte einen prallen Bierbauch und strahlte etwas Beunruhigendes aus. Vielleicht lag es an seinem Gesicht, das vollkommen ausdruckslos war, vielleicht auch daran, dass am rechten Ohr ein Stück von der Ohrmuschel fehlte – allem Anschein nach war es einem Biss zum Opfer gefallen.

Das Abteil war bis dahin nur von einem schmächtigen jungen Mann um die dreißig besetzt gewesen. Er hatte blondes Haar und ein ungepflegtes Spitzbärtchen, machte aber im Ganzen einen ordentlichen Eindruck. Nur wirkte er sichtlich nervös.

Und diese Nervosität schien sich auch dann nicht legen zu wollen, als der Lederjackenträger ihn mit ausgesuchter Freundlichkeit begrüßte:

»Da ist ja auch Costantino. Hast du gesehen, Gutta, da ist Costantino. Ich habe dir ja gesagt, dass er kommt. Na, Costantino, wie läuft’s?

Gutta, die Hände in den Taschen vergraben, setzte sich neben Costantino, doch ohne das geringste Zeichen von Begeisterung über dessen Anwesenheit.

»Gute Idee, das mit dem Zug«, sagte Costantino nach einem denkbar flüchtigen Blick auf seinen neuen Sitznachbarn.

»Ja, oder?«, gab der andere mit unübersehbarer Genugtuung zurück. »Ein Zug ist der ideale Ort, um sich in Ruhe zu unterhalten. Da gibt es gar nichts. Besonders in solchen Zügen, die immer halb leer sind. Da reservierst du dir ein Abteilchen, und keiner geht dir auf den Zeiger. Nicht wie in der Kneipe oder im Stadion. Ich kannte mal einen, der hat im Stadion über Geschäfte geredet. Weißt du noch, Gutta, der arme Manfredi?«

Gutta nickte, ohne ein Wort zu sagen.

»Der hat im Stadion über Geschäfte gequatscht. Das war vielleicht ein Stress. Schon allein, um sich zu finden, das war der Wahnsinn. So, wie wir’s machen, hat man seine Ruhe und konzentriert sich auf seinen eigenen Kram, stimmt’s?«

»Ja, das stimmt …«

»Gut, sehr gut. Also, Costantino, es gibt große Neuigkeiten. Ich habe da was aufgetan, das ist wirklich eine Gelegenheit. Eine prächtige kleine Villa, so was Herrschaftliches draußen auf dem Land. Kennst du die Straße von Nodica nach Vecchiano, die, die am Berg vorbeiführt? Da steht auf halbem Weg diese gelbe Villa direkt am Hang. Anders als in der Stadt kann man problemlos den Wagen abstellen, und dann wäre da ja auch noch der Park rundherum. Alles zusammen locker ein halber Hektar. Das Haus hat zwei Stockwerke mit ausgebautem Dach. Ich schätze, gut zweihundert Quadratmeter. Dazu noch ein Balkon, so wie du’s gernhast. Im ersten Stock läuft eine Terrasse rund ums Haus. Einfach optimal. So wie’s bei den Eigentümern aussieht, habe ich mir gedacht, wir könnten der Villa am kommenden Sonntag einen Besuch abstatten.«

»Kommenden Sonntag?«

»Das wäre ideal.«

Costantino schüttelte den Kopf.

»Ich brauche noch ein paar zusätzliche Informationen. So aus dem Stand kann ich dir das nicht versprechen …«

»Hör mal zu, das ist eine Gelegenheit, die kann man nicht einfach auslassen. Wirklich, das muss man einfach ausnutzen. Das Haus steht allein da, außen rum nur Felder und Stille. Dazu die Terrasse rundherum. Was willst du mehr?«

»Ich will zum Beispiel wissen, woraus die Türen und Fenster sind. Neu oder alt, aus Aluminium oder aus Holz. Und ich möchte wissen, was sie für eine Alarmanlage installiert haben. Ist natürlich schön, wenn das Haus einzeln steht und einen großen Park hat, aber ich suche ja keine Ferienwohnung. Jedenfalls brauche ich so viele Informationen wie möglich. Wenn wir das Ding durchziehen, dann machen wir’s richtig. Falls wir’s überhaupt machen. Mir scheint die Sache nämlich immer noch zu riskant.«

Der Lederjackenträger seufzte kurz, dann nahm er die Sonnenbrille ab und schob sie nach oben auf die rosa Freifläche.

