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www.piper.de

ISBN 978-3-492-97204-8

August 2016

Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe

© Piper Verlag GmbH, München 2008 und 2016

Redaktion: Regina Carstensen, München

Karte: cartomedia, Karlsruhe

Coverkonzeption: Büro Hamburg

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de

Covermotiv: Hafen von Santa Lucia mit Neapel und Vesuv

im Hintergrund (Dragos Cosmin Photos/Getty Images)

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

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’O sole.
Ankunft in Neapel

Napole tre cose tene belle: ’o sole, ’o mare, e ’e sfugliatelle: Drei schöne Dinge gibt es in Neapel: die Sonne, das Meer und die sfogliatelle (Gebäck) – so ein bekanntes neapolitanisches Sprichwort. Es benennt die Dinge, die im Herzen der Neapolitaner einen besonderen Platz einnehmen. Heute wie vor hundert Jahren besticht die Aussicht auf die Bucht mit dem Vulkan im Hintergrund durch ihren bezaubernden Charme. Die Bauspekulationen der Sechzigerjahre, die die Landschaft mit Eisen und Zement verschandelten, konnten der besonderen Ausstrahlung dieser Gegend wenig anhaben. Die Neapolitaner sehen ihre Stadt ohnehin wie eine Frau, einst junge betörende Nymphe, heute Greisin; aus den tiefen Gesichtsfalten strahlen die dunklen Augen wie damals, als die Griechen sie Parthenope, ›Mädchenauge‹, nannten, nach der mythischen Sirene, die an dieser Küste ihren letzten Seufzer tat.

Am schönsten ist Neapel vom Meer aus gesehen. Die Stadt schmiegt sich an eine Hügelkette, von der Anhöhe des Posillipo bis zum Hang des Vesuvs, die den Golf in einer sanften Umarmung umschließt: Jugendstilvillen, Kirchenkuppeln, gelbe und korallenrote Palastfassaden ziehen vorüber. Und dann sonnenbeschienene Dachterrassen, sich windende Gassen und kleine Plätze. Am Hafen empfängt den Gast die imposante Festung Castel Nuovo, auch Maschio Angioino genannt. Aber verglichen mit der Kartause von San Martino, die, einer Krone gleich, auf der höchsten Erhebung, dem Hügel des Vomero, die Stadt dominiert, sieht sie eher wie ein trauriger braungrauer Koloss aus. Zwischen Zentrum und Anhöhe kann das Auge die letzten grünen Felder Neapels und sogar terrassenartig angelegte Weinberge erspähen. Hatten die Neapolitaner diesen Anblick vor Augen, als die Redensart entstand?

Neapel ist mit der Vorstellung vom guten Klima untrennbar verbunden. Laut der Wetterstation Kampanien scheint die Sonne in Neapel an 235 Tagen im Jahr. Die Temperaturen sind auch im Winter angenehm, sodass Bars und Restaurants fast immer Tische und Stühle auf dem Trottoir stehen haben.

Als ich nach achtzehn Jahren den Fuß wieder auf neapolitanischen Boden setze, um hier einer neuen Arbeit nachzugehen, geht es mir so, als ob ich Neapel zum ersten Mal sehen würde. An diesem Frühmorgen empfängt mich am Flughafen ein strahlend blauer Himmel wie im Bilderbuch. Die erste Überraschung erlebe ich am Taxistand. Es gibt eine Schlange! Ich hatte die Neapolitaner als chaotische Meute in Erinnerung. Die Leute aber warten geduldig in der Reihe, bis sie drankommen. Damit das Prozedere schneller vonstatten geht, dirigiert ein korpulenter Mann die Wartenden. Die Arme heftig gestikulierend, schreit er Anweisungen in einem unverständlichen Dialekt: Auto fährt vor, Taxifahrer steigt aus, verstaut das Gepäck im Kofferraum, Leute steigen ein, weiter, nächstes Auto und wieder das animalische Gebrüll: »Uè! Signò! A ’cca! Bitte hierher!« Als ich in das Taxi steige, lächelt mich ein junges Sarazenengesicht an und fragt mich ganz unvermittelt: »Centro o tangenziale?« Ich entscheide mich für den Weg durch das Zentrum und gegen den Stadtring, denn so oder so muss man sich auf dichten Verkehr einstellen. Das Taxi fährt über die Piazza Garibaldi auf die Hauptverkehrsader Corso Umberto, biegt dann am Hafen in die Via Acton in Richtung Riviera di Chiaia, die vornehme Uferpromenade, wo sich mein Büro befindet. Während der Fahrt fällt mir auf, dass die Balkone der schönen neoklassizistischen Gebäude kaum genutzt werden. Nur einmal sehe ich einen einsamen rauchenden Herrn. Überwiegend dienen sie als Standort für die Motoren der Klimaanlagen. Werbeschilder hängen an den antiken verschnörkelten Balkongittern. Wenn ich den Blick ganz nach oben richte, sehe ich einen Streifen hellblauen Himmels und dann Sonnenschirme, Palmen und Oleander, die von den Balustraden der Dachterrassen hervorlugen. Während unten Autos, Busse und Mofas die Straße verstopfen und es auf den Bürgersteigen von eilenden und drängelnden Passanten nur so wimmelt, scheinen sich auf den Dächern kleine private Paradiese zu verbergen. Die Terrasse ist zentraler Ort im neapolitanischen Alltag: Hier wird zu Mittag und zu Abend gegessen, der Espresso wie der Aperitif getrunken, werden Freunde empfangen. Freilich sind die Glücklichen, die sich eine Wohnung mit Terrasse leisten können, nur wenige. Aber deswegen verzichtet kein Neapolitaner auf den Genuss der Sonne. Sobald die Temperaturen um die zwanzig Grad liegen, geht der Sonnenhungrige ans Meer. Bereits im April liegt auf den Felsblöcken vor der Promenade Jung und Alt.

