Arndt Elmar Schnepper
Frei predigen
Ohne Manuskript auf der Kanzel
SCM R.Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-417-21957-9 (E-Book)
ISBN 978-3-417-26843-0 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck
5. Auflage 2018
© 2010 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-brockhaus.de; E-Mail: info@scm-brockhaus.de
Die verwendeten Bibelzitate sind den folgenden Übersetzungen entnommen:
Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. (LUT)
Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. (GNB)
Hoffnung für alle ® Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis – Brunnen Basel (HFA)
Umschlaggestaltung: Tobias Hermann, Gelsenkirchen
Titelbild: unsplash.com/michal grosicki
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Satz: Christoph Möller, Hattingen
Inhalt
Was Sie vorher wissen sollten
Entdeckung
Fünf Argumente
Kleine Geschichte der freien Predigt
Interpretieren und improvisieren
Die fünf Phasen der freien Predigt
• Phase 1: Inhalte finden
• Phase 2: Stoffe gliedern
• Phase 3: Sätze formulieren
• Phase 4: Gedanken meditieren
• Phase 5: In Aktion treten
Der Predigt-Prozess
Ein Meister der freien Predigt
Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Was Sie vorher wissen sollten
Dieses Buch ähnelt einem Brennglas. Es konzentriert seine ganze Energie auf einen einzigen Punkt: die freie Predigt. Im Zentrum der Gedanken steht also nicht der Inhalt einer Predigt, sondern ihre Form. Aufsätze und Bücher über die christliche Predigt als solche gibt es ohne Zahl. Nach Literatur über das freie Predigen muss man schon länger suchen. Dieses Buch, das Sie in den Händen halten, füllt diese Lücke aus.
Freie Predigt ist weder ein moderner Gag noch ein billiger Trick. Sie ist vielmehr ein authentischer Ausdruck des Evangeliums. Nicht als „Schreibe“ oder „Lese“ ist die Gute Nachricht von Jesus Christus gedacht. Nein, sie ist im Kern eine öffentliche und freie Rede. Kein Wunder, dass sie in christlichen Kirchen jahrhundertelang der Normalfall war.
Die freie Predigt ist eine lebendige Form des Glaubens. Und deswegen kann sie tiefe Eindrücke hinterlassen. Dieses Buch wird von der Überzeugung getragen, dass sich der Predigt gerade dann neue Chancen eröffnen, wenn sie auf ein Manuskript verzichtet. Dort, wo sonst weggehört, weggeschaut und weggegangen wird, brechen andere Zeiten an. Die freie Predigt bringt das Evangelium neu zur Sprache.
Aber Vorsicht: Die freie Form ersetzt nicht die Qualität der Inhalte. Wer sich inhaltlich nicht sorgfältig vorbereitet, wird auf Dauer Schiffbruch erleiden. Eine freie Predigt kann auch nicht die persönliche Glaubwürdigkeit des Predigers ersetzen. Schließlich hängt die Wirkung unserer Rede – menschlich gesprochen – nicht nur davon ab, was wir und wie wir es sagen, sondern auch, wer es sagt.
Warum noch warten? Freie Predigten kommen erheblich besser an als solche, die abgelesen werden. Und doch scheuen sich selbst erfahrene Frauen und Männer, frei zu predigen. Dabei muss man weder Naturtalent noch ein Spontankünstler sein. Es ist eher wie beim Fahrradfahren. Anfangs dauert es ein wenig, aber dann geht es wie von alleine. Also – nur Mut!
Entdeckung
Zum Anfang ein Bekenntnis: Gute Reden haben mich schon immer fasziniert. Um ehrlich zu sein: Packende Reden sind für mich anziehender als Bücher, Zeitschriften oder ein Blick ins Internet. So wie ich ein lebendiges Gespräch dem Briefverkehr vorziehe, so empfinde ich auch die Rede oft im Vorteil gegenüber dem gedruckten Wort. Natürlich ist das nicht immer und in jedem Fall so. Schließlich gibt es ja nicht nur gute, sondern auch langweilige, mittelmäßige und auch sehr schlechte Reden. Aber die Rede besitzt – im Idealfall – einen Zauber, den ein Buch zwischen seine zwei Deckel so nicht einfangen kann.
Erlebnis Rede
Ich vergesse nicht, wie ich als junger Schüler zum ersten Mal eine Dokumentation über den amerikanischen Bürgerrechtler Martin Luther King sah. Ja, der Film hatte eine lausige Qualität. Die Lehrerin brauchte geraume Zeit, bis die Rolle fest im Abspielgerät saß. Dann lief der Apparat mit einem leichten Surren an. Die ersten Bilder zeigten die typischen grauen Streifen und Kratzer. Und plötzlich war er zu sehen: Martin Luther King. Dort stand der Baptistenpastor vor dem Lincoln Memorial, eingerahmt von freiwilligen Helfern und Polizisten. Über 250 000 Menschen waren in Washington D.C. versammelt. Und King begann, seinen – heute weltberühmten – Traum zu erzählen, damals am 28. August 1963. „Ich habe einen Traum“, sagte er, „dass sich eines Tages diese Nation erheben wird.“ Und weiter:
Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können.
Ich war wie elektrisiert. Ich fühlte plötzlich etwas von der Macht des gesprochenen Wortes. Damals habe ich gespürt: Wir können nicht groß genug von der Rede denken.
Die öffentliche Rede setzt einzelne Menschen in Bewegung, sie führt verfeindete Männer zusammen, und sie macht Geschichte. Später lernte ich auch noch andere „große Reden“ kennen, etwa die des britischen Premierministers Winston Churchill vom 13. Mai 1940. Während der Schlacht um Frankreich hielt er seine erste berühmte „Kriegsrede“ vor dem englischen Unterhaus. „Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß“ (im englischen Original: „blood, toil, tears, and sweat“) malte er den Abgeordneten vor Augen, aber auch die Aussicht auf einen Sieg gegenüber Nazi-Deutschland. Oder etwa die Antrittsrede von John F. Kennedy 1961 als Präsident: „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst.“ Oder seine Ansprache am 26. Juni 1963 in Berlin. Zwei Jahre nach dem Mauerbau drückte er seine Solidarität mit der Berliner Bevölkerung aus:
Vor zweitausend Jahren war der stolzeste Satz: „Ich bin ein Bürger Roms.“ Heute, in der Welt der Freiheit, ist der stolzeste Satz: „Ich bin ein Berliner.“
Diese Sätze haben sich tief in das Gedächtnis der deutschen Geschichte eingeprägt. Unvergesslich bleibt in Deutschland auch die Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges. Weizsäcker nannte den 8. Mai für die Deutschen keinen Grund zum Feiern, wohl aber einen Tag der Erinnerung anlässlich der Befreiung vom Nationalsozialismus. Es wurde eine Rede, die von der internationalen Presse hoch gelobt wurde und das Ansehen Deutschlands weiter festigte. Gegenwärtig sind es die Reden von Barack Obama, die viele Menschen begeistern. Seine Reden im Wahlkampf haben das möglich gemacht, was sich viele nicht in ihren kühnsten Träumen vorstellen konnten: Ein 46-jähriger Afroamerikaner wird amerikanischer Präsident. Einfach atemberaubend. Manches an ihm erinnert an Martin Luther King. Wo gibt es sonst demokratische Politiker, die so sehr die Menschen bewegen können? Unvergesslich wird auch seine Rede im Juni 2009 in Kairo bleiben, in der er sich an die islamische Welt wandte.
Faszination Predigt
Ja, gute Reden begeistern mich, aber noch mehr tun es gute Predigten. Ich sage das nicht, weil man das von mir erwarten könnte. Nein, ich kommentiere hier meine eigene Erfahrung. An dieser Stelle bin ich Enthusiast. Die Kirchenheizung mag unterkühlt sein, meinetwegen kann auch die Klimaanlage ausfallen oder die Musik nur mittelmäßig daherkommen – das wird zur Lappalie. Denn: Eine gute Predigt entschädigt für alles.
Warum? Es ist die urchristliche Erfahrung, dass in einer guten Predigt zu der Stimme des Predigers die Stimme Gottes hinzutritt. Ja, ab einem gewissen Punkt nimmt der Zuhörer gar nicht mehr den Menschen wahr, der dort predigt, sondern Gott selbst. Das ist ein wahres Wunder. In seinem ersten Brief an die Gemeinde in Thessalonich finden wir eine Beschreibung eines solchen „Predigtwunders“. „Wir danken Gott unaufhörlich“, schreibt der Apostel, „dass ihr die Botschaft, die wir euch brachten, als Wort Gottes aufgenommen habt – nicht als Menschenwort, sondern als Wort Gottes, das sie tatsächlich ist“ (1. Thessalonicher 2,13; GNB). Es ist das Erlebnis, das Jesus Christus seinen Jüngern versprochen hat: „Wer auf euch hört, hört auf mich“ (Lukas 10,16; HFA).