Das beunruhigendste körperliche Merkmal des Buckligen waren seine wässerigen Augen, blassblau und mit einer von roten Äderchen durchzogenen Sklera. Zwei Augen, die derart unheimlich wirkten, dass sie sich wahrscheinlich vor sich selber fürchteten. Wenn der Bucklige seine linke Pupille auf jemanden heftete, blieb sein rechter Augapfel Richtung Ohr gerichtet. Warum einer, der so übertrieben schielte, ausgerechnet »der Bucklige« genannt wurde, war Costantino ein Rätsel. Er wusste nur zweierlei: a) Der Grund waren weder ein körperliches Gebrechen noch fußballerische Sympathien für Juventus Turin. Und b) Der Spitzname wurde einzig und allein in der dritten Person verwendet – und in Abwesenheit des Betroffenen.

»Pass auf, Costantino, mir gefällt die Sache ja auch nicht. Das hier ist eine Notmaßnahme. Schuld ist nur diese vermaledeite Krise, durch die wir alle ohne Arbeit dastehen. Das betrifft jeden. Ich war ein ganz normaler Typ, genau wie du. Ich hatte einen Job. Ich hatte meine Kunden und meine Zulieferer. Ich habe sie bezahlt und sie mich. Und dann kam die Krise.«

»Du warst im Einzelhandel? Das wusste ich gar nicht.«

»Aber klar doch. Ich war der einzige Vertreter der Brüder Cardelli hier in Pisa. Alles italienische Ware, sogar direkt aus Pisa. Das Hasch wurde in Lajatico angebaut, und das Acid kam aus einem Labor bei Santa Croce. Ich war der einzige Dealer in ganz Italien, der ausschließlich Stoff aus regionalem Anbau im Programm hat. Und dann kam die Krise. Auf einmal war kein Geld mehr da, und da kommt natürlich auch kein Geld in Umlauf. Da muss sich auch ein ruhiger Typ wie ich, der keinem auf den Sack geht, etwas einfallen lassen, um seine Brötchen zu verdienen. Toll findet das keiner, ja? Ich so wenig wie du. Aber was sollen wir machen?«

Costantino hätte gerne tief Luft geholt, aber er wusste nicht, ob das angebracht war, während ihn dieses eine Auge durchbohrte. Wahrscheinlich hielt man am besten die Klappe.

Während Costantino sich fragte, was er tun sollte, warf ein Mann mit einer kleinen Reisetasche einen Blick ins Abteil. Obwohl der Bucklige das eine Auge auf Costantino gerichtet hatte und das andere prüfend durchs Fenster sah, bemerkte er den Neuzugang auf der Stelle.

»Guten Tag.«

»Guten Tag«, sagte der Bucklige auf einmal wieder ganz freundlich.

»Entschuldigen Sie bitte, aber das wäre hier mein Platz.«

»Ach, verstehe. Sie sitzen gern am Fenster, klar. Dürfte ich Sie trotzdem bitten, mir den Platz zu überlassen und das Aufstehen zu ersparen? Ich habe ziemliche Rückenprobleme, und wenn ich jetzt noch mal den Koffer heben muss« – der Bucklige sah zu dem schweren Seesack hinauf, den Gutta kurz zuvor ins Gepäcknetz gehievt hatte –, »dann wäre das nicht sehr hilfreich, verstehen Sie? Aber Sie wollen ja gern am Fenster sitzen, mehr noch, Sie haben ein Recht darauf. Und wahrscheinlich sitzen Sie auch gern in Fahrtrichtung. Wenn Sie gestatten – der Zug ist halb leer, würde es Ihnen etwas ausmachen, sich in ein anderes Abteil zu setzen? Da sind einige völlig unbesetzt, ich habe es vorher gesehen.«

»Also, Sie müssen entschuldigen, aber ich fahre bis Rom und ich weiß nicht, wie viele Leute da noch zusteigen«, sagte der Mann mit unverkennbarer Gleichgültigkeit gegenüber den leidgeprüften Wirbeln des Buckligen. »Wenn ich schon reserviere, dann möchte ich die Reise nicht auf einem Klappsitz im Gang verbringen. Ich helfe Ihnen gern dabei, den Koffer herunterzuheben, wenn Sie möchten. Aber jetzt wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie meinen Platz freigeben würden.«

Damit wandte er sich von dem Buckligen ab, stellte sich auf die Zehenspitzen und hievte die Reisetasche ins Gepäcknetz.