Erwartungsgemäß verbrachte ich die erste Zeit mit Wohnungssuche. Zunächst kam ich ein paar Wochen zur Untermiete bei Familie Militante unter. Ich hatte die Anzeige für eine stanza singola con bagno, panoramica am Schwarzen Brett im deutschen Generalkonsulat gefunden. Die Dame am Telefon war reizend. Nach zwei Minuten – mit ein paar geschickten Fragen – wusste sie schon über mein Leben Bescheid. »Hausnummer 22, ganz oben.« Ich wollte schon auflegen, als sie energisch hinzufügte: »Und sagen Sie bitte dem Portier nicht, dass Sie kommen, um sich das Zimmer anzuschauen. Ich werde Sie als meinen Besuch ankündigen.« Als ich zu verabredeter Stunde erschien, machte ein schmächtiger Mann am Eingang die Tür auf und, bevor ich auch nur »äh« sagen konnte, wies er auf den Fahrstuhl: »Sechster Stock.« Dann drückte er mir ein Zehn-Cent-Stück in die Hand. Denn in Neapel ist es immer noch üblich, dass man für die Nutzung des Fahrstuhls eine Münze einwirft. Damit kommt man für seine Wartung auf. Das gilt in vornehmen bürgerlichen wie in Arbeitervierteln, wo ausnahmslos der Obolus verlangt wird.

Als ich das Zimmer sah, war ich sofort angetan. Es hatte honigfarbenes Parkett und neue Möbel. Vom Fenster aus sah man den Umriss der blauen Insel Capri wie auf einer Zeichnung von Karl Friedrich Schinkel. Auch der Majolikafußboden im Esszimmer, das ich mir wie die Küche mit der Familie Militante teilen musste, schien aus dem vorigen Jahrhundert zu stammen. Eigentlich war er ein Imitat, wie ich in den nächsten Tagen erfahren sollte, aber hergestellt in den Sechzigerjahren in einer Werkstatt an der Amalfi-Küste. Nachdem ich das Zimmer angemietet hatte, wurde ich im Nu zur Nichte der Vermieterin befördert. Per carità, um Gottes willen dürfe der Portier nicht erfahren, dass ich hier zur Miete wohne. Im ersten Moment dachte ich, dass sich die Dame womöglich schämte. Vielleicht war die Familie aus finanzieller Not gezwungen, das Zimmer zu vermieten. Aber dann fiel mir noch auf, dass mir weder ein Untermietvertrag noch eine Quittung ausgehändigt worden waren, als ich die geforderte Anzahlung entrichtet hatte. Oft bessern die Eigentümer ihr Einkommen auf, indem sie Wohnungen oder Teile davon schwarz vermieten. Doch das ist streng genommen kein ausschließlich neapolitanisches Phänomen. Auch in Rom und Mailand hinterziehen die Vermieter Steuern. Deswegen verabschiedet die italienische Regierung regelmäßig neue und strengere Vorschriften, was die Vermietung von Privatwohnungen angeht. So kann das Schwarzvermieten, wenn die Finanzpolizei dahinterkommt, eine sehr teure Angelegenheit werden. Vielleicht fürchtete die Dame, der Portier könnte sie bei der zuständigen Behörde anschwärzen?

In den darauffolgenden Wochen suchte ich intensiv nach einer Wohnung. Bekannte und alte Schulfreunde fragten mich: »Bist du für immer aus Berlin weggezogen? Warum denn das?« Sie konnten sich einfach nicht vorstellen, dass ich freiwillig nach Neapel zurückgehen würde. Fujtevenne! lautete der Imperativ des neapolitanischen Dramatikers Eduardo De Filippo, der seinen Landsleuten empfahl, die Stadt wegen der seit Jahrhunderten bestehenden Probleme unbedingt zu verlassen. Regelmäßig wird dieser Spruch von den Neapolitanern aufgegriffen, sowohl in meinem privaten Bekanntenkreis als auch von Persönlichkeiten aus Politik und Kultur. Neulich erntete der Erziehungsminister Kampaniens Missbilligung und Kritik, weil er bei einer Podiumsdiskussion zum Thema Jugendgewalt den zitierten Satz vorbrachte. Damit ist der genannte Assessor nicht allein. In keiner anderen italienischen Stadt wird so über Missstände gejammert wie in Neapel. Als ich meinen Geschwistern von meiner Absicht erzählte, dieses Buch zu schreiben, fuhr mein Bruder Antonio hoch. Für die »Gebrauchsanweisungen für Neapel« brauche man nicht ein ganzes Buch zu schreiben. Drei Worte würden vollkommen genügen: Nun ce venite! Kommt nicht her! Aus dieser Äußerung spricht die Resignation des Einheimischen, der seit Jahrzehnten mit unlösbaren gesellschaftlichen Problemen konfrontiert ist: organisierte Kriminalität (camorra), Verwicklungen zwischen krimineller Unterwelt und Politik, Umweltverschmutzung und vor allem die Arbeitslosigkeit machen den Neapolitanern zu schaffen. Bezeichnend ist, dass Neapel immer noch eine Stadt ist, aus der man emigriert. Man verlässt die Heimat, um woanders Arbeit zu suchen. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gingen zwei Millionen Neapolitaner nach Amerika. Gegenwärtig ziehen vor allem zahlreiche Hochschulabsolventen nach Norditalien oder ins Ausland zur Arbeitssuche. 2007 hat das Innenministerium die Statistik der Ab- und Anmeldungen in ganz Italien veröffentlicht. Die Zahl derjenigen, die aus Süditalien weggezogen sind, hat wieder das Niveau der Sechzigerjahre erreicht, als eine Million Menschen ins industrielle Dreieck (Mailand, Turin, Verona) und nach Deutschland auswanderten.

