Kapitel 5

Prüfend drehte Toni sich vor dem Spiegel. Der Wind, der durch das offene Fenster hereinwehte, brachte den fließenden Stoff ihres Kleides zum Rascheln und trug den leicht fauligen und vom Ruß der Dampfschiffe angereicherten Geruch des Mississippi mit sich. Zufrieden mit ihrer Erscheinung, nickte sie Caro lächelnd zu.

„Sie sehen wunderschön aus, Mamselle“, flüsterte Caro und begann, die Haarbürste und die nicht gebrauchten Haarspangen und Klammern beiseitezuräumen.

„Danke, Caro. Das liegt aber vor allem daran, dass du so geschickte Hände hast, die aus den Kleidern und vor allem aus meinen Haaren wahre Kunstwerke zaubern können.“

„In dieser Hinsicht bin ich vielleicht geschickt. Ansonsten bin ich sehr tollpatschig“, entgegnete das Mädchen, wobei es eine Grimasse zog.

Toni lachte kurz auf und strich der jungen Frau liebevoll über den Rücken. „Mach dir darüber keine Gedanken, Caro. Gott hat dich zu einem wunderbaren Menschen gemacht. Irgendwelche Fehler haben wir alle.“

„Wenn ich in einem anderen Haushalt gelandet wäre, hätten mir meine Fehler sicherlich schon unzählige Narben auf dem Rücken eingebracht. Ich habe es nur Ihnen zu verdanken, dass ich noch unversehrt bin, Mamselle.“

Toni stimmte Caro in Gedanken zu. Seit die etwas tollpatschige Caro das erste Mal vor ihren Augen von Raphael Leroux geschlagen worden war, hatte sie es immer verstanden, sie vor weiteren Bestrafungen zu beschützen. Das war jedoch allein dadurch möglich, dass sie sich ihr gegenüber immer wieder sehr grob verhielt und sie scheinbar derb aus der Gegenwart der Familie oder anwesender Gäste entfernte – allerdings nicht, um Caro zu bestrafen, sondern um sie vor den Schlägen der Leroux-Männer in Sicherheit zu bringen. Toni griff nach ihrem Seidenschal. „Ich werde den Nachmittag über fort sein, Caro. Tu mir bitte den Gefallen und bleib möglichst hier in den oberen Räumen. Monsieur Leroux hat ein paar wichtige Gäste, und ich möchte nicht, dass du ihnen begegnest.“

„Sie meinen, ich solle nicht in sie hineinlaufen, vor ihnen Gläser fallen lassen oder sie womöglich gegen irgendein Möbelstück stoßen?“

„Das in etwa versuche ich zu verhindern.“

„Ich habe gelernt, vorsichtig zu sein, wenn Sie nicht im Haus sind, Mamselle. Wer könnte mich sonst vor Strafen beschützen?“

Toni lächelte das Mädchen an. „Bitte, Caro, sei vorsichtig. Ich möchte nicht, dass dir irgendetwas zustößt.“

„Danke, Mamselle“, flüsterte Caro und senkte beschämt den Kopf.

„Ich danke Ihnen dafür, dass Sie so viel Geduld mit mir haben, und ich danke Gott jeden Tag dafür, dass ich bei Ihnen als Mädchen arbeiten darf.“

Toni nickte dem Mädchen lächelnd zu und verließ das Zimmer.

Der weit aufgebauschte Rock fegte über den mit Teppichen ausgelegten Flur und tanzte fröhlich um ihre Beine, als sie die Stufen in der Eingangshalle hinunterstieg. Aus dem Arbeitszimmer Raphael Leroux‘ drangen aufgeregte Stimmen, und Toni vermutete, dass wieder einmal die Politik die Gemüter der Gäste erhitzt hatte. Der Süden wehrte sich immer mehr gegen die hohen Zölle, die Washington auf alle Waren erhob, und gerade eine Stadt wie New Orleans lebte beinahe ausschließlich vom Im- und Export verschiedener Güter. Doch Louisiana war nicht der einzige Staat, der sich immer vehementer gegen die bundesstaatlichen Entscheidungen erhob. Vor allem in South Carolina wurden die Stimmen immer lauter, die nach einer Loslösung des Staates aus dem Bündnis der USA riefen, und die dort entfachte Lunte steckte auch weitere Staaten südlich der Maison-Dixon-Linie an. Am meisten überwog aber wohl die Angst, dass der Norden seine immer häufiger ausgesprochene Drohung umsetzen würde, nach welcher der Süden seiner Millionen Sklaven beraubt werden sollte.

