Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.malik.de

 

Für Nino

 

Mit 38 farbigen Fotos und einer Karte
Die Autorin spendet zehn Prozent ihres Erlöses an die UNO-Flüchtlingshilfe, Bonn.
Spendenkonto:
UNO-Flüchtlingshilfe
Sparkasse Köln Bonn
IBAN: DE78 3705 0198 0020 0088 50
BIC: COLSDE33

 

© Piper Verlag GmbH, München 2017
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de
Covermotiv: Gitti Müller
Bildteilfotos: Gitti Müller
Karte: Marlise Kunkel, München
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

 

 

2015
Deutschland digital

Wiedererwachen

Eines Morgens ist die Idee plötzlich da. Ich liege noch im Bett, gerade aufgewacht, die Haare wirr, die Lider schwer, und denke: Montevideo. Wie ein Hauch von zartem Frühnebel, der sich jeden Moment verflüchtigen will, schwebt und wabert der Gedanke hinter meiner Stirn. Müsste ich jetzt einen Wecker abstellen oder einen Blick auf die Uhr werfen, er wäre fort. Bestimmt. Hätte ich einen ganz normalen Job mit festen Arbeitszeiten, wäre ich ins Bad geeilt, hätte unter der Dusche gedanklich meine To-do-Liste aktualisiert, dann einen starken Kaffee getrunken, und es wäre nicht mal mehr der Ansatz einer Erinnerung daran geblieben. So aber halte ich die Augen geschlossen und sehe den Schriftzug Montevideo vor mir. Der nächste Gedanke ist: Da muss ich hin. Unbedingt!

Das Dösen am Morgen kann ich mir erlauben, denn ich bin Freiberuflerin. Vor mehr als drei Jahrzehnten habe ich meinen sicheren Arbeitsplatz in einem Reisebüro aufgegeben, das Abitur nachgeholt und studiert. Seitdem verdiene ich mein Geld mit Jobs für Film und Fernsehen. Die Aufträge kommen mit beständiger Unregelmäßigkeit herein und rauben mir oft den Schlaf, den ich erst wiederfinde, wenn das Honorar eingegangen und die Miete gesichert ist. Dann geht alles von vorne los. Themen suchen, Exposés schreiben, Klinken putzen …

Heute habe ich keine Termine, nur einen ahnungslosen Schreibtisch, der auf Einfälle wartet, während ich in Jogginghose und XXL-Pullover in die Küche schlurfe, um mir einen großen Latte macchiato zu machen. Es ist einer jener Tage des großen Freiheitsversprechens. Für diese Tage habe ich meine finanzielle Sicherheit und die »Wie war dein Wochenende?«-Gespräche aufgegeben.

 

Ich trinke meinen Kaffee, und der Montevideo-Gedanke schaut mir dabei zu. Wo zum Teufel liegt das eigentlich, Montevideo?, denke ich und schalte meinen Laptop ein, um nachzuschauen. Jetzt sind die Würfel gefallen. Aus dem Gedanken ist Handeln geworden, somit kann er sich nun nicht mehr verflüchtigen. Ich gebe »Montevideo« bei Google Maps ein und blicke gespannt auf die sich aufbauende Landkarte. Na klar! Uruguay, dieses winzig kleine Land zwischen den beiden Riesen Argentinien und Brasilien. Hauptstadt: Montevideo. Uruguay ist eines der ganz wenigen Länder in Südamerika, die ich während einer Rucksackreise vor 35 Jahren nicht besucht habe. Ich habe den kleinen Staat wohl schlicht übersehen. Und nun sitzt er in meinem Kopf und will nicht mehr fort.

Während ich mir einen Smoothie zubereite, starre ich, den Kopf in die Hände gestützt, auf das wirbelnde Grünzeug im Mixer vor mir. Feldsalat und Spinat drehen sich mit zunehmender Geschwindigkeit und lassen das Bild einer Pirouetten drehenden Eisprinzessin entstehen. Mit einem leicht durchsichtigen Tutu und einem dicken grünen Rucksack auf dem Rücken vollführe ich Sprünge und doppelte Rittberger. Was für ein verrücktes Bild, denke ich. So ein Rucksack wäre ja wohl eher hinderlich auf der Eisfläche. Aber das Gefühl von Leichtigkeit, von Freude und Freiheit, wie ich da über das imaginäre Eis schwebe – es kommt mir irgendwie bekannt vor. Und tatsächlich, ein grüner Rucksack spielt in dieser Erinnerung auch eine Rolle. Es ist lange her, aber immer noch lebendig. 1980.

1980
Frankreich analog

Nix wie weg

Ich gehöre zur Generation der Babyboomer. Wir waren damals viele, und eines einte uns: Wir wollten anders sein als unsere Eltern, total anders. Weg von den Wohnzimmern mit Schrankwänden aus deutscher Eiche, weg vom Wirtschaftswunder und Konsumterror der Siebzigerjahre, weg vom spießigen Sonntagnachmittagsmief, von Hütchen, Schühchen, passenden Täschchen, weg von all dem, was nach Konvention und Langeweile roch. Man könnte auch sagen, ich bin Generation N, Generation Nix-wie-weg. Manche tuckerten in den Siebzigern und frühen Achtzigern mit dem VW-Bus durch Afghanistan, andere flogen nach Indien und meditierten in Aschrams oder fuhren nach Ibiza, wo sie in Höhlen wohnten und Armbändchen flochten. Einige bauten Schulen in Nicaragua oder gruben Brunnen in Afrika, andere schlossen sich den Beduinen an und fanden das Glück in der Wüste. Ich schaute mit 13 am Kölner Hauptbahnhof den Zügen hinterher und wanderte mit 19 nach Paris aus. Mit 23 stand ich in der Wartehalle des Flughafens Roissy und wollte mal wieder nix wie weg, aber diesmal richtig. Richtig weit. Und richtig lange.

Meine Stiefel waren gut zwei Nummern zu groß, aus schwerem Leder mit dicker Sohle. Trotzdem kam ich mir darin kein bisschen klobig vor. Im Gegenteil: Ich fühlte mich leicht wie eine Eisprinzessin. Die groben Schuhe gaben meinen zu dünnen Beinen sicheren Halt und das gute Gefühl, zuverlässigen Kontakt zur Erde zu haben. Auch wenn ich noch auf dem zubetonierten Grund der Abflughalle Paris-Roissy stand. Noch. Doch schon bald sollten sie mich trockenen Fußes durch Urwaldflüsse bringen. Im hohen Gras der Tropen sollten sich Giftschlangen die Zähne an ihrem harten Leder ausbeißen, und auf 4000 Meter Höhe in den Anden sollten mich die dicken Sohlen vor Steinen, Geröll und Dornen schützen. Wohlwollend betrachtete ich sie. Handarbeit, maßgefertigt vom Schuster meines Stadtviertels Montmartre. Ich wollte sie so groß. Schick waren sie nicht gerade, und in Paris, wo ich die letzten drei Jahre gelebt hatte, waren sie allemal ungewöhnlich. Sie wogen gut zwei Kilo. Schon deshalb würde ich sie unterwegs immer tragen müssen, damit ich sie nicht im Rucksack zu schleppen brauchte.

Unverwüstlich stand ich also in den neuen Schuhen am Check-in-Schalter, während um mich herum flatterhafte Betriebsamkeit herrschte. Menschen blickten nervös auf ihre Uhren. Männer trugen Aktenkoffer geschäftig hin und her, so, als hätten sie Dringendes zu tun. Gepäckstücke wurden geschleppt, gezogen, eine ältere Dame suchte verzweifelt nach ihrem Flugticket. Lautsprecherdurchsagen meldeten krächzend den kleinen Henry, der seine Mutter verloren hatte, sowie Ankommende, die ihre Abholer nicht finden konnten. Inmitten dieser planmäßigen Unruhe fühlte ich mich seltsam ruhig. So ruhig wie noch nie. Alles war in diesem Moment perfekt. Ich musste nichts mehr tun, nichts mehr überlegen und nichts entscheiden. Es war, als stünde die Zeit still. Ich stand ähnlich still, atmete tief durch und fühlte mich großartig. Ich war jung, hatte unendlich Zeit, keine Verpflichtungen, keine Verabredungen, nicht einmal eine Flugreservierung. Ich flog Stand-by. Das war billiger und hieß: Gab es einen freien Platz, flog ich um 14 Uhr nach Cayenne. Gab es keinen, flog ich am nächsten Tag oder am übernächsten. Und zwar nur hin. Es war ein One-Way-Ticket.

Ich hatte auch keinen materiellen Ballast: keine Wohnung, um die ich mich kümmern musste, keine Rechnungen, die auf Bezahlung warteten. Alles, was ich besaß, war stillgelegt. Bücher und Kleider in Kisten gepackt, der Haushalt aufgelöst, Nützliches verschenkt und Unnützes weggeworfen. Auszeit von meinen Sachen. Bis auf zehn Kilo geplanter Nützlichkeit, verstaut in einem grünen Rucksack mit Metallgestänge. Tagelang hatte ich hin und her geräumt und gerückt, dieses rein, jenes raus, entschieden und wieder verworfen.

Zuletzt kamen fein säuberlich auf eine Liste und in den Rucksack: 1 Jeans, 1 Bermudashorts, 4 T-Shirts, Unterwäsche, 4 Paar Strümpfe, 1 langärmliges Tropenhemd, 1 Bikini, wasserfeste Sandalen, 1 Bettbezug zum Reinschlüpfen wegen der Wanzen, 1 Moskitonetz wegen der Mücken, 1 Kamera und 4 Filmrollen. Zudem 1 Wäscheleine und 4 Wäscheklammern sowie 1 Stück Kernseife, Zahnpasta und Zahnbürste. Außerdem ein nicht unerheblicher Vorrat an Zigarettentabak und Papierblättchen. Um den Bauch, direkt auf der Haut, trug ich einen cremefarbenen Geldgürtel mit 2500 Dollar in Travellerschecks und 500 Dollar in bar, sorgfältig eingewickelt in Plastikfolie, damit sich die Scheine nicht auflösten, wenn ich schwitzte. Außerdem befand sich mein frisch ausgestellter Reisepass darin, mit einem Visum für Französisch-Guayana. Frühestens in einem Jahr wollte ich zurückkommen. Wenn überhaupt.

 

Die letzten beiden freien Plätze in der 14-Uhr-Maschine gingen an uns. Es hatte geklappt.

Während die üblichen Durchsagen gemacht wurden, rutschten wir ungeduldig auf unseren Sitzen herum. »Kneif mich«, sagte ich, und Christian, mein französischer Freund und Reisegefährte, knuffte mich in die Rippen. »Kneif du mich«, sagte Christian, und ich startete eine Kitzelattacke. Wir beide waren die Einzigen an Bord, die ausgelassen lachten und alberten. Um uns herum nur Geschäftsleute. Klar, wer machte schon Urlaub in Guayana. Wir ja auch nicht. Wir gingen auf Entdeckungsreise nach Südamerika, und die fing nun mal in Cayenne an. Wir hatten nicht einmal eine Reiseroute und wollten so lange bleiben, wie uns die Dollar trugen.

Drei Jahre lang hatten wir beide gearbeitet und jeden Cent gespart. Ein heruntergekommenes Zimmer in der Rue Lamarck am Fuße des Montmartre war unser Zuhause gewesen. Ein Dachzimmer, eine ehemalige chambre de bonne, an dessen Schrägen wir uns die Köpfe stießen. Die alten, teilweise abgelösten Tapeten mit den großen gelben Sonnenblumen hatten wir notdürftig an den schiefen Wänden festgeklebt. Wir wollten ja nicht lange bleiben. Nur mal kurz arbeiten und sparen und dann nichts wie weg. Unser Leben bestand aus »métro, boulot, dodo«, wie die Pariser sagen, also aus »Metro fahren, arbeiten, schlafen«. Und träumen. Wir schwärmten von dieser Reise wie Teenager von einem Idol, das sie doch gar nicht kannten. Abends, wenn wir unseren billigen Wein tranken, malten wir uns aus, unter Palmen zu liegen, frischen Lobster zu essen und Cuba Libre zu trinken. Wenn der Sommer in Paris den Asphalt dampfen ließ und wir schwitzend zu unseren Jobs trotteten, stellten wir uns vor, unter tropischen Wasserfällen zu duschen oder im glasklaren Wasser des Titicacasees zu schwimmen.

Dass wir tatsächlich irgendwann am Titicacasee saßen und nicht etwa auf Ko Samui, hatte etwas mit einer Münze zu tun. Wir konnten uns nämlich anfangs nicht einigen, wohin die Reise gehen sollte. Christian wollte nach Asien, ich nach Südamerika. Unbedingt nach Südamerika. Warum, wusste ich selbst nicht so genau.