Meine Freunde sagten: »Jetzt suchst du eine Wohnung? Poverina. Du Arme!« Und sie hatten guten Grund, mich zu bemitleiden. Eine Mietwohnung in Neapel zu finden ist ein titanisches Unternehmen, das dazu auch noch Engelsgeduld verlangt. Man muss die Sprache der Anzeigen verstehen. Gasetagenheizung kann bedeuten, dass der Vermieter vielleicht gedenkt, irgendwann mal eine Heizung einzubauen. Der Zeitpunkt ist natürlich unbekannt. Hinter ristrutturato oder buono stato verbergen sich meist renovierungsbedürftige Räume. Die Nachmittage verbrachte ich also mit Anzeigenlesen und Wohnungsbesichtigungen. Andere Freunde sagten: »Warum ziehst du nicht zu deinen Eltern?« Ich schaute meine Bekannten verwundert an, die wiederum meine Verblüffung nicht verstanden. In Neapel und in ganz Süditalien leben die Kinder bei ihren Eltern, bis sie heiraten oder sich endlich eine eigene Wohnung leisten können. Die meisten versuchen, mit Erspartem, der Unterstützung der Eltern und einem Kredit in die eigenen vier Wände zu investieren. Ungern wird in Neapel auch an residenti, die Ansässigen, vermietet. Die Eigentümer meinen, wenn der Mieter erst mal eingezogen sei, hätten sie überhaupt nichts mehr zu sagen. Ohne mit ihnen Rücksprache zu halten, reiße er Wände ab, lasse neue einbauen, die ganze Sippschaft ziehe ein, und irgendwann mal bezahle er auch die Miete nicht mehr. Bis man schließlich einen nichtsolventen Mieter auf legalem Weg los wird, können auch Jahre vergehen. Deswegen zieht man es vor, uso foresteria zu vermieten, d. h. an Auswärtige, die sich berufsbedingt nur für eine begrenzte Zeit in der Stadt aufhalten. Auch die gesetzlichen Vorschriften sind in diesem Fall für die Vermieter günstiger. Der Vertrag läuft nach einem Jahr aus, sprich, bei Verlängerung kann die Miete erhöht werden. Zudem ist der Zins meistens höher als die durchschnittlichen Marktpreise, da solche Wohnungen meist möbliert sind. Ich schaute mir dunkle Behausungen an, in denen das abgenutzte Großmuttersofa oder die Einbauküche der inzwischen verstorbenen Eltern nach Intention des Vermieters immer noch bella figura machen sollten. Die Lieblingsmieter der Neapolitaner sind Diplomaten und Sportler: Diese sind meist alleinstehend, immer im Büro oder beim Training, auf Dienstreise oder für Auswärtsspiele unterwegs. Da ich weder das eine noch das andere bin, musste ich mich wie alle anderen durch den Dschungel des neapolitanischen Immobilienmarktes schlagen.

Ich weinte mich bei meiner besten Freundin aus. Jeden Abend telefonierte ich nach Berlin. »Wie ist das Wetter bei euch?«, fragte sie. »Wie gestern: sonnig.« – »Ach, du hast es gut!«, war ihr Kommentar. Hier erntete ich also kein Mitgefühl. Als ich mich für eine Wohnung an der Piazza Dante im historischen Zentrum interessierte, warnte mich wieder die Vermieterin am Telefon vor, ich dürfe dem Portier nicht sagen, ich sei wegen der Wohnung dort. Am besten meldete ich mich als eine Freundin von Maria Rosaria. »Warum?«, fragte ich, als die Vermieterin uns in der Wohnung empfing. Meine Schwester, die mich an dem Tag begleitete, schaute mich mit Missbilligung an. Ihr Blick sagte, die achtzehn Jahre im Ausland hätten meine Erinnerung an die neapolitanischen Bräuche offenbar ausgelöscht. Die Portiers verbringen den Tag damit, das Hin und Her der Hausgäste zu beobachten, Post und Pakete entgegenzunehmen. Deswegen wissen sie über alles und jeden Bescheid. Weil die Tätigkeit aber wenig anspruchsvoll ist, gehen sie Nebentätigkeiten nach. Zum Beispiel empfiehlt der Portier einen neuen Mieter, verlangt aber vom Vermieter eine Provision wie ein professioneller Makler, das heißt ungefähr eine Monatsmiete. Im Jargon ist aber nicht von Provision die Rede, sondern von regalo, einem Geschenk, mit dem sich der Vermieter für die Aufmerksamkeit bedankt. Widerwillig spricht der Neapolitaner übers Geld, vor allem im Bekanntenkreis. Verwirrend ist es, wenn man einen Bekannten mit einer Dienstleistung beauftragt, das Auto oder den Fernseher zu reparieren oder einen kleinen Transport zu organisieren. Fragt man ihn nach einem Kostenvoranschlag, geniert er sich. »Un regalo a piacere, ein Trinkgeld nach Ihrem Belieben«, ist oft die Antwort oder: »Ma, niente, fate voi, nichts, ganz wie Sie meinen!«

Es vergingen einige Monate, bis ich endlich meine Wohnung im zentralen Viertel Toledo-San Ferdinando fand. Sie war zwar unrenoviert, hatte aber zwei helle Räume und eine kleine Terrasse mit Aussicht auf die Piazza. Für die Malerarbeiten empfahl mir der Vermieter, mich an den Portier zu wenden. Dieser hätte vor Jahren in einem Malerbetrieb gearbeitet. Franco, ein großer Mann, permanent mit dem Flicken eines Tauchanzuges beschäftigt, ist im Haus der »Mann für alles«: Er kümmert sich um kleine Reparaturen, hilft beim Transportieren von Gepäck oder Einkaufstüten und organisiert sogar Nah- und Fernumzüge. Auch holt er Zigaretten für die Eigentümer, die zu bequem sind, selbst herunterzugehen, und bringt auch ihre Mülltüten weg, die sie abends vor ihre Haustür stellen. Als wir über sein Honorar sprachen, wollte er sich zunächst nicht festlegen, dann begann das tira e molla, das Tauziehen der Verhandlungen. Er sagte tausendfünfhundert, ich sagte tausend, er gab vor, den Auftrag abzulehnen. Ich spielte die Beleidigte und zog die Mundwinkel nach unten, machte aber keine Anstalten, das Portierhäuschen zu verlassen. Mein deutscher Ehemann folgte verdutzt dem Gespräch. Minuten vergingen mit diesem köstlichen Hin und Her, bis wir endlich einen für beide Parteien akzeptablen Kompromiss fanden. Natürlich hatte der Hausmeister anfangs einen doppelt so hohen Preis wie eine professionelle Malerfirma verlangt. Schließlich war ich neu in der Stadt, und er konnte annehmen, ich würde die Preise nicht kennen. Und ohnehin war er davon ausgegangen, dass ich als Neapolitanerin verhandeln würde.