Mein Fazit: Durch gute, politische Reden werden Menschen von anderen Menschen bewegt. Eine gute Predigt aber vermag mehr. In ihr kommt Gott selbst zur Sprache, sie wird zum Medium des Heiligen Geistes. Sie ist, um Martin Luther zu zitieren, der „größte Gottesdienst“, ja, „das Beste, das wir haben“.
Krise
So weit die gute Nachricht. Die andere Seite ist leider, dass die christliche Predigt unter argen Problemen leidet. Seit etlichen Jahren sprechen Theologen ungeniert von der „Krise der Predigt“. Gerade evangelische Kirchen und Freikirchen spüren sie hautnah. Schließlich sind sie ja als „Kirchen des Wortes“ angetreten, die Predigt neu in den Mittelpunkt des Glaubens zu stellen. Gab es in der römischen Kirche oft eine Messe, die ganz ohne Predigt auskam, so entdeckten die Reformatoren die lebendige Predigt neu. Die Predigt als „lebendige Stimme des Evangeliums“ (lateinisch: viva vox evangelii) – das war die große Vision der evangelischen Christen. Ihr galt die ganze Aufmerksamkeit, sie war das Qualitätsmerkmal schlechthin. Für sie lief man meilenweit, um sie zu hören. Ganze Generationen von Pastoren und Pfarrern definierten ihren Beruf zuallererst durch die Predigt. Man verstand sich als „Diener des göttlichen Wortes“. Doch von dieser Begeisterung ist heute nur noch wenig zu verspüren. Im Gegenteil: War die Predigt früher das Herz, mutiert sie heute mehr und mehr zum Appendix, zum Blinddarm des Gottesdienstes.
Immer mehr Christen trauen der Predigt immer weniger zu. Schließlich, so die landläufige Meinung, handele es sich hier ja nur um bloße „Worte“. Beim Begriff des „Predigens“ schwingt in der deutschen Sprache mittlerweile schon etwas Abwertendes mit. Eine „Gardinenpredigt“ hält der Vater seiner Tochter, wenn sie abends zu spät nach Hause kommt. Und in der Firma fühlt sich der Mitarbeiter von seinem Vorgesetzten „angepredigt“, wenn unangenehme Dinge zur Sprache kommen. Nein, mit der Predigt scheinen heute weder Blumentöpfe noch Menschen gewonnen werden zu können.
Fluchtversuche
Und die frustrierten Predigerinnen und Prediger? Sie suchen auf unterschiedlichen Wegen ihre Rettung. Das Motto „Weniger ist mehr“ ist eine solche populäre Verheißung. Früher, ja, da war es üblich, an den Kanzeln vier Sanduhren mit je einer Viertelstunde Durchlaufzeit zu montieren. Der Hinweis war klar: Nach der vierten Sanduhr sollte der Prediger seine einstündige Predigt auch wirklich abschließen. Heute gelten ganz andere Zeitzonen. Eine Sanduhr würde da vollkommen genügen. „Du darfst über alles predigen, nur nicht über zehn Minuten“, so sagte mir ein Pastor mit klugem Kennerblick. Ja, frage ich mich, haben wir denn gar nichts mehr zu sagen? Ich empfinde diesen Ratschlag, so oft ich ihn auch höre, als ausgesprochen lächerlich. Er klingt wie der Ausverkauf des geistlichen Tafelsilbers. Politiker liefern zweistündige Programmreden, um das Parteivolk anzufeuern, Kabarettisten unterhalten einen ganzen Abend lang ein entzücktes Publikum. Und der Prediger will schon nach zehn, zwölf Minuten verstummen? Angeblich, weil schon alles gesagt sei? An die Stelle der Predigt rücken dann noch mehr Lieder, noch mehr Liturgie, noch mehr Bilder und noch mehr Schweigen. Eine traurige Entwicklung, wie ich meine.
Hauptsache und Nebensachen
Aber es gibt auch ernsthafte Versuche, die Qualität der Predigt zu erhöhen. Die Lehre der Rhetorik, d.h. der Redekunst, bietet ein weites Spektrum an Verbesserungschancen. Der eine besucht den Logopäden, lernt das Zungen-R zu rollen und die End-Konsonanten nicht zu verschlucken. Die andere schaut beim Gesanglehrer zu, wie tieferes Atmen und eine klangvollere Stimme möglich sind. Wieder andere sind im Workshop mit Theater-Profis unterwegs, um gerade und unverkrampft zu stehen. Um jedem Missverständnis vorzubeugen: Das alles hat ohne Zweifel seinen Wert und ist nicht abwegig. Mit diesem Buch möchte ich allerdings einen anderen Weg aus der angesprochenen Misere vorstellen. Es ist ein Weg, der – wie ich später zeigen werde – in die Blütezeiten der christlichen Predigt zurückführt und für den auch inhaltliche Gründe sprechen.
Ich meine die freie Predigt, also eine Predigt, die beim Vortrag auf ein Manuskript verzichtet. Die genannten Wachstumsfelder wie Gestik, Mimik, Stimmschulung usw. sind in den meisten Fällen eher nachgeordnete Felder. Wer sie in Angriff nimmt, tut bestimmt etwas Gutes, aber er verharrt lediglich im Bereich der Einzelheiten. Warum nicht den Stier bei den Hörnern packen und das lernen, was jahrtausendelang in der klassischen Rhetorik und der christlichen Predigt gängig war? Die Predigt ohne Manuskript auf der Kanzel, so die These dieses Buches, ist nicht irgendein rhetorischer Trick oder ein neuer Trend. Sie revolutioniert Vorbereitung, Durchführung und Persönlichkeit des Predigers.
Die freie Predigt gleicht einem Schalthebel, einem archimedischen Punkt, der viele andere Probleme mit einem Schlag aus der Welt schafft. Die freie Predigt verändert alles: die Zuhörer, die Inhalte der Predigt, ja, den Prediger selbst. Es ist ja bekannt: Menschen hören frei gehaltenen Reden viel lieber zu als solchen, die abgelesen werden. Das gilt erst recht für die Predigten im Gottesdienst. Dennoch fürchten sich viele Prediger und Predigerinnen vor ihr. Ich denke: zu Unrecht. Sicher ist der Anfang wie alles Neue – mit Unsicherheiten verbunden. Aber der Gewinn ist weit größer als die Kosten.
Die „Freiheit der Predigt“ eröffnet einen regelrechten Perspektivwechsel. Manchmal erinnern unsere Kirchen und Gemeinden unweigerlich an die Redekultur unserer Parlamente. So heißt es im §33 der Geschäftsordnung des Bundestages: „Die Redner sprechen grundsätzlich in freiem Vortrag. Sie können hierbei Aufzeichnungen benutzen.“ Die Wahrheit ist aber, dass leider nur ein geringer Anteil der Parlamentarier wirklich frei spricht. Die allermeisten Politikerinnen und Politiker halten sich verkrampft am Pult am Manuskript fest und lesen ab. Es ist ein Trauerspiel für die Demokratie. Und es scheint, als setze sich diese Tragödie Sonntag für Sonntag in den Kirchen fort.
Meine ganz eigene Entdeckung
Ich werde nicht vergessen, wie ich als Student das erste Mal eine freie Predigt selbst erlebte. Ich saß nichts ahnend in einem Gottesdienst, irgendwo an einem verregneten Sonntag in Hamburg. Ohne große Beteiligung erwartete ich die Predigt. Der Pastor trat hinter die Kanzel und formulierte ein paar einleitende, freundliche Sätze. Er sprach ein Gebet und las den entsprechenden Bibeltext vor. Und dann – das hatte ich bis dahin noch nicht erlebt – trat er mit seinem Handmikrofon und sonst nichts vor die Kanzel. Und er predigte. Er sprach sage und schreibe etwa 40 Minuten, ohne dass für mich je ein Gefühl der Länge oder Langeweile eintrat. Er predigte frei und konnte deshalb die Zuhörer ansehen und sich ihnen zuwenden. Ich war vollkommen fasziniert.
Ich merkte, dass diese Form der Predigt ein echter Quantensprung gegenüber aller gängigen Predigtpraxis war. Wer so spricht, das war mein Eindruck, der braucht sich keine Sorgen um die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zu machen. So, das fühlte ich, würde ich auch gerne einmal predigen. Aber gleichzeitig nistete sich bei mir der Eindruck ein, es handele sich hier vielleicht um ein besonderes Talent. Dieser Prediger erschien mir als eine Ausnahmeerscheinung, die ich eigentlich nicht kopieren könne. Und so hatte dieses Erlebnis zunächst einmal keine Folgen. Ich lernte in meinem Studium, die Predigten abzulesen, und so praktizierte ich es auch in meinem ersten Predigtjahr.
Der persönliche Umschwung kam, als ich als frischgebackener Pastor an einer Studienfahrt in die USA teilnahm. Wir besuchten Gemeinden und Kirchen in Illinois. Und da begegnete ich dem Phänomen der freien Predigt wieder. Nur mit dem Unterschied, dass es dort sehr verdichtet auftrat. Kein Mensch nahm außer der Bibel ein Manuskript mit auf die Kanzel. Ob Männer oder Frauen, Lutheraner, Reformierte, Baptisten oder Charismatiker – sie predigten fast alle frei. Und sie straften auch das heimliche Vorurteil Lügen, dass freie Reden inhaltsleer sind. Das Gegenteil war der Fall. Glasklare Gedanken paarten sich mit tiefen Gefühlen und sprachlicher Eloquenz. Ein Amerikaner drückte es so aus: Eine gute Botschaft braucht auch immer eine gute Form.
Und es stimmt ja: Das Evangelium ist schlechthin die „Gute Nachricht“ von der Liebe Gottes in Jesus Christus. Sollten wir deshalb nicht alles daransetzen, sie so weiterzugeben, wie sie am ehesten gehört wird? Mich haben diese Begegnungen von damals nicht mehr losgelassen. Warum sollten nur die Amerikaner so predigen können und wir nicht? Und ganz vorsichtig habe ich versucht, frei und freier zu sprechen. An Übungsfeldern mangelte es nicht, schließlich musste ich jeden Sonntag auf die Kanzel. In den Anfängen konzentrierte ich mich auf einzelne Abschnitte, etwa die Einleitung oder einzelne Sinnstrecken. Später traute ich mich, ganze Passagen frei zu sprechen. Und irgendwann, nach einigen Wochen, war es dann so weit: Ich konnte frei predigen.
Im Rückblick erinnert mich dieser Prozess ein bisschen an das Schwimmenlernen. Ja, zuerst ist es wie ein Sprung ins kalte Wasser. Und sicher wird man die ersten Male auch auf den Rettungsring eines schriftlichen Manuskripts nicht verzichten wollen. Und vielleicht gehen Sie auch mal unter. Doch mit der Übung kommt das Können. Und so wie fast jeder Mensch schwimmen lernen kann, so kann auch beinahe jeder Prediger frei sprechen lernen. 15 Minuten, 30 Minuten – das alles liegt durchaus im Bereich des Möglichen.
Entscheidend ist der Wunsch, es zu üben und auszuprobieren. Der Rest ist Peanuts. Ich habe in persönlichen Gesprächen und auch im Rahmen von Seminaren immer zum freien Predigen ermutigt. Die Erfahrungen sind durchweg positiv. Mein Appell an Sie ist: Versuchen Sie es auch. Sie werden es nicht bereuen.
Gut für den Prediger
Schon in der Antike war man überzeugt: Zu einer umfassenden Bildung gehört das öffentliche und freie Reden. „Nichts Schöneres“, meinte der römische Rhetoriker Quintilian (gest. 96 n.Chr.), „haben die unsterblichen Götter dem Menschen gegeben als die Majestät der Rede.“ Im angelsächsischen Raum gibt es hier vielleicht eine breitere Tradition als bei uns. Schulen, Kirchen und Universitäten bieten viele Foren, wo das freie Reden schon von Kindesbeinen an gelernt werden kann. Wer hier reden lernt, gewinnt etwas für seine ganze Persönlichkeit: Schlagfertigkeit, sprachliches Feingefühl und Selbstbewusstsein. Und das gilt natürlich auch für das freie Predigen. Ein ganzer Kosmos der Möglichkeiten tut sich auf.
Fünf Argumente
Wer mit anderen über das Thema freie Predigt spricht, muss sich wappnen. Erfahrungsgemäß kommen immer wieder handfeste Vorurteile zur Sprache. Zwar treffen diese meist nicht den Kern der Sache. Aber diese Meinungen müssen ernst genommen werden, lenken sie doch den Blick auf verwilderte Formen der freien Predigt, die es auch gibt. Der bekannteste Vorwurf lautet: Wer frei redet, fängt schnell an zu schwadronieren. Ohne Zettel rede man dominosteinartig. Wie ein Stein auf den nächsten folge, so gebe ein Wort das andere, es komme zur berüchtigten Gedankenflucht. Die Rede wachse ähnlich den wuchernden Korallenpolypen; man ergehe sich weitschweifig in den unterschiedlichsten Themen, lasse und breite sich unkontrolliert über Nebensächlichkeiten aus.
Ja, gedankenloses Reden ist eine latente Gefahr – wenn man sich nicht vorbereitet. Darum trifft sie aber nicht das Modell des freien Predigens. Die freie Predigt ist keine Stegreifrede, die aus dem Ärmel geschüttelt wird. Sie geschieht nicht „aus dem Stand“, ist auch nicht „aus der Luft gegriffen“, sondern setzt – wie ich an späterer Stelle zeigen werde – eine gewissenhafte Vorbereitung unbedingt voraus. Das schließt – je nach Anlage – mit ein, die Gedanken zu verschriftlichen und ein mehr oder weniger umfangreiches Manuskript zu erstellen. Die freie Predigt unterscheidet sich zu der weithin bekannten Predigt in der Art und Weise, wie sie vorgetragen wird: nämlich grundsätzlich ohne Manuskript.
Ein weiterer Vorwurf, der in dieselbe Richtung zielt, äußert sich in der Sorge, der freie Prediger bleibe immer wieder bei seinen Lieblingsgedanken hängen. Ähnlich der Nadel bei einer zerkratzten Schallplatte gerate er ständig auf das immergleiche Thema. Nun, auch diese Angst ist berechtigt. Aber sie ist wohl eher grundsätzlicher Natur und betrifft sowohl freie als auch vorgelesene Predigten.
Ein ganz normaler Gottesdienst
Ich lade Sie zu einem kleinen Gedankenspiel ein. Versetzen Sie sich für einen Moment in einen christlichen Gottesdienst. Vielleicht stellen Sie sich den Gottesdienst vor, den Sie selber immer besuchen, oder auch einen, der typisch für Ihre Kirche oder Gemeinde ist. Lassen Sie Ihrer Fantasie freien Lauf. Verschiedene Elemente gehören zu einem solchen Gottesdienst. Wir konzentrieren uns ganz auf die Predigt. Was geschieht? Ein Mann, eine Frau oder gar Sie selbst erheben sich. Man tritt hinter die Kanzel bzw. das Pult. Es herrscht in diesen Sekunden meist eine gespannte Aufmerksamkeit. Die Leute erwarten etwas Interessantes, wollen wissen, was nun kommt. Manchmal sind es einleitende Worte, oft wird ein biblischer Text vorgelesen – unsichtbar gehen die Zuhörer auf Empfang, fahren sozusagen ihre geistigen Antennen aus. Die Predigt beginnt. Keine Frage, sie ist solide vorbereitet. Kommentare wurden bemüht, die politische Großwetterlage und der kleine Kosmos der Gemeinde sind fest im Blick. Doch nach vier, fünf Minuten passiert das Unweigerliche. Der Empfang wird gestört, der Faden reißt ab, die Sendung landet nicht mehr bei den Hörern. Sicher, wer jetzt genau hinhört, versteht schon noch, was gesagt werden will. Doch für die meisten Zuhörer ist „der Zug abgefahren“. Die Leichtigkeit ist verloren, die Predigt geht über ihre Köpfe hinweg. Und was ihren Kopf nicht erreicht, kann auch nicht mehr ihr Herz bewegen. Es ist eine bittere Erfahrung: Die Leute loggen sich aus und machen sich eigene Gedanken.
Sie erinnern sich an Ihre Sorgen oder denken an den geplanten Sofaabend mit Ihrer Frau/Ihrem Mann, bei dem Sie sich den Sonntagskrimi ansehen wollen. Übertreibe ich? Vielleicht. Wahrscheinlich aber nicht. Tatsache ist, dass viele solcher Kommunikationsstörungen zwischen Prediger und Gemeinde vorkommen. Oft, viel zu oft, sind sie leider die Regel. Sicher, Gründe kann man überall verorten. Wem gar nichts mehr einfällt, gibt ganz fromm dem „geistlichen Klima“ die Schuld oder meint sogar, das Merkmal des Evangeliums sei eben „Erfolglosigkeit“. Dass nur so wenige Menschen der Predigt zuhören und ihr folgen, sei eben nicht zu erklären. Mag sein, dass diese Antworten im Einzelfall stimmen. Nicht selten liegt das Problem aber schlicht auf der menschlichen Ebene: Es hapert an der Vermittlung. Aurelius Augustinus (354–430 n.Chr.), Bischof der nordafrikanischen Kirche, einflussreicher Theologe und glänzender Prediger seiner Zeit, meinte jedenfalls, dass mindestens zwei Merkmale einen guten Prediger kennzeichnen:
Der ist der beste Redner, der erreichen kann, dass sein Zuhörer Wahres hört und das, was er hört, versteht.