Toni blieb einen Augenblick lang lauschend stehen und seufzte dann leise auf. Sie hatte sich niemals besonders für Politik interessiert, zumal es den Frauen nicht anstand, sich in die politischen oder auch geschäftlichen Angelegenheiten der Männer einzumischen.

Henrys Frau Brigitte und Audrey, die jüngste der Leroux-Töchter, traten durch eine der offenen Terrassentüren ins Foyer. Brigitte musterte Toni einen Moment lang und fragte dann mit einem wenig freundlichen Lächeln: „Du folgst also tatsächlich dieser Einladung?“

Toni nickte und machte ein paar Schritte auf die Eingangstür zu. „Warum sollte ich der Einladung von Sophie Nanty nicht nachkommen, Brigitte?“

„Weil sie so … Sie wirkt so einfach, um nicht primitiv zu sagen.“

„Einfach?“ Toni schüttelte über diese Beschreibung der freundlichen, etwas zurückhaltenden Sophie den Kopf. „Sophie ist ein wenig still, vielleicht auch schüchtern, aber keinesfalls einfach. Ich habe mich schon des Öfteren mit ihr unterhalten und sie macht auf mich einen ausgesprochen intelligenten Eindruck.“

„Bei dir müssen die Freundinnen natürlich Intelligenz aufweisen“, sagte die neunjährige Audrey abfällig. „Dir ist so was ja wichtig – Wissen und Bildung. Dabei solltest du inzwischen eigentlich verlobt sein und nicht noch den Unterricht des alten Sylvain Merlin besuchen. Außerdem hat Sophie allen Grund, still und schüchtern zu sein. Wer so aussieht wie sie, darf sich keinesfalls in den Vordergrund stellen.“ Audrey warf ihre langen Locken in den Nacken und blickte Toni mit ihren großen, runden, grün blitzenden Augen herausfordernd an.

Toni seufzte. Das Mädchen bekam viel zu oft zu hören, was für eine Schönheit es sei. Sie wollte einwenden, dass Sophie zwar ein wenig rundlich war, jedoch ein ausgesprochen hübsches Gesicht, wunderbare Haut und ein strahlendes Lächeln besaß, doch sie unterließ es. Sie war bereits spät dran und hegte kaum die Hoffnung, dass sie Audrey oder auch Brigitte von ihrer Meinung über die arme Sophie würde abbringen können.

„Jedenfalls wünsche ich dir einen schönen Nachmittag“, murmelte Brigitte abwesend, da aus dem Garten das Weinen ihrer Tochter hereindrang.

Toni war schon fast an der geöffneten Tür, als sie Audrey lachen hörte: „Einen schönen, langweiligen Nachmittag bei der anderen alten Jungfer. Vielleicht veranstaltet Sophie ja ein Treffen aller Unverheirateten. Wir sollten Tante Rose auch hinschicken.“

Energisch zog Toni die Tür hinter sich zu. Die Empörung, die sie über Audreys respektlose Worte empfand, ließ sie heftig ein- und ausatmen. Sophie war ein Jahr älter als sie und hatte nach ihrem Debütantinnenball keinen Verehrer gefunden. Vielleicht litt sie darunter, so wie auch Rose Nolot, Mirabelle Leroux’ jüngere Schwester, unter ihrem Status als Unverheiratete litt. Doch Audreys giftige Worte hatten auch Toni getroffen. Zum ersten Mal musste sich die junge Frau eingestehen, dass in ihr eine kleine Spur von Angst saß. Sie wollte nicht immer allein bleiben, zumal sie von den Leroux’ zwar aufgenommen worden war, sie diese jedoch noch immer nicht als ihre Familie betrachten konnte.