Ab und an besuchte ich Franco während der Renovierung, um den Stand der Dinge im Auge zu behalten. Die Arbeiten verliefen schleppend. Um mich von seinem Pfusch abzulenken, erzählte er mir gerne vom Haus und den Nachbarn. In den Neunzigerjahren gehörte die Wohnung einem Musikproduzenten, der hier seine Firma hatte. Er war der Spross einer Familie von bekannten Sängern und Musikern, die in Neapel Musikgeschichte geschrieben haben. Ende der Neunziger ging die Firma sotto e ’ncoppa, d. h. bankrott. Die Wohnung wurde unter Wert an einen Unternehmer, meinen jetzigen Vermieter, verkauft. Somit fing die opera buffa an mit dem Don Giovanni und dem treuen Leporello. Der Eigentümer benutzte die Räume eigentlich eher als Abschreibungsobjekt und pied à terre, um seine Geliebten zu treffen. Blondierte Damen mit großer Oberweite gingen ein und aus, erzählte Franco. Eine tagsüber, eine andere abends. Ab und an rief die Ehefrau des Unternehmers an und wollte wissen, wer ihren Mann besuche. »Signora, ich weiß nicht. Die Leute kommen und gehen. Es sind viele Büros in diesem Haus.« Franco runzelt die Stirn, was hätte er ihr sagen sollen? Schließlich gab ihm Herr T. jede Woche eine bella mancia, ein sattes Trinkgeld, »um die Blumen zu gießen«. Sobald der Eigentümer außer Haus war, ging Franco in die Dachwohnung. Weniger um sich den Pflanzen zu widmen, als sich in die Sonne zu legen. »Che spettacolo! Welche herrliche Aussicht!«, sagte er mir und ließ dabei in der Geste der Bewunderung die Hand schnell kreisen. Er nahm sogar seinen eigenen Liegestuhl mit hoch. Manchmal stieg er mit der Leiter aufs Dach und lag in der Sonne, ungestört süße Mußestunden verbringend. Er betrachtete den Golf, die Fähren, die von den Inseln Ischia und Procida kamen, die Möwen, die auf den Statuen der gegenüberliegenden Kirche saßen und ihr Geschrei von sich gaben. Auf der Terrasse in der Sonne zu liegen ist schließlich der Traum vieler.

Endlich konnten wir mit zwei Monaten Verspätung die Wohnung Ende November beziehen. Als ich gerade dabei war, die Gardinen anzubringen, sah ich von der Leiter aus auf dem Balkon unter uns den Nachbarn in Unterhose. Er erinnerte an einen jener antiken Fischer, die die Veduten der nordeuropäischen Reisenden der Grand Tour bevölkern. Später erschien er in einem weißen Bademantel: Wie auf dem Deck eines Kreuzfahrtschiffs legte er sich auf den Liegestuhl und wandte das Gesicht der schüchternen Novembersonne zu. Nicht, dass Neapel in den Tropen liegen würde, aber die Terrasse liegt im Windschatten. Die braune Hautfarbe ist für die Süditaliener nach wie vor Zeichen von Gesundheit und Schönheit, Ozonloch hin oder her.

Ich traf die Nachbarn auf der Treppe. Sie begrüßten mich und unterhielten sich über das Wetter, dann fragten sie mich, ob es in Deutschland kalt sei: »Fa freddo in Germania, fa freddo?« Die Wiederholung am Ende des Satzes ist charakteristisch für die süditalienische Sprache, sie dient als Verstärkung, ist Ventil für Emotionen. Die Neapolitaner haben die Vorstellung von Nordeuropa als einem Land eisiger Kälte. Auch der Portier fragte mich mit mitleidigem Blick, ob bei meinem langen Aufenthalt in Deutschland die Sonne geschienen habe. So blass schien ihm mein Gesicht. Er meinte, ich sollte in der Villa Comunale oder an der Uferpromenade spazieren gehen, ’o sole würde das schon richten.

Nichts fürchtet der Süditaliener mehr als Regen und Kälte. Im Winter, der meist nur ein paar Wochen dauert, beklagt er sich über das Unwetter. Und wenn es regnet, gibt es auf den Straßen kein Durchkommen mehr, denn alle lassen das Mofa in der Garage, verzichten auf den Bus und fahren lieber mit dem Auto, um trocken anzukommen. Mein Cousin geht nicht zur Uni, weil es schon vorgekommen ist, dass die U-Bahn wegen starkem Regen stehen blieb. Und sogar Ausstellungseröffnungen sollen bei schlechtem Wetter schon buchstäblich ins Wasser gefallen sein, weil die geladenen Gäste einfach nicht kamen.

