Inhalt

Vorwort zur fünften Auflage

Vorwort zur dritten Auflage

Einleitung

Teil I: Bevölkerungsentwicklung und das Alter der Menschheit

1. Entwicklung der Weltbevölkerung

1.1 In historischer Zeit

1.2 In der Steinzeit

1.2.1 Abschätzung der Bevölkerungszahl auf archäologisch-ethnographischer Basis

1.2.2 Effektive Populationsgröße und tatsächliche Bevölkerungszahl

1.2.3 Rätselhaft niedriges Bevölkerungswachstum im Paläolithikum

2. Sind demographische Eckdaten anhand von Skeletten bestimmbar?

2.1 Geburtenrate

2.2 Lebenserwartung

2.3 Ergebnis

3. Lebensverhältnisse in der Steinzeit

3.1 Ernährungssituation – Theoretische Überlegungen und Fundplatzüberreste

3.1.1 Rangordnung der Nahrungsquellen bei Jägern und Sammlern

3.1.2 Hochwertige Nahrung im Paläolithikum

3.1.3 Bevölkerungsentwicklung und Veränderung der Nahrungsquellen

3.1.4 Schlechte Ernährung der frühen Bauern

3.2 Körpergröße und Lebensqualität

3.3 Krankheiten bei Jägern und Sammlern und frühen Bauern

3.3.1 Epidemiologische Überlegungen

3.3.2 Bestätigung durch Skelettuntersuchungen

3.4 Zahnschmelzdefekte als Hinweis auf die Lebensqualität bei Frühmenschen und lebenden Jägern und Sammlern

3.5 Zusammenfassung

4. Lebensbedingungen und Demographie heute lebender Jäger und Sammler

4.1 Allgemeines

4.2 Ernährung

4.3 Körpergröße

4.4 Demographische Eckdaten

5. Heutige Jäger und Sammler als paläolithische Modellbevölkerung

5.1 !Kung als Modell?