Ein Augenblick verging, prall von Stille.

Während Costantino feststellte, dass ihn die am Fenster vorüberziehende Bäumen geradezu hypnotisierten, richtete der Bucklige sein gutes Auge auf Gutta. Ohne eine Miene zu verziehen, stand Gutta auf und hob die Reisetasche des Neuankömmlings wieder herunter. Er drückte sie ihm in die Hand und sagte schlicht: »Mein Freund hat Sie um einen Gefallen gebeten.«

Ob es an dem neutralen Ton lag, am Balkanakzent oder an dem fehlenden Stück Ohr – Dorinel Belodedici, im engeren Freundeskreis als »Gutta« bekannt, erntete nur selten Widerspruch, wenn er seine Wünsche kundtat. Sowenig Costantino wusste, woher der Bucklige seinen Spitznamen hatte, so sicher war er sich doch, dass »Gutta« die Abkürzung von Guttalax war: In den nicht sehr gehobenen Kreisen von Pisa und Umgebung war man sich einig, dass ein Blick auf Gutta genügte, um sich ins Hemd zu machen.

Auch diesmal blieb die abführende Wirkung nicht aus. Nach einer relativ kurzen Zeitspanne – allenfalls drei oder vier Bäume – hörte Costantino, wie die Abteiltür sich leise schloss; als er sich umdrehte, stellte er fest, dass seine Begleiter und er wieder unter sich waren.

»Also, Costantino, was die Informationen angeht, hast du schon recht. Wir müssen das Haus etwas näher unter die Lupe nehmen. Aber die Sache steigt Sonntagnacht, keine Diskussion. Ich weiß schon, du hast wenig Zeit und gehst gerne gründlich vor. Aber die Sache muss Sonntagnacht über die Bühne gehen.«

»Gibt es da einen Grund, den ich nicht kenne?«

Über das Gesicht des Buckligen huschte ein überhebliches Grinsen.

»Einer von meinen Stammkunden arbeitet im Reisebüro. Jetzt haben wir diese besagte Krise, und da hat der Junge bei mir ein paar Schulden angesammelt. Kein Problem, sage ich. Geld ist nicht alles. Kehren wir doch zurück zum guten alten Tauschhandel: Du informierst mich einfach, wenn einer deiner Kunden eine schöne Fernreise macht, sagen wir eine Woche Traumurlaub in der Karibik. Bei reichen Leuten kommt so was doch vor, oder? Irgend so ein Geschäftsführer und seine Frau, so eine große Schlanke, die sonst zu nichts gut ist, aber eine richtig scharfe Nummer. Und weil sie so gestresst sind von der ganzen Trickserei, den Transaktionen in ihren Steuerparadiesen, packen sie alle drei, vier Monate die Koffer und fahren für eine Woche in ein Tropenparadies, zur Entspannung. Als ob die wirklich arbeiten würden. Na gut, jedenfalls gab es zwei-, dreimal Fehlalarm, aber neulich hat er mir Bescheid gesagt, dass so ein berühmter Schriftsteller ein Wellnesswochenende auf einer Schönheitsfarm gebucht hätte. Er ist für drei Tage in der Provence, von Freitag bis Sonntag. Nach Hause kommt er erst wieder am Montag. Wir haben also drei Tage Zeit. Wir bereiten alles vor, spazieren gemütlich dort rein, sacken ein, was uns gefällt, und ziehen in Ruhe wieder ab. Aber das muss Sonntagnacht passieren.«

»Da wäre doch Samstag besser.«

»Theoretisch schon. Aber praktisch gibt es ein Stück weiter die Straße rauf eine Disko. Nicht supernah, aber es lässt sich nicht ausschließen, dass uns einer sieht. Am Sonntag hat der Laden Ruhetag. Und mir ist nun mal am liebsten, wenn wir bei unserer Unternehmung möglichst wenig Gesellschaft haben. Also würde ich halt den passenden Tag nehmen.«

»Verstehe«, sagte Costantino. »Und das heißt?«

»Das heißt, auf geht’s. Wir sehen uns ein Haus auf dem Land an, und dann haben wir ein paar Sächelchen, die wir wegbringen müssen. Als Erstes brauchen wir ein Auto.«

»Ja, bitte?«

»Wer lässt sich hier bitten! Ich versuche dich seit einer Dreiviertelstunde zu erreichen.«

Giacomo atmete ein viertes Mal tief durch. Die ersten drei Atemzüge hatte er ganz bewusst gemacht, bevor er den Hörer abnahm. Eine unabdingbare Maßnahme, wenn am anderen Ende der Leitung Angelica Terrazzani angezeigt wurde, seine Lektorin.