Die portieri, die Pförtner, sind diejenigen, die die Kunst des Euphemismus am besten beherrschen. Der herrschaftliche Palazzo, in dem mein Büro untergebracht ist, wird von einem Portier-Paar behütet. Gleich hinter dem acht Meter hohen Tor befindet sich ein kleines Häuschen aus Mahagoniholz, in dem sich das Paar tagsüber abwechselt. Oft sitzen sie auch zusammen hinter dem Glas und sehen wie eine süditalienische, ärmere Kopie des Königspaars von Velázques »Las meninas« aus. An der Mauer hinter ihrem Stuhl hängt neben einem Kalender mit Ansichtspostkarten von Capri ein kleines Bild des Mönchs aus Pietralcina, dem heiligen Padre Pio. Die Frau Portierin ist Dienerin, Kupplerin und Furie zugleich. Ihre Haut hat ganzjährig die Farbe von Milchschokolade. Sobald der Frühling einbricht, stellt sie sich vor den Palazzo. An die Mauer gelehnt, dreht sie das Gesicht zur Sonne: »Così mi abbronzo, um braun zu werden«, meint sie zu mir im vertraulichen Ton. Einen Stuhl darf sie vor das Haustor nicht stellen. Früher war es üblich, dass der Hausmeister am Hauseingang direkt auf dem Bürgersteig auf einem Strohstuhl saß und über das Haus wachte. Das sieht man heute nur noch in den Filmen der Fünfzigerjahre mit Sophia Loren, meinen die bürgerlichen Nachbarn des edlen Baus. Doch habe ich noch ähnliche Szenen in den volkstümlichen Vierteln der Stadt erlebt. Aber in diesem Palazzo herrschen strenge Regeln, denen sogar Frau Portierin ihre Lust auf Sonne unterordnen muss. Die schmalen Lippen schminkt sie mit einem glänzenden, meist pinkfarbenen Lippenstift. Ihr Ton ist autoritär, duldet keine Widerworte. Dagegenhalten oder protestieren nützen nichts, denn das Wort ist ihre Waffe. Wenn sie sich aufregt, wird der Mund zu einer dünnen, festen Linie wie die Fratze einer Marionette aus dem Puppentheaterspiel mit Pulcinella. An meinem ersten Arbeitstag empfing sie mich mit einem traurigen Gesichtsausdruck. Die Augenbrauen waren wie die Mundwinkel nach unten gebogen, und in den nussfarbenen Augen schimmerte ein mehrdeutiger und selbstsicherer Blick. Sie heiße mich willkommen, sagte sie und streckte dabei die Hand aus. Da ich neu hier sei, erlaube sie sich, mir einige Informationen über das Haus zu geben. Dabei müsse sie nun leider auch einige Mitteilungen über das Verhalten der Kunden meines Büros machen. Sie kämen und gingen und ließen ständig das Tor zuschlagen; damit würden sie gegen die Regeln der Hausgemeinschaft verstoßen. Es gäbe sogar manche, die im Treppenhaus rauchten. Und andere würden im hellhörigen Innenhof laut miteinander reden oder Telefonate auf dem Handy entgegennehmen. Damit würde der Hausfrieden beträchtlich gestört werden. Obwohl sie selber immer vermittelnd gewirkt habe, seien in letzter Zeit die Wohnungseigentümer dem Büro gegenüber ziemlich negativ eingestellt. Ganz unvermittelt fragte sie mich dann mit einem schüchtern-scheinheiligen Lächeln nach den typischen Bräuchen in Deutschland: Ob die Deutschen auch Weihnachten und Ostern feiern würden. Wenn ich vielleicht schon bei ihrem ersten Wort gespürt hatte, dass es sich hier möglicherweise nicht einfach um einen höflichen Willkommensgruß handelte, so war mir spätestens jetzt klar, dass sie mir ihre zentrale Position direkt am Eingang des Hauses klarmachen wollte. Und ganz nebenbei machte sie mich damit auf das ihr zu Festtagen zustehende Trinkgeld aufmerksam.

Am Tag darauf bekam ich Besuch von einer Journalistin einer lokalen Tageszeitung. Sie kam mit einer kurzen Verspätung, ein dringender Anruf hätte sie noch im Hof erreicht. Als sie gerade ihr Handy aus der Tasche geholt hatte, habe sie schon die Hausmeisterin auf die Hausordnung hingewiesen: Besucher dürfen im Hof nicht telefonieren! Die sei aber wirklich sympathisch, meinte die Pressefrau. Sie verdrehte die Augen und bewegte die rechte Hand wie einen Fächer nach unten. Die Geste war mir sofort klar. Sie meinte damit, Mannomann, was für ein Typ: Die hat doch Haare auf den Zähnen!

So schlimm? Sind die Neapolitaner wirklich so anstrengend? Dazu kann man eine Geschichte erzählen. Als Gott die Welt schuf, gab er Neapel das blaue Meer, die schöne Sonne, das milde Klima. Auf den Hügeln hinter der Bucht ließ er Pinien, Oleander und Bougainvilleen wachsen. Und er sah, dass es gut war. Dann machte sich Gott daran, Berlin zu erschaffen. Er nahm Sand, warf diesen zur Erde, worauf nichts wuchs. Graue Wolken überzogen den Himmel, und Regen kam herunter das ganze Jahr über. Daraufhin trat ein Engel an die Seite des Herrn und sprach zu ihm: »Mein Herr, ist das gerecht? Neapel so schön, Berlin so trist?« Da dachte der Herr nach und erschuf die Neapolitaner.

’O mare.
Tag und Abend am Meer

Das Meer gehört den Neapolitanern, wie die Lieder der »Belle Époque« besingen, auch wenn das Wasser nicht mehr sauber ist. Von Weitem klappt die optische Täuschung heute wie früher. Die Natur hat es so gewollt: Das Meer wirkt hell- bis saphirblau wie der Himmel. Von Nahem, wenn man an der Uferpromenade in Richtung Castel dell’Ovo läuft, riecht es leider oft nach faulen Eiern. Das hat der Mensch sich so eingebrockt. Laut dem jährlichen Bericht der italienischen Umweltliga sind die Kläranlagen Neapels veraltet und völlig unzureichend angesichts der hohen Bevölkerungsdichte. Den Rest besorgen der Hafen, nach Genua der zweitgrößte Italiens, und die vielen Personenfähren, Tragflächenboote und privaten Jachten, die hier jeden Tag an- und wieder ablegen. Aber wen interessieren schon die wissenschaftlichen Studien an einem heißen Sommertag? Vom Jachthafen in Mergellina bis nach Santa Lucia herrscht in der schönen Jahreszeit ein Gewimmel von rustikalen Badenixen und polternden Neptunen, die ungeachtet des Badeverbots Kühlung im Meer suchen. Junge Mütter unterhalten sich lebhaft. Ihr Rücken ist so gerötet, dass er wie Schlangen die Haut abwirft. Die Großmutter holt frische Melonenscheiben aus der Kühltasche und ruft die Enkel herbei, die mit Schwimmflossen ihren ersten unabhängigen Gang in die Wellen versuchen. Jugendliche – manche von ihnen tragen bloß eine Unterhose – wetteifern im Springen von den Wellenbrechern. Ein verliebtes Pärchen schmust ekstatisch.