Jahre später fiel es mir dann ein. Ich hatte bei meinem ersten Freund, in den ich unsterblich verliebt gewesen war, ein Gemälde gesehen: Ein alter Mann, ein südamerikanischer Indianer, sitzt, eingehüllt in seinen Poncho und gestützt auf einen Stock, auf einem Felsen und schaut in die Ferne. Mit seinem Blick hatte er mich eingefangen und ließ mich nicht mehr los. Darin war so viel Wissen, so ein unerschütterliches Vertrauen in das Leben, die Gewissheit, es würde schon alles gut werden. »Da geht es lang!«, sagte dieser Blick. Als wären Zukunft und Vergangenheit in seinen Augen vereint, war er von einer Präsenz, die mich fortan nicht mehr losließ.

Ich lieh mir das Bild aus und versuchte, diesen alten Mann zu malen. Das Muster seines Ponchos in allen Einzelheiten, das tiefe Kobaltblau des Himmels, das so ganz anders, so viel klarer war als in Deutschland. Ich verbrachte Stunde um Stunde, Tag um Tag mit dem Versuch, den Ausdruck des alten Mannes zu treffen, und während ich ihn betrachtete und ihn malte, freundete ich mich mit ihm an. Als das Bild fertig war, versprach ich ihm, eines Tages nach Südamerika zu kommen und ihn zu besuchen.

Christian hingegen träumte von Asien, er wusste damals auch nicht, warum. »Vielleicht war ich in meinem früheren Leben ein Thai«, probierte er mich zaghaft zu überzeugen. Weil keiner von uns nachgeben wollte, warfen wir eine Münze. Ich hatte Kopf, Christian Zahl. Es fiel Kopf. So einfach war das. Christian war ein guter Verlierer, das musste man ihm lassen. Und von da an träumten wir beide gemeinsam von Südamerika.

Als das Flugzeug endlich abhob, wurde alles wahr, wonach wir uns all die Jahre gesehnt hatten. Die große Freiheit, ja, es gab sie wirklich. Das war genau das Gefühl, für das ich meine Blitzkarriere in Paris hingeschmissen hatte. Die totale Unabhängigkeit auf Zeit. Ein Gefühl, das stärker war als all die Zweifel, die mich zwischendurch immer wieder überkommen hatten. Etwa wenn mein Chef sagte: »Warte doch noch ein paar Jahre mit der Reise.« Oder wenn die Eltern fassungslos den Kopf schüttelten und einfach nur seufzten: »Nä, nä, nä, Kindchen …« Oder wenn Freunde rieten: »Mach das doch, wenn du alt bist.«

Alles gut gemeinte Ratschläge, aber ich roch die Lunte: Wäre ich nach ein paar Jahren Luxusleben noch bereit, in billigen Bruchbuden abzusteigen? Würde ich mich in drittklassige Züge setzen, zwischen Ziegen und Hühner? Würde ich Flusswasser trinken, wenn es kein anderes gab? Wäre ich dann nicht schon viel zu vernünftig?

Vielleicht hätte ich bereits Kinder. Und ein Haus, das abbezahlt werden müsste. Und einen Friseur, zu dem ich einmal im Monat ginge; »meine« Kosmetikerin, »meinen« Käseladen, »meine« Boulangerie, »mein« Oberbekleidungsgeschäft. Wie alle Pariserinnen. Vielleicht liefe ich in ein paar Jahren nur noch in High Heels herum, und die Vorstellung, klobige Stiefel anzuziehen, wäre völlig absurd. Selbst wenn nicht: Hätte ich dann überhaupt noch den Mut, alles hinter mir zu lassen? Den schönen Arbeitsplatz, das satte Gehalt, den guten Wein (den ich dann bestimmt trinken würde), die Restaurantbesuche mit Austern, Coq au vin und fünf Nachspeisen, die geräumige Wohnung mit begehbarem Kleiderschrank, das fließende Leitungswasser, den Kühlschrank, das französische Bett? Würde ich alles hinter mir lassen können, wenn ich einmal ins Reich der Bequemlichkeit abgetaucht wäre? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich hatte da so meine Zweifel. Und diese Reise wollte ich unbedingt machen. Nicht später. Nicht wenn ich in Rente war. Oder an Krücken lief. Sondern jetzt.

Die Wolken flogen wie Zuckerwatte am Fenster vorbei, und ich saugte das Gefühl von unendlicher Freiheit und zitternder Erwartung in mir auf, als gelte es, den Rekord im Glücklichsein zu brechen.

2015
Deutschland digital

Mit dem Rucksack durch Südamerika? Alter!

Der Montevideo-Gedanke schlummert am Jahresanfang unter Bergen von zu erledigenden Dingen, die ich gerne so lange aufschiebe, bis unerwünschte Konsequenzen drohen. Da erreicht mich die Nachricht meines Vermieters, Küche und Bad müssten einer Grundsanierung unterzogen werden, um alte Bleirohre zu entfernen. Die Bauarbeiten würden drei bis vier Wochen dauern. Ich male mir die Situation aus: meine Wohnung ein staub- und schuttüberzogenes Schlachtfeld. Handwerker und Bauarbeiter stampfen von morgens bis abends durch die Räume, reißen Wände auf, sitzen rauchend und fluchend auf meinem Sofa, weil wieder eine Schraube klemmt oder ein Rohr nicht passt. Bad und Küche sind für mich tabu. Inmitten dieser Horrorvorstellung erwacht auf einmal meine Devise »Nix wie weg«, und es mischt sich auch gleich der Montevideo-Gedanke wieder ein. Da wollte ich doch unbedingt hin!

Also kurzerhand einen Deal mit dem Vermieter geschlossen: Der nächste Monat ist mietfrei. Dafür überlasse ich den Bauarbeitern aus Polen und Kasachstan die Schlüssel meiner Wohnung in der Hoffnung, dass ich sie wiedererkennen werde, wenn ich zurückkomme.

Ziemlich mutig, wie ich finde. Und bevor ich länger darüber nachdenken und es mir noch einmal anders überlegen kann, buche ich online den Flug. Frankfurt–Montevideo–Frankfurt. So, denke ich, das ging fix und war einfach. Und jetzt? Was mache ich da eigentlich, in Uruguay?