5.1.1 Gibt es einen Überlebensvorteil in kleinen Familien?

5.1.2 Lebensgewohnheiten als Erklärungsversuch – Mangelzustände und körperliche Aktivität

5.1.3 Unfruchtbarkeit durch Geschlechtskrankheiten

5.1.3.1 Der „Afrikanische Infertilitätsgürtel“

5.1.3.2 Geschichte der Geschlechtskrankheiten in Zentralafrika

5.1.3.3 Geschlechtskrankheiten als Ursache der geringen Fruchtbarkeit – Einwände und Gegenargumente

5.2 Ache als Modell

6. Bevölkerungsentwicklung heute und in der Steinzeit – Probleme und Erklärungsversuche

6.1 Unrealistische demographische Parameter bei Nullwachstum

6.2 Entkräftete Erklärungsversuche

6.2.1 Unzählige Weltbevölkerungszusammenbrüche?

6.2.1.1 Supereruption des Toba im Mittelpaläolithikum

6.2.1.2 Grundsätzliche demographische Einwände gegen Weltbevölkerungszusammenbrüche im Paläolithikum

6.2.1.3 Zusammenfassung

6.2.2 Häufige Kindstötung weltweit und über Jahrhunderttausende?

6.2.3 Ernährungssituation der paläolithischen Welt

6.2.4 Hungerkannibalismus bei Paläolithikern?

6.2.5 Krankheiten allgemein

6.2.6 Fruchtbarkeitsmindernde Krankheiten doch als Lösung?

6.2.7 Kriegerische Auseinandersetzungen

6.2.8 Resümee

6.2.9 Angeborene Subfertilität der Frühmenschen als Lösung?

6.3 Zusätzliche Schwierigkeiten

6.3.1 Minimales Wachstum noch problematischer als stabile Bevölkerung

6.3.2 Verstreute konstante Kleingruppen mit hoher Aussterbewahrscheinlichkeit

6.3.3 Jahrhunderttausende ohne kulturell-technische Entwicklung

6.3.4 Bevölkerungsdichte und kulturelle Entwicklung

6.3.5 Größeres Bevölkerungswachstum bei schlechteren Lebensbedingungen

6.3.6 Einführung der Landwirtschaft: Gleichzeitiger Zieleinlauf bei unterschiedlichem Start

6.4 Ergebnis

Teil II: Steinwerkzeuge und das Alter der Menschheit

1. Haltbarkeit von Knochen und Artefakten verschiedener Materialien

2. Steinwerkzeugmengen im Paläolithikum

2.1 Combe Grenal – Paradefundplatz für eine Werkzeugmengenabschätzung

2.2 Abschätzung von Fundmengen

2.2.1 Asien

2.2.2 Europa

2.2.3 Afrika

2.2.4 Zusammenfassung

3. Steinwerkzeugmengen bei Jägern und Sammlern

3.1 Beispiele aus jüngerer Zeit und aus dem Paläolithikum

3.1.1 Rezente Jäger und Sammler in Australien

3.1.2 Subrezente Jäger und Sammler aus der Arktis

3.1.3 Jungpaläolithische Jäger und Sammler Deutschlands und Frankreichs

3.1.4 Ergebnis

3.2 Hochrechnungen für das Paläolithikum

3.3 Resümee

4. Siedlungsplätze in Mitteleuropa – Erwartung und Wirklichkeit

4.1 Bekannte Fundplätze

4.2 Zu erwartende Fundplätze

4.3 Erklärungsversuche und Gegenargumente

4.4 Bilanz

5. Strittige Jahrhunderttausende und fehlende Hinterlassenschaften

6. Das Phänomen der paläolithischen Siedlungsstabilität

7. Wenige und gleichzeitige Begehungen von Höhlenstationen in Jahrtausenden

8. Ausblick: Steinwerkzeuge im Tertiär

Teil III: Daten fordern drastische Verkürzung der Menschheitsgeschichte

1. Ungelöste Probleme

2. Lösung

3. Tertiäre Steinwerkzeuge: Verschärfung des Problems im Langzeitrahmen

Anhänge (zu Teil I)

A1. Abschätzungen der paläolithischen Bevölkerung regional und kontinentweit

A2. Zur Landwirtschaft hin und wieder zurück

A3. Körpergrößenänderung in historischer Zeit im nördlichen Europa

A4. Körpergröße der Menschen in der Steinzeit

4.1 Altpaläolithikum (Frühe Altsteinzeit)

4.2 Mittelpaläolithikum (Mittlere Altsteinzeit)

4.3 Jungpaläolithikum (Späte Altsteinzeit) Flores-Mensch

4.4 Mesolithikum (Mittelsteinzeit)

4.5 Neolithikum (Jungsteinzeit)

A5. Tuberkulose vor der Jungsteinzeit entstanden?

A6. Gibt es ein osteologisches Paradoxon?

A7. Vermischung von modernen und archaischen Menschen

7.1 Fossile Hinweise

7.1.1 Kreuzungen zwischen Neandertalern und dem modernen Menschen

7.1.2 Weitere archaisch-moderne Merkmalsmischungen

7.1.3 Mischformen ohne anatomischen Merkmalsmix?

7.2 Genetische Hinweise

7.2.1 Neandertaler

7.2.2 Frühmoderner Mensch aus Westsibirien

7.2.3 Denisova-Mensch aus Sibirien

7.2.4 Homo heidelbergensis aus Spanien

7.2.5 Heutiger Mensch mit Erbgut unbekannter Menschenformen

A8. Nichtkatastrophische Erklärungen der großen genetischen Ähnlichkeit des heutigen Menschen

A9. Urtümliche Steinwerkzeuge unverändert während der gesamten Menschheitsgeschichte

Uniforme Steinwerkzeugherstellung 1 Million Jahre auf der Insel Flores

Homo erectus benutzte ähnliche Werkzeuge in Afrika

Ähnliche Steinwerkzeuge des späten Homo sapiens

Dank

Literatur

Vorwort zur fünften Auflage

Nach der Erstveröffentlichung 2006 liegt nun bereits die fünfte Auflage von „Wie alt ist die Menschheit?“ vor. In der dritten Auflage wurden geringe inhaltliche Erweiterungen und Aktualisierungen vorgenommen, die vierte Auflage war ein Nachdruck.

