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 Magnus Malm • Gott braucht keine Helden | Ihm dienen– und dabei echt sein • Aus dem Schwedischen von Dr. Friedemann Lux • SCM R.Brockhaus

Die Edition   AufAtmen
erscheint in Zusammenarbeit zwischen
SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag, Witten
und dem Bundes-Verlag, Witten.
Herausgeber: Ulrich Eggers

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ISBN 978-3-417-22771-0 (E-Book)
ISBN 978-3-417-26619-1 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
CPI books GmbH, Leck

9. Gesamtauflage 2015
© der deutschen Ausgabe 1997
SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG • Bodenborn 43 • 58452 Witten
Internet: www.scmedien.de; E-Mail: info@scm-brockhaus.de

Die Bibeltexte stammen, wenn nicht anders angegeben aus folgender Übersetzung:
Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Umschlaggestaltung: Medienagentur Hallenberger, www.hallenberger.com
Titelbild: Dzm1try / shutterstock
Satz: Christoph Möller, Hattingen

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe

An den Leser

Machthaber?

1. Der Ruf

»Was ist meine Berufung?«

Gott braucht uns nicht

Komm!

Den Punkt der Wahrheit finden

Frei zur Nachfolge?

Die Hauptaufgabe

»Suchet mein Angesicht«

Durchscheinendes Leben

2. Die Sendung

Geh!

Als Diener

Freunde und Mitarbeiter

Pfarrers Ehe, Müllers Vieh

Glauben wagen

Zum Kampf bereit

Was bringt es?

Gebet eines Leiters

Anmerkungen

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Wir sitzen bei Kerzenlicht, Fladenbrot und Käse am flackernden Kamin eines schwedischen Holzhauses und lernen uns kennen. Seit mehr als zehn Jahren sind wir als Kollegen in Kontakt, aber noch nie hat es mit einem persönlichen Treffen geklappt. Jetzt ist es endlich so weit. Gerade sind wir von einem ausgiebigen Spaziergang durch die weite Natur rund um das Malm’sche Haus zurückgekommen, haben die riesigen Teppiche blühender Buschwindröschen, die moosüberwucherten Steinmauern und Magnus’ Hund und Pferd auf der Koppel bewundert. Hundert Meter weiter steht eine gemütliche alte Dorfkirche unter hohen alten Bäumen, und ein paar Schritte nach rechts liegt die Schule, an der Elisabeth, Magnus’ sympathische Frau, unterrichtet. Alles in allem: ein Idyll.

Das war aber nicht immer so in Magnus’ Leben: intensive Arbeit an einer geistlichen Zeitschrift, Aufbau eines Verlages, internationale Kontakte, Leben in einer kleinen christlichen Wohngemeinschaft: ein hektisches, engagiertes Leben, bei dem Ehe, vier Kinder und auch die Beziehung zu Gott und sich selbst am Ende offensichtlich zu kurz kamen. Gern haben wir hin und wieder Artikel von Magnus Malm nachgedruckt und Kontakt zu seiner Redaktion gehalten. Irgendwann hörte ich dann, dass es eine Krise gebe, danach, dass er ausgeschieden sei und ein Sabbatjahr einlege. Schließlich kamen wir erneut in Kontakt, als er schon Retraiten für lutherische Pfarrer leitete und sich aufs Land zurückgezogen hatte.

Immer wieder versuchte ich in der Folgezeit, ihn einmal als Referent zu einem Seminar oder Festival einzuladen. Ich kannte ja seine Artikel und fand seine genauso praktisch-ehrliche wie geistliche Art immer sehr erfrischend. Gänzlich unbeeindruckt und mit großer Beständigkeit erhielt ich Absagen von ihm. Niemals mehr, so schien es, wollte Magnus in die Spirale aus zu viel Arbeit und Aufgaben kommen, die ihn damals in Probleme gebracht und letztlich auch zu diesem Buch veranlasst hatten. Im Gegenteil: Seine Briefe enthielten sogar ungewöhnlich offene und kämpferische Fragen:

Er könne kaum verstehen, wie ich zwei Zeitschriften, Lebensgemeinschaft und verschiedene andere Projekte unter einen Hut bekäme. Da müsse doch irgendetwas zu kurz kommen, und ich solle mal sehr aufpassen und ihn mit Einladungen in Ruhe lassen. Gerne könne ich aber mal zum Kennenlernen vorbeikommen.

Jetzt sitzen wir zusammen, tauschen Erfahrungen aus und schmieden Pläne für eine deutsche Ausgabe seines Buches. Eine eigenartige Begegnung: Magnus, der so aussieht, wie man sich einen schwedischen Einsiedler vorstellen könnte, bringt ganz eigene, unabhängige Akzente ein – natürlich stark geprägt von seiner Geschichte, den Problemen seiner Lebenskrise und den neuen Erfahrungen mit den Einkehrzeiten, die seinen Alltag bestimmen. Ein sehr anderes, frisches Denken ist das, unbeirrt auf seine Erfahrungen pochend, kantig, frei und unbequem, zugleich aber durch und durch biblisch.

Ganz so, wie ich auch dieses Buch empfinde: Magnus Malms Gedanken bringen frischen Wind in das alte Thema Berufung, Arbeit für Gott und persönliche Nachfolge. Es rückt eingefleischten frommen Profis kräftig den Kopf zurecht und weist sie mit Nachdruck auf die alles entscheidende Ebene der persönlichen Gottesbeziehung. Hier ertönt ein ganz anderer Klang: Dieses Buch kann uns eine neue Gelassenheit geben und vor Selbstüberschätzung bewahren. Zugleich ist es eine Ermutigung zum Dienst, die sich klar auf den biblischen Befund gründet und eine Menge persönlicher Erfahrungen widerspiegelt. Es mahnt uns aber auch, unsere Motive immer wieder neu zu prüfen: Dienen wir unserem Ego – oder wirklich unserem Gott? Mir scheint: Dieses Buch kommt zur rechten Zeit.

Ulrich Eggers

An den Leser

Wenn wir unsere Geschichte mit Abraham beginnen lassen, hat die christliche Kirche an die viertausend Jahre Erfahrungen mit den verschiedensten Formen geistlicher Führung gesammelt. Manche dieser Erfahrungen können als vorbildlich gelten, andere sind abschreckend; von beiden können wir viel lernen. Meine eigenen geistlichen Leitungserfahrungen erstrecken sich über ganze zwanzig Jahre. Sie standen meist in einem ökumenischen Kontext und umfassen verschiedene Gebetsgruppen, acht Jahre Leben in einer Großfamilie, verschiedene Formen der Gemeindearbeit und fünfzehn Jahre als Redakteur der Zeitung Nytt Liv (»Neues Leben«). Auch diese Erfahrungen sind natürlich eine Mischung aus Erfolg und Misserfolg, und ich habe versucht, von beidem zu lernen.

In diesem Buch schöpfe ich aus diesen beiden Quellen: der Geschichte der Kirche und meiner eigenen Erfahrung. Die direkteren Anspielungen auf Letztere habe ich im Großen und Ganzen auf einen kurzen Abschnitt im Kapitel »Was ist meine Berufung?« beschränkt, aber ich kann dem Leser versichern, dass jedes Kapitel aus meinen eigenen persönlichen Lebensringen entstanden ist. Dieses Buch ist daher nicht als fertige theologische Abhandlung über das geistliche Leiteramt gedacht oder als Handbuch des Know-hows des geistlichen Führens und schon gar nicht als »Diskussionsbeitrag«. Das Buch will vielmehr den Leser zur persönlichen Selbstprüfung und zum Arbeiten an sich selbst einladen. Es baut darauf, hier und da zum Spiegel für das eigene Leben und das eigene Leiteramt des Lesers zu werden. Eine seiner Hauptthesen ist nämlich, dass die Art, wie wir führen, untrennbar verbunden ist mit der Art, wie wir leben. Ein solches Arbeiten an sich selbst kann man natürlich nicht »machen«, und das Buch ist ausdrücklich nicht zum raschen »Diagonallesen« gedacht.

Als Mann habe ich dieses Buch aus einer männlichen Perspektive geschrieben. Ich habe, schon um der sprachlichen Eleganz willen, bewusst vermieden, Formulierungen wie »der Leiter/die Leiterin«, »ihn/sie« usw. zu verwenden. Dies bedeutet selbstverständlich keine Stellungnahme gegen die Frau als geistliche Leiterin; die Gemeinde braucht auch Frauen als Leiterinnen, damit sich in der Leitung Gottes ganzes väterliches und mütterliches Wesen widerspiegeln kann.

Dieses Buch wendet sich an christliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen jeder Kategorie, von denen ohne Amt und Würden bis hin zu »Amtsinhabern« der verschiedensten Art. Falls der Leser trotzdem eine Schlagseite in Richtung Pastor entdeckt, beruht diese wohl darauf, dass ich in vielen Fällen vereinfachend von »der Gemeinde« rede und nicht von Jugendkreisen, Kindergottesdienst, Gebetskreisen usw. Ich hoffe, dass der Leser trotzdem die Grundgedanken auf seine eigene Situation anwenden kann.

Hiermit widme ich dieses Buch den lieben Freunden, die in all den Jahren versucht haben, einen Menschen aus mir zu machen, und die trotzdem noch meine Freunde sein wollen. Ganz besonders gilt dies für Elisabeth, die seit nunmehr fast sechzehn Jahren meine Frau und Gottes große Gabe an mich ist.

Asklanda/Schweden, im Januar 1990

Magnus Malm

Machthaber?

»Trau keinem von denen da oben …« Wann es angefangen hat, weiß keiner so genau, aber wir erleben jetzt schon seit längerer Zeit und in vielen gesellschaftlichen Bereichen den allmählichen Niedergang der moralischen Autorität von Führungspersonen. Dass »die da oben« selbstlose Diener der Allgemeinheit und nachahmenswerte Vorbilder sein sollten, wirkt im Lichte der Seifenoper des real existierenden Alltags schon fast komisch. Eine Machtintrige und ein Skandal folgen dem anderen, neue Enthüllungen, Beschwichtigungen und Dementis rauschen an uns vorbei. Ächzend und seufzend rollt die Weltkugel weiter, eher gebremst als angetrieben von den wackeren Bemühungen der Politiker.

1979 veröffentlichte der amerikanische Soziologe Christopher Lasch sein Buch The Culture of Narcicism (deutsch: »Das Zeitalter des Narzissmus«) – ein einflussreiches Werk, das unzählige andere gesellschaftskritische Darstellungen beeinflusste. Der Untertitel des amerikanischen Originals lautete: »Das amerikanische Leben in einem Zeitalter abnehmender Erwartungen«, aber das Buch ist – leider – nicht nur für Amerika aktuell. Lasch beleuchtet zahlreiche Aspekte jener Seelenkrankheit, die unsere gesamte Kultur, von der Kinderpsychiatrie bis zur großen Politik, befallen hat, und weist nicht zuletzt auf, wie sie sich wie ein Rostfraß auch in den Führungsetagen der Welt ausgebreitet hat und eine der Ursachen ihres Zerfalls ist.

Ein Narzisst – das scheint ein Mensch mit übergroßem Ich zu sein. Aber Lasch weist nach, dass es sich in Wirklichkeit um einen Menschen mit einem aufgelösten und unsicheren Ich handelt, und dass er gerade darum so auf sein Ich fixiert ist. Dies äußert sich unter anderem in folgenden drei Symptomen, die sich als verheerend für alle Formen von Führung erwiesen haben:

Pfeile Image statt Substanz. Es geht nicht mehr um die Wirklichkeit, sondern um den Schein. Wichtig ist nicht, dass einer Macht und Einfluss hat, sondern dass er den Anschein davon hat. Wichtig ist nicht, etwas zu wissen oder zu können, sondern als sachkundig zu gelten.

Wichtig ist nicht, dass man in seiner Person ein positives Ideal faktisch verwirklicht, sondern dass man einen vertrauenswürdigen Eindruck macht. Die berühmte These des Medienphilosophen McLuhan, »Das Medium ist die Botschaft«, bezog sich ursprünglich nur auf die Medien, speziell das Fernsehen; aber in dem Maße, in welchem die Massenmedien die Wirklichkeit nicht mehr abbilden, sondern sie konstruieren, beschreibt diese These auch uns selbst: »Ich bin das, was ich vermittle.« Das zeigt sich unter anderem darin, dass wir das Fernsehen als die Wirklichkeit schlechthin betrachten: »Den kenne ich aus dem Fernsehen« – dieser Satz bedeutet, dass jemand aus dem Schattenreich des Unsichtbaren herausgehoben und endlich wer geworden ist, weil ihn ja jetzt »alle« sehen. Was unsichtbar ist, das gibt es eigentlich nicht, das hat keinen Wert.

Pfeile Vom Beifall der anderen abhängig. Es handelt sich hier nicht um das natürliche Grundbedürfnis jedes Menschen nach Wertschätzung, sondern um eine absolute Abhängigkeit von den ständigen Schmeicheleinheiten unserer Umgebung: »Wir mögen dich.« Der narzisstische Mensch hat keinen festen Grund, keine Wurzeln. Sein Ich existiert buchstäblich nur in den Meinungen der anderen. Nach außen hin wirkt er sicher und selbstständig, aber in Wirklichkeit kann er ohne eine ihn bewundernde Umgebung nicht existieren. Ständig versucht er seinen Wert aus den Reaktionen der anderen abzulesen. Menschen, die noch mehr Charisma und Wichtigkeit ausstrahlen, ziehen ihn magnetisch an. Dies führt ihn in eine ständige Selbstbespiegelung, mit der er sich von all dem zu reinigen versucht, was seine Aktien bei den Mitmenschen sinken lassen könnte: Schwäche, Fettsucht, Müdigkeit, Hässlichkeit, Misserfolg, unpopuläre Meinungen, Altern, Angst, Krankheit, Zweifel, Unsicherheit …

Pfeile Das Ziel ist die eigene Befriedigung. Da der Narzisst zuinnerst davon überzeugt ist, dass die Welt keine Zukunft hat, bleibt ihm nur die Suche nach der Befriedigung seiner unmittelbaren Bedürfnisse. »Sinn« hat alles, was dieser Befriedigung dient – in krassem Gegensatz zur klassischen Sinnsuche des Menschen, bei der man seine Eigeninteressen einem größeren Ganzen außerhalb des eigenen Ichs unterordnet. Das narzisstische Ziel ist die Selbstbefriedigung auf allen möglichen Gebieten: Karriere, Sex, Essen, Freizeit, Beziehungen, Vergnügen, Kleider usw. Schwachheit und Versagen werden zu lebensbedrohenden Feinden, die man um jeden Preis bekämpfen, verleugnen und verdrängen muss. Der Gipfel der Schwäche ist natürlich der Tod, und folglich hält man sich den Gedanken an ihn durch ein endloses Kaleidoskop von Moden und Trends so weit wie möglich vom Leib. Ein ständiger Modenwechsel, bei dem nie etwas ausreifen oder verwelken kann, schafft die Illusion, dass das Leben ständig so frisch ist wie die Zeitung von heute Morgen.

Was für einen Führungsstil dieses Denkmuster hervorbringt, zeigt sich sowohl in der Politik als auch im »Starkult« überhaupt. Die Massenmedien, allen voran das Fernsehen, haben die Politik von Sachfragen, Sachkenntnis und Erfahrung weg in Richtung auf das Bildhafte, Vereinfachte und Verkaufbare rutschen lassen. Glaubwürdigkeit heißt das große Ziel der Imagepflege des heutigen Politikers. Es handelt sich dabei nicht mehr darum, Wahrheiten zu vertuschen oder Lügen zu verbreiten. Lasch schreibt, dass »die Kategorien von Wahrheit und Unwahrheit für eine Beurteilung [des] Einflusses [der Massenmedien] irrelevant sind. Wahrheit hat der Glaubwürdigkeit weichen müssen; Fakten sind ersetzt worden durch Behauptungen, die autoritativ klingen, ohne irgendeine gültige Information zu vermitteln.«1

Am deutlichsten zeigt sich das in Wahlkampagnen: Die Frage ist nicht, ob ein Politiker kompetent ist, sondern ob er sich gut verkauft. Am ausgeprägtesten ist dies natürlich in den USA, wo die Präsidentenwahlen immer mehr zu einem Duell der Werbeagenturen auszuarten scheinen. Doch auch in Europa ist die Botschaft der Massenmedien klar: Wer ein Land führen will, muss telegen sein. Meinungsumfragen werden zum ständigen Spieglein an der Wand, das dem Kandidaten zeigt, ob er noch der »Schönste im Land« ist. Skandale werden unter den Teppich gekehrt, innerparteiliche Konflikte geleugnet usw.

Dieser Kult der Äußerlichkeit findet seine konsequenteste Vollendung in der Welt der sogenannten Stars. Lasch schreibt: »Diese Zelebritäten blühen auf dem Humus der kritiklosen Bewunderung der Massen und geben im öffentlichen wie im Privatleben den Ton an, da der Starkult keine Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre anerkennt. Die beautiful people (die Schönen und die Reichen) … leben die Fantasie des narzisstischen Erfolgs aus, die aus nichts anderem als dem Wunsch besteht, überall und immer bewundert zu werden, und zwar nicht für seine Leistungen, sondern einfach als man selbst, unkritisch und ohne jeden Vorbehalt.«2

»Faszinierend« hat der Star zu sein, und das um jeden Preis. Treue, Reife, Konsequenz, Loyalität und dergleichen sind damit aus dem Rennen. Es bleibt nur noch das tragikomische Karussell aus Aufbrüchen und neuen Verbindungen, Enthüllungen und Scheindebatten, mit denen diese Menschen verzweifelt ihren Rang in der »Wirklichkeit« zu halten versuchen. Es ist ein Führungsstil, der die Bewertungen und Lebensstile des Durchschnittsbürgers auf verheerende Weise bekräftigt und zementiert.

Die ganz große Synthese aus Star und Politiker war natürlich Ronald Reagan, der Filmstar, der amerikanischer Präsident wurde. Er verkörperte das Führungsideal des Narzissmus auf eine ebenso charmante wie gefährliche Weise. Schon zu seiner Amtszeit war es ein offenes Geheimnis, dass er in wichtigen Fragen sehr wenig sachkundig und in den Händen wesentlich cleverer Berater war, wie später ein aufgerollter Skandal nach dem anderen bestätigt hat. Aber sein Image des zuversichtlichen, optimistischen Landesvaters ließ die US-Bürger ruhig schlafen; eine Meinungsumfrage nach der anderen zeigte, dass seine Popularität ebenso wenig unterzukriegen war wie sein Lächeln. Es war wichtiger, das Image eines starken Mannes zu haben, als das Land wirklich zu führen.

Doch Reagan ist nicht mehr Präsident, und der Erfolgsglitter der Yuppie-Ära verblasst vor den herben Realitäten der 90er-Jahre. Die Grünen-Bewegung hat sich über ganz Europa ausgebreitet und kämpft für alternative Lösungen – und auch für einen alternativen Führungsstil. Man wendet sich gegen jede Art von Personenkult und weigert sich kategorisch, Parteiführer zu haben. »Macht verdirbt alles«, lautet die Grundthese, und auf dass die Bewegung sich nicht in der Machtlust einzelner Personen festfahre, lässt man die Führungspositionen – es sind immer mehrere – nach dem Rotationsprinzip besetzen. Bezeichnend ist der Gebrauch des Wortes »Sprachrohr«: Der Leiter ist nichts, die »Bewegung« alles. In einem europäischen Parlament nach dem anderen sind die Jeans und Pullover der Grünen in die Krawattenriege des Establishments eingebrochen. Kleider machen Leute – und Führungsstile.

Aber sind die Führungsstile tatsächlich so verschieden? Das Ursprungsland der Grünen ist Deutschland, wo es aus historischen Gründen immer noch nicht wieder möglich ist, das Wort »Führer« zu gebrauchen. Dass der »Führer« das Vertrauen ihrer Großeltern so grausam ausnutzte, hat bei vielen jungen Deutschen ein tief sitzendes Misstrauen gegen alles geschaffen, was mit Führung zu tun hat. Diese Angst ist eine treibende Kraft in dem Führungsverständnis der Grünen; die Angst vor dem Missbrauch wiegt schwerer als die Vision von dem besseren Gebrauch. Ein Leiter – das bedeutet früher oder später Machtmissbrauch; ein Vorbild – das heißt irgendwann Verrat. Und so gilt es, Methoden zu finden, sich so etwas von Anfang an vom Leib zu halten.

Aber der Glaube an die führerlose Gemeinschaft erweist sich in der Realität stets als Traum. Wo man keine offene Führung zulässt, entwickelt sich stattdessen eine verdeckte, und die ist meist die schlimmere. Äsa Domeij von den schwedischen Grünen (Miljöpartei) hat es so ausgedrückt: »Die Macht in der Landesorganisation der Miljöpartei ist wie ein herrenloser Hund. Wer ihn als Erster einfängt, hat ihn.«3 Die Kompetenzverteilung ist unklar, die Beschlussfassung verwickelt und diffus – eine ständige Brutstätte für Konflikte, die in der Praxis die starken Ellbogen und schnellen Zungen begünstigt.

Mir scheint, dass heute Führungskompetenzen, auf der persönlichen Ebene wie in der Gesellschaft als Ganzem, immer mehr von der Wirtschaft wahrgenommen werden. Firmen und Konzerne erobern einen Bereich nach dem anderen. Sie sponsern Kulturveranstaltungen, Umweltschutz, Ausbildung, Forschung, Sport usw. Sie machen sich für neue politische Allianzen vom Typ der Europäischen Union stark. Die wirtschaftliche Supermacht unserer Tage ist Japan, das alles auf seine industrielle Entwicklung setzt und nur ein Prozent für seine Verteidigung ausgibt, was einiges darüber aussagt, wie man heute politischen Einfluss sieht. Und das Verhältnis zwischen reichen und armen Ländern wird in hohem Maße durch die Investitionen und Rohstoffkäufe der Großkonzerne diktiert. Die großen Unternehmen sind auch der Ort, wo man mit Hochdruck an der Entwicklung der Führungen der Zukunft arbeitet. »Reißt die Pyramiden nieder!« – mit diesem Ausspruch gab vor einigen Jahren SAS-Chef Jan Carizon einem Kind, das schon seit Langem geboren war, einen Namen. Der autoritäre Chef der alten Schule funktioniert nicht mehr in einer Welt, in der immer mehr Menschen hoch qualifiziert sind und ihr Stück vom Mitbestimmungskuchen fordern. Und so arbeitet man unter Aufbietung aller ökonomischen Ressourcen der Unternehmen an der Entwicklung neuer Leitungsstrukturen, wo alle Mitarbeiter Teilhaber am Entscheidungsprozess sind und die Rolle des Chefs die des Mobilisierers, Anregers und Wegweisers ist und nicht die des Alleinbestimmers. Es gibt viele Ausdrücke hierfür:

»Persönlichkeitsentwicklung«, heißt das Ziel unzähliger Beratungsfirmen, die Betrieben ihre Kurse verschiedenster psychologischer, manchmal auch religiöser Provenienz anbieten. »Time Management« ist allen wohlbekannt: der im eleganten Lederringbuch verpackte Terminplaner, Symbol der rechten Zeiteinteilung und Grundrüstzeug des Managers. Beim »Mentorsystem« trifft sich ein jüngerer Leiter regelmäßig mit einem erfahreneren Kollegen zu persönlicher Aussprache, Auswertung und Wegweisung. »Netzwerkmeetings« zu persönlichen Kontakten, gegenseitiger Inspiration und Hilfe verzweigen sich national und international und dienen als informelle Machtzentren wie als Pflanzschulen zur Leiterausbildung. Die Liste ließe sich noch wesentlich verlängern.

Und die Kirche?

Mitten in diesem Gewimmel lebt die christliche Gemeinde. Wie sieht es bei ihr in Sachen Führung aus? Über fast 1700 Jahre der europäischen Geschichte nahm die Kirche eine geistliche Führungsrolle wahr, die sie zuweilen mit weltlicher Macht vermengte und missbrauchte, die aber zu anderen Zeiten kulturell bahnbrechend war. Doch seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert scheint sich die Kirche in einem ständigen Rückzug zu befinden, und die Rollen sind gründlich vertauscht: Der Kaiser nimmt immer mehr, was eigentlich Gottes ist. Menschen innerhalb wie außerhalb der Kirchen fragen heute mit Bo Strömstedt von der Zeitschrift Expressen: »Wo sind unsere geistlichen Leiter geblieben?« Wer erwartet eigentlich noch geistliche Wegweisung von der Kirche? Oder Antworten auf die großen ethischen und politischen Fragen? Oder Hilfe in der Kulturdebatte und in der Kunst?

Ohne hier ins Detail zu gehen, können wir nach kurzem Überlegen feststellen, dass im Kielwasser der Säkularisierung die Kirche auch unter den Einfluss der vorhin genannten Führungsstiltrends geraten ist. Sicher, sie kann manches von der Welt lernen. Aber wo liegt die Grenze, hinter der solche Einflüsse sich gleichsam festfressen und den Kern geistlicher Leitung verändern?

Machen wir einmal, während einer ganz normalen Arbeitswoche, einen Besuch in einer Durchschnittsgemeinde in einer Durchschnittsstadt. Wie geht es dem Pastor/Priester? Wie dem Jugendleiter? Dem Sonntagsschullehrer? Dem Chorleiter? Haben sie den Eindruck, dass sie etwas bewegen? Oder fühlen sie sich als bloße Rädchen im Getriebe einer anonymen Struktur oder Organisation? Merken sie, dass sie einen entscheidenden Einfluss auf das geistliche Leben anderer Menschen haben? Oder haben sie den Eindruck, dass übermächtige Kräfte außerhalb ihrer Reichweite einen viel größeren Einfluss auf Werte und Lebensstile der Gemeindeglieder ausüben? Haben sie selbst ein reiches inneres Leben, aus welchem die ganze Gemeinde mitschöpfen kann? Oder saugt ihnen ihre Arbeit langsam das Mark aus und zwingt sie zu einem Leben im ständigen Defizit?

Alarmierende Berichte aus den unterschiedlichsten Gruppen und Situationen deuten an, dass die Antwort häufiger die zweite ist. Viele Pastoren haben eine tiefe Sehnsucht nach geistlichem Leben für sich und die Gemeinde, aber sehen sich in einem unentwirrbaren Knäuel aus Forderungen, Erwartungen und Loyalitäten gefangen, das sie nicht das tun lässt, was ihnen eigentlich am Herzen liegt. Sie fühlen sich eingesperrt in einem ständigen Spannungsfeld zwischen unvereinbar scheinenden Gegensätzen:

Traditionsbewusstsein der Älteren – Suche nach Neuem bei den Jüngeren. Die eine Gruppe, die immer Bibelstunden will – die andere, die auf die Straße will. Das von der Denomination geforderte Profil – die örtlichen Gegebenheiten. Der Einsatz in der Gemeinde – die Familie zu Hause. Verwaltungskram – geistliche Vertiefung. Suchende von außerhalb der Gemeinde – Bedürfnisse der Gemeindeglieder. Persönliches Gebetsleben – Dienst an den anderen. Programme der Kirchenleitung – persönliche Bedürfnisse der Menschen. Nötige neue Projekte – finanzielle Grenzen. Und so weiter und so fort.

Das Endergebnis ist oft ein Minimum an geistlicher Führung und ein Maximum an lästiger Geschäftigkeit. Der Zusammenprall all der widerstreitenden Forderungen erzeugt oft ein laues Durchschnittschristentum, mit dem so recht niemand zufrieden ist und das in vielen Seelen zu einer tiefen Müdigkeit führt. Für nicht wenige scheint das unausgesprochene »Ich tue es ja für den Herrn« das Einzige zu sein, das sie Jahr um Jahr durchhalten lässt. Und Gott ist so barmherzig, dass er trotz dieses Elends Menschen segnet.

Dies ist der Hintergrund, vor welchem wir die unwiderstehliche Anziehungskraft sehen müssen, die eine mehr autoritäre geistliche Führung auf viele Christen ausübt. Ein überwältigend großer Anteil der Mitglieder der vielen neuen freien Gruppen und Gemeinden der letzten zehn bis fünfzehn Jahre kommt aus Gemeinden des oben beschriebenen Typs. Sie sind es leid, das allzu schwerfällige Schiff – sie hungern nach tiefer geistlicher Wegweisung. Das Angebot dynamischer Gemeinschaft mit Gleichgesinnten, frei von dem alten Routineapparat, lockt sie an. Endlich klare, praktische Unterweisung durch jemanden, der nicht durch tausend Papierkriege, Krankenbesuche und Gemeinderatssitzungen gebunden ist!

Mit anderen Worten: endlich ein richtiger Seelenführer! Für viele Christen ist die autoritäre Variante charismatischer Führung die Erhörung jahrelanger Sehnsüchte. Die Theologie ist – mit lokalen Variationen – einfach und direkt: Gott führt seine Gemeinde durch bestimmte Männer, die vom Geist dazu gesalbt sind, und das Gemeindewachstum steht in direktem Verhältnis dazu, wie gut sie sich diesen Männern unterordnet und ihre Unterweisung befolgt. Probleme und Spaltungen bedeuten, dass der Geist der Auflehnung bestimmte Glieder befallen hat, die folglich entweder ihre Sünden bekennen oder die Gemeinschaft verlassen müssen.

Dass diese Struktur die geistlichen Führungsbedürfnisse der Gemeinde von der Bibel wie von der Praxis her unmöglich erfüllen kann, wird jedem, der Augen hat, rasch deutlich. Doch solches Hinsehen ist in diesen Gruppen verpönt. Zweifel, Fragen und andere Erfahrungen als die vorgeschriebenen werden sofort als Werke des Unglaubens und des Teufels abgestempelt. Es ist ein klassischer Meinungsterror, der frommere Worte benutzt als etwa Hitler oder Stalin, aber im Grunde den gleichen Mechanismen folgt. Wer sich nicht anpasst, wird bestraft.

Für viele gebrannte Kinder dieser Gruppen, die jetzt ratlos in der Wüste stehen, scheint die Sache mit der geistlichen Führung eine Wahl zwischen der Pest und der Cholera zu sein: Was ich auch tue, es ist das Falsche. Und die Resignation breitet sich aus wie ein grauer Eisnebel. Man schraubt seine Erwartungen zu einer winzigen Sparflamme herunter und kauert sich frierend vor dem Zukunftsdunkel hin …

Was tun? Zunächst einmal müssen wir anfangen, unsere Erfahrungen auszutauschen. Es dürfte mittlerweile hinreichend klar sein, dass wir dem christlichen Führungsproblem nicht dadurch beikommen, dass wir ein ums andere Mal den Superpastor X (aus welchem Land wohl?) importieren, der uns verzückt über sein explosionsartiges Gemeindewachstum berichtet, gegen das unsere Kirchen so richtig klein und hässlich sind. Auch nicht dadurch, dass wir den radikalen Dritte-Welt-Priester Y herbeischaffen und uns in die exotische Schilderung des Kampfes seiner Kirche flüchten, wo der Feind so schön eindeutig ist. Und auch nicht durch den Universitätstheologen Z, der uns aus dem grauen Gemeindealltag in die Glitzerwelt moderner Exegetik entführt.

Der schwedische Politiker und frühere UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld schrieb: »Gerade wenn wir alle die Sicheren spielen, schaffen wir eine Welt äußerster Unsicherheit.« Solange der Verkehr zwischen Pastoren durch Berufsrollenbilder, Verteidigung des eigenen Reviers und Fassadenpflege geprägt ist, wird sich nicht viel bewegen. Die »Guru-Vorträge« nach obigem XYZ-Modell vertiefen denn auch auf die Dauer unsere Frustration nur. Hat die anfängliche Begeisterung sich gelegt, bleibt als schaler Rest eine eher noch größere Distanz zu meiner Alltagswirklichkeit, ein noch größeres Gefühl des »Es bringt ja alles doch nichts«, noch größere Kühle und Schweigen im Umgang mit Kollegen.

Sobald wir jedoch darangehen, unsere Rüstung zu lockern und unsere wirkliche Lage bloßzulegen, werden ungeahnte Energien frei. Doch unsere inneren Widerstände dagegen sind gewaltig. Wir haben es nicht nur mit dem bei wohl allen Führungspersonen eingefleischten Widerwillen gegen das Zugeben eigener Schwäche zu tun, sondern auch mit jenem ersten Minderwertigkeitsgebot, das da lautet: »Was kann ich armes Würstchen schon über geistliche Führung sagen? Das soll einer machen, der mehr Erfolg hat!« Wir glauben ja immer, dass nur unsere Erfolge unseren Mitmenschen helfen können, und da wir unsere Erfolge für so mickrig halten, halten wir lieber den Mund.

Aber gerade an unseren schwachen Punkten können wir einander wirklich begegnen und etwas Neues wachsen sehen. Der Versuch, geistliche Führung auf Stärke und Erfolg zu bauen, kann nur zu Tyrannei und Zerbrechen führen. Sich an dem »Ich kann nicht mehr«-Punkt begegnen dagegen bringt Leben, Heilung und Gemeinschaft.

Weiter: Wir müssen uns gemeinsam auf die Suche machen und erforschen, was geistliches Leiten eigentlich ist. Offenbar besteht es nicht in amtlichen Rollen und Planstellen, auch nicht darin, dass man sich darauf beruft, von Gott bevollmächtigt zu sein. Das haben wir ja alles, und doch rufen die Menschen nach etwas anderem. Wonach?

Wir finden den gleichen Ruf nach Führung im 5. Kapitel der Johannesoffenbarung. Ein Engel ruft nach jemandem, der würdig ist, das Buch mit Gottes Zukunftsplänen zu öffnen. »Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun und hineinsehen« (Offenbarung 5,3). Da sieht der Seher ein Lamm, das wie geschlachtet aussieht, und ein brausender Lobgesang ertönt: »Du bist würdig, zu nehmen das Buch und aufzutun seine Siegel; denn du bist geschlachtet und hast mit deinem Blut Menschen für Gott erkauft aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen … Das Lamm, das geschlachtet ist, ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob« (Offenbarung 5,9-12).

Jesus, das Lamm Gottes, ist würdig, zu herrschen, weil er sein Leben für uns gegeben hat. Und seine Herrschaft besteht nicht in einer formellen Machtstellung, aus der heraus er sich die Menschen unterwirft; auch nicht in irgendwelchen autoritären Führungsansprüchen. Seine Herrschaft besteht in seinem Leben, das er für andere gegeben hat. Wir folgen ihm nicht, weil er unser Führer ist, sondern weil er es wert ist, dass man ihm nachfolgt. Sein ganzes Leben und Wesen ist so vertrauenerweckend, dass wir als freie Menschen in Liebe darauf antworten und ihm unser Leben übergeben, ohne jede Angst, dass er unser Vertrauen missbrauchen und uns etwas Böses tun könnte.

Man vergleiche dies mit der so ganz anderen Anbetung, die in Offenbarung 13,4 zu dem Tier emporsteigt, dem Machthaber des Bösen: »Wer ist dem Tier gleich, und wer kann mit ihm kämpfen?« Im frostig-schroffen Ton der Furcht steigt diese Anbetung hoch zu dem, der der Macht nicht würdig ist, sondern sie an sich gerissen hat. Die Anbetung des Tieres basiert auf angstschaudernder Unterwerfung, auf einer Herrschaft, die sich auf Gewalt, Zwang, Unterdrückung gründet. Sie ist Kapitulation vor dem Stärkeren, nicht ein freiwilliges Ja zu dem, der es wert ist, dass man für ihn lebt und stirbt.

Diese beiden so ungleichen Lobgesänge führen uns recht plastisch vor Augen, was geistliche Führung und was Herrschaft des Bösen ist. Jesus ist unser Herrscher und Führer und das einzig mögliche Vorbild für jede menschliche Führung. Ein Mensch, der andere geistlich führt, ist immer nur in dem Maße nachahmenswert, in welchem er Jesu Persönlichkeit widerspiegelt. Dieses Widerspiegeln kann ein leiser Hauch sein, ein Duft von Christi Gegenwart, ein flüchtiger Reflex seines Lichtes, und es kann eine ganze Persönlichkeit sein, die durch ihren Gehorsam zu Christus so von seinem Wesen durchstrahlt ist, dass sie die Menschen in Scharen zu Gott führen kann. Und es kann alles Mögliche zwischen diesen beiden Polen sein!

Hier finden wir die Heiligen, die echten Führer der Kirche. Gunnel Vallquist hat aus katholischer Sicht zusammengefasst, was eigentlich für die ganze Kirche gilt, die doch so dringend geistliche Wegweiser braucht; Heilige sind »… Menschen, die die adäquate Antwort auf die besonderen Fragen ihrer Zeit gefunden und verwirklicht haben. Oft wirkten sie als Reformatoren, und die Beschreibung ihres Lebens will zeigen, dass die Kirche stets Reformen braucht, dass ihre Geschichte eine ununterbrochene Kette aus Verfall, Verirrungen und Reformation ist und dass ihre wirklichen und einzigen Reformatoren eben die Heiligen sind. Oft wurden sie zu ihren Lebzeiten geschmäht, missverstanden, verdächtigt, aber vor ihrer wahrhaftigen Heiligkeit haben sich früher oder später auch jene Männer der Kirche gebeugt, die zu hochmütig waren, um auf andere scharfsichtige, aber weniger demütige Menschen zu hören, die gegen ihre Autorität rebellierten. Die Heiligen sind auch scharfsichtig, aber sie rebellieren nie. Sie sind loyal und gehorsam, aber niemals unterwürfig.«4

Da es hier um das gelebte Leben geht und weniger um Amt und Würde, berührt die Frage nach der geistlichen Führung alle Ebenen, von der Großkirche bis hinunter zur Kleinkindgruppe. An alle Menschen, die einen christlichen Einfluss auf ihre Umgebung ausüben möchten, stellt Christus als erste und entscheidende Frage diese: »Willst du dich von mir umgestalten lassen?«

1. Der Ruf

»Was ist meine Berufung?«

Schon als junger Christ begegnet man dieser Frage: »Hast du schon einmal überlegt, ob Gott dich nicht zum Jungscharleiter berufen hat? Oder zum Kindergottesdienst-Mitarbeiter? Zum Jugendleiter?« Und das hat er wohl, denn dort haben wir unsere ersten Leitererfahrungen gemacht. Aber so leicht werden wir die Frage nicht los. Wir werden älter, wir schließen die Schule ab, und die Frage kommt wieder, in neuem Gewand: »Hat Gott mich vielleicht berufen?« Womit wir für gewöhnlich meinen: »Will er vielleicht, dass ich Pastor, Priester, Evangelist, Missionar werde?« Gott kann einen natürlich in andere hauptamtliche Dienste rufen, aber Berufung im »großen« Sinne meint meist einen dieser christlichen Top-Berufe.

Viele junge Christen ringen mit dieser Frage, die ja so viele andere Lebensbereiche beeinflusst: Heirat und Familie, Wohnort, Ausbildung, Finanzen usw. Die einen sehen früh ihr grünes Licht und gehen geradewegs hinaus in den hauptamtlichen Dienst, in der frohen Gewissheit, Gottes Ruf für sie erfahren zu haben. Andere kämpfen jahrelang und verheddern sich womöglich in einem »Berufungskrampf«, der ihnen die letzte Kraft nimmt. Sie wälzen die Frage hin und her, her und hin, erhalten tausend Antworten gleichzeitig oder auch gar keine, sondern ein einziges leeres Schweigen. Was will Gott denn nun von mir?

Unter älteren Christen findet man dieses Problem nicht selten »von hinten«. Da hat einer als junger Mensch den Ruf gespürt, Missionar oder Pastor zu werden, und Nein geantwortet – weil Eltern oder Freunde ihm abrieten, das Geld nicht reichte oder wegen anderer äußerer Umstände. Aber das dominierende Motiv bei der Rückerinnerung in späteren Lebensjahren ist oft der Ungehorsam:

»Gott rief mich, und ich wollte nicht.« Für diese Menschen ist ihr ganzes Leben ein einziger Holzweg, ein Abirren von dem, was Gott mit ihnen vorhatte. Ihre Selbstanklagen und manchmal auch die Anklagen gegen Gott haben sie bitter gemacht und ihr ganzes Gottesverhältnis in ein traurig-dumpfes Grau getaucht. Der Zug ist abgefahren, und andere Züge gibt es nicht mehr. Einsam und verlassen stehe ich auf dem leeren Bahnsteig …

Aber wie ergeht es denn den anderen – den Glücklichen, die rechtzeitig in den Zug gestiegen sind und »ihre Berufung festgemacht haben«? Nun, viele von ihnen werden fraglos reich beglückt durch ihre Arbeit. Das Gefühl, genau dort zu stehen, wo Gott mich haben will, eine Arbeit zu tun, die mir selbst und anderen guttut, ist etwas vom Schönsten, was der Mensch auf dieser Erde erfahren kann. Mal fliegen die Tage dahin wie eine Möwe im warmen Wind, mal muss man sie roden wie widerspenstige Baumstümpfe, immer aber sind sie voll Leben und Sinn.

Doch andere müssen schwer um ihre Berufung kämpfen. Womöglich täglich plagt sie der Zweifel, ob »das wirklich das Richtige für mich ist«. Es macht ihnen Mühe, ihre Persönlichkeit und ihr Denken ihrer Berufsrolle anzupassen. Widerwärtigkeiten und schwierige Menschen verdüstern das Leben, und es dauert nicht lange, bis auch Gott immer düsterer zu sein scheint; schließlich steckt er ja hinter dieser elenden Berufung, also will er wohl, dass es mir so geht …

Nun könnte man hier sagen, dass die fröhlichen Berufschristen halt die sind, die wirklich ihren richtigen Platz gefunden haben, während die mühevollen Kämpfer ihn verpasst haben. Man gebe ihnen eine neue Chance, eine andere Aufgabe, und ihr Dienst wird laufen wie geschmiert! Aber ist es wirklich so einfach? Liegt nicht vielleicht ein grundlegender Denkfehler in dieser ganzen Sicht darin, dass man nicht weiß, was eine Berufung überhaupt ist?

Im gängigen christlichen Sprachgebrauch bezeichnet das Wort »Berufung« eine ganz spezielle Aufgabe aus dem Bereich christlicher Arbeit, die in der Regel hauptamtlich wahrgenommen wird und zu der nur bestimmte Christen berufen sind. Kurz gesagt: Meine Berufung ist das, was ich tue. Ich bin Christ – schön, aber nun muss ich ja wohl etwas anfangen mit meinem Christenleben, und hier tritt die Berufung auf die Bühne. Die Berufung ist die christliche Art, etwas zu werden, hier auf dieser Erde etwas zu leisten. Man braucht keine große Fantasie oder psychologischen Kenntnisse, um zu begreifen, dass damit die Berufung zur eigentlichen Quelle meiner Identität und meines Selbstgefühls wird. Erst wenn ich meine Berufung gefunden habe, ist meine Identität klar, vor Gott wie vor den Menschen. Vorher ist sie, gelinde gesagt, unklar. Das Selbstwertgefühl des Christen, der seit längerer Zeit um seine »Berufungsgewissheit« ringt, hat gewisse Ähnlichkeiten mit dem des Langzeitarbeitslosen …

Schauen wir uns an, wie dieses Berufungsverständnis verschiedene kritische Lebensbereiche berührt. Fangen wir mit dem Kern an: unserem Gottesverhältnis. Gott – das ist für mich der, der mir die große Frage zu beantworten hat, was meine Berufung ist. Wer er in sich selbst ist, interessiert mich weniger; Hauptsache, er zeigt mir meinen Weg. Und wenn er mir meine Berufung gezeigt hat, muss er mir natürlich helfen, ihr auch zu folgen. Gottes Angesicht suchen bedeutet mehr und mehr, dass ich seine Führung und Inspiration für meine Arbeit suche, neue Gedanken für meine Predigten, Gebetserhörungen für die verschiedensten Probleme und Menschen. Wenn ich vor Gott trete, dann nicht wie ein Kind, das Zwiesprache mit dem Vater hält, sondern wie ein Angestellter, der vor seinen Chef tritt. Gott wird ein Bestandteil meines Jobs. Meine Beziehung zu ihm wird so überfüllt von all den Problemen und Herausforderungen meiner Arbeit, dass ich schließlich gar nicht mehr sein Gesicht sehen kann.

Und die Christen, denen Gott nicht ihre Berufung gezeigt hat? Sie fühlen sich von ihm im Stich gelassen. Unmöglich, auf dieser Basis die Beziehung zu ihm zu vertiefen! Also das gleiche Muster wie oben, nur sozusagen im Negativ: Gott ist nicht in sich selbst wichtig, sondern nur als Krücke, um meine Berufung zu finden und auszuleben.

Der zweite große Bereich, den dieses Berufungsverständnis prägt, ist unser Verhältnis zu den Mitmenschen. Ein erster Effekt der Berufung ist hier gewöhnlich, dass sie den Rest der Welt in bestimmte Gruppen einteilt, denen ich fortan auf unterschiedliche Weise begegne. Die erste Gruppe besteht aus den Menschen, denen ich aufgrund meiner Berufung zu dienen habe. Für sie tue ich alles – aber immer nur im Rahmen meiner Berufung, in dem Rollenkostüm, in das ich als Berufener geschlüpft bin. Die zweite Gruppe bilden die – jedenfalls so, wie ich sie empfinde – Gegner meiner Berufung. Sie sind natürlich allesamt geistlich unreif und ohne Antenne für meinen großen Auftrag. Sie verstehen mich nicht, und deshalb behindern und kritisieren sie mich. Diese Gruppe empfinde ich als ernste Bedrohung und gehe sofort in Abwehrstellung. Die dritte Gruppe schließlich sind diejenigen, die mir bei der Verwirklichung meiner Berufung treu zur Seite stehen. Sie haben keinen besonderen Wert in sich selbst; sie werden – genauso wie ich auch – dadurch wertvoll, dass sie meine Berufung bejahen und für sie arbeiten. Das Ideal ist natürlich, dass mein Ehepartner, ja möglichst die ganze Familie zur dritten Gruppe gehört, aber in der Realität erlebe ich sie oft als treulose Verräter, die prompt in der zweiten Gruppe landen.

Der dritte Bereich ist das Verhältnis, das ich zu mir selbst habe. Hier gibt es nicht weiter viel zu sagen, denn dieses Berufungsverständnis führt schlicht dazu, dass ich mich selbst überhaupt nicht kenne. Ich gründe meine Identität so hundertprozentig auf meine Arbeit, dass ich die beiden nicht mehr trennen kann: Ich bin Pastor, Priester, Evangelist usw., und außerhalb dieser Rollen bin ich nichts. Ich stecke bis über die Ohren in meiner Arbeit und habe es so gut gelernt, meine persönlichen Bedürfnisse im Namen meiner Berufung zu knebeln, dass ich sie womöglich jahrelang überhaupt nicht kennenlerne. Eine Identität, die so total von meinen Leistungen abhängt, ist natürlich unerhört störanfällig und pflegebedürftig. Die Berufungslatte hängt immer ein Stückchen zu hoch für mich, und so plagt mich ständig das schlechte Gewissen, dass es mir nicht gelingen will, meine Berufung (also mich selbst) besser zu verwirklichen. Gegenüber meinen Mitmenschen äußert sich dieses schlechte Gewissen in Vorwürfen und Verurteilungen: Sie sind lau, sie sind unfähig, Gottes Werk geht ihnen nicht über alles.

Ein vierter Bereich, der jahrhundertelang Schaden genommen hat durch dieses Berufungsverständnis, ist die Gemeinde. Die Ansicht, dass nur bestimmte Christen eine Berufung erhalten, führt zu einer tief gehenden Zweiteilung der Gemeinde in ein A- und ein B-Lager. Die A-Christen haben die Berufung und »produzieren« das geistliche Leben; die B-Christen sind nicht berufen und haben dafür die Aufgabe, das von A produzierte geistliche Leben zu »konsumieren«. Erst wenn wir ein anderes Berufungsverständnis bekommen, wird Bewegung in die jahrhundertealten Spannungen zwischen »Geistlichen« bzw. »Mitarbeitern« einerseits und den einfachen »Laien« andererseits kommen können. Diese Zweiteilung wirkt in beiden Richtungen verarmend. Die »Berufenen« stellen frustriert fest, dass sie in Arbeit versinken und es unmöglich allen recht machen können. Die »Nichtberufenen« merken nicht weniger frustriert, dass sie nicht zu ihrem Recht kommen, und fühlen sich als »Christen zweiter Klasse«. Was ist das eigentlich für ein Gott, der bestimmte Menschen solcherart auswählt und begünstigt? Und wie viel von dem Stress in unseren Gemeinden ist das Ergebnis der Selbstüberforderung von Pastoren und Mitarbeitern?

Der Vergleich tut weh, aber ich muss hier an die Pharisäer zur Zeit Jesu denken. Sie hatten ihre ganze Identität und ihr geistliches Selbstwertgefühl darauf gegründet, dass sie immer das Richtige taten. Sie hatten Gottes Ruf an Israel als einen Ruf in ein immer dichteres Geflecht von Geboten und Verboten verstanden. Sie hatten es gelernt, ihre menschlichen Regungen zu unterdrücken und ganz in den äußeren Anforderungen ihrer Rolle aufzugehen. Auch bei ihnen führte der ständige Kampf, der Berufung gerecht zu werden, zu harten Verdammungsurteilen über alle, die nicht so fromm sein konnten wie sie. Indem sie sich selbst zur – viel zu hohen – Messlatte machten, verschlossen sie den anderen die Türen des Himmelreichs.

Es versteht sich von selbst, dass es in dem Inneren von Menschen mit solch einer harten Schale nicht besonders gut aussieht. Jesus begegnet diesen Menschen auf zwei Weisen: Gegenüber denen, die herauswollen aus ihrem frommen Gefängnis, ist er mehr als barmherzig und öffnet die Türen des Himmels weit. Doch gegenüber denen, die blind fortfahren, ihr Revier zu verteidigen, bricht er in heftige Zornesworte aus – die härtesten Jesusworte, die uns überliefert sind:

»… ihr Heuchler, die ihr seid wie die übertünchten Gräber, die von außen hübsch aussehen, aber innen sind sie voller Totengebeine und lauter Unrat! So auch ihr: Von außen scheint ihr vor den Menschen fromm, aber innen seid ihr voller Heuchelei und Unrecht« (Matthäus 23,27-28). »Ihr beladet die Menschen mit unerträglichen Lasten, und ihr selbst rührt sie nicht mit einem Finger an« (Lukas 11,46). »… ihr Heuchler, die ihr das Himmelreich zuschließt vor den Menschen! Ihr geht nicht hinein, und die hineinwollen, lasst ihr nicht hineingehen« (Matthäus 23,13).

Meine Geschichte

All dies habe ich selbst durchgemacht. Mindestens zehn Jahre lang verstand ich meine Berufung als den Auftrag, für die Zeitschrift Nytt Liv (»Neues Leben«) zu arbeiten. Ich war Nytt Liv, Nytt Liv war ich. Ich habe das oben beschriebene Rollenmuster bis ins Mark durchlebt und durchlitten. Und meine Familie erst recht! Es gehört ja zum Wesen dieses Musters, dass die Mitmenschen es ziemlich rasch durchschauen, während der in ihm Gefangene völlig betriebsblind ist. Jegliche Versuche seiner Umgebung, ihn auf diese Gefangenschaft anzusprechen und durch den Panzer der »Berufung« zu dem eigentlichen Menschen durchzustoßen, deutet der »Berufene« automatisch als »ungeistlich«: »Das verstehen die ja nicht!« Bei mir brauchte es eine totale Ehekrise, die meine Frau und mich an den Rand der Scheidung führte, um den Panzer endlich aufzubrechen. Durch Gottes Gnade und gute Seelsorger war es uns möglich, in vielen kleinen, mühevollen Schritten ein neues Leben zu beginnen.

Die größte Umkehr von uns beiden brauchte ich. Langsam und mit unendlicher Geduld begann Gott mir Stückchen für Stückchen zu zeigen, in was für ein Rollenspinnennetz ich geraten war. Es war ein äußerst schmerzhafter Prozess, bei dem Gott mir eine »Hochmutshaut« und »Verteidigungsschale« nach der anderen auszog und wegnahm. So total hatte ich meine Identität darauf aufgebaut, ein tüchtiger, von allen geschätzter und bewunderter christlicher Leiter zu sein, dass meine erste Reaktion ein einziges Vernichtungsgefühl war: Jetzt musst du sterben. Alles stürzte zusammen – undenkbar, dass mein Dienst je würde weitergehen können. Etwa ein halbes Jahr ging das so, bis ich ganz allmählich den ersten Lichtstreifen am Scherbenhorizont sah. Dieser Heilungsprozess geht immer noch weiter. Gelegentlich gibt es Rückfälle, und ich weiß, dass Gott noch viel zu tun hat mit mir.

Als mein altes Weltbild einstürzte, wurden meine Augen für vieles geöffnet. Vor allem für eine Reihe von Personen, die ich vorher durch den »Filter« meiner Berufung kaum wahrgenommen hatte. Erstens für Gott, der immer weniger mein Arbeitgeber und immer mehr mein Freund geworden ist. Sodann für meine Frau, die plötzlich als lebendige Person aus den Trümmern meiner Vorurteile herausstieg. Ferner für meine Kinder, die ich früher nur ganz am Rande der »wichtigeren« Dinge geahnt hatte. Für Freunde und Kollegen, die ich auf eine Art verletzt hatte, wie die Pharisäer die Menschen in ihrer Umgebung verletzt haben müssen. Nicht zuletzt schließlich für mich selbst, der außerhalb der Berufungsrolle kaum als selbstständiger Mensch existiert und den ich überhaupt nicht gekannt hatte. Jetzt lernte ich ihn kennen – die guten wie die schlechten Seiten!

Nytt Liv.