In den letzten Jahren bin ich zwar viel gereist, aber eigentlich immer nur beruflich. Da gab es nicht viel zu überlegen: Rolli gepackt, Businesskram hinein, Flugzeug genommen, mit dem Taxi ins Hotel und dann arbeiten. Oder Urlaub: Rolli gepackt, Bikini hinein, Flugzeug genommen, mit dem Bus ins Hotel, Strand. Ich recherchiere auf diversen Plattformen, und der Schreck ist groß: Uruguay, dieses Land, von dem ich so gar nichts weiß, ist richtig teuer. Vier Wochen Hotel kann ich mir gar nicht leisten. Verflixt, der Plan ist wohl nicht so gut durchdacht. Aber dann habe ich plötzlich eine Idee. Wie war das noch 1980, als ich ein Jahr lang mit dem Rucksack durch Südamerika getingelt bin? Zwölf Monate mit 3000 Dollar? Okay, heute komme ich damit sicher nicht mehr hin, aber eines steht fest: Eine Rucksackreise ist sicher billiger als ein Hotelurlaub. Und spannender allemal.

In dem Alter? Geht’s noch?

Noch in der gleichen Woche treffe ich mich mit Freunden. »Mit dem Rucksack durch Südamerika? In dem Alter? Ganz alleine? Bist du panne?« ist einer der harmloseren Kommentare. Meine fast zehn Jahre jüngere Freundin Ulla zieht ungläubig die rechte Augenbraue hoch und meint in einem Ton, der keinen Zweifel lässt: »Nee, ich würde das nicht machen. Alleine herumreisen, allein im Restaurant sitzen, zugucken, wie glückliche Paare sich zuprosten oder Grüppchen von Freunden Spaß haben? Diese Blicke aushalten, die dann sagen: Ja, und was ist mit der armen Frau? Hat die keinen abgekriegt? Da könntest du mir die Reise bezahlen und noch 100 000 obendrauf legen. Ich würde das nicht machen!« Was soll ich sagen? Ich fühle mich unverstanden. Gut, das mit dem Restaurant kann komisch sein. Das kenne ich von meinen Dienstreisen. »Möchten Sie mit der Bestellung noch warten, bis Ihre Begleitung kommt?« – »Nein danke, ich esse alleine.«

Alleinreisende Frauen werden gerne an den unattraktivsten Tisch des Hauses direkt neben dem Toiletteneingang oder der Küche geführt. Da hilft nur eines: Widerstand leisten und um einen anderen Tisch bitten. Wie viele Stunden habe ich allein im Restaurant, an der Hotelbar oder auf dem Hotelzimmer verbracht, wenn der Job es erforderte. Manchmal war ich froh darüber, weil ich den ganzen Tag mit oder zu Menschen gesprochen hatte und es genoss, am Abend still und friedlich mit mir allein zu sein. An anderen Tagen habe ich eine nette Begleitung und anregende Gespräche bei einer guten Flasche Wein schmerzlich vermisst. In einem Businesshotel läuft man ja nicht einfach los und fragt, ob man sich dazusetzen darf. Aber so eine Reise mit dem Rucksack ist bestimmt ganz anders, denke ich und spreche mir selbst Mut zu.

Gemeiner ist die Frage eines Freundes, ob es sich denn bei meinem Plan um eine Midlife-Crisis handele. Also bitte! In dem Alter? Ich habe gerade meinen 58. Geburtstag gefeiert. Zu spät für eine Midlife-Crisis, aber keineswegs zu spät, etwas Verrücktes zu tun. Finde ich. Andere finden das nicht.

Meine Verwandtschaft zum Beispiel. »Nä, Kindschen«, sagt Tante Gertrud in ihrem unverwechselbaren rheinischen Dialekt, »dat häste doch alles schon jemaht. Warüm mähste dat denn jetzt at widda? Un dann ohne Kähl?« Was so viel heißt wie: »Kind, das hast du doch schon hinter dir, und jetzt auch noch ohne Mann?« Ja, Tantchen, ohne Mann geht auch und sogar ganz besonders gut in diesem Alter. Da muss ich ja nicht mehr fürchten, entführt oder vergewaltigt zu werden, verstehst du?

Tante Helga findet auch, es sei viel zu gefährlich, in dem Alter allein zu reisen. Und dann auch noch Südamerika. Obwohl sie gar nicht weiß, wo das liegt. Nach ihrer Einschätzung ist es allerdings auch gefährlich, nach Einbruch der Dunkelheit über die Hohe Straße in Köln zu gehen. So etwas tut sie nicht, jedenfalls nicht mit Handtasche und ohne Begleitung. Im allerbesten Fall mit Begleitung, aber dann ohne Handtasche. Meine Eltern hingegen halten es genauso wie bei meiner ersten Rucksackreise 1980: Sie sagen gar nichts. Schütteln nur mit dem Kopf.

Meine Physiotherapeutin Maren, Anfang zwanzig, stellt ihre Massagebewegungen für einen kurzen Moment ein und verweilt im Supraspinatusmuskel, als sie hört, was ich vorhabe. »Mit dem Rucksack?«, fragt sie ungläubig. »Da wird sich Ihre Schulter aber freuen!« Wie jetzt? Das bisschen Schulter wird mir doch wohl nicht die Tour vermiesen, denke ich. Ich bin ja schließlich kein Pflegefall! Meine junge Physiotherapeutin erzählt, sie sei noch nie mit dem Rucksack unterwegs gewesen. Wenn sie für eine Woche in den Urlaub fahre, habe sie so viel Gepäck, dass es in keinen Rucksack passe. Zwei Koffer brauche sie. Und die trage ihr Freund. »Man will sich ja stylen«, lacht sie.

Gepäck wird total überbewertet

Ich will mich nicht stylen. Wenn ich schon 1980 mit zehn Kilo Gepäck hingekommen bin, warum nicht auch 35 Jahre später? Die gute Nachricht ist nämlich: Heute ist es sogar noch viel leichter, mit wenig Gepäck zu reisen, weil man überall alles bekommt. Das war früher anders.

Auf meiner ersten Rucksackreise habe ich zwanzig Packungen Zigarettentabak und einen Stapel Papierblättchen mitgenommen. War doch klar, dass es das in Südamerika nicht gab. Es gab auch keine Sonnencreme, keine Kosmetikartikel, keine Marmelade, keine Schokolade, keine Butter, kein »richtiges« Brot. Es gab kaum etwas von alledem, was wir hier aus Europa kannten. Deshalb bestand etwa ein Viertel meines Gepäcks aus Tabak. Ich konnte ja nicht wissen, dass der komplette Vorrat an einem Checkpoint in Bolivien beschlagnahmt werden würde, weil der Zollbeamte meinte, das sähe schwer nach Drogen aus, auch wenn es keine waren. Das South American Handbook, damals der einzige Reiseführer für Backpacker, beschlagnahmte er gleich mit, weil er fand, das sehr dünne Papier des sehr dicken Buchs sei durchaus dazu geeignet, Joints zu drehen.

Der Vorteil heute ist: Ich rauche nicht mehr, und einen Reiseführer brauche ich auch nicht. Dafür gibt es ja genug Apps. Ich benötige keine schicken Schuhe und schon gar kein zweites Paar schicke Schuhe. Schminkutensilien habe ich schon lange abgelegt, weil ich mich ungeschminkt schöner finde. Was ich auch nicht mehr brauche, ist ein Schlafsack. Denn eines ist klar: Auch wenn ich Hotels wegen der hohen Kosten meiden werde, in Kaschemmen auf dem nackten Erdboden schlafen wie vor 35 Jahren – das mache ich nicht mehr. Kurz und gut: Ich werde weniger Gepäck benötigen als damals. Aber ich werde genauso sorgfältig überlegen müssen, was ich mitnehme, um überflüssigen Ballast zu vermeiden. Schließlich habe ich Schulter. Deswegen kaufe ich jetzt erst mal ein Theraband. Die nächsten drei Wochen bis zum Abflug stehen ganz im Zeichen der Schultergymnastik. Stärkung der Rotatoren und des Deltamuskels, die Motivation ist hoch.

Adios, Bedenken!

Je mehr Bedenken mein persönliches Umfeld äußert, desto mehr Argumente fallen mir ein, die für eine Rucksackreise und gegen meine eigenen Zweifel sprechen. Die ich zwar nicht äußere, aber durchaus habe. Ich hole einen großen Zettel heraus und schreibe auf:

1. Was, wenn ich krank werde?

Aus leidvoller Erfahrung weiß ich, dass eine Amöbenruhr einen schneller einholt, als man das Bad aufsuchen kann. 1980 in Brasilien hat es mich zum ersten Mal erwischt. Es waren Momente, in denen ich mir wünschte, ich wäre zu Hause geblieben und hinge jetzt nicht stöhnend über der Toilettenschüssel. Ich wog damals 45 Kilo im Normalzustand. Da kommt man schnell an seine Grenzen. Heute habe ich Gewicht in Hülle und Fülle. Schlicht gesagt: Es wäre nicht schlimm, ein paar Kilo zu verlieren, ganz im Gegenteil, ich hätte gar nichts dagegen. Zudem könnte ich an jedem Ort der Welt in eine Privatklinik gehen, wo in null Komma nichts die Diagnose und eine Therapie stünden. Die Kosten einer Auslandskrankenversicherung sind heutzutage ein Witz. Wenn mir danach ist, kann ich mich ein paar Tage im Krankenhaus an den Tropf legen lassen. In jedem gottverlassenen Ort und in jeder Wüste der Welt gibt es heute Netz. Ich kann von überall die Notfallnummer meiner Auslandskrankenversicherung anrufen und warten, bis mich ein Hubschrauber ins nächste Krankenhaus oder ein Flugzeug nach Hause fliegt. Meine privatärztliche Versorgung im Ausland ist gefühlt hundertmal besser als die kassenärztliche in Deutschland. Oder anders gesagt: Die Wahrscheinlichkeit, an einer Mittelohrentzündung in Deutschland zu sterben, ist höher als im Ausland an einer Hirnhautentzündung. Warum? Weil ich in Deutschland drei Monate auf den Facharzttermin warten muss, während ich im Ausland sofort in einer Privatklinik behandelt werde.

2. Was, wenn ich ausgeraubt werde?

Ich bin noch nie ausgeraubt worden. Nirgendwo. Jedenfalls nicht richtig. Ich kann nicht mit Räubergeschichten prahlen, die unter Reisenden erzählt werden, als gäbe es eine Auszeichnung für denjenigen, der die meisten Unannehmlichkeiten erlebt hat: wie wir im Restaurant überfallen wurden und alle Damen ihren Schmuck in ein Körbchen legen mussten. Wie meine Tasche aufgeschlitzt wurde. Wie mir eine Pistole unter die Nase gehalten wurde. Wie ich in einem Taxi gekidnappt wurde. Nein. Ist mir nie passiert. Gehört habe ich diese Geschichten tausendfach. Am Lagerfeuer, in Hostels und in Reisebussen. Waren es Augenzeugenberichte oder Nacherzählungen? Man weiß es nicht.

Ich bin nur einmal beklaut worden. In Peru, hatten mich viele vorher gewarnt, werde man immer ausgeraubt. Immer. Vielleicht war es eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, was sich am Strand von Lima zutrug. Wir hatten alle Wertgegenstände in unserem Hostel in der Stadt gelassen. Nur mit ein paar Münzen in der Hosentasche für Bus, Wasser und vielleicht einen gegrillten Fisch waren wir mit Badesachen und Handtuch an den Strand gefahren. Dort lagen wir, lauschten den Wellen und ließen uns die Sonne auf den Bauch scheinen. Es war mitten in der Woche, der Strand menschenleer. So vor uns hin dösend, hörte ich plötzlich einen Schrei. Christian sprang auf, fluchte auf Französisch und rannte hinter zwei Jungen her, die unsere Jeans geklaut hatten. Doch sie waren wacher, jünger und schneller als er. Die Jeans also futsch. Das bisschen Geld darin auch. Der Verlust hielt sich in Grenzen, aber wir mussten den Heimweg ohne Wasser in der Mittagshitze antreten und marschierten in Badekleidung und Flipflops etwa zweieinhalb Stunden durch den Großstadtdschungel von Lima. Was ziemlich peinlich war. Sonst ist mir nie etwas abhandengekommen.

Ein Glück. Denn anders als heute gab es damals keine Möglichkeit, Bares in Südamerika abzuheben – zumindest nicht, ohne ein Vermögen dafür hinzublättern. Wir trugen deshalb unser Budget für ein ganzes Reisejahr teils in bar, teils in Travellerschecks bei uns. Dafür hatten wir aus dünnem Stoff eine Hüfttasche mit Reißverschluss genäht, die unter der Jeans getragen wurde und nach außen unsichtbar war. Darin befanden sich das Bargeld, die Schecks und unsere Pässe. Im Lauf der Zeit wurde unsere Barschaft derart von Schweiß durchtränkt, dass das Geld trotz der schützenden Plastikfolie anfing zu stinken und wir es in regelmäßigen Abständen im Zimmer unseres Hostels auf Wäscheleinen hängen mussten, damit es trocknen und lüften konnte. Hätte man es uns gestohlen, wäre unsere Reise zu Ende gewesen. Heute ist das viel einfacher, denn es gibt kaum ein Land, in dem man kein Geld abheben kann. Was also, wenn ich doch mal ausgeraubt werde? Ich gehe zum nächsten Bankautomaten und hole mir neues. Und für den Notfall habe ich immer eine zweite Kreditkarte an Bord.

3. Was, wenn ich mich langweile oder einsam fühle?

Diese Frage ist schnell beantwortet: Das wird nicht passieren, und wenn doch, dann ist mir eben mal langweilig oder fühle ich mich einsam.

 

Nachdem ich die drängendsten Zweifel also ausgeräumt habe, komme ich zu folgendem Schluss: nicht viel reden, nicht viel denken, einfach machen.

Rucksack kaufen

Machen, machen, machen, denke ich bei jedem Schritt auf dem Weg zum Outdoorladen. Nach der Flugreservierung zünde ich damit die zweite Stufe meines Reiseprojekts. In der Abteilung »Gepäckstücke« herrscht gähnende Leere. Gut für mich. Ein junger Verkäufer mit Rastalocken ist mit seinem Handy beschäftigt und sieht vor lauter Snapchat seine Kundin nicht, bis ich ihm so nahe komme, dass wir Fußspitze an Fußspitze stehen.

Ich: »Guten Tag, ich hätte gerne einen Rucksack.«

Verkäufer (guckt noch immer auf sein Handy): »An was haben Sie denn da gedacht?«

Ich: »Ja, also so ein Teil, das ich auf dem Rücken tragen kann, damit die Hände für andere Dinge frei sind.«

Jetzt schaut er auf, eine Augenbraue in die Höhe gezogen. Ich habe seine Aufmerksamkeit.

Verkäufer: »Ja, ist schon klar. Geht es etwas genauer?«

Ich: »Braun wäre gut oder Grau, nichts Auffälliges.«

Verkäufer: »Ich meine, welche Art von Rucksack soll es sein?«

Ich: »Ähm. Keine Ahnung. Was gibt es denn alles?«

Es folgt ein Vortrag, von dem mir schwindelig wird. Ein Rucksack sei ja schließlich nicht einfach ein Rucksack. Es gebe Babyrucksäcke (klar, an die denkt man zuerst, wenn eine Frau Ende fünfzig fragt), Fahrradrucksäcke, Fotorucksäcke, Kamerarucksäcke, Kinderrucksäcke, Militärrucksäcke, Wanderrucksäcke, Trekkingrucksäcke. Außerdem Herrenrucksäcke, Damenrucksäcke, große und kleine Rucksäcke, Rucksäcke mit oder ohne Rollen, Rucksäcke zum Bepacken von oben oder von der Seite. Ja, ja, ist ja gut!

Als ich vor meiner letzten Backpackerreise nach einem Rucksack suchte, hatte ich genau drei Modelle zur Auswahl. Und jetzt? Wenn es nach den Anbietern ginge, bräuchte man für jede Reise einen anderen Rucksack. So, wie man angeblich für jeden Straßenbelag andere Laufschuhe benötigt. Am einfachsten ist noch die Unterscheidung nach Größen. Aus mir nicht nachvollziehbaren Gründen wird die Rucksackgröße in Litern gemessen. Normale Rucksäcke fassen 40, 50, 60, 70 oder 80 Liter. Falls jemand 80 Liter Bier im Rucksack transportieren will, ist der 80er also der richtige. Ich habe keine Ahnung, wie viele Liter Kleidung ich mitnehmen werde. Vielleicht sollte ich meine T-Shirts vorher mal probehalber in Flaschen abfüllen. Aber ich sehe auf den ersten Blick, dass die Rucksäcke groß sind. Auch der 40er erscheint mir riesig.

Ich: »Darf ich mal probieren?«

Verkäufer: »Welchen denn?«

Ich (auf den kleinsten zeigend): »Den hier.«

Verkäufer: »Aber das ist ein Trekkingrucksack!«

Ich: »Und?«

Verkäufer: »Ich dachte, Sie wollten einen Backpackerrucksack.«

Ich: »Einen Rucksackrucksack? Mir reicht eigentlich ein einfacher Rucksack.«

Ein Backpackerrucksack klingt in meinen Ohren wie ein weißer Schimmel oder ein schneller Porsche. Doch ich lerne schnell: Der Backpackerrucksack ist ein Rucksack für Backpacker. Backpacker sind Menschen, die eine lange Reise machen und mehrere Wochen oder Monate mit ihren Rucksackrucksäcken unterwegs sind. Diese sind groß und haben viele Fächer. Sie können wahlweise von oben, unten oder der Seite beladen werden. Ihr Tragesystem muss gut gepolstert sein, weil sie schwer sind. Wer jetzt glaubt, lieber einen größeren Rucksack zu kaufen und den dann nicht so voll zu packen, der irrt. Rucksäcke soll man grundsätzlich füllen, damit die Last nicht hin und her rutschen kann. Die Größe muss also wohlüberlegt sein.

Ich: »Ich möchte nicht so schwer tragen, lieber nehme ich weniger mit. Also einen kleinen Rucksack. Dann eben einen Trekkingrucksack.« Meine Hand greift nach einem Modell, das nicht ganz so wuchtig aussieht.

Verkäufer: »Der ist für Herren.«

Ich: »Wieso? Wird der linksrum geknöpft?«

Verkäufer: »Herrenrucksäcke sind anders geschnitten.«

Ich frage mich, wo der Unterschied liegt. Lustige Bilder ziehen an mir vorbei: Damenrucksäcke mit innen angebrachter Stange zum Aufhängen von Kleidern und Blusen. Oder mit eingenähtem Kosmetikspiegel in der oberen Klappe. Oder Außenschlaufen zum Einstecken von High Heels. Vielleicht sollte ich mir diese Ideen patentieren lassen.

In Wahrheit stecken gute Gründe hinter dem Genderrucksack. Damenrucksäcke sind meist kürzer und passen sich laut Hersteller besser an die Rückenpartie der Frau an. Die Brust- und Hüftgurte seien so eingestellt, dass sie nicht einschneiden können. Im Internet lese ich später: »Der allgemeine Schnitt ist anders, sodass er die weiblichen Formen betont.« Ja, klar. Nichts ist so sexy wie eine Frau mit Rucksack. Sonst noch was? Allerdings. Weiter heißt es nämlich: »Für Damen gibt es den Rucksack nicht nur in Schwarz, sondern auch in Pink.« Vielen Dank, liebe Hersteller, wieder erfolgreich alle Klischees bedient. Das kann sich doch nur ein Mann ausgedacht haben … Beliebt bei Frauen sollen auch die Trekkingrucksäcke mit Rollen sein. So kann man sein Gepäck wahlweise tragen oder ziehen. Die Rollen machen den Rucksack jedoch schwerer, das sollte man nicht vergessen.