Für die fünfte Auflage wurde das Buch stark erweitert. Dies spiegelt sich im Umfang durch eine fast um die Hälfte angewachsene Seitenzahl wider. Dabei sind neben überarbeiteten und erweiterten Abschnitten, in denen zahlreiche neue Facharbeiten berücksichtigt wurden, auch neue Abschnitte in das Buch aufgenommen worden. In diesen zusätzlichen Abschnitten werden Fragen zur effektiven Populationsgröße und ihrer demographischen Bedeutung (1.2.2), die Supereruption des Toba (bisher in einer Fußnote) (6.2.1.1), grundsätzliche demographische Einwände gegen Weltbevölkerungszusammenbrüche im Paläolithikum (6.2.1.2), Kannibalismus (6.2.4) und Zusammenhänge zwischen Bevölkerungsdichte und kultureller Entwicklung (6.3.4) diskutiert.

In Teil II wird in Kap. 8 auf Steinwerkzeuge im Tertiär und in Teil III in Kap. 3 auf die Konsequenzen dieser Funde im Rahmen des Gesamtthemas eingegangen.

Gegenüber der Vorauflage neu sind auch acht Anhänge mit Zusatzinformationen und thematischen Vertiefungen zum Teil I aufgenommen worden, unter anderem aktuelle Forschungsergebnisse aus der Genetik zu Vermischungen von archaischen und modernen Menschen und ein Beispiel für eine unveränderte Steinwerkzeugkultur nahezu während der gesamten Menschheitsgeschichte. Anhang 6 ist der bisherige Exkurs von Kap. 3.

Außerdem gibt es eine didaktische Neuerung: Prägnante Aussagen und zusammenfassende Ergebnisse der Texte sind gut sichtbar hervorgehoben. Dadurch kann dem Argumentationsfluss des Buches noch besser gefolgt werden. Nichts geändert hat sich jedoch am Diskussionsstand des Buches: Nach wie vor sind dem Autor bis heute aus fachwissenschaftlichen Kreisen keine grundlegenden kritischen Einwände zu den vorgelegten Argumenten bekannt geworden.

Dresden, im Januar 2015

Michael Brandt

Vorwort zur dritten Auflage

Es ist für den Autor erfreulich, dass dieses Buch nach der Erstveröffentlichung im Mai 2006 nun schon in der dritten Auflage erscheinen kann. Offensichtlich gibt es einen größeren Kreis von Interessenten an diesem brisanten Thema. Leider haben Vertreter der Fachwissenschaft bisher zu der Veröffentlichung, soweit dem Autor bekannt, geschwiegen, obwohl die Ergebnisse sehr kontrovers zur allgemeinen Ansicht sind. Darf dieser Umstand so verstanden werden, dass die grundlegenden Argumentationslinien dieser Publikation fachlich nicht zu beanstanden sind?

Die Diskussion im Internet war dagegen lebhaft, aber oft sachlich nicht fundiert und von einer gewissen Oberflächlichkeit geprägt. Immer wieder wurden Gegenargumente vorgebracht, die im Buch schon ausdrücklich thematisiert und widerlegt waren, ohne auf die Argumentation des Autors einzugehen. Einige bisher nicht thematisierte scheinbare Gegenargumente werden in Fußnote 22 und 24 des ersten Teils und Fußnote 10 des zweiten Teils besprochen.

Da fundierte Einwände gegen die im Buch vorgebrachte These einer notwendigen drastischen Reduktion der Zeitdauer der Steinzeit auf der Basis der untersuchten Fachgebiete bisher nicht vorgelegt wurden, bleibt der Autor davon überzeugt, dass man intellektuell redlich von einer kurzen Geschichte der Menschheit ausgehen kann.

Dresden, im März 2009

Michael Brandt

Einleitung

Das Alter der Menschheit wird allgemein auf etwa 2 Millionen Jahre geschätzt. Diese Altersangabe basiert auf radiometrischen Datierungen der geologisch ältesten bekannten Knochenüberreste des echten Menschen.1

Im Vergleich mit der nur einige tausend Jahre währenden Zivilisationsgeschichte stellt die Millionen Jahre umfassende Vorgeschichte der Menschheit eine ungeheuer lange Zeitepoche dar – ein Sachverhalt, der immer wieder großes Erstaunen hervorruft. Falls die radiometrischen Datierungen die Realität wiedergeben, müssen unabhängige Altersabschätzungen ähnliche Altersangaben hervorbringen.