In der Verlagsbranche kannte man die Terrazzani unter dem Kürzel VWE (Von Wegen Engel), ein Beiname, der unter anderem auf Angelicas äußerst geschäftsmäßige Einstellung zu ihren Autoren anspielte. Wäre Giacomo durch irgendeinen Zufall den Eltern dieses Skorpionweibchens begegnet, so hätte er sie wohl als Erstes nach dem Grund für diesen Vornamen gefragt, der ihm mehr Ironie als Hoffnung auszudrücken schien.

»Hallo, Angelica. Das tut mir leid, aber Seelan hat noch mit seinem Sohn telefoniert, der ist zurzeit in London …«

»Seelan? Ist der immer noch bei euch? Wolltet ihr den nicht feuern? Hattet ihr den nicht gefeuert?«

»Ja, stimmt schon. Aber im Moment ist das alles nicht so einfach. Sein Sohn studiert in London und hat die Masterprüfung vor sich. Und dann sind noch ein paar andere Sachen dazugekommen, mit den Einzelheiten verschone ich dich lieber. Jedenfalls …«

»Jedenfalls geht es im Hause Mancini mal wieder drunter und drüber. Ich hab’s übrigens auch auf dem Handy versucht, könnte ja sein, dass die Sterne günstig stehen und in der Gegend um Nodica und Vecchiano mal ausnahmsweise eine Verbindung zustande kommt. Ich dachte ja, das wäre in der Provinz Pisa, aber durch die Arbeit mit dir hat sich das geklärt – es liegt im Bermudadreieck. Also, pass auf, Giacomo, ich habe ein Interview für dich arrangiert.«

»Ein Interview?

»Mhm. Ein Interview. Mit dem Corriere

»Dem Corriere

»Ja, Giacomo. Dem Corriere. Der Tageszeitung. Du weißt schon, so ein Ding aus Papier, heutzutage auch auf dem Tablet zu lesen. Erscheint täglich, damit die Politiker uns erklären können, warum gestern passiert ist, was gestern passiert ist. Auch wenn sie nie zu einem Entschluss kommen, was heute zu tun wäre, oder gar erraten, was morgen passieren wird.«

»Ja, Angelica. Ich meine nur, im Corriere hatte ich doch schon eine ganze Menge Interviews.«

»Richtig. Das letzte liegt allerdings über fünf Jahre zurück.«

»Stimmt. Aber ich bin immer noch derselbe Mensch wie vor fünf Jahren. Und die Fragen, das sehe ich schon kommen, die werden auch dieselben sein wie vor fünf Jahren. Warum sind die Hauptfiguren Ihrer Bücher so oft Sportler? Warum nehmen Sie Golf als Metapher für das Leben? Und dann erkläre ich des Langen und Breiten: Also, beim Golf weiß man so ungefähr, wo das Loch ist, aber genau erkennen kann man es nicht. Und auch wenn die Richtung stimmt, sieht man erst nach einer längeren Wegstrecke, wie weit man danebengetroffen hat, und bla bla bla. Ich sehe nicht, was die mir sonst noch für Fragen stellen könnten.«

»Sie könnten fragen, warum du seit fünf Jahren keine Bücher mehr verkaufst.«

Giacomo holte schon Luft, doch dann hielt er inne. Nach einem kurzen Moment fuhr Angelica fort:

»Reden wir nicht um den heißen Brei herum, Giacomo. Du warst einer der produktivsten und verkaufsträchtigsten Schriftsteller der letzten dreißig Jahre. Du schreibst intelligente Sachen und hast es trotzdem geschafft, Hunderttausende von Büchern zu verkaufen, in Italien ist das schon beachtlich. Über die Sportschiene hast du es geschafft, auch Männer zum Lesen zu bringen, und das grenzt in Italien an ein Wunder. Aber wenn wir den Tatsachen ins Gesicht sehen, gehört das alles der Vergangenheit an. Und das weißt du auch. Deine letzten zwei Bücher waren nicht gerade Bestseller.«

Wieder setzte Stille ein. Diesmal gelang es Giacomo auszuatmen, ohne den Stimmapparat zu beteiligen.

»Von Neuner-Eisen haben wir eine Auflage von vierzigtausend Exemplaren gedruckt. Verkauft haben wir neuntausendsechshundert. Ein paar Tausend Stück, großzügig geschätzt fünftausend, liegen noch in den Buchhandlungen, Supermärkten und auf Lager. Vor allem auf Lager.«

»Das ist mir schon klar«, erwiderte Giacomo heldenhaft.

»Bravo. Dann ist dir sicherlich auch klar, was aus den restlichen fünfundzwanzigtausend geworden ist. Weißt du’s, oder stürze ich dich mit dem Wort ›eingestampft‹ in eine Identitätskrise?«

Stille. Auch stillschweigendes Einverständnis, rein technisch gesehen, was soll man machen.

»Langer Rede kurzer Sinn«, fuhr Angelica fort, »wenn wir das neue Buch verkaufen wollen, dann müssen wir schon ein bisschen zubuttern. Da sollte auch jenen Lesern, die noch ohne die dritten Zähne auskommen, bekannt sein, wer Giacomo Mancini war.«

Ein glücklicher Mensch, bis er dann dich kennenlernte.

»Der Journalist heißt Stagnari. Michele Stagnari. Ich mache mit ihm einen Termin für … Wann wolltest du noch mal wegfahren?«

Giacomo sah, wie sich das Blatt auf wundersame Weise zu seinen Gunsten wendete.

»Ich ›wollte‹ nicht. Ich fahre am Freitagnachmittag.«

»Hm. Das is t aber unpraktisch. Könntest du nicht vielleicht …«

»Den ersten Urlaub seit über einem Jahr verschieben? Aber sicher doch. Die Anwälte für die Scheidung zahlst allerdings dann du.«

»Ist ja gut. Ich sehe zu, dass ich etwas für morgen Vormittag ausmachen kann. Ach, eine letzte Frage: Das Buch ist fertig, nicht wahr?«

»Da freut man sich doch, wenn die eigene Lektorin das fragt, und dazu noch am Schluss des Gesprächs. Ja, das Buch ist fertig.«

»Oha.«

Auch Giacomo war, als der Journalist bei ihm vor der Tür stand, ein zweisilbiges Wort durch den Sinn gegangen, das auf der ersten Silbe betont wurde.

Gottchen. Wen haben die mir denn da geschickt, den Enkel des Lehrlings, der kürzlich eingestellt wurde?

In der Tat sah der Journalist so aus, als käme er direkt vom Pausenhof. Strubbeliges Haar, um den Hals dicke Kopfhörer und auf dem Rücken einen riesigen Rucksack, aus dem – verblüffend – kein Skateboard hervorlugte. Giacomo bat den Burschen herein und fragte, ob er ihm einen Kaffee anbieten könne oder vielleicht eine Limo. Der junge Mann, womöglich von der Unmenge Bücher, die die Wände des Hauses säumten, in Bann geschlagen, lehnte beides ab.

Während der Journalist (Stagnari, wenn Giacomo sich recht erinnerte) sich weiter umsah und jeden Band einzeln zu zählen schien, atmete der Gastgeber tief durch.

Wenn er mich jetzt fragt, ob ich das alles wirklich gelesen habe, dann werfe ich ihn hochkant hinaus.

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich unser Interview auf etwas ungewöhnliche Weise beginne?«

»Nur zu.«

»Wären Sie vielleicht so freundlich, mir Ihre Bibliothek zu beschreiben?

»Wie bitte?«

Stagnari lächelte mit einem Anflug von Schüchternheit.

»Wissen Sie, um zu verstehen, wer jemand ist, eignet sich in meinen Augen nichts so gut wie eine über Jahre gewachsene Bibliothek. Besonders so eine wie diese hier. Borges hat einmal gesagt, er lege größeren Wert auf die Bücher, die er gelesen, als auf die, die er geschrieben habe. Aus seinem Mund ist das ziemlich beeindruckend, nicht wahr?«

»Durchaus. Na, dann fragen Sie mal weiter.«

»Könnten Sie mir zunächst einmal erklären, wie die Bücher geordnet sind?«

»Geordnet? Ganz einfach, junger Freund. Nach Ausdrucksform. Also nicht nach Themen und ebenso wenig nach dem inneren Wert. Einige Abteilungen sind klar: Dahinten stehen zum Beispiel die Comics und unten beim Kamin die Krimis.«

»Das ist die längste Wand im Raum.«

»Und nicht durch Zufall. Dort drüben haben wir Philosophie und Religion und da die großen Klassiker. Natürlich stehen nicht alle Bände hier im Raum. Die Kochbücher sind in der Küche, die Reiseführer unterm Dach und die Bildbände auf dem Klo.«

»Und was ist das hier für eine Sektion?«

»Leben bedeutender Menschen.«

Der junge Mann fuhr mit dem Zeigefinger über den Rücken von G. H. Hardys Apologie eines Mathematikers. Dann hielt er inne und strich mit demselben Finger über das Buch daneben; er zögerte ein wenig und zog es dann sanft heraus.

»Und was, wenn Sie entschuldigen …«

»Ja?«

»Was hat die Biografie von Zlatan Ibrahimović in der Reihe bedeutender Menschen verloren?«

»Treffen Sie das Tor per Fallrückzieher aus dreißig Metern?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Was glauben Sie, wie viele Leute dazu imstande sind?«

»Die wenigsten.«

»Und wie viele würden das in einem offiziellen Spiel – nicht etwa in einem Freundschaftskick – versuchen und auch noch Erfolg haben?«

»Wohl nur er.«

»Da haben Sie es. Also ist Ibrahimović eine Ausnahmeerscheinung. Und ich finde ganz naheliegend, erfahren zu wollen, woher ein Mensch mit solchen Fähigkeiten kommt. Sie nicht?«

agente scelto

Das lag, nebenbei bemerkt, nicht so sehr an der recht kurzen Wartezeit, einer Lappalie im Vergleich zu den Fällen von mittelalterlicher Belagerung, mit denen die Kollegen prahlten. Das Problem war eher der Kontext, in dem das Warten, wenn man so sagen kann, ausgeübt wurde. Denn Wartezeiten ergeben sich ja in den unterschiedlichsten Situationen, aber wenn man die Minuten zählt, bis man in der Münzwäscherei endlich drankommt, dann ist das nicht gerade was für den Lebenslauf.

Im Grunde galt das allerdings auch für die Obliegenheiten, die ihr auf dem Präsidium zugeteilt wurden. Von wegen agente scelto. Bei der Aufnahme auf die Polizeischule war viel davon die Rede gewesen, dass hier eine handverlesene Auswahl getroffen würde. In der Tat fiel die Wahl auch jetzt häufig auf Corinna: zum Beispiel wenn es darum ging, die Schranke an der Einfahrt zum Präsidium zu öffnen. Aber das war das genaue Gegenteil einer Tätigkeit, die eine Respektsperson auszuüben hatte. Teils wegen der Aufgabe an sich, die ziemlich mühselig war; teils wegen der unvermeidlichen Scherze des Polizeipräsidenten Dr. Alfredo Maria Corradini, der an jedem verdammten Morgen, an dem es sie wieder einmal traf, den überaus eleganten und immer wieder originellen Spruch vom Stapel ließ: »Tja, niemand lässt den Schlagbaum so schön hochgehen wie unsere Corinna, nicht wahr?« Was in Corinna unweigerlich den Wunsch aufkommen ließ, ihm einmal ordentlich ins Scharnier zu treten.

Wie immer, wenn ihre Gedanken in diese Richtung abschweiften, begann Corinna, mit offenen Augen zu träumen. Doch als sie einige wohlige Sekunden in ihrem Tagtraum geschwelgt hatte und sich gerade anschickte, Dr. Corradinis nutzloser Manneszierde den Gnadentritt zu verpassen, gab der Wäschetrockner einen satten dreifachen Piepton von sich, und Corinna blieb nichts anderes übrig, als sich in Bewegung zu setzen.

Als Erstes galt es, den Trockner zu leeren, wenn der Vorbenutzer nicht vor Ort war: eine Pflicht, die man schicklicherweise so absolvierte, dass die Wäsche weder Falten noch Schmutz abbekam, und neugierig geschnüffelt wurde möglichst unauffällig.

Unglaublich.

Corinna fand es unglaublich, wie die Leute es überhaupt dazu kommen ließen, dass ein anderer als sie selbst ihre Wäsche aus dem Trockner holte. Zum einen: Wenn man die Sachen nicht gleich ordentlich zusammenlegte, sondern in einem Knäuel im Trockner liegen ließ, dann bekam man sie völlig zerknittert wieder, so viel war klar. Und dann war es eben eine Frage des Anstands. Du kennst mich nicht, du weißt nicht, wer ich bin, ich habe keinen Zugang zu deinem Facebook-Profil, aber deine Unterhosen, die darf ich in Augenschein nehmen. Das verstehe, wer will.

In einem zweiten Schritt war der Trockner wieder zu füllen: Man legte die Wäsche hinein, wählte die niedrigste Temperatur (heute ist sowieso fast alles aus Kunstfaser), legte die Trockendauer fest und warf drei blutige Euro in den Rachen des Monsters. Einen Rachen, der sich aus Gründen, die sich keinem vernunftbegabten Wesen erschlossen, in etwa zwei Meter Höhe befand, und so sah Corinna sich immer mal wieder genötigt, der Witwe Trotti oder irgendeinem anderen Mütterchen, das den modernen Standardmaßen der Europäischen Gemeinschaft nicht genügte, die Münzen einzuwerfen. Ein weiteres in der Reihe der Leiden, die Corinna auferlegt waren.

»Signorina, Sie sind doch so groß, könnten Sie mir den Fensterreiniger herunterreichen? Wissen Sie, ich komme nicht dran.« »Signorina, Sie sind doch groß genug, wären Sie so nett, mir die Magermilch zu geben? Die stellen sie einem da oben aufs vierte Bord.« Und Corinna hievte mit einem gezwungenen Lächeln den fraglichen Gegenstand herunter.

Als Jugendliche war Corinna auf ihre Körpergröße stolz gewesen, sie hatte sich dadurch erwachsen gefühlt. Rein objektiv kann man eine junge Frau von einem Meter und neunzig nun einmal nicht wie ein Kind behandeln. Je weiter sie heranwuchs, oder, besser gesagt, je älter sie wurde, desto mehr empfand sie ihre Körpergröße wenn nicht als problematisch, so doch als lästig. Und es wäre ihr sicher noch lästiger gewesen, wenn sie erfahren hätte, dass die Kollegen ihr den Spitznamen »Frau Malerpinsel« gegeben hatten, was sich jedoch glücklicherweise Corinnas Kenntnis entzog.

Der dritte Schritt im Waschsalon bestand darin, sich hinzusetzen und wieder zu warten. Und während man wartete, stellte man sich die Frage, wie lange man wohl noch im Fegefeuer von Pisa schmoren musste. Einer Stadt mit hundertzwanzig Regentagen im Jahr, die an den restlichen zweihundertfünfundvierzig Tagen eine Luftfeuchtigkeit von amazonischen Ausmaßen aufweist. Einer Stadt mit einhunderttausend Einwohnern, von denen die Hälfte Studenten sind: nach Adam Riese zwischen zehn- und zwanzigtausend junge Männer, die in der Happy Hour nach einer verwandten Seele suchen und glauben, bei Bedarf könnten sie es ja mal bei der hübschen Langen mit den grünen Augen probieren, die alleine da drüben sitzt. Nur schade, dass sie dich schon komisch anschauen, wenn du auf die Frage nach deinem Studienfach sagst: »Also, ich bin berufstätig.« Und wenn sie dich dann fragen, was für einer Arbeit du nachgehst, und du antwortest: »Ich bin Polizistin«, dann müssen sie fünf Minuten später gehen. Und du, die du praktisch niemanden kennst, und wenn du jemanden kennst, so sind das Kollegen, die du ohnehin schon acht Stunden pro Tag sehen musst, du also sitzt wieder einmal wie eine Blöde alleine da und wartest, dass wer weiß was passiert. So wie jetzt.

Der einzige Unterschied besteht darin, dass in der Wäscherei auf dem Display steht, wie lange man noch warten muss. Dreißig Minuten. Für einen guten Polizisten so gut wie nichts.