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Für Dorothy jr. und George: Ihr gewinnt!
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Andreas Simon dos Santos
© Jay Heinrichs 2007, 2013, 2017
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Thank You for Arguing«, Three Rivers Press, New York 2017
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2019
Coverabbildung & -gestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Datenkonvertierung: CPI Books GmbH, Leck
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Nur wenige Menschen können von sich behaupten, dass John Quincy Adams, der sechste Präsident der Vereinigten Staaten, ihr Leben verändert hat. Wer es doch kann, ist weise, es für sich zu behalten. Freunde haben mir auch geraten, lieber nicht über meine Leidenschaft zur Rhetorik zu schreiben, die jahrtausendealte Kunst der Überzeugung.
Egal: John Quincy Adams hat mein Leben verändert, und zwar, indem er mir die Rhetorik nahegebracht hat.
Tut mir leid.
Vor Jahren schlenderte ich ohne besonderes Ziel durch die Bibliothek des Dartmouth College und griff mir beliebige Bücher aus den Regalen. In einer dunklen Ecke stieß ich auf eine Abteilung über Rhetorik. In Augenhöhe stand ein staubiger, kastanienbrauner Band von Adams. Ich schlug ihn auf und fühlte mich im Nu wie ein Entdecker vor einem funkelnden Schatz.
Das Buch enthielt eine Reihe von Rhetorikvorlesungen, die Adams von 1805 bis 1809 am Harvard College gehalten hatte, als er Senator war und zwischen Massachusetts und Washington hin- und herpendelte. Gleich in der ersten dieser Vorlesungen hielt der dickbäuchige Sechsunddreißigjährige mit Stirnglatze seine stierenden Studis dazu an, die antike Redekunst zu studieren, um sich »jene schrankenlosen Kräfte anzueignen, die den Geist der Menschen nach dem Willen des Redners formen«. Der Macht der Stimme, so war Adams überzeugt, musste das Volk erliegen: Dem Redner winkte nichts Geringeres als die »Führung der Nation«. Das klang für mich mehr wie Hypnose als Politik. Cool, dachte ich: Rhetorik war anscheinend so etwas wie Sprachmagie, eine Art Gehirnwäsche zur Fernsteuerung von Menschen wie in dem Film Botschafter der Angst.
In den Jahren, die seither vergangen sind, habe ich alles zum Thema Rhetorik verschlungen, was mir in die Hände fiel, und dabei ist mir etwas klar geworden: Adams Sprache mag antiquiert klingen, aber die Kräfte, die er beschrieb, sind real. Rhetorik bedeutet mehr als große Redekunst, mehr als »Wörter zu benutzen … um zu beeinflussen oder zu überzeugen«, wie es in Websters Wörterbuch heißt. Sie lehrt uns, zu argumentieren und ohne Wut zu streiten. Und Sie eröffnet die Chance, eine Quelle sozialer Macht anzuzapfen, von deren Existenz ich nie etwas geahnt hatte.
Man könnte sagen, dass mich die Redekunst von sich selbst überzeugt hat.
Es ist früh am Morgen. Mein siebzehnjähriger Sohn sitzt beim Frühstück, was mir eine kurze Spanne verschafft, selbst das Badezimmer zu benutzen. Mit einem Handtuch um die Lenden trete ich ans Waschbecken, wobei ich tunlichst den grauenvollen Anblick im Spiegel meide. Als Schriftsteller muss ich mich nicht jeden Tag rasieren. (Im Marketing nennt man Leute wie mich verzweifelt »Verbraucher mit wenig Sinn für ihr Äußeres«.) Ich habe allerdings meine Standards, und Hygiene ist einer davon. Ich schnappe mir Zahnbürste und Zahnpasta, nur um festzustellen, dass die Tube leer ist. Wir haben einen Vorrat, doch der befindet sich in einem Regal im eiskalten Keller, und dafür bin ich nicht angezogen.
»George!«, rufe ich. »Wer hat die ganze Zahnpasta aufgebraucht?«
Eine sarkastische Stimme auf der anderen Seite der Tür antwortet. »Das ist ja wohl nicht der Punkt, Papa, oder? Der Punkt ist, wie wir so etwas in Zukunft vermeiden.«
Er hat mich am Wickel. Unzählige Male habe ich ihm gesagt, dass die produktivsten Argumente die Zukunftsform benutzen, das Tempus der noch offenstehenden Wahlmöglichkeiten.
»Du hast recht«, gebe ich zu. »Du hast gewonnen. Bringst du mir jetzt bitte die Zahnpasta?«
»Na klar.« George holt die Tube, glücklich, dass er seinen Vater in einem Rededuell geschlagen hat.
PROBIEREN SIE DIES IN EINER BESPRECHUNG
Antworten Sie, wenn Zweifel an Ihrer Idee laut werden: »Gut, optimieren wir sie.« Fokussieren Sie die Debatte nun auf die Überarbeitung Ihres Vorschlags, als hätte ihn die Gruppe im Grundsatz bereits angenommen. Es ist eine Form der Konzession – rhetorisches Ju-Jutsu, mit dem Sie die Bewegung des Gegners zu Ihrem Vorteil nutzen.
Aber hatte er das wirklich? Wer bekam denn am Ende, was er wollte? In Wirklichkeit hatte ich ihn überredet, indem ich ihm den Punkt zugestand. Wenn ich einfach gesagt hätte: »Los, sei nicht so ein Faulpelz, hol mir die Zahnpasta«, hätte George vielleicht ein langes Palaver vom Zaun gebrochen. Stattdessen verschaffte ich ihm ein Triumphgefühl, gewann auf diese Weise sein Wohlwollen und bekam genau das, was ich wollte. Ich hatte den Gipfel der Überredungskunst erreicht: Nicht nur hatte ich eine Einigung erzielt, sondern mein Publikum – wohlgemerkt, einen Teenager! – auch noch dazu gebracht, meinen Wunsch zu erfüllen.
Nein, George, ich habe gewonnen.
Was ist das nur für ein Vater, der seinen eigenen Sohn in dieser Weise manipuliert? Ach, nennen wir es doch nicht Manipulation, nennen wir es Belehrung. Alle Eltern sollten die Rhetorik, die Kunst der überzeugenden Rede, als wesentliches Erziehungsmittel betrachten. Rhetorik ist die Kunst der Beeinflussung, der Freundschaft und Eloquenz, der Schlagfertigkeit und unabweisbaren Logik. Und sie macht die mächtigste aller sozialen Kräfte nutzbar, das Argument.
NÜTZLICHE FIGUR
Synkrise: Vergleichende Gegenüberstellung, vorzugsweise als scharfer Gegensatz: Nicht Manipulation, sondern Belehrung. Unten finden Sie ein ganzes Kapitel über Redefiguren sowie am Ende des Buches ein Glossar.
RHETORISCHER KNIFF!
Es ist nur fair, dass ich meine Karten offen auf den Tisch lege und Ihnen sage, wenn ich rhetorische Kniffe verwende, um Sie zu überreden. Die Matrix-Analogie ist mehr als ein populärkultureller Verweis auf einen Science-Fiction-Film; sie ist zugleich ein Hinweis auf etwas allgemein Akzeptiertes: die Existenz verborgener Mechanismen jenseits des Sichtbaren, von Computersoftware bis hin zur Quantenmechanik. Geteilte Anschauungen dieser Art werden in der Rhetorik als »Gemeinplätze« bezeichnet und spielen, wie wir noch sehen werden, in der Kunst der Überredung eine elementare Rolle.
Ob wir es bemerken oder nicht: Ständig sind wir Versuchen ausgesetzt, uns zu überreden, mit unseren Gefühlen zu spielen, auf unsere Haltungen und Entscheidungen einzuwirken oder uns zum Kauf dieses oder jenes Artikels zu bewegen. Ob es um politische Etikettierungen geht, um Werbung, Jargon, Gesten oder das Wecken von Schuldgefühlen in manipulativer Absicht: Allenthalben sind wir Gegenstand argumentativer Einflussnahme. Sie bildet eine Art realweltlicher Matrix, gewissermaßen das Steuerungsprogramm unseres sozialen Lebens. Rhetorik kann dazu dienen, die vielfältigen Argumentationsweisen offenzulegen. Indem sie die Kniffe lehrt, mit denen wir einander überreden und überzeugen, offenbart die Kunst der Persuasion diese soziale Matrix in ihrer ganzen manipulativen Glorie.
Den Alten galt die Rhetorik als entscheidende Fähigkeit zur Menschenführung – ein derart wichtiges Wissen, dass sie es ins Zentrum ihrer höheren Bildung stellten. Die Redekunst lehrte, bei jeder Gelegenheit etwas Passendes zum Besten zu geben, aber vor allem, wie man überzeugend spricht und schreibt und die Menschen mit Wortgewalt für sich einnimmt. Nachdem die Griechen sie erfunden hatten, leistete die Rhetorik das Ihre bei der Schaffung der ersten Demokratien der Welt. Sie verlieh römischen Rednern wie Julius Cäsar und Marcus Tullius Cicero das nötige Rüstzeug und gab der Bibel ihre prägnantesten Passagen. Sie inspirierte sogar William Shakespeare. Alle amerikanischen Gründerväter hatten Rhetorik studiert und bedienten sich ihrer Prinzipien, als sie die Verfassung der Vereinigten Staaten schrieben.
Im 19. Jahrhundert, als Sozialwissenschaftler die Vorstellung verwarfen, der Einzelne könne etwas gegen die unerbittlichen Kräfte der Geschichte ausrichten, verblasste die Rhetorik an den Universitäten. Wer will schon Führungsqualitäten vermitteln, wo der Glaube an den Einfluss von Führungspersönlichkeiten abhandengekommen ist? Gleichzeitig verdrängten die nationalen Literaturen die Klassiker aus den Lehrplänen, das Denken der Antike geriet aus der Mode. Einige bemerkenswerte Menschen studierten die Kunst jedoch weiter. Der amerikanische Politiker und berühmte Redner Daniel Webster eignete sich die Rhetorik zu Beginn des 19. Jahrhunderts am Dartmouth College an, als er der United Fraternity beitrat, einem Debattierclub, der Jahre später in Alpha Delta Phi umbenannt wurde und bis heute fortbesteht. Der Club besaß eine beeindruckende klassische Bibliothek und lud einmal in der Woche zur Diskussion. Es gibt eine amerikanische Filmkomödie von 1978, Ich glaub, mich tritt ein Pferd, die den Debattierclub auf die Schippe nimmt. Den »Clubbrüdern« dieser populären Darstellung ist ihr klassisches Erbe zumindest noch in ihren »Toga-Partys« vage in Erinnerung.
RHETORISCHER KNIFF!
Hier zerre ich Sie von Daniel Webster zu einer Filmkomödie, nicht nur, um den Niedergang der Rhetorik zu veranschaulichen, sondern um Sie unbewusst für meine Position einzunehmen. Auf welcher Seite stehen Sie, auf der des großen Redners oder auf der des Filmklamauks? Der technische Ausdruck für diese Zwangsehe kontrastierender Gedanken heißt Antithese, das heißt »entgegengesetzte Ideen«.
Rhetorik wird an verstreuten Colleges und Universitäten bis heute gelehrt – tatsächlich ist die Beliebtheit des Fachs bei Studierenden des Grundstudiums stark gewachsen –, aber außerhalb der akademischen Welt ist sie beinahe ganz in Vergessenheit geraten. Was für ein Jammer! Stellen Sie sich vor, Sie hätten noch nie etwas von Newtons Gravitationsgesetz und den Kräften gehört, die das Universum antreiben, oder Sie machten zum ersten Mal Bekanntschaft mit Sigmund Freuds Modell der menschlichen Psyche, und plötzlich wird Ihnen Ihr Unbewusstes bewusst, wo das Es, das Ich und das Über-Ich ihre stillen Argumente wechseln.
Aus diesem Grund habe ich dieses Buch geschrieben: Ich möchte Sie durch diese wenig bekannte Welt der gediegenen Argumentation führen und Sie unter den Erwählten der Kunst der Persuasion willkommen heißen. Unterwegs bietet sich Ihnen die Gelegenheit, Ihr Image zu verbessern, indem Sie den drei von Aristoteles benannten Zügen überzeugender Führerschaft nacheifern: Tugend, Selbstlosigkeit und praktische Vernunft. Sie werden entdecken, wie Sie logische Hilfsmittel einsetzen können, um Trugschlüsse zu vermeiden und mit wasserdichten Feststellungen zu überzeugen. Aristoteles’ Prinzipien werden Ihnen auch bei der Entscheidung behilflich sein, welches Medium – Text, Telefongespräch, Himmelsschrift? – bei jeder Mitteilung die beste Wirkung erzielt. Sie werden nebenbei eine schlichte Strategie kennenlernen, wie man einen in wütenden Anschuldigungen stecken gebliebenen Streit wieder aus der Sackgasse führt.
PROBIEREN SIE DIES BEI EINER PRÄSENTATION
Dem Publikum den Mund wässrig zu machen – »Warten Sie erst, was gleich noch kommt!« –, ist ein Trick, den schon die Römer zwei Jahrtausende vor Erfindung der Dauerwerbesendung nutzten. Sie gaben ihm den hübschen Namen dirimens copulatio, was so viel heißt wie »mittels einer Unterbrechung eine Verbindung herstellen«. Es ist eine Form der Amplifikation, eine wichtige rhetorische Methode, mit der Sie beim Sprechen sozusagen den Ton lauter stellen. Bei einer Präsentation können Sie eine Aussage anreichern, indem Sie diese erweitern: »Wir haben nicht nur dies, sondern auch …«
Und das ist erst der Anfang. Die folgenden Seiten enthalten über hundert »Argumentationshilfsmittel«, die antiken Texten entliehen und an moderne Situationen angepasst sind, zusammen mit Anregungen, diese Techniken zu Hause, in der Schule oder auf der Arbeit auszuprobieren. Sie werden sehen, wann man am besten mit Logik argumentiert und wann man sich besser auf eine emotionale Strategie stützt. Sie werden ideenprägende Redefiguren und praxiserprobte Taktiken der Überzeugung erwerben, darunter Aristoteles’ unwiderstehliches Enthymem, ein elegantes Beweisbündel, das leichter zu benutzen als auszusprechen ist. Sie werden sehen, wie Sie sogar aus Ihren eigenen Patzern Kapital schlagen können. Schließlich werden Sie entdecken, dass die zwingendsten Mittel zur Überzeugung anderer Menschen in der Identität des Publikums selbst zu finden sind.
Am Ende des Buches werden Sie die rhetorischen Tricks beherrschen, um die Aufmerksamkeit eines Publikums in Ihren Bann zu schlagen. Von einer gut gehaltenen Rede lassen sich Menschen noch immer gefangen nehmen; die besten Redner können höhere Eintrittsgelder verlangen als so mancher große Popstar. Ich widme auch ein ganzes Kapitel Ciceros eleganter Methode zur Verfertigung einer Rede – Themenfindung, Gliederung, Stil, Einprägung und Vortrag –, ein System, das den größten Rednern die letzten zweitausend Jahre als Vorbild diente.
Großartige Argumente benötigen jedoch nicht immer eine ausgefeilte Sprache. Die wirkungsvollste Rhetorik verschleiert ihre Kunstfertigkeit. Unten werde ich Ihnen ein rhetorisches Mittel verraten, wie Sie mit schierer Zungenfertigkeit Ideen in die Köpfe Ihrer Zuhörer pflanzen.
Neben all diesem praktischen Nutzen bietet uns die Rhetorik noch einen erhabeneren, immateriellen Lohn: Sie rüttelt uns auf und schenkt uns eine ganz neue Sicht auf das Menschsein. Wenn wir uns der Allgegenwart der Überredungskunst um uns herum erst einmal bewusst geworden sind, wird die Welt für uns nie wieder dieselbe sein.
Ich selbst bin der lebende Beweis dafür.
Um zu sehen, wie alles durchdringend die Rhetorik ist, habe ich mir kürzlich vorgenommen, es einen ganzen Tag lang ohne Überredungskunst zu versuchen – ein Tag frei von Werbung, Politik, familiärem Gezänk und jeglicher psychologischen Manipulation. Ich wollte mich einen Tag lang von niemandem überzeugen lassen und es umgekehrt ebenso vermeiden, andere zu etwas zu überreden. Hey, an diesem Tag wollte ich nicht einmal mich selbst von etwas überzeugen. Niemand, nicht einmal ich selbst, sollte mir sagen, was ich tun oder lassen sollte.
Wenn sich irgendjemand für dieses Experiment qualifiziert fühlen durfte, so gewiss ein ausgewiesener Einsiedler wie ich. Ich arbeite freiberuflich; tatsächlich arbeite ich, nachdem ich eine Karriere im Journalismus und im Verlagsgeschäft aufgegeben habe, ganz allein in einer Hütte in beträchtlicher Entfernung von unserem Haus. Ich lebe in einem kleinen Dorf im Norden Neuenglands, einer Gegend, die sich der überredungsresistentesten Menschen des Planeten rühmen kann. Leute wie ich bereiten der Werbewirtschaft Albträume: kein Fernseher, kein Smartphone, Schmalband-Internet via Modem. Ich bin werbefrei, höre nur National Public Radio und bin ein durch und durch eigenständiger, individualistischer, überredungsresistenter Mensch.
Schön wär’s.
Der Wecker meiner Armbanduhr klingelt um sechs. Ich stelle ihn gewöhnlich, um mich selbst damit aus dem Bett zu scheuchen, aber jetzt ignoriere ich ihn. Ich starre an die Decke, wo der Rauchmelder beruhigend blinkt. Würde er Qualm bemerken, würde er Alarm geben, eine Sirene, die noch den tiefsten Schläfer aus dem Schlummer reißen würde. Der Philosoph Aristoteles hätte die Rhetorik des Melders gebilligt; er verstand, welche Macht das Gefühl bei der Motivation von Menschen besitzt.
Gegenwärtig hat der Melder nichts zu vermelden, meine Katze dagegen schon. Sie springt aufs Bett und steckt ihre Nase unter meine Achselhöhle. So zuverlässig wie meine Uhr und doppelt so nervig, verfügt die Katze angesichts ihrer fünf dummen, pelzigen Kilo Lebendgewicht über bemerkenswert viel Überredungskraft. Statt Worte benutzt sie Gesten und den Klang ihrer Stimme – machtvolle Argumentationsmittel. Ich widerstehe stoisch. Keine Katze wird mich heute Morgen herumkommandieren.
Wieder klingelt meine Armbanduhr. Ich trage eine Uhr, deren Name sich von einem selbstquälerischen Sportereignis ableitet: Timex Ironman. Wenn sie für einen Masochisten taugt, der es auf sich nimmt, am Stück knapp vier Kilometer zu schwimmen, über hundertachtzig Kilometer Rad zu fahren und über zweiundvierzig Kilometer Marathon zu laufen, dann erfüllt sie ihren Sinn vermutlich auch bei jemandem wie mir, der seine Mittagszeit damit verbringt, zu einem Bach zu stiefeln, um dort nach Fischen zu schauen. Die alten Römer würden den Reiz der Ironman-Marke argumentum a fortiori nennen. Die Logik dahinter ist folgende: Wenn etwas auf die harte Tour funktioniert, ist es wahrscheinlich, dass es auch auf die weiche klappt, das heißt, die stärkere Behauptung beweist die schwächere gleich mit. In der Werbung ist dieses Argument beliebt. Vor Jahren brachte ein Hersteller von Frühstücksflocken einen Werbespot mit dem kleinen Jungen Mikey, einem pingeligen Esser. Seine beiden älteren Brüder probierten die neue Cerealien-Marke zuerst an ihm aus in der Annahme, dass alle sie mögen würden, falls Mikey sie mochte. Und er mochte sie! Eine Cerealien-Werbung als argumentum a fortiori. Das stärkere Argument für Kauf und Verwendung meiner Ironman-Uhr spricht mich persönlich jedoch gar nicht an. Ich habe sie gekauft, weil sie praktisch ist. Ich bin, Sie erinnern sich, gegen Werbung immun.
PROBIEREN SIE DIES ZU HAUSE
Wenn Ihnen bei der Vorstellung, Ihre Lieben zu manipulieren, die Haare zu Berge stehen, probieren Sie es mit reiner Logik – keine Gefühle, keine versteckten Taktiken, keine Verweise auf Ihre Autorität oder die Opfer, die Sie bringen. Tun Sie dies einen ganzen Tag lang, und Sie werden vielleicht überrascht feststellen, dass der Unmut über Sie in der Familie wächst. Verführung ist ein großer Friedensstifter.
Aber das Piepsen der Uhr treibt mich in den Wahnsinn. Da bin ich, noch nicht einmal aufgestanden, und schon sinniere ich über die emotionalen Appelle einer Katze und eines Rauchmelders und über den vermeintlich überzeugenderen Kaufgrund meiner Armbanduhr. Ich schwinge mich ächzend aus dem Bett und spreche in den Spiegel, was ich ihm jeden Morgen sage: »Lass dir von keinem irgendetwas gefallen.«
Die Katze beißt mir in die Ferse. Ich schnappe mir mein Handtuch und bereite ihr Frühstück zu. Fünf Minuten später geht mir die Zahnpasta aus, und ich argumentiere mit meinem Sohn. Kein guter Start für mein Experiment, das vorsieht, einen Tag lang ohne Überredungskunst auszukommen. Ich verbuche meine Startschwierigkeiten unter dem, was Wissenschaftler euphemistisch »Artefakt« nennen (sprich: saudummer Fehler), und fahre fort. Ich mache Kaffee, nehme einen Stift zur Hand und kritzle demonstrativ in mein Notizbuch. Damit ist im literarischen Sinn wenig geschafft – ich kann vor dem ersten Kaffee mein eigenes Gekrakel kaum lesen –, aber es führt zu wunderbaren rhetorischen Ergebnissen: Wenn mich meine Frau schreiben sieht, bringt sie mir oft von sich aus das Frühstück.
TIPPS VON DEN ALTEN
ALS DIE JUSTIZ NOCH NICHT BLIND WAR
Laut Aristoteles siegt das Gefühl über die Logik. Ein berühmter römischer Redner bewies dies in einem Prozess, in dem er eine schöne, wegen Prostitution angeklagte Priesterin des Aphrodite-Tempels verteidigte. Als die Sache der Verteidigung in schwieriges Fahrwasser geriet, ließ der Redner die junge Frau mitten auf dem Forum Romanum aufstehen und riss ihr die Kleider vom Leib. Es wirkte. Bewegt von diesem Akt »strategischer Pornografie« der kurvenreichen Dienerin der Liebesgöttin, sprach die (rein männliche) Jury sie frei. Mit der gleichen Methode kam Sharon Stone in dem Film Basic Instinct mit Mord davon.
Habe ich gerade mein eigenes Experiment demoliert? Ich schirme mein Notizbuch vor neugierigen Blicken ab und kritzle eine Einkaufsliste. Na bitte, das zählt auch als Schreiben.
Dorothy arbeitet wieder Vollzeit, seit ich meinen Beruf aufgegeben habe. Die Abmachung war, dass ich das Kochen übernehme, aber sie liebt es, in ihrem Ehemann den inspirierten Schriftsteller zu sehen und sich selbst als seine fähige Stütze. Meine Frau ist ein Goldschatz, und bei vielen Frauen wie ihr haben inspirierte Schriftsteller offenbar einen Stein im Brett. Natürlich ist es in Wirklichkeit vielleicht genau umgekehrt, womöglich ist sie es, die mich rumkriegt: Indem sie die Art von Goldschatz spielt, die auf inspirierte Schriftsteller steht, macht sie mich an. Verführung gehört zu den hinterlistigsten – und berückendsten – Formen der Überredung.
Verführung dient auch nicht nur dem Sex. Frederick Kaufman hat in einem Artikel in Harper’s Magazine aufgezeigt, dass sich der Fernsehsender Food Network identischer Techniken bedient wie die Pornoindustrie: zu lauter Ton, sehr wenig Handlung und gut aussehende Präsentatoren und Köche zusammen mit üppigen Nahaufnahmen von festem Fleisch und fließenden Säften.
RACHEL RAY: Linsen quellen richtig auf, wenn man sie kocht. Sie saugen einfach die ganze Flüssigkeit auf, wenn sie weich und zart werden.
EMERIL LAGASSE: Und rein mit den Bananen. O ja, Baby. Machen wir sie sofort glücklich!
Wir leben in einer verwickelten, dunklen (beinahe hätte ich hinzugefügt, »feuchten«) Welt der Überredung. Ein Autohändler hat mir einmal fünfzehntausend Dollar für einen gebrauchten Wagen abgeluchst. Ich war mit meiner Familie gerade nach Connecticut gezogen und brauchte einen günstigen fahrbaren Untersatz. Es war ein harter Umzug gewesen; ich war nicht gut aufgelegt. Der Händler nagelte mich auf dem Stellplatz fest, noch bevor ich ein Wort gesagt hatte: Er zeigte auf einen bescheiden wirkenden Ford Taurus Sedan, schlug eine Probefahrt vor und fragte, kaum dass ich den Sicherheitsgurt angelegt hatte: »Möchten Sie P. T. Barnums Grab sehen?« Und ob ich das wollte!
Der Friedhof des legendären Zirkuspioniers war fantastisch. Wir mussten vor Pfauen halten; auf den Zweigen einer riesigen Tanne hockten leuchtend grüne Papageien. Gegenüber Barnums beeindruckendem Denkmal prunkte das Grabmal von Tom Thumb mit einer lebensgroßen Statue des zwergenhaften Zirkusmillionärs. Begeistert von unserer Probefahrt, tat ich alles, was der Verkäufer vorschlug. Sein Vorschlag bestand darin, ihm den Ford abzukaufen. Es war eine Schrottkiste.
Er hatte mich taxiert und meine Stimmung aufgehellt; er hatte mich verführt, und, um die Wahrheit zu sagen, ich hatte es genossen. Am nächsten Morgen kamen mir Bedenken, aber ich bereute es nicht. Es geschah in beiderseitigem Einverständnis.
Was uns zum großartigen Lohn der Überredung führt: dem Konsens. Konsens bedeutet mehr als nur Einigung, er ist auch viel mehr als ein Kompromiss. Der Konsens repräsentiert den gesunden Menschenverstand eines Publikums. Tatsächlich ist er der gesunde Menschenverstand im Sinne eines geteilten Glaubens an die Richtigkeit einer Wahl – die Entscheidung oder Handlung, die man will. Und hier kommt Verführung ins Spiel. Wie Augustinus wusste, verlangt Glaube nach einem Gefühl.
Verführung ist Manipulation, eben daraus besteht die Hälfte der Überredung, deshalb scheuen viele von uns davor zurück. Aber Verführung führt noch zu mehr als einvernehmlichem Sex. Sie kann uns zum Konsens führen. Selbst der Erzlogiker Aristoteles glaubte an die heilende Macht der Verführung. Logik allein wird Menschen nur selten zu etwas bewegen. Sie müssen sich wünschen, etwas zu tun. Ihnen mögen die manipulativen Aspekte der Verführung nicht gefallen; dennoch, sie stellt den Kampf, den wir gewöhnlich mit argumentierender Rede verwechseln, in den Schatten.
Unterdessen wird mein Experiment jeden Augenblick zweifelhafter. Als ich aus dem Bad komme, stellt Dorothy einen Teller Rührei auf den Tisch, streift sich die Anzugjacke über und gibt mir einen Abschiedskuss. »Vergiss nicht, ich komme spät nach Hause, und auf dem Empfang heute Abend gibt es auf jeden Fall etwas zu essen«, informiert sie mich und macht sich auf den Weg zu ihrem Job als Fundraiser einer juristischen Fakultät. (Spendensammeln und Jura: Kann es noch rhetorischer werden?)
PROBIEREN SIE DIES AUF DER ARBEIT
Sie können auch bei einer Präsentation Verführung – der nicht-sexuellen Art – einsetzen. Wird Ihr Plan die Effizienz erhöhen? Bringen Sie Ihre Zuhörer dazu, geradezu danach zu lechzen; malen Sie aus, wie es wäre, wenn sie wirklich Mittagspause machen könnten und mehr von ihren Familien hätten.
Ich wende mich an George. »Willst du mit mir zu Abend essen oder bleibst du in der Schule?« George ist Tagesschüler auf einem Internat. Er hasst das Essen dort.
»Weiß nicht«, erwidert er. »Ich rufe von der Schule aus an.«
Ich will heute lange arbeiten und habe keine rechte Lust zu kochen, möchte aber ungern bei George den Eindruck erwecken, meine Arbeit besäße für mich einen höheren Stellenwert als er. »Na gut«, sage ich und füge mit so großem Enthusiasmus hinzu, wie ich nur heucheln kann: »Es gibt Eintopf!«
»Iiieh«, stößt George wie aufs Stichwort hervor. Er verabscheut meinen Eintopf noch mehr als das Schulessen. Die Chancen, dass ich heute Abend koche, sind gerade stark gesunken.
Ups! Habe ich es doch schon wieder getan. Und so geht mein Tag dahin. In meiner Bürohütte schicke ich E-Mails an Lektoren mit schmeichelhaften Erklärungen, warum ich ihre Abgabetermine versäumt habe (schließlich will ich ja nur ihren hohen Ansprüchen gerecht werden!). Ich verschiebe den Anruf bei Sears, um mich über eine Rechnung von 147 Dollar für die Ersetzung einer Ofenschraube zu beschweren. Als ich schließlich doch anrufe, nehme ich mir Zeit, die Situation zu erläutern. Ein Nachlass auf die Rechnung wird das Unternehmen billiger kommen, als sich weiter mit mir auseinanderzusetzen.
Zur Mittagszeit schnappe ich mir etwas zu essen und gehe draußen spazieren. Auf einem Granitfelsen liegt ein Häuflein Fuchskot. »Meins«, sagt der Fuchs mit diesem Exkrement. »Dieser Platz gehört mir.« Reviertiere wie Füchse und Vorstädter verwenden komplizierte Signale, um Territorien zu markieren und Eindringlinge zu entmutigen: Fußspuren, Moschus, Kot, Zäune, Alarmanlagen, Heiratsurkunden … Mit solchen Signalen unterstreichen wir unsere Positionen. Überredungskunst liegt uns buchstäblich im Blut.
PROBIEREN SIE DIES, WENN MAN SIE ABZUWIMMELN VERSUCHT
Dieser Trick funktioniert bei den meisten Verwaltungsangestellten. Tun Sie so, als hätten Sie alle Zeit der Welt, und präsentieren Sie Ihre Sache als das geringere von zwei Übeln. Entweder man gewährt Ihnen einen Nachlass, oder die Gegenseite muss damit rechnen, noch mehr Zeit mit Ihnen zu vergeuden. Büromenschen sind wie Wasser, sie folgen dem Weg des geringsten Widerstands.
Eine Nachtigall trällert ein Liedchen und warnt damit Rivalen, ihr nicht ins Gehege zu kommen. Ohne innezuhalten singt sie die gleiche Phrase rückwärts, eine Stilfigur, die Chiasmus genannt wird. Bei dieser Überkreuzung wird eine Phrase spiegelbildlich wiederholt: »Die Welt ist groß, klein ist der Verstand.« Auch den gegenteiligen Gedanken kann man, wie Schiller im Wallenstein, mit einem Chiasmus ausdrücken: »Eng ist die Welt und das Gehirn ist weit.«
PROBIEREN SIE DIES BEI EINEM VORTRAG
Präsentieren Sie ein Argument mit einem Chiasmus, indem Sie eine Aussage ins Gegenteil spiegeln: »Entweder wir kontrollieren die Ausgaben – oder die Ausgaben kontrollieren uns.«
Unsere Kultur schätzt Redefiguren zu gering, aber nur, weil den meisten von uns der rhetorische Verstand abgeht, sie zu handhaben. Sie können eine überraschende Wirkungsmacht entfalten. John F. Kennedy verwendete einen Chiasmus in seiner Antrittsrede: »Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann, fragt, was ihr für euer Land tun könnt.« Tausende folgten diesem Aufruf und drängten ins Friedenskorps. Ich entdeckte früh meine Begeisterung für Redefiguren und rief bald eine ihnen gewidmete Website ins Leben, Figarospeech.com. Redefiguren geben einem Memo oder Vortrag Glanz und können im Alltag die langweiligsten Gespräche in schlagfertige Wortwechsel verwandeln.
RHETORISCHER KNIFF!
Hey, klasse: Ein Präsident verwendet einen Chiasmus, und schon strömen die Leute in Scharen ins Friedenskorps! Wirklich? Ich nutze hier eine der überzeugenderen Möglichkeiten, mit Logik zu schummeln: Weil B auf A folgt, so lege ich nahe, ist A die Ursache von B. Ich nenne es den Gockelfehler, nach dem Hahn, der dachte, sein Krähen ließe die Sonne aufgehen.
Das Telefon klingelt, als ich zurück in die Hütte komme. Es ist George, der anruft, um mir mitzuteilen, dass er in der Schule isst. (Japp!) Also arbeite ich lange und belohne mich ab und zu mit einem Flipperspiel am Computer. Ich habe festgestellt, dass ich mit solchen Spielunterbrechungen längere Phasen still sitzen kann. Ist auch das Überzeugungsarbeit? Ich schätze, ja. Mein »rhetorikfreier Tag« hat sich als verflucht rhetorisch, aber trotzdem ganz angenehm erwiesen.
Schließlich mache ich Schluss mit der Arbeit und begebe mich für eine Dusche und Rasur nach Hause, obwohl heute gar nicht mein Rasurtag ist. Meine Frau hat mit einem Haufen gut aussehender, gut angezogener Männer zu tun, und ab und zu möchte ich mithilfe von Rasierer, Kamm und Kleidung einen Revierruf loswerden, um sie zu überzeugen, dass sie keinen Penner geheiratet hat. Ich streife einen Kaschmirpullover über, der meinen Augen, wie Dorothy sagt, einen Schlafzimmerblick verleiht, und komme ihr an der Tür mit einem kalten Gin Tonic entgegen.
Möge die Verführung beginnen.
1974 veröffentlichte das amerikanische Satiremagazin National Lampoon eine parodistische Comic-Fassung von Platons Der Staat. Da sieht man Sokrates mit ein paar Freunden herumstehen und philosophieren. Jedes Mal, wenn er ein Argument vorträgt, ruft ein anderer dazwischen: »Trefflich gesagt, Sokrates!« Daraufhin holt dieser zu einem Faustschlag aus und lässt den Widersacher mit einem BUMM!!! durch die Luft fliegen. Sokrates gewinnt durch K. o.
WORTBEDEUTUNGEN
»Debatte« ist eine Entlehnung aus dem Französischen und geht letztlich auf das lateinische Verb »battere« zurück, das heißt »schlagen«. Wörtlich ist eine Debatte also ein »Schlagabtausch«, eine »Wortschlacht« – typisch für die kampfeslustigen Römer.
Diese Vorstellung entbehrt nicht eines gewissen historischen Kerns, stellten sich die alten Griechen in ihrer argumentativen Kauzigkeit doch selbst gern als Kämpfer vor. Aber natürlich kannten sie den Unterschied zwischen Kämpfen und Argumentieren. Wir sollten ihn ebenfalls erkennen und das rhetorische Argument klar von der bloßen Schuldzuweisung oder dem Gezänk unterscheiden, die Konflikte heute so oft kennzeichnen. Bei einem Kampf versucht jeder der Kontrahenten, den anderen zu besiegen. Bei einer Debatte oder einem Rededuell ist jeder Disputant dagegen bemüht, ein Publikum für sich einzunehmen – das können Zuschauer, ein Fernsehpublikum oder Wähler sein, oder die Disputanten wechselseitig.
Dieses Kapitel wird Ihnen helfen, zwischen einem Rededuell und einem Kampf zu unterscheiden und zu klären, was Sie mit einem Wortgefecht erreichen möchten. Von dieser Unterscheidung kann das Gelingen einer Ehe abhängen, wie der renommierte Psychologe John Gottman in den 1980er- und 90er-Jahren belegte. In ihrem »Liebeslabor« an der Universität von Washington nahmen er und seine Assistenten über einen Zeitraum von neun Jahren Hunderte verheirateter Paare auf Video auf, analysierten jedes Band detailliert und verzeichneten jedes wahrgenommene Gefühl und jeden logischen Punkt in einer Datenbank. Stunden-, tage-, ja, monatelang beobachteten sie die Streitereien sich wütend anstarrender Ehepartner, die vor der Kamera alle möglichen Peinlichkeiten über sich ausbreiteten. Es war wie eine schlechte Realityshow.
Als Gottman 1994 seine Befunde veröffentlichte, war das für Rhetoriker eine Genugtuung, denn seine Daten bestätigten, was in der Rhetorik schon seit Jahrtausenden bekannt ist. Gottman fand heraus, dass Paare, die über diese neun Jahre verheiratet geblieben waren, zwar genauso viel stritten wie jene, die sich scheiden ließen. Die erfolgreichen Paare gingen jedoch ihre Auseinandersetzungen anders an und verfolgten andere Zwecke mit ihnen. Sie hielten sich instinktiv an die Grundregeln, die Rhetoriker für Streitgespräche empfehlen.
Manche der Videos wurden auch im Fernsehen ausgestrahlt. Sie zeigten einige entschieden unangenehme Momente, selbst bei den glücklichen Paaren. Einer der Ehemänner, die mit ihrer Frau zusammenblieben, gab zu, pathologisch faul zu sein, was seine Frau nur allzu gern bestätigte. Der Unterschied war nur der, dass die glücklicheren Paare ihre Dispute offenbar dazu nutzten, um ihre Probleme zu lösen und Meinungsverschiedenheiten auszuräumen. Sie legten auch Zuversicht an den Tag, dass ihnen das gelingen würde. Die scheiternden Paare benutzten ihre Sitzungen dagegen für gegenseitige Vorhaltungen, ihre Streitigkeiten waren für sie ein Problem, kein Mittel zur Lösung. Die glücklichen Paare argumentierten miteinander, die unglücklichen bekämpften sich.
PROBIEREN SIE DIES IM JOB
Ein wachsendes Spezialgebiet der Unternehmensberatung vermittelt (angehenden) Firmenvorständen, wie sie ihr Unternehmen am besten »verkörpern«. Der gesuchte Charakterzug ist dabei nicht aggressives Auftreten oder Intelligenz, sondern die Fähigkeit, die eigenen Produkte mit ansprechenden Geschichten begehrenswert erscheinen zu lassen. Später werden wir noch sehen, welche entscheidende Rolle gut erzählte Geschichten spielen, um die Herzen der Menschen zu erobern.
Ich nehme an, dass die meisten von Gottmans glücklichen Paaren einander auch verführten. Unsere Kultur neigt dazu, die Zielstrebigen zu bewundern, jene Leute, die ihrem Instinkt folgen, ganz gleich, was die anderen denken. Doch solche Menschen setzen sich am Ende selten durch. Gewiss, Großmäuler erringen oft temporäre Siege durch Einschüchterung oder einfach, indem sie so lange auf uns einreden, bis wir erschöpft nachgeben, aber es sind die subtileren, eloquenteren Ansätze der Überzeugung anderer, die zu langfristiger Verbundenheit führen. Personalmanager werden diesen Gedanken bestätigen. Es gibt ein paar Alphatiere in einzelnen Unternehmen, die ihre Kollegen herumschubsen und auf Konkurrenten herumtrampeln, aber wenn man Personalchefs fragt, nach welchen Eigenschaften sie bei Bewerbern auf Führungspositionen suchen, nennen sie Überzeugungskraft und die Fähigkeit zur Teambildung, nicht Aggressivität.
Man setzt sich in einer Debatte durch, wenn man sein Publikum überzeugt. Einen Kampf entscheidet man für sich, indem man über den Feind die Oberhand gewinnt. Ein Territorialstreit auf dem Autorücksitz lässt sich nicht als Debatte betrachten, es sei denn, jedes Kind unternimmt den unwahrscheinlichen Versuch, das andere von seiner Position zu überzeugen statt niederzuschreien. (»Ich verstehe, was du meinst, Schwesterherz, aber hast du die Analogie zu einer Staatsgrenze in Betracht gezogen?«)
Im Alter von zwei Jahren ging unser Sohn George zu handgreiflichen Argumenten über, wenn ihm die Worte ausgingen. Nach jedem Kampf fragte ich ihn: »Na, hast du das andere Kind dazu gebracht, dir zuzustimmen?« Jahrelang hielt er das für eine saublöde Frage, und vielleicht war es das auch. Aber schließlich begriff er es: Eine Diskussion mit Fäusten ist keine Diskussion. Sie überzeugt den Gegner nie, sondern weckt bei ihm nur den Wunsch nach Vergeltung oder Rückzug.
In einem Kampf lässt eine Person ihre Aggressionen an einer anderen aus, wie etwa Donald Trump, als er über die Moderatorin Rosie O’Donnell giftete: »Na, ich würde direkt in ihr fettes, hässliches Gesicht schauen und sagen: ›Rosie, du bist gefeuert.‹« Wenn andererseits zum Beispiel ein ehemaliger Boxweltmeister wie George Foreman einen Grill unter seinem Namen verkauft, unternimmt er damit den Versuch, mit der Ausstrahlung seiner Persönlichkeit Konsumenten zu überzeugen; er will Einfluss auf ihre Stimmung, Einstellung und Kaufbereitschaft nehmen.
Der grundlegende Unterschied zwischen einem Rededuell und einem Kampf ist, dass Argumente, geschickt vorgetragen, Menschen bewegen, das zu tun, was wir von ihnen möchten. Man kämpft, um andere zu besiegen; man argumentiert, um ihre Zustimmung zu gewinnen.
RHETORISCHER KNIFF!
In der Antike hatte man von Diskussionen in Schriftform eine geringe Meinung, zum Teil, weil ein Autor, der seine Argumente niederschrieb, dabei sein Publikum nicht sehen konnte. Wenn ich persönlich zu Ihnen sprechen könnte, würde ich vermutlich nicht von meinem Sohn über Donald Trump zu George Foreman übergehen. Ich würde erahnen, welches dieser Beispiele Sie wohl am ehesten ansprechen würde. Dennoch, die krass unterschiedlichen Beispiele veranschaulichen einen ganz eigenen Punkt: Nirgends entgehen wir der Argumentation und Überredung.
Das mag sich schwächlich anhören. Unter manchen Umständen kann es aber großen Mut erfordern, mit Argumenten für eine Sache einzutreten, ja, es könnte sogar das Schicksal eines Volkes davon abhängen. Was die Rhetoriker der Antike am meisten fürchteten, waren Demagogen, die sich des Staates bemächtigten: ein machtbesessener Diktator, der seine rhetorischen Fähigkeiten nutzte, um Unheil über das Gemeinwesen zu bringen. Das letzte Jahrhundert zeigt, wie recht die Alten hatten. Doch die Rettung vor den dunklen Abgründen der Demagogie erwuchs aus ihrer Sicht eben aus der lichten Seite der Redekunst. Selbst wo es nicht um gar so viel geht – wenn der Widersacher ein verschlagener Rivale bei der Arbeit oder eine verrückte populistische Splittergruppe an der Uni ist: Mit rhetorischen Fähigkeiten können wir ihnen Paroli bieten.
Aber die Rhetorik bietet noch einen eigennützigeren Grund für argumentative Überzeugungsarbeit. Wer sich ihre Werkzeuge aneignet, kann zu einem Gesicht werden, auf das man achtet, zu einem Menschen, der andere durch die Kraft seiner Rede bewegt, formt und führt und einen Einfluss gewinnt, der umso mächtiger wird, als er auf freiwilliger Zustimmung beruht – ein Konsens erreicht durch die verführerische Macht der Überzeugung.
PROBIEREN SIE DIES IN EINER POLITISCHEN DISKUSSION
Wenn sich jemand Ihre Auffassung zu eigen gemacht hat, testen Sie seine Überzeugung, indem Sie fragen: »Was würden Sie nun also sagen, wenn jemand dieses Thema anschneidet?«
Eine Polizeistreife winkt Sie an den Straßenrand. Sie kurbeln das Fenster herunter.
SIE: Stimmt was nicht?
POLIZISTIN: Wussten Sie, dass hier Höchstgeschwindigkeit achtzig gilt?
SIE: Wie schnell bin ich denn gefahren?
POLIZIST: Neunzig km/h.
Die Versuchung, eine freche Antwort zu geben, ist schier übermächtig.
SIE: Au Backe, dafür müssen Sie mich jetzt aber sofort in den Knast stecken!
Tatsächlich könnte die Befriedigung sehr wohl das Strafmandat und das Risiko, mit auf die Wache genommen zu werden, lohnen. Aber spulen wir die Szene noch einmal an den Punkt zurück, wo die Polizistin sagt »Neunzig km/h«. Setzen Sie sich nun Ihr persönliches Ziel. Was möchten Sie in dieser Situation erreichen?
Vielleicht möchten Sie die Polizistin wie einen Idioten aussehen lassen. Mit Ihrer bissigen Antwort erreichen Sie das, besonders, wenn Sie Mitfahrer als Publikum haben. Natürlich dürfte sie kaum freundlich darauf reagieren, das Ergebnis wird ein Kampf sein, dessen wahrscheinlicher Verlierer Sie selbst sind. Wie wär’s, wenn Sie die Beamtin dazu bringen, sich dafür zu entschuldigen, dass sie sich wie ein Zuchtmeister aufspielt? Ach, leider kann Ihnen das unmöglich glücken, Sie müssen sich schon realistische Ziele stecken. Nehmen wir stattdessen an, Sie setzen sich das persönliche Ziel, ein Knöllchen zu vermeiden. Wie könnten Sie das zuwege bringen?
Um ein Rededuell für sich zu entscheiden, sollten Sie nicht versuchen, über den anderen zu triumphieren. Bemühen Sie sich stattdessen, Ihren Willen zu bekommen.
Selbst wenn die Diskussion nur Sie und den anderen berührt und sonst niemand zuschaut, haben Sie trotzdem ein Publikum: eben die andere Person. In diesem Fall gibt es zwei Wege, sich durchzusetzen: Entweder, indem Sie das Rededuell für sich entscheiden – und Ihren Gegner dazu bringen, seine Niederlage einzuräumen –, oder indem Sie den Disput »verlieren«. Probieren wir beide Strategien bei der Polizistin aus.
Sie entscheiden die Diskussion mit einer bombensichereren Entschuldigung für sich.
SIE: Meine Frau liegt in den Wehen! Sie muss schnellstens ins Krankenhaus!
POLIZISTIN: Sie sitzen allein im Auto.
SIE: Oh, mein Gott! Ich habe meine Frau vergessen!
Wahrscheinlich interessiert es die Polizistin nicht, dass Ihre Frau auf dem Fußboden des Wohnzimmers gerade Drillinge bekommt. Falls doch, haben Sie gewonnen.
Spielen Sie den guten Bürger, den die Polizistin in Ihnen vermutlich sehen möchte. Räumen Sie ihren Punkt ein:
SIE: Ich bin sicher, Sie haben recht. Ich hätte besser auf meinen Tacho achten sollen.
ARGUMENTATIONSMITTEL ZUGESTÄNDNIS: Gestehen Sie Ihrem Gegenüber einen Punkt zu, um das zu erreichen, was Sie wollen.
Gut. Sie haben der Polizistin gerade einen Punkt verschafft. Machen Sie es ihr nun leicht, Sie vom Haken zu lassen:
SIE: Ich habe wohl zu genau auf die Straße geachtet. Gibt es nicht eine Methode, den Tacho besser im Blick zu behalten, ohne sich vom Verkehr ablenken zu lassen?
Dieser Ansatz spricht die Fachkenntnis der Polizistin an. Er könnte funktionieren, solange in Ihrer Stimme kein Sarkasmus mitschwingt. Aber nehmen wir an, dass der Appell noch etwas Zuckerguss benötigt.
POLIZISTIN: Sie könnten damit anfangen, unterhalb der Höchstgeschwindigkeit zu fahren. Dann brauchen Sie den Tacho nicht groß zu beachten.
SIE: Ja, das stimmt, das könnte ich tun. Die Leute fahren immer dicht auf und drängeln, wenn ich das mache, aber das ist ja deren Problem, stimmt’s?
POLIZISTIN: Richtig. Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Fahrstil.
SIE: Das werde ich. Danke für den Tipp.
Was wird nun Ihrer Meinung nach am wahrscheinlichsten passieren? Ich kann Ihnen sagen, was nicht geschehen wird. Die Polizistin wird Sie nicht aus dem Wagen aussteigen lassen, Sie werden sich nicht breitbeinig gegen den Wagen lehnen müssen, während die Beamtin Sie filzt. Sie wird keine Verstärkung anfordern und Sie nicht anbrüllen. Sie haben eine wütende Eskalation der Situation vermieden, was heutzutage keine geringe Leistung ist. Und wenn die Polizistin Sie nun tatsächlich mit einer Verwarnung davonkommen lässt, herzlichen Glückwunsch, dann haben Sie gewonnen. Die Beamtin mag es nicht bemerkt haben, aber Sie haben gerade die beste Art des Siegs errungen: Die Gesetzeshüterin fährt zufrieden davon, und Sie tun dasselbe.
Ihr Gegenüber möchte natürlich gegen Sie punkten. Der leichteste Weg, diesen Wunsch für Ihre Zwecke auszubeuten, besteht darin, ihr oder ihm den Punkt zu geben. Sie können dieses Zugeständnis machen, solange Sie Ihrer Sache damit keinen irreparablen Schaden zufügen.
Mit anderen Worten: Eine mögliche Methode, um die Zustimmung anderer zu erreichen, besteht darin, ihnen – taktisch – recht zu geben. Das heißt nicht, dass Sie Ihr Argument aufgeben müssen. Nutzen Sie stattdessen den Punkt Ihres Gegenübers, um das zu erhalten, was Sie selbst möchten. Üben Sie sich in rhetorischem Ju-Jutsu, indem Sie Ihren Gegner durch dessen eigene Bewegungen aus der Balance bringen. Bedeutet Ihr kampfloses Zugeständnis, dass Sie nicht genügend für sich einstehen? Vermutlich ja, aber Schwächlinge wie wir sind die Erben der Erde. Während der Rest der Welt kämpft, üben wir uns in Überredungskunst – denn mit Argumenten bekommt man eher das, was man will, als durch Kampf.
Nachdem Sie entschieden haben, was Sie bei einem verbalen Schlagabtausch gewinnen wollen, können Sie bestimmen, wie sich Ihr Publikum ändern muss, damit Sie Ihr Ziel erreichen. Vielleicht müssen Sie nicht mehr tun, als die Stimmung einer Person zu ändern, zum Beispiel, indem Sie sie verführen. Oder Sie möchten die Haltung einer Person ändern – damit die Chefin nicht Ihrem Konkurrenten, sondern Ihnen eine Beförderung gewährt. Oder Sie möchten, dass das Publikum etwas Konkretes für Sie tut.
RHETORISCHER KNIFF!
Ziemlich nett von mir, oder? Die alten Griechen hatten für diese Art des vorausgreifenden Zugeständnisses ein Wort: Prolepsis, d. h. Vorwegnahme.
Tatsächlich gehört zur Verführung oft mehr als ein Stimmungswandel. Nehmen wir an, Ihr Ziel ist es, mit jemandem zu schlafen. Wenn Sie beide bereits in Stimmung sind, benötigen Sie dafür keine Überredungskünste.
TIPPS VON DEN ALTEN
Aus Sicht des griechischen Komödiendichters Aristophanes vermochte die Rhetorik, die schwächere Rede zur stärkeren zu machen. Platon hielt das für eine schlechte Sache, aber in der gesamten Geschichte haben die Schwächlinge dieser für sie erfreulichen Aussicht applaudiert.
SIE: Voulez-vous coucher avec moi?
Wenn sich Ihre Auserwählte jedoch ziert, wird solche Direktheit kaum zum Erfolg führen. Sie dürften eine bessere Chance mit einer »weichen«, indirekten Art der Überredung haben.
Bringen Sie das Thema irgendwie auf sexuelle Fantasien, erzählen Sie von einer Nachbarin, die doch neulich tatsächlich …