Toni blickte zu den sich heftig hin und her bewegenden Zweigen eines Magnolienbaumes hinüber, dessen große Blüten wie weiße Krönchen auf den Ästen saßen.

Der Wunsch, einmal eine eigene Familie zu haben, erwachte in ihr mit so vehementer Macht, dass sich ihr Herz schmerzlich zusammenzog.

Wie groß ihre Erleichterung auch sein mochte, vorerst einer frühen Vermählung entgangen zu sein, so schmerzlich wurde ihr bewusst, dass sie vielleicht niemals von einem Mann in einer Weise geliebt werden würde, wie sie es sich ersehnte, und dass sie womöglich niemals eigene Kinder in den Armen halten würde.

Auf der Straße fuhr die Equipage der Leroux’ vor. Toni straffte ihre Schultern, hob den Kopf und schritt auf diese zu, um sich von Claude, dem jungen schwarzen Kutscher, hineinhelfen zu lassen.

* * *

Toni war bereits mehrmals im Hause Nanty gewesen, und so wunderte sie sich, als sie nicht in einen der wunderschönen Salons, sondern hinauf zu den Privaträumen der Familie geleitet wurde. Die junge Sklavin klopfte an eine der Türen, murmelte etwas, als diese einen Spaltbreit geöffnet wurde, und huschte dann wieselflink und leise davon.

„Lass Mademoiselle de la Rivière doch bitte eintreten“, war Sophies freundliche, volle Stimme zu hören. Die Tür öffnete sich weiter und Sophies Mädchen huschte beiseite, um den Gast einzulassen.

Toni trat ein und blickte verwundert auf die beinahe spartanisch anmutende Einrichtung des Raumes. Zwar waren die Wände mit sichtlich teuren Tapeten überzogen und der Boden mit einer weichen Lage wertvoller Teppiche ausgelegt, doch außer einer Kommode, einem großen Standspiegel, einem Sekretär und einem von Moskitonetzen eingehüllten breiten Bett befand sich nur noch eine kleine Sitzgruppe in dem doch recht großen Raum.

„Mademoiselle de la Rivière, wie schön, dass Sie meiner Einladung nachkommen konnten“, freute sich Sophie Nanty und ging Toni entgegen, beide Hände nach ihr ausstreckend.

Toni zeigte ihr liebevolles Lächeln und erwiderte die kurze Umarmung. „Vielen Dank, Mademoiselle Nanty. Ich freue mich, mich einmal ein wenig ausführlicher mit Ihnen unterhalten zu können als sonst. Allerdings frage ich mich, ob ich zu früh bin?“

„Keinesfalls“, erwiderte Sophie und neigte ihren runden Kopf ein wenig zur Seite. „Sie haben angenommen, ich würde eine kleine Gesellschaft geben, Mademoiselle de la Rivière? Entschuldigen Sie bitte, wenn ich mich in meiner Einladung nicht deutlich ausgedrückt habe. Es werden keine weiteren Gäste eintreffen.“

Toni nickte, wenn auch ein wenig verwundert. Für gewöhnlich trafen sich immer mehrere Töchter der befreundeten Familien, um den neuesten Klatsch austauschen zu können und sich auf anstehende Bälle, Theaterbesuche oder Hochzeiten zu freuen. „Dann habe ich tatsächlich die Möglichkeit, mich einmal sehr intensiv mit Ihnen zu unterhalten, Mademoiselle Nanty.“ Toni zeigte deutlich ihre Begeisterung darüber, die freundliche, wenn auch sehr zurückhaltende junge Frau näher kennenlernen zu können, was ihr ein Lächeln ihrer Gastgeberin einbrachte.

„Setzen Sie sich doch bitte“, forderte Sophie sie auf. „Mein Mädchen wird sofort mit dem Kaffee und dem Gebäck erscheinen.“

Toni nahm auf dem angebotenen Sessel Platz und sank in die weichen, bequemen Kissen. Die Zimmertür wurde leise geöffnet, und eine junge schwarze Frau trug auf einem Silbertablett Kaffee und feines Vanillegebäck heran, um gleich darauf wieder lautlos zu verschwinden.

Toni legte ein in blaues Papier eingewickeltes Päckchen auf den Tisch. „Ich habe Ihnen ein kleines Präsent mitgebracht“, sagte sie. „Es ist ein Gedichtband. Ich hoffe, er gefällt Ihnen.“

Sophies Augen leuchteten begeistert auf. „Vielen Dank, Mademoiselle de la Rivière. Ich liebe Gedichte. Ich weiß, dass Sie sehr viel Wert auf Ihre Schulbildung legen, und ich kenne außer Ihnen keine junge Frau, die nach ihrem Debütantinnenball weiterhin Unterricht nimmt.“

„Ich bin schon immer sehr neugierig gewesen, Mademoiselle Nanty. Ich möchte so viel wie möglich lernen und im Moment kann ich das am besten bei Sylvain Merlin.“

„Monsieur Merlin hat Ihre frühere Zofe geheiratet, nicht wahr? Man erzählt sich, Sie und Madame Merlin seien trotz Ihres Altersunterschiedes Freundinnen?“

„Das sind wir. Vermutlich verbindet uns die gemeinsame Erfahrung, in recht jungen Jahren nach New Orleans gekommen zu sein, ohne eine Menschenseele zu kennen.“

Sophie schenkte Toni dampfenden, schwarzen Kaffee in die zierliche Porzellantasse. „Haben Sie noch Erinnerungen an Ihre frühere Heimat?“

„Ich war zehn Jahre alt, als ich Deutschland verließ. Selbstverständlich schlummern noch einige Erinnerungen in mir, obwohl ich zugeben muss, dass vieles langsam verblasst.“

„Wenn es Sie nicht zu sehr schmerzt, Mademoiselle de la Rivière, erzählen Sie mir doch ein wenig aus Ihrer Kindheit in diesem Land.“

Toni kam dieser Einladung nach, und so ließ sie in ihrer Erinnerung ihre Eltern und die Erlebnisse der damaligen Zeit wieder aufleben. Nachdem sie geendet hatte, schwieg sie eine lange Zeit, und Sophie war fasziniert, aber auch rücksichtsvoll genug, um ihr diese schmerzlichen Augenblicke zu lassen, in denen sie erneut Abschied von ihren Eltern und ihrem früheren Leben nahm.

Schließlich sah Toni auf. „Was ist mit Ihnen, Mademoiselle Nanty? Möchten Sie mich auch einmal in Ihre Kindheit mitnehmen?“

Ihre Gastgeberin nickte.

„Da gibt es nicht viel zu berichten, Mademoiselle de la Rivière. Ich bin in New Orleans geboren und bis auf die Sommer, die wir immer auf unserer Plantage im kühleren Landesinneren verbringen, nie woanders gewesen. Und ich war schon immer ein wenig rundlich und wenig ansehnlich.“

„Sagen Sie doch nicht so etwas, Mademoiselle Nanty!“, begehrte Toni entrüstet auf und griff nach der weichen, warmen Hand ihrer Gesprächspartnerin.

Diese lächelte und schüttelte sanft den Kopf. „Es ist schon gut, Mademoiselle de la Rivière. Ich weiß, dass ich gelegentlich der Spott der Nachmittagskaffees bin, und dies umso mehr, seit sich nach meinem Debütantinnenball im letzten Jahr nicht ein Verehrer für mich einfand. Ich bin keine dieser atemberaubenden Südstaatenschönheiten und im Vergleich zu Ihnen wirke ich wie ein tollpatschiger Tanzbär.“ Sophies Stimme war ruhig, und doch war ihren Worten unterschwellig eine Spur von Trauer, aber auch Bitterkeit zu entnehmen.

„Warum sagen Sie so etwas, Mademoiselle Nanty? Jede von uns jungen Frauen ist gelegentlich Ziel des Spottes bei den diversen Nachmittagskaffees in der Stadt. Meine Verehrer sind alle fluchtartig auseinandergestoben, als sie von meiner angeblichen Erbkrankheit hörten. Und es hat durchaus auch seine Nachteile, wenn man so klein und dünn ist wie ich. Zudem bin ich überzeugt, dass der Mann, der Sie einmal heiratet, ein ausgesprochen glücklicher Mann sein wird.“

„Es ist sehr nett von Ihnen, so etwas zu sagen, aber –“

„Bitte, Mademoiselle Nanty. Quälen Sie sich nicht selbst. Sie haben das schönste Lächeln, das ich jemals gesehen habe, und Sie sind so ein liebenswerter Mensch.“

„Eben das ist doch mein Problem, Mademoiselle de la Rivière. Ich bin ein liebenswerter Mensch, das sagen mir die Leute immer wieder. Doch offenbar gibt es keinen Mann, der dies tatsächlich so sieht. Ich habe Angst, allein zu bleiben, und wenn ich mir die alten Jungfern in der Stadt ansehe, wie zum Beispiel die Schwester von Mirabelle Leroux, die so furchtbar verbittert ist, bekomme ich haltlose Panik, eines Tages auch so zu enden. Sie sind ebenfalls noch nicht verheiratet und dennoch sehe ich Sie fröhlich lachen. Sie ziehen sich nicht aus der Gesellschaft zurück, leben Ihr Leben und vermitteln den Eindruck, als seien Sie rundum glücklich, obwohl noch kein Mann um Ihre Hand angehalten hat.“

Tränen glitzerten in Sophie Nantys Augen.

Toni schwieg und betrachtete das erhitzte Gesicht ihrer Gastgeberin. War es nicht erst etwas mehr als eine Stunde her, dass sie eben dieselben Befürchtungen gehegt hatte? Was nur sollte sie Sophie sagen? Sie wollte der verwirrten, ängstlichen Frau doch so gerne helfen. Toni schloss für einen Augenblick hilflos die Augen.

„Ich möchte nur wissen, wie Sie es zuwege bringen, dass Sie sich Ihre Fröhlichkeit bewahren, Mademoiselle de la Rivière, obwohl die Aussichten auf eine Heirat bei Ihnen nicht besser sind als bei mir – und bitte, betrachten Sie das nicht als eine Beleidigung. Nichts würde mir ferner liegen, als Sie demütigen zu wollen. Sie sind eine reizende, hübsche junge Frau und haben es nicht verdient, dass dieses Gerücht – ob es nun der Wahrheit entspricht oder nicht – all ihre Möglichkeiten zunichtemacht.“ Sophie sah sie traurig an und nun löste sich tatsächlich eine der aufgestauten Tränen und rollte langsam die rundliche Wange hinunter.

Toni stand mit der für sie gewohnt hastigen Bewegung auf, kniete sich vor Sophies Sessel und schloss die verzweifelte Frau in die Arme. Diese versteifte sich zuerst ein wenig, doch dann erwiderte sie die Umarmung und ließ ihren Tränen freien Lauf.

„Ich tue nichts Besonderes, Sophie“, murmelte Toni und strich der jungen Frau beruhigend über den Rücken. „Ich habe einfach noch nicht das Bedürfnis, verheiratet zu werden. Außerdem ist mir noch niemand begegnet, mit dem ich mir ein gemeinsames Leben vorstellen könnte. Ich möchte meinen zukünftigen Ehemann lieben und mich von ihm geliebt wissen, dann erst kann ich mir eine Heirat vorstellen“, flüsterte sie.

Sophie nickte und löste sich schließlich aus der Umarmung. „Du bist also vielmehr erleichtert darüber?“

Toni nickte und fühlte eine beschämende Unsicherheit in sich. Gerne hätte sie der verzweifelten jungen Frau einen besseren Trost geboten.

„Dann verstehe ich natürlich …“, murmelte Sophie.

Toni erhob sich und setzte sich wieder in ihren Sessel, nachdem sie notdürftig einige Falten aus ihrem weit aufgebauschten Rock gestrichen hatte.

Die beiden jungen Frauen schwiegen eine Weile, bevor sich ein schüchtern anmutendes Lächeln auf Sophies Gesicht legte. „Wenn ich über deine Worte nachdenke, muss ich dir sogar recht geben. Ich möchte auch lieben und geliebt werden, und wenn ich daran denke, wer sich bei Monsieur Leroux deinetwegen so alles eingefunden …“

„Du weißt, wer bei meinem Patenonkel meinetwegen vorgesprochen hat?“ Verwundert, aber ausgesprochen neugierig beugte sich Toni ein wenig nach vorne.

„Du nicht? Zum Beispiel war dieser schreckliche Monsieur Deux darunter.“

„Deux?“ Toni blickte an Sophie vorbei und schüttelte schließlich den Kopf. Sie glaubte, diesen Namen zu kennen, konnte ihn jedoch nicht sofort einordnen.

„Monsieur Deux hat einen etwas zweifelhaften Ruf und verkehrt nur selten in unseren Kreisen. Aber vor einem Jahr muss er dich bei irgendeiner Veranstaltung gesehen haben und er war hingerissen von dir.“

Toni holte erschrocken Luft, denn ihr war eingefallen, woher sie den Namen Deux kannte. Es handelte sich um den Mann aus dem Hafen, der bei ihrer Ankunft in New Orleans einen schwarzen Arbeiter so ungeschickt angerempelt hatte, dass dieser mitsamt seinem Fass auf den Pier gestürzt war. Sie hatte ihn negativ in Erinnerung behalten, da Deux damals nicht verhindert hatte, dass der Sklave zu Unrecht bestraft wurde. Sofort erzählte sie Sophie von dieser Begebenheit. „Und Monsieur Deux hat bei meinem Patenonkel um meine Hand angehalten?“, fragte sie schließlich.

Sophie bestätigte ihre Frage mit einem leichten Nicken.

„Woher weißt du das? Ich habe nie erfahren, wer nach dem Ball meinen Patenonkel aufgesucht hat.“

„Es hat sich herumgesprochen. Vermutlich waren Mirabelle oder Dominique so indiskret, die Namen deiner Verehrer weiterzusagen.“

Toni fuhr sich mit einer schnellen Handbewegung über die Lippen. Leise murmelte sie: „Dann bin ich doppelt froh, dass dieses Gerücht aufgekommen ist. Wie könnte ich einen solchen Mann heiraten? Ich kenne ihn doch überhaupt nicht, und ich fand ihn damals bedrohend, unsympathisch und ungerecht.“

„Wenn ich dich so höre, möchte ich fast zustimmen und froh darüber sein, nicht jetzt schon unter die Haube gebracht zu werden. Allerdings gibt es da jemanden …“ Sophie war immer leiser geworden und senkte nun den Kopf. Als sie wieder aufblickte, hatte sich eine feine Röte auf ihrem schönen, klaren Teint gebildet. „Ich kann doch mit deiner Verschwiegenheit rechnen, Antoinette? Ich möchte nicht wieder Ziel des Tratsches auf den Nachmittagskaffees sein.“

„Es wird unser beider Geheimnis sein.“ Toni lächelte Sophie beruhigend an. „Und hoffentlich wird sich bald eine dritte Person in unseren Bund mit einfügen.“

Sophie kicherte leise und blickte Toni dann strahlend an. „Du hast auf Dominiques Hochzeit mit ihm getanzt. Er heißt André Fourier.“

„Monsieur Fourier also. Ein netter junger Mann. Er hat in Frankreich Medizin studiert, nicht wahr?“

Sophies Augen begannen zu leuchten und erneut zeigte sich diese bezaubernde Röte auf ihren Wangen.

„Ja, er ist Arzt und wird sich hier in New Orleans niederlassen. Ich würde ihm so gerne bei seiner Arbeit zur Seite stehen, Antoinette!“, seufzte die junge Frau und senkte erneut den Kopf.

Toni nickte und sah sich nachdenklich in dem wenig verspielt eingerichteten Raum um. Ein Arzt konnte eine praktisch veranlagte, ruhige Frau, die ihm ein friedliches, schönes Zuhause bieten würde, sicherlich besser gebrauchen als eine unruhige Schönheit, die von einem Ball zum anderen tanzen wollte.

„Bevor er nach Frankreich ging, schwirrte ständig Dominique um André herum“, fuhr Sophie fort. „Damals nahm jeder an, dass aus den beiden ein Paar werden würde, und wenn Dominique es mit dem Heiraten nicht so eilig gehabt hätte, wäre sie auch noch für ihn frei gewesen.“

„Wieso hat Monsieur Fourier eigentlich in Frankreich studiert? Ist dir noch nie der Gedanke gekommen, dass er vielleicht Dominiques Aufmerksamkeit und dem Gerede der Leute entkommen wollte? Wie ich gehört habe, war Monsieur Fourier nach Beendigung seines Studiums noch in England und einige Wochen bei Monsieur Bouchardon und dessen Schwester in New York. Er hätte, wäre es sein Bestreben gewesen, viel früher nach New Orleans zurückkehren können.“

Sophie blickte Toni aus weit aufgerissenen Augen an und nickte schließlich. Es war ihr anzusehen, dass sie eine solche Möglichkeit nicht in Betracht gezogen hatte und dass sie ein wenig erstaunt darüber war, dass ihr Angebeteter eine gute Partie wie Dominique Leroux absichtlich verschmäht haben könnte.

„Hast du gelegentlich die Möglichkeit, Monsieur Fourier zu sehen, Sophie?“

„Bei gewissen Anlässen sicherlich. Doch er beachtet mich nicht weiter. Wer sollte es ihm verdenken? Schließlich umschwirren ihn zwei der Charmande-Töchter und Clothilde Macine.“

„Clothilde? Clothilde kann sich seit ihrer Einführung in die Gesellschaft doch vor Verehrern nicht retten. Zudem hat sie bei Dominiques Hochzeit diesen seltsamen Mathieu Bouchardon, den Freund von Monsieur Fourier, umgarnt.“

Sophie machte eine abweisende Handbewegung und schüttelte amüsiert den Kopf. „Eigentlich brauche ich mir wegen Clothilde keine Gedanken zu machen. Sie ist keine Konkurrenz für mich. Ihr Vater würde sie niemals einem Arzt zur Frau geben, dazu noch einem so jungen Arzt, der noch nicht die Gelegenheit hatte, sich einen Namen zu machen.“

„Und vorhin warst du noch enttäuscht, dass dein Vater nicht schon mindestens drei potenzielle Ehemänner für dich aussuchen konnte“, wagte Toni zu spotten.

Sophie lachte belustigt auf. „Du hast recht. Aber wie kann ich Andrés Aufmerksamkeit gewinnen, Antoinette? Ich bin nun einmal, wie ich bin.“ Sie fuhr sich mit ihren Händen über die rundlichen Hüften. „Meine kleine Schwester wollte mich schon mit tief ausgeschnittenen Kleidern ausstatten, damit ich die Aufmerksamkeit der Männer auf mich lenke. Sie meinte, meine Rundungen würden auf Männer doch einladend wirken, wenn man sie nur richtig zur Geltung brächte, doch ich habe mich in diesen Kleidern nicht wohlgefühlt. Zudem wollte sie mir beibringen, mich anders zu bewegen, und hatte diverse aufsehenerregende Auftritte für mich ausgearbeitet, doch dafür bin ich zu schüchtern.“

„Bitte, Sophie, lass dir nichts aufzwingen, was nicht deinem Wesen entspricht. Du bist, so wie du bist, richtig, sonst hätte dich unser Vater im Himmel anders geschaffen. Zudem willst du André doch nichts vorspielen. Das könnte sich später bitter rächen.“

Sophie blickte Toni lange nachdenklich an. Ihr war deutlich anzusehen, dass sie gerne etwas gesagt hätte, doch sie unterließ es. Schließlich fragte sie: „Gibt es denn wirklich niemanden, den du gerne ein wenig beeindrucken würdest, Antoinette?“

Toni lachte fröhlich auf. „Nein, Sophie. Ich habe noch keinen Mann getroffen, der mich näher interessieren würde.“

„Schade. Aber du versprichst mir doch, mich unverzüglich einzuweihen, wenn sich daran etwas geändert hat?“

„Natürlich!“ Toni lächelte. Sie fühlte sich wohl in Sophies Gegenwart und freute sich, nach den langen Jahren endlich noch eine Freundin gefunden zu haben.

Die beiden unterhielten sich noch lange über weniger brisante Themen, und schließlich kamen sie auf den bevorstehenden Sommer und damit auf die Zeit zu sprechen, welche die bessergestellten Familien des Vieux Carré außerhalb von New Orleans verbringen würden, um der alljährlichen Gelbfiebergefahr zu entrinnen.

„Wir werden in diesem Jahr nicht zur Plantage, sondern endlich einmal wieder in das Strandhaus am Meer fahren“, freute sich Toni. Sie liebte das einfach und luftig eingerichtete weiße Holzhaus am Strand.

„Du Glückliche. Ich bange dem Sommer jetzt schon entgegen. Wir haben kein Strandhaus, und dabei weiß ich, dass André mit seiner Familie ans Meer fahren wird – und leider auch die Familie Charmande.“

Toni verstand Sophies Sorge. Die Fouriers und Charmandes hatten wunderbare Strandhäuser ganz in der Nähe des Hauses der Leroux’ und nicht selten waren in dieser lockeren Zeit am Meer Verbindungen zwischen den Kindern befreundeter Familien zustande gekommen.

Sie verschwieg lieber, dass Isabelle Charmande bei einem Nachmittagskaffee vor zwei Tagen deutlich ihre Freude darüber kundgetan hatte, dass auch die Fouriers den Sommer am Golf von Mexiko verbringen würden. Nachdenklich blickte Toni auf die unruhigen Hände Sophies, die mit einem kleinen silbernen Kaffeelöffel spielten, und straffte dann ihre Schultern. „Ich möchte dich einladen, Sophie.“

„Einladen?“

„Ja. Ich möchte dich über den Sommer in das Strandhaus meines Patenonkels einladen. Was hältst du davon?“

Sophies Augen wurden groß und begannen zu glänzen. „Wird das denn gehen, Antoinette?“

„Warum nicht? Eulalie und Dominique hatten ebenfalls einmal ihre Freundinnen eingeladen und Jules hat letztes Jahr vier seiner West-Point-Kameraden mit auf die Plantage gebracht. Ich werde meinen Patenonkel heute noch um Erlaubnis bitten und dir sofort einen Boten mit der Antwort schicken, die – da bin ich mir sicher – positiv ausfallen wird.“

„Oh, Antoinette. Das wäre wunderbar!“

Sophie hielt es nicht mehr auf ihrem Platz. Sie sprang auf, wobei die Krinoline mit dem Rock heftig um ihre Beine schwankte. Dann ließ sie sich wenig damenhaft zurück in ihren Sessel fallen und streckte Toni beide Hände entgegen. „Ich danke dir, Antoinette. Doch ich möchte, dass du eines weißt: Ich freue mich natürlich, dass ich den Sommer in Andrés Nähe verbringen darf, ebenso freue ich mich aber auf die Aussicht, einen wunderschönen Sommer mit dir verbringen zu dürfen. Ich habe noch niemals einen Nachmittagskaffee so sehr genossen wie den heutigen und ich möchte noch viele weitere schöne Stunden mit dir gemeinsam erleben. Glaubst du mir das?“

Toni ergriff die ausgestreckten Hände ihrer Gesprächspartnerin und drückte diese fest. „Ich freue mich ebenfalls auf ein paar schöne, fröhliche und vielleicht auch aufregende Wochen mit dir am Meer.“

Voll begeisterter Vorfreude blickte Toni Sophie an. Sie ahnte, dass ihr eine wunderschöne Zeit in dem von ihr so sehr geliebten Strandhaus bevorstand. Sie würde sich nicht mehr allein oder gar ausgegrenzt fühlen und hoffte, dass die soeben beginnende Freundschaft zwischen ihr und Sophie sich dort wunderbar entfalten würde. Dieser Sommer würde für Antoinette ein ganz besonderer werden.