Unabhängig vom Geschlecht haben Trekkingrucksäcke ein Netz am Rücken. Es sorgt dafür, dass die Rückenpartie gut belüftet wird und sich keine Schweißflecke bilden. Das ist nämlich besonders unangenehm, wenn man danach in einen Bus steigt, dessen Klimaanlage auf Hochtouren läuft. Nichts ist gemeiner, als bei 30 Grad Außentemperatur mit Fieber und Schnupfen im Bett zu liegen.

Rucksäcke haben an den Seiten häufig Fächer für Trinkflaschen und Taschen mit Reiß- oder Klettverschluss, in denen Zubehör verstaut werden kann. Zudem haben sie Schnüre und Schnallen, um Isomatten oder Ähnliches zu befestigen. Zu viele Fächer, Taschen und Schnüre führen meiner Meinung nach nur zu Chaos. Ich mag es lieber schlicht und übersichtlich. Deshalb »deaktiviere« ich überflüssige Befestigungen, indem ich sie untereinander verbinde. So baumelt nichts herum, und man bleibt nicht damit hängen. Um Kleidung zu komprimieren und mehr im Rucksack unterzubringen, kann man für viel Geld Kompressionsbeutel kaufen. Das sind Plastikbeutel mit einer Art Ventil, aus dem man nach dem Bepacken die Luft presst. Ich bevorzuge stattdessen – ganz die praktische Hausfrau – Aufbewahrungstüten mit Zip-Verschluss. Also beispielsweise eine für Unterwäsche, eine für Strümpfe, eine für Medikamente und so weiter. Bei den Zip-Tüten kann man ebenfalls die Luft auspressen, sodass die Sachen auf ein Minimum zusammengedrückt werden. Aber aufgepasst: Je mehr man komprimiert, desto mehr passt in den Rucksack und desto schwerer wird er. Körperlotion, Mückenspray, Shampoo kommen ebenfalls in einen Extrabeutel, denn wenn sie auslaufen, ist die Sauerei groß.

 

Sollte man länger nicht oder noch nie mit dem Rucksack unterwegs gewesen sein, lässt sich schwer einschätzen, welche Größe man braucht und wie viel man überhaupt tragen kann. Nachdem ich etwa 80 Prozent der Rucksäcke im Laden getestet habe und immer noch nicht so richtig durchblicke, bietet mir der Rastalockenverkäufer an, eines der Modelle zu Hause Probe zu packen und danach umzutauschen, falls es nicht passt. Ich weiß nicht, ob das der übliche Service ist oder ob ich ihn mit meinen Fragen einfach zermürbt habe und er mich so schnell wie möglich loswerden will. Ich nehme das Angebot jedenfalls dankend an und kaufe den kleinsten Trekkingrucksack. Er ist schön handlich und war mir auf Anhieb sympathisch. Wir beide müssen schließlich gut zusammenpassen. Der Verkäufer schüttelt nur den Kopf und meint: »Das ist ja eher was für eine Dreitagestour.« Meine Meinung dazu? Was für drei Tage reicht, kann durchaus auch für drei Monate genug sein. Es müssen ja nicht immer gleich Kochwäsche und Meister Supersaubermann sein. Ein T-Shirt ist mit Kernseife und lauwarmem Wasser schnell durchgewaschen.

Das Probepacken daheim ist ein voller Erfolg. Der kleine Rucksack reicht aus, und ich behalte ihn. Später fällt mir noch ein, dass ich meine Technik wie Kamera, Laptop, Objektive, Verlängerungskabel, Ladestation während des Flugs nicht mit aufgeben, sondern bei mir führen will. Deshalb wähle ich als Handgepäck einen kleinen Trolley, in dem ich die schweren Dinge verstaue. Damals hatte ich gar keine Technik dabei, denke ich während des Packens. Nur einen Reiseführer in Buchform.

1980
Französisch-Guayana analog

Willkommen in Südamerika

Es war das Zeitalter ohne Internet, und wir waren jung und naiv. Wir wussten nichts von Militärdiktaturen, die überall in Südamerika wüteten, nichts von Ausgehsperren, von Folter und Willkür. In den europäischen Medien existierte Südamerika nicht. Wir hatten uns den einzigen und ultimativen Backpackerreiseführer besorgt, das South American Handbook, ein Buch so dick wie die Bibel.

Als wir da ankamen, wo bekanntlich der Pfeffer wächst, war es draußen schon dunkel. Der europäische Herbst steckte mir noch in Kopf und Gliedern, als die Maschine landete. Dunkelheit assoziierte ich bis dahin mit Kälte. Umso verwirrender war es, den feuchtheißen Wind zu spüren, der uns beim Verlassen der Maschine entgegenschlug. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, welche Jahreszeit und welches Klima uns erwarten würden in Französisch-Guayana.

Während wir die Einreiseformalitäten erledigten, pellten wir uns schwitzend aus Jacke und Pullover. Wir stanken, als hätten wir in einem Aschenbecher geschlafen. Rauchen im Flugzeug war damals genauso normal wie Rauchen auf dem Schulhof, Rauchen am Arbeitsplatz, Rauchen in der Straßenbahn, Rauchen im Kino. Raucherplätze auf der Langstrecke bedeuteten zudem: doppelt rauchen, nämlich aktiv und passiv. Alle Raucher, die keinen Raucherplatz ergattert hatten, drängelten sich in den hinteren Reihen und qualmten, was die Stängel hergaben. Mir war schwindelig, vielleicht ein Nikotinflash oder erste Entzugserscheinungen.

Der Zollbeamte donnerte mit einem herzhaften »Bienvenue« seinen Stempel in unsere noch druckfrischen Pässe. Willkommen in einer anderen Welt. Ich war 24 Jahre alt, meine weiteste Reise bisher: Spanien. Es schien, als wäre mit einem Schlag alles Bekannte nicht mehr wahr. Die Luft schwer und schwül, meine Haut dampfte, als kochte mein Blut, es roch süß-sauer-faulig nach Undefinierbarem. Ich konnte es nicht zuordnen. War auch egal. Ich wollte nur noch ins Bett.

In halsbrecherischer Fahrt, kurvenschneidend und ununterbrochen laut hupend, angefeuert durch dröhnende Reggaemusik aus dem Autoradio, brachte uns das Taxi nach Cayenne, der Hauptstadt der ehemaligen französischen Kolonie.

»Ca fait 80 Franc, M’sieur Dames.«

Wie bitte? 80 Franc für zehn Minuten Autofahrt?

»Das ist ja teurer als in Paris!«, beschwerte sich Christian.

»Das ist noch gar nichts«, lachte der Taxifahrer. »Sie werden sich noch wundern. Hier in Cayenne ist alles so teuer. Und wissen Sie, warum? Wir arbeiten nicht gern. Und wenn wir es doch tun, muss es sich schon lohnen!«

Wäre er ein Weißer gewesen und hätte er nicht in der ersten, sondern in der dritten Person Plural gesprochen, hätte ich ihn entrüstet in die Rubrik »elender Rassist« eingeordnet. Aber Bob war rabenschwarz. Was nun? Er schien das auch noch lustig zu finden. Jetzt sang er es sogar: »Wir-ar-beiten-nicht-gern-und tun-wir’s-doch-muss-es-sich-schon-looooooooohnen.«

Oh mein Gott, wie peinlich! Ich hätte ihm so gerne widersprochen. Wäre er doch bloß ein weißer, arroganter Franzose gewesen, dann hätte ich jetzt zu Hochform auflaufen können. Aber so hörte ich kleinlaut seinem improvisierten Lied zu: »Wer-sie-ben-Kinder-hat-hat-aus-ge-sorgt-merci-Paris-merci-merci.«

Und ich lernte etwas, das sich nicht nur auf dieser Reise, sondern auch auf allen weiteren bestätigen sollte: Der erste Taxifahrer am neuen Ort hat immer recht.

Christian ist Franzose. Guayana ist Frankreich. Er war also quasi zu Hause. Aber genauso verloren wie ich. Fremd eben. Unvorstellbar, dass wir in einem französischen Departement gelandet sein sollten.

Der Taxifahrer hatte uns zu einem Gästehaus gebracht. Überraschung: Es gehörte seinem Bruder. Doch das war egal, Hauptsache, eine Dusche und ein Bett. Raus aus den nassen Winterklamotten und rein in die Federn – ohne Essen, wir waren total erschöpft. Über uns quietschte der Ventilator. Mein Körper war schon da, er hatte alle viere von sich gestreckt und wartete auf Schlaf. Aber mein Geist schien noch im Flugzeug zu sein. Ich konnte nicht fassen, dass ich plötzlich am Ende der Welt war.

Eine Erfahrung, die ich auch auf späteren Reisen immer wieder machen sollte. Der Geist scheint nicht Schritt halten zu können mit dem Tempo moderner Technik. Eine Reise mit dem Zug ist anders. Die bekannte Landschaft rauscht am Fenster vorbei, verändert sich langsam, Weinberge tauchen auf, dann verabschiedet sich der Rhein, in jedem Bahnhof steigen Leute ein mit ihren sprachlichen Färbungen und Dialekten. Es ist ein langsamer Wandel, dem man zusehen kann. Der Geist kommt gleichzeitig mit dem Reisenden an. Aber da, wo ich jetzt war, schien plötzlich alles anders zu sein: Die Menschen schauten freundlich, die Hitze war bleiern. Feuchtigkeit nistete sich in jeder Pore ein, die Pflanzen hingen fett und grün an den Hauswänden, in jedem Garten – mitten im Winter. Und das, obwohl wir doch in Frankreich waren.

Der wilde Jacques

Beim Frühstück am nächsten Morgen lernten wir in einem Café Jacques kennen. Stark wie ein Baum, stand er an der Bar, das geöffnete Hemd gab den Blick frei auf eine Brust, die behaarter war als sein Kopf, und auf ein daumengroßes Goldnugget, das an einem Lederhalsband baumelte. Er spülte sein Rührei mit einem doppelten Rum hinunter, knallte sein leeres Glas auf den Tisch und dröhnte: »Noch einen!« Dann ordnete er sorgfältig seinen gezwirbelten Schnauzbart und schaute mit zusammengekniffenen Augen unter buschigen Brauen zu uns hinüber.

Der ehemalige Fremdenlegionär erkannte uns sofort als Neuankömmlinge und lud uns ein, bei ihm Platz zu nehmen. Schnell kam er ins Plaudern. In Guayana würden die gleichen Sozialgesetze wie in der Grande Nation gelten, klärte er uns auf. Da fast jeder eine kleine Hütte besitze, keine Miete zahlen müsse und keine Heizung brauche und die Lebensmittel von den Bäumen fielen, lasse sich allein vom Kindergeld gut leben. »Es gibt 55 000 Guyaner, und davon sind 33 000 Franzosen aus Frankreich, also Metropolfranzosen. Der Rest setzt sich aus Schwarzen, Indios und Mischlingen zusammen. Sie sind genauso Franzosen wie die Metropolfranzosen, denn Guayana ist seit 1946 ein französisches Department.« Jacques schenkte sich nach und kam nun offensichtlich richtig in Fahrt: »Wisst ihr, was das bedeutet? Es bedeutet nicht nur, dass die gleiche Sprache gesprochen und in gleicher Währung bezahlt wird, es heißt eben auch, dass die gleichen Sozialleistungen gezahlt werden. Ein Witz, sage ich euch! In Frankreich will man mit einem hohen Kindergeld die Geburtenrate nach oben treiben. Hier in Guayana gibt es kaum eine Familie mit weniger als zehn Kindern. Und die bekommen alle das gleiche Kindergeld wie in Frankreich.« Jacques klopfte sich lachend auf die Knie. »Ein Witz ist das!«

Die werden schon irgendetwas davon haben, die Franzosen, dachte ich still in mich hinein. »Das tun die doch nicht aus reiner Nächstenliebe, oder, Christian?«

Der zuckte nur hilflos mit den Achseln. »Keine Ahnung«, antwortete er.

»Hey, Jacques«, fragte ich, »welches Interesse hat Frankreich denn an Guayana?«

»Na ja, man munkelt etwas von Bauxitvorkommen in den Kaw-Bergen, so um die 42 Millionen Tonnen. Frankreich ist als Produzent von Aluminium an diesen Reserven natürlich sehr interessiert.«

Mein Weltbild wurde wieder geradegerückt, ich war beruhigt. »Und was halten die Einheimischen von ihrer Zwangsfranzösisierung?«, wollte ich wissen.

»Na«, grinste Jacques »die können sich gar nichts Schöneres vorstellen! Kindergeld, Arbeitslosengeld, Rente … und das alles unter tropischer Sonne und Palmenrauschen. So gut lebt nicht mal Gott in Frankreich.«