Dieser Anblick bietet sich mir an einem heißen Junitag aus dem Fenster des amerikanischen Generalkonsulats, wohin ich zu einem Termin eingeladen bin. Der weiße, von Betonklötzen abgeschottete Koloss befindet sich an der Piazza della Repubblica, direkt am großen Boulevard Via Caracciolo. Das sei das popolino, das lärmende Kleinvolk, das von den quartieri, den volkreichen Vierteln, jeden Tag, einem Barbarenzug gleich, hierher ströme, erklärt mir eine Assistentin des Konsuls, während ich aus dem Fenster schaue. Die Neapolitaner aus Chiaia, Mergellina und Vomero würden an die Strände am Posillipo und Marechiaro gehen. Dort sei schon wegen der hohen Eintrittspreise für die privaten Strände die Kundschaft ausgesiebter. Hier bekommen wir jetzt einen Hauch der traditionellen Animositäten unter den Stadtvierteln zu spüren.

Schon wegen seiner geografischen Position als Viertel auf dem höchsten Hügel fühlt sich das bürgerliche Vomero zu Besserem berufen. Wenn Sie an der Piazza Vanvitelli aus der Funicolare oder der U-Bahn steigen, bekommen Sie durch die vielen gepflegten neoklassizistischen Bauten den Eindruck, Sie seien in einer norditalienischen Stadt wie Mailand oder Bergamo. Übrigens, die Funicolari! Die berühmten Drahtseilbahnen Neapels werden zu Ihrem bevorzugten Beförderungsmittel werden. Drei Linien (Montesanto, Centrale und Parco Margherita/Chiaia) verbinden im Zehn-Minuten-Takt das Zentrum mit dem Hügel. Mit diesem antiken Vehikel legen Sie in sehr kurzer Zeit eine Strecke zurück, die Sie mit dem Auto oder dem Bus eine halbe Stunde Fahrt durch den dichten Verkehr und über enge Serpentinenstraßen kosten würde. Gebaut um die Jahrhundertwende, waren sie jahrzehntelang in Betrieb. Zu meiner Studienzeit waren sie alternierend wegen technischer Pannen vorübergehend geschlossen. Erst vor Kurzem sind sie restauriert worden. Die alten Züge mit den Holzsitzen wurden abgeschafft; moderne Personenkabinen und Anlagen haben ihren Platz eingenommen. Trotz Renovierung haben einige Bahnhöfe etwas von ihrer altmodischen Patina behalten. Die Leuchtschrift in der Funicolare Centrale kündigt an, ob die nächste Fahrt diretto oder misto ist. Schon diese Bezeichnung klingt wie aus der Zeit meiner Großeltern. Diretto, die nur jede halbe Stunde fährt, verbindet beide Endstationen Toledo und Vomero ohne Zwischenhalt. Misto hält zusätzlich an den Zwischenstationen Petraio und Corso Vittorio Emanuele. Für die Bewohner des Viertels Vomero sind die unteren Stadtteile im historischen Zentrum und am Meer Napoli giù. Wenn die Vomereser das sagen, schwenken sie die Hand in einer abschätzigen Geste von oben nach unten. Napoli giù: das ist geräuschvolle Kulisse, die Enge der kleinen Gassen, das volkstümliche Leben. Oben am Vomero sei alles feiner, schon die Luft sei wegen der Höhe sauberer, meinen sie und übersehen dabei gerne, dass die Straßen um die autofreie Einkaufsmeile der schicken Via Scarlatti zu jeder Tagesstunde verstopft sind. Wiederum meint der Bewohner des Spanischen Viertels oder der Via Tribunali im historischen Zentrum, die vomeresi seien arrogant. Auch die Einwohner von Chiaia werden als überheblich betrachtet, aber weil hier das Leben so glänzt, bewundert und beneidet man sie. Traditionell ist Chiaia das Viertel der Mode. Hier sind die Ausstatter der sartoria napoletana, die in der Welt Synonym für gepflegte Herrenmode geworden ist. Hier können Sie sich maßgeschneiderte Hemden aus leichtem Baumwollmusselin sowie Anzüge aus englischem Stoff anfertigen lassen. Auch die Preise orientieren sich übrigens am kostspieligen Londoner Vorbild. In Chiaia ist alles brillant, schicker, edler, schöner. Die herrschaftlichen Palazzi zwischen der Piazza dei Martiri und der Piazza Amedeo gelten als die teuersten Immobilien der Stadt. Die Damen und Herren sind fein angezogen, quasi ein lebendiges Abbild aus der patinierten Vogue. Sie haben es gut! Entweder gehören sie einer alteingesessenen Familie an, oder sie haben es von allein geschafft. Jetzt leben sie hier, die dandyhaften Chefredakteure, die Galeristen und Architekten, Intellektuellen und Modeschöpfer, Makler und Anwälte, die abends zum Aperitif im Caffè Cimmino oder in der Via Belledonne mit ihrem BMW erscheinen.

Wie einfach und beschaulich ist dagegen das Leben in Santa Lucia und Mergellina. Beide sind zwar auch bürgerliche Viertel, sie zeichnen sich aber durch eine heterogene soziale Struktur aus. Zwischen dem Tuffsteinmassiv des Pizzofalcone und der Via Santa Lucia besteht ein dichtes Geflecht von engen Gassen, genannt il pallonetto, wo schon im neunzehnten Jahrhundert die camorra hauste. In der vornehmen Via Santa Lucia lebte dagegen das wohlhabende Bürgertum, aber auch die Fischer und die Kutscher. Ich wette, Sie kennen das Lied Santa Lucia. Nein? Okay, dann singe ich jetzt die Melodie, und Sie werden es sofort erkennen. Denn die neapolitanischen Lieder, die von Santa Lucia inspiriert wurden, sind in aller Welt bekannt. Sie besingen die herrlichen Aussichten auf die Bucht von Neapel im Mondlicht. In Santa Lucia stehen die Grandhotels, die traditionsreichen luxuriösen Herbergen, in denen berühmte Reisende von Giacomo Casanova und Alexander von Humboldt bis Sophia Loren, Bill Clinton und Claudia Schiffer wohnten.

Auch der Kiez Mergellina ist von einer gemischten Bevölkerungsstruktur geprägt. Einerseits sind in den imposanten Bauten Konsulate, Banken, Notar- und Anwaltskanzleien untergebracht. Andererseits wohnen hier große Familien mit bescheidenen Monatseinkommen, wie man am günstigen Markt am Largo Torretta erkennen kann.

Aber zurück ans Meer. Dort, gleich hinter der Piazza Sannazzaro, wo die Anhöhe des Posillipo beginnt, sind mehrere kleine Buchten, welche die Stadtverwaltung an Privatleute verpachtet hat. Das Wasser sei dort sauber, denn ein Netz halte den Schmutz fern, so glauben viele. Man sieht kleine Strände mit dunklem vulkanischem Sand. Bei anderen findet man Holzstege, die auf die Felsen gebaut wurden. Die Strände am Posillipo sind als mondäne Orte des Sommers in die Stadtgeschichte eingegangen. Im Bagno Elena zum Beispiel, Mitte des neunzehnten Jahrhunderts eröffnet und zu Ehren der italienischen Königin nach ihr benannt, trafen sich Aristokraten, Minister, Tänzerinnen und Millionäre. Hier nahmen stürmische Liebesaffären ihren Anfang, über die in der Stadt monatelang getratscht wurde. Hier wurde Politik gemacht, wurden Geschäfte diskutiert und mit einem Handschlag besiegelt. Heute sind die lidi lange nicht mehr ausschließliches Privileg der Hochwohlgeborenen. Neben die feinen Gräfinnen legen sich auch die Kassiererinnen, Sekretärinnen und Lehrerinnen in die Sonne, vorausgesetzt sie sind bereit, die stolzen Eintrittspreise zu zahlen. Inzwischen sind die Anlagen zu regelrechten Unternehmen geworden, Tempel der Schönheit und des Müßiggangs. Zwischen dem Bad und einem kleinen Nickerchen kann man unter dem Sonnenschirm eine Ayurveda-Rückenmassage oder eine Maniküre bestellen. Auch muss die feine Dame nicht schwitzen. Einige Bereiche auf dem Holzsteg sind dank eines ausgeklügelten Systems auch im Freien klimatisiert.

Zwischen den Grandhotels und dem Castel dell’Ovo verbergen sich die exklusiven Vereine, in denen die Bourgeoisie ihre Freizeit verbringt. Eine kleine, eher unscheinbare Steintreppe führt vom Bürgersteig hinunter zu einem Kai, zum Herrenklub. Man klingelt an einer soliden Holztür, auf der das Siegel des Klubs hängt. Ein Butler in Uniform öffnet und sagt: »Guten Abend, Professor R. erwartet Sie schon auf der Terrasse.« Oder: »Buongiorno, Herr M. freut sich, Sie im Kaminzimmer zu sehen.« Selbstverständlich, es sind Herrenklubs, zu denen Gäste und Damen nur Zutritt auf Einladung haben. Man wird durch mehrere Räume mit hellem Majolikafußboden geleitet, die den Blick auf den kleinen Jachthafen freigeben. Das Mobiliar ist im Marinestil gehalten: rotbraunes Holz und tiefblaue Sessel und Diwane, alles vom Feinsten, ein wenig Kitsch, ein wenig englisch. Auf dem Kaminsims Holzmodelle von Segelschiffen und Fregatten. Verschiedene nationale wie ausländische Tageszeitungen und Magazine stehen dem Gast zur Verfügung. Große Bildbände über Meere und Ozeane präsentieren sich stolz in den Bücherregalen. Hier trifft man sich zum Lunch oder zum Abendessen, zum Kaffee oder zum Aperitif. Die Hausordnung ist streng. Abends sind für den Herrn Krawatte und Jackett Pflicht. Handy-Gespräche sind unerwünscht. Dennoch sitzt in einem Sessel in der Ecke ein Gast mit dunkelgrüner Ray-Ban-Sonnenbrille, der auf mobile Gespräche nicht verzichten kann. Er verdeckt seinen Mund mit der Hand und spricht sehr leise: Ist er ein Politiker, ein Industrieller, ein Promi-Anwalt? Denn eines ist hier klar: Im Club Savoia wie im benachbarten Circolo Italia verkehrt ein bessergestelltes, konservatives Publikum.

In einem Speisesaal sind alle Tische weiß gedeckt, das Besteck ist aus Silber, die Kellner tragen makellose Handschuhe. Die Brötchen sind filigran wie kleine Wolken, als ob sie die Prinzessin auf der Erbse bestellt hätte. Keine neapolitanische Folklore, sondern gedämpfte Stimmen, langsame Bewegungen, Diskretion. Während man diniert, betrachtet man durch die große Fensterfront, wie ein Segelschiff an Land kommt. Jemand hilft das Seil an einem Poller zu befestigen. Ein Herr Mitte fünfzig und ein jüngerer Mann gehen an Land. Früher – so erzählt mir die Freundin, die mich an dem Abend zu einer Einladung in einen der circoli mitgenommen hat – herrschte unter den Vereinen eine große soziale Konkurrenz. Die Mitgliedschaft bei dem einen oder anderen gab Auskunft über die gesellschaftliche Schicht, ob Aristokrat, Unternehmer oder Neureicher. Der Vater meiner Freundin, eine echte Fürstin, deren Familienstammbaum bis ins 14. Jahrhundert zurückreicht, bevorzugte den Circolo Italia. Er zog irritiert die Augenbrauen hoch, wenn es um den Circolo Savoia ging. Heute sind diese sozialen Grenzen verwischt. Dennoch, für die Passanten, die in Richtung Castel dell’Ovo spazieren, sind die Herrenklubs nicht nur nicht sichtbar, sondern auch weiterhin verschlossen.

Tagsüber gehört die Promenade den Brautleuten, die oft Schlange stehen, um sich vor der grandiosen Kulisse der Bucht mit dem Vesuv im Hintergrund fotografieren zu lassen. Wieder halten schicke Autos – eine mit roten Rosen geschmückte weiße Limousine aus den Zwanzigerjahren, ein silbergrauer Mercedes, ein Jaguar-Cabrio. Die meisten kommen direkt von der kirchlichen Zeremonie. Braut und Bräutigam steigen aus, gefolgt von einer jungen Hochzeitsgesellschaft. Die Hochzeit ist für Italiener das Fest der Feste. Da ist der Neapolitaner nicht knauserig. Für diesen Tag sparen die Familien seit der Taufe der Braut oder des Bräutigams. Jetzt ist ein stundenlanges Posieren vor der einmaligen historischen Kulisse angesagt, damit »der schönste Tag« auch in Erinnerung bleibt. Ein Fotograf mit Pferdeschwanz brüllt dem Brautpaar Unverständliches zu. Eine junge Frau mit schulterfreiem Kleid und Glitzertäschchen legt das Kleid der Braut zurecht, eine andere kümmert sich um die Schleppe, noch eine weitere hält den Blumenstrauß verträumt in der Hand und zwinkert einem jungen Mann mit gegeltem Haar und schwarzer Brille zu. Zwei junge Männer, auch sie mit kiloweise Pomade in den Haaren und der obligatorischen Sonnenbrille, filmen die Fotoaufnahme. Touristenbusse bleiben stehen, runde Gesichter lächeln hinter der getönten Scheibe, die Japaner fotografieren gleich mit. Aber die Braut hat Ringe unter den Augen; sie sieht müde und angestrengt aus. Leider führt kein Weg daran vorbei. Jetzt wie Monica Bellucci gucken, lässig und leger wie die Models im Magazin posieren. Vermutlich sehnt sie sich nur nach dem Abend, danach, die spitzen Schuhe und das enge Korsett ablegen und endlich schlafen zu können.

Die letzte Nacht konnte sie sicherlich kaum ein Auge zumachen. Nicht vor Aufregung, sondern weil ihr Kopf voller Lockenwickler war. Und um sieben Uhr kamen schon die Friseurin und die Kosmetikerin ins Haus. Zwei Stunden wurde sie geföhnt und geschminkt. Ach ja! Diese Prozedur erinnert mich an meine eigene Hochzeit. Ich war fünfundzwanzig, mein zukünftiger Mann dreißig. Wir wohnten schon in Berlin und verstanden von dem ganzen Theater wenig. Immer wieder wurden wir von Eltern, Geschwistern und Verwandten zur Ordnung gerufen. Den wahren Sinn des langen Fotoshootings enthüllte mir zwei Tage vor der Hochzeit eine Cousine meiner Mutter. Mit der stillen Gemächlichkeit eines traurigen Dickhäuters war sie über mehrere Familienkatastrophen (Nachkriegszeit, finanzielle Schwierigkeiten und Ehebrüche) heil und froh hinweggekommen. Gerade hatte ich ihr Hochzeitsgeschenk ausgepackt, als sie mir sagte: »Die Fotos sind das Einzige, das von deiner Ehe übrig bleibt.« Deswegen sei es wichtig, einen guten Fotografen zu engagieren. Nach fünf, sechs, sieben, zehn Jahren schaue sich jede Ehefrau ihre Hochzeitsfotos an und seufze, wie schön alles gewesen sei. Deswegen seien die fotografie für eine gute Ehe unerlässlich.

Nach dem Fotoshooting findet das mehrgängige Bankett statt. Eingeladen wird die ganze Verwandtschaft bis auf die Cousinen und Cousins dritten Grades. Lange Diskussionen sind in den Monaten vor dem Tag der Tage über die Gästeliste geführt worden. Man geht zu einem der vielen Restaurants am borgo marinaro, dem malerischen Fischerquartier auf der kleinen Felseninsel neben dem Castel dell’Ovo.

Im 12. Jahrhundert von Wilhelm I. erbaut und vom Stauferkaiser Friedrich II. erweitert, jahrhundertelang Militärgefängnis, ist die Burg durch Damm und Brücke mit der Via Partenope verbunden. Sie ist heute Museum und Veranstaltungsort des Comune di Napoli. Das Kulturdezernat der Stadt organisiert in den kargen Räumen Kunstausstellungen und Konferenzen. Ausländische Konsulate halten auf der Aussichtsplattform, direkt am Wasser, ihre Jahresempfänge ab. Neben dem Vesuv und natürlich der Schirmpinie stellt die mittelalterliche Burg ein fundamentales Element des neapolitanischen Panoramas dar. Laut dem Volksmund befindet sich in einem unentdeckten unterirdischen Gemach das »Ei des Vergil«. Sollte das Ei zerbrechen, werde Neapel untergehen. Ist das der Grund, warum immer ein Polizeiauto vor dem imposanten Tor steht? Die Tür des Wagens steht meist offen, der diensthabende Polizist lehnt daran und beobachtet die vielen Passanten. Einheimische und Touristen kommen täglich in Strömen vorbei. Stadtführer und Fotoapparate werden aus den Taschen gezogen, es wird vorgelesen, erklärt, geknipst: Links borgo marinaro und der Vesuv, rechts der Posillipo, gegenüber zum Greifen nah Capri. Der Ordnungshüter fächelt mit der Mütze: Wie viele nackte Beine und Arme! Und milchweiße Dekolletés, blaue Augen, anmutiges Lächeln! Da entgeht einem schon mal das Mofa, das sich das Fahrverbot missachtend auf die Insel schmuggelt.