Zwei Themen bieten sich für diese Untersuchung an: die Geschwindigkeit des Bevölkerungswachstums und die Menge an hinterlassenen Steinwerkzeugen. Wissenschaftliche Untersuchungen zu diesen beiden Themen sind nur spärlich vorhanden und haben in der populären Literatur bisher nahezu kein Echo gefunden.

Teil I dieses Buches beleuchtet die Lebensbedingungen, insbesondere die Ernährungssituation in der Steinzeit und stellt Vergleiche mit heutigen Jäger- und Sammlervölkern an, deren Bevölkerungswachstumsraten bekannt sind.

Teil II widmet sich den hinterlassenen Steinwerkzeugmengen aus der Altsteinzeit und vergleicht sie mit Herstellungsmengen heutiger Steinkulturen. Außerdem werden das Verhältnis von bekannten zu erwartenden Fundplatzzahlen, die paläolithische Siedlungsstabilität sowie zeitliche Aspekte von Höhlenbegehungen diskutiert.

In Teil III werden die Ergebnisse von Teil I und II zusammengefasst und bewertet. Auf der gewonnenen Datenbasis wird die Plausibilität einer 2 Millionen Jahre dauernden Menschheitsgeschichte kritisch diskutiert und ein alternativer Kurzzeitrahmen begründet, der den Befunden aus Demographie und Archäologie weitaus besser gerecht wird.

TEIL I

Bevölkerungsentwicklung und das Alter der Menschheit

1. Entwicklung der Weltbevölkerung

1.1 In historischer Zeit

Die Wachstumsrate der Weltbevölkerung hat in jüngerer Zeit, insbesondere nach dem 2. Weltkrieg, stark zugenommen. Stieg die Weltbevölkerung von 1800-1850 um 0,58% jährlich, so war die entsprechende Wachstumsrate2 zwischen 1900 und 1920 bereits 1% (nach Bevölkerungsangaben von KREMER 1993 berechnet, Tab. 1). Der Höhepunkt wurde in den 1960er Jahren mit 2,2% erreicht. Seitdem ist ein tendenzieller Abfall der jährlichen Wachstumsrate festzustellen, wobei sich diese Entwicklung nach derzeitigen Prognosen bis zum Jahr 2050 fortsetzen wird (U.S. Census Bureau 2005). Wie hoch war das Bevölkerungswachstum aber in den Jahrhunderten und Jahrtausenden zuvor?

Von COHEN (1995) zusammengestellte Angaben verschiedener Autoren zur Weltbevölkerungsentwicklung in Tab. 1 zeigen, dass die Einschätzungen der einzelnen Autoren sich bis auf zwei Ausnahmen3 größenordnungsmäßig nicht unterscheiden. Abb. 1 zeigt die Weltbevölkerungsentwicklung in historischer Zeit (die letzten 4 000 Jahre) nach Angaben von BLAXTER (1986) und KREMER (1993).

Natürlich sind Bevölkerungsangaben, die die fernere Vergangenheit betreffen, immer mit einem großen Unsicherheitsfaktor behaftet. Als generelle Tendenz wird aber übereinstimmend von allen Autoren ein nahezu ständiges Wachstum der Weltbevölkerung angenommen. Lediglich das 14. Jahrhundert stellt eine allgemein anerkannte Ausnahme dar, denn um 1350 wurde Europa von der verheerendsten Pestepidemie seiner Geschichte heimgesucht. Weitere Pestwellen und andere Seuchen sowie Hungersnöte infolge Klimaverschlechterung führten zu hohen Bevölkerungsverlusten im 14. und auch noch 15. Jahrhundert (VASOLD 2003)4. Zudem stieg in Asien die Bevölkerung zwischen 1300 und 1400 nur gering an, da sie noch unter den Folgen der Verwüstung durch die Reiterhorden Dshingis Khans litt. Diese hatten im Jahrhundert zuvor unter der einheimischen Bevölkerung vom europäischen Russland bis Korea unvorstellbare Blutbäder angerichtet und auch die bäuerliche und städtische Infrastruktur vernichtet – die Überlebenden wurden Hirten, von welchen das Land aber nur wenige ernähren konnte (MCEVEDY & JONES 1978).

Anders als die demographische Entwicklung des 14. Jahrhunderts wird die Zeit von 200-900 n. Chr. von verschiedenen Autoren unterschiedlich beurteilt. In diese Epoche fallen der Zusammenbruch der römischen Zivilisation und die Völkerwanderung. Die unterschiedlichen Einschätzungen (Tab. 1) reichen von deutlicher Abnahme bis zu geringer Zunahme. In Tab. 2 sind nach Angaben aus Tab. 1 errechnete jährliche Wachstumsraten der Bevölkerung in Epochen ohne diese kontinentweiten Katastrophen aufgeführt. Danach betrug der jährliche Weltbevöl-kerungszuwachs in früher historischer Zeit unter bekanntermaßen viel schwierigeren Verhältnissen als heute jährlich ca. 0,05-0,3%.

Tab. 1: Entwicklung der Weltbevölkerung (in Millionen) von der Frühzeit der Menschheit bis 2000 n. Chr. (Nach Angaben verschiedener Autoren aus einer Zusammenstellung von COHEN 19951a und des U.S. Census Bureau 2005)

Abb. 1: Weltbevölkerungsentwicklung von 2000 v. Chr. bis 2000 n. Chr. (hell nach BLAXTER 1986 und dunkel nach KREMER 1993)

Zeitperiodeerrechnete jährliche WachstumsrateQuelle
Altertum1000 - 500 v. Chr.0,14%MCEVEDY & JONES 1978
400 - 200 v. Chr.0,19%BIRABEN 1979
200 v. Chr. - 1 n. Chr.0,05%BLAXTER 1986
Mittelalter1000 - 1200 n. Chr.0,15%MCEVEDY & JONES 1978
0,23%BIRABEN 1979
1100 - 1200 n. Chr.0,28%BLAXTER 1986
Beginn der Neuzeit1500 - 1600 n. Chr.0,15%CLARK 1977
0,25%MCEVEDY & JONES 1978

Tab. 2: Jährliches prozentuales Weltbevölkerungswachstum in früher historischer Zeit (ermittelt nach Angaben aus Tab. 1).

1.2 In der Steinzeit

1.2.1 Abschätzung der Bevölkerungszahl auf archäologisch-ethnographischer Basis

Die ältesten Überreste des echten Menschen (Homo erectus) stammen aus Afrika (Kenia). Es handelt sich um den Hüftknochen KNM-ER 3228 (ROSE 1984) und den Hinterhauptsknochen KNM-ER 2598 (WOOD 1991). Die fossilen Fundstücke werden radiometrisch auf 1,95 bzw. 1,89 Millionen Jahre datiert (FEIBEL et al. 1989). Das Alter der Menschheit wird deshalb auf etwa 2 Millionen Jahre geschätzt. In Tab. 3 ist der konventionell-zeitliche Abriss der wichtigsten geologischen und archäologischen Epochen der Steinzeit mit den fossil nachgewiesenen Menschenformen und ihren kulturell-technischen Erfindungen dargestellt. Auf einige dort verwendete Begriffe wird im weiteren Verlaufe des Buches immer wieder Bezug genommen. Die kulturell-technischen Erfindungen zeigen, dass schon Homo erectus ein voll entwickelter, uns geistig ebenbürtiger Mensch war (siehe Abschnitt 6.3.3).

Frühester Nachweis kulturelltechnologischer ErrungenschaftenAbbildungen Seite
In der Archäologie ist zu beobachten, dass der Nachweis von bestimmten kulturellen Innovationen des Frühmenschen wie z. B. die Nutzung von Feuer, die Herstellung von Kleber, die Verwendung von Farbe, das Weben von Kleidung und die Töpferei sich fortlaufend zeitlich immer weiter zurück verschiebt. Diese zeitlichen Rückverschiebungen sind mitunter dramatisch. Der erstmalige Nachweis bedeutet natürlich nicht, dass diese kulturellen Leistungen nicht auch viel älter sein können, was vielfach auch anzunehmen ist.
Anfertigung von Textilien, Körben, Kordeln und Netzen aus Pflanzenfasern (bevorzugt Brennnesseln) mit hochentwickelten standardisierten Techniken; Herstellung von Keramikgegenständen, (Tschechien; 29 000-25 000 Jahre vor heute)1Abb. 2, 3 - S. 20 Abb. 4 - S. 21
Anfertigung von Kordeln, Körben, Griffen an Steinwerkzeugen und farbiger Bekleidung aus Leinen, (Kaukasus; 32 000 Jahre v.h.)2
Flöte aus einem Oberschenkelknochen eines Bären (Slowenien; 67 000-43 000 Jahre v.h.)3Abb. 5 - S. 22
Schmuckperlen aus Straußeneierschalen (Libyen; 200 000 Jahre v.h.)4Abb. 6 - S. 22
Verwendung von Farbstoffen (Niederlande; 250 000 Jahre v.h.)5
Steinspitzen als Projektilwaffen (Äthiopien; >279 000 Jahre v.h.)6
Herstellung von Birkenrindenpech zur Verwendung als Kittmasse; Kenntnisse eines komplizierten Schwelprozesses sind dafür Voraussetzung, (Italien; 200 000 Jahre v.h.)7
Protofelskunst (Felsgravierung) (Indien; 300 000-150 000 Jahre v.h.)8
Gepflasterter Platz (für religiöse Zwecke?) (Deutschland; 400 000 Jahre v.h.)9
Hochleistungsspeere (Deutschland; 400 000 Jahre v.h.)10Abb. 7 - S. 22
Mondkalender (Knochengerät mit Ritzmuster) (Deutschland; 400 000 Jahre v.h.)11Abb. 8 - S. 23
Protoplastik aus vulkanischem Gestein (Israel; 280 000-233 000 Jahre v.h.)12 und Quartzit (Marokko; 500 000-300 000 Jahre v.h.)13Abb. 9 - S. 24
Speerspitzen aus Stein (Südafrika; 500 000 Jahre v.h.)14Abb. 10 - S. 25
Hochseefahrt über kurze Strecken (Indonesien; 800 000 Jahre v.h.)15
Nutzung von Feuer (Ostafrika; 1,6 Millionen Jahre v.h.)16

1 SOFFER (1999), SOFFER et al. (2000a,b)

2 KVAVADZE et al. (2009)

3 TURK (1997), SCHERER (1998)

4 ZIEGERT (1995)

5 ROEBROEKS et al. (2012)

6 SAHLE et al. (2013)

7 ROEBROEKS & VILLA (2011)

8 BEDNARIK (1993)

9 MANIA (1998)

10 DENNELL (1997), THIEME (1996, 1997,2004), RIEDER (2000)

11 SCHÖSSLER (2003)

12 GOREN-INBAR (1986), MARSHACK (1997), D‘ERRICO & NOWELL (2000)

13 KUCKENBURG (2001)

14 WILKINS et al. (2012)

15 BEDNARIK (1997), BRANDT (1998), MOORWOOD et al. (1998)

16 LUDWIG (2000)

Tab. 3: Übersicht zur Vorgeschichte des Menschen mit geologischen und archäologischen Epochen, Menschentypen, kulturell-technologischen Entwicklungen und datierten Zeitangaben.

Abb. 2: (A) Jungpaläolithisches Keramikfragment aus Tschechien und (B) sein Eindruck (aus SOFFER 1999). Keramikfragmente mit Eindrücken von Fasern vor 27 000 Jahren sind die ältesten Hinweise auf eine Fasertechnologie. Die Fasern selbst sind natürlich nicht mehr erhalten. Die Überlieferung in Form von Eindrücken in Keramikfragmenten ist wohl das Ergebnis von damaligen Unglücksfällen. Ton wurde zur Auskleidung von Körben, Herstellung von Gefäßen, für Hauseinrichtungen und Behausungen benutzt. Die damals weit verbreitete Nutzung von Feuer z. B. zum Wärmen und Kochen führte vermutlich zu nicht beabsichtigten Bränden. Die aus Fasern hergestellten Gegenstände, die nie die Zeiten überdauert hätten, wurden dabei auch vernichtet, hinterließen aber ihre Strukturen im Ton. (Aus Analecta Praehistorica Leidensia 31, 1999, Abdruck mit freundlicher Genehmigung)

Abb. 3: Jungpaläolithische Verzwirnungstypen aus Tschechien (aus SOFFER 1999). Sieben von acht in der Welt bekannten Verzwirnungstypen waren bereits vor 27 000 Jahren bekannt. Bei der Herstellung von Kordeln (Schnüre, Tauwerk, Seile) sind mindestens fünf verschiedene Strukturtypen nachgewiesen. Diese Verschiedenartigkeit in Verbindung mit dem gleichmäßigen und engen Maß des Garns und der Webelemente setzt eine vorherige Entwicklung voraus. Die Zahl der Typen an Verzwirnungen und Webereien ist im Jungpaläolithikum vor 27 000 Jahren wesentlich größer gewesen als später im Mesolithikum und Neolithikum vor 10 000-5 000 Jahren. (Aus Analecta Praehistorica Leidensia 31, 1999, Abdruck mit freundlicher Genehmigung)

Abb. 4: Venus von (A) Willendorf (Abguss), Österreich, und (B) Brassempoy (Abguss), Frankreich, aus dem Jungpaläolithikum. Die Venus von Willendorf (25 000 Jahre v.h.) trägt eine Kopfbedeckung (Hut oder Kappe) aus Fasergewebe mit komplexem Aufbau: Sie ist spiralförmig von einem zentralen Knoten aus gewebt. Es handelt sich nicht um eine Kopfbedeckung aus Muschelschalen oder eine Frisur, wie man früher annahm. Die Venus von Brassempoy (22 000 Jahre v.h.) trägt ein offenes, flexibles und vielleicht geknotetes Netz, das sich den Haaren anpasst.

Abb. 5: Mittelpaläolithische Flöte aus Iridijca, Slowenien (aus SCHERER 1998). Die Flöte (67 000-43 000 Jahre v.h.) ist aus einem Oberschenkelknochen eines Bären hergestellt. Der Abstand zwischen dem zweiten und dritten Loch auf dem Knochen ist doppelt so groß wie der zwischen dem dritten und vierten Loch. Die Intervalle entsprechen einem ganzen und einem halben Ton; die drei Töne sind diatonisch. Mit diesem Instrument konnte man mindestens vier Töne der kleinen diatonischen Tonleiter erzeugen.

Abb. 6: Altpaläolithische Schmuckperlen aus El Greifa, Libyen (aus ZIEGERT 1995). Die Perlen (200 000 Jahre v.h.) sind aus Straußeneierschalen angefertigt.

Abb. 7: Altpaläolithischer Speer aus Schöningen, Landkreis Helmstedt. Detail der sehr sorgfältig zugerichteten Spitze von Speer II (Gesamtlänge etwa 2,30 m). Die Speere aus Schöningen (400 000 Jahre v.h.) sind Hochleistungsspeere, geeignet für kurze und große Weiten. Jeder Speer ist optimal hergestellt worden. Die Spitze stammt aus dem härtesten Teil des Baumstammes an der Basis. Jeder Speer hat die gleichen Proportionen wie ein moderner Speer mit maximaler Dicke und größtem Gewicht (Schwerpunktzentrum) im vorderen Bereich. Der lange hintere Teil verjüngt sich zum Ende hin. Eine intensive Planung, ein anspruchsvoller Entwurf und Geduld beim Schnitzen des Holzes waren zur Herstellung der Speere erforderlich. Der europäische Frühmensch hatte offensichtlich Fähigkeiten, die man bisher nur dem modernen Menschen zutraute. (© 2006 Dr. Hartmut THIEME, Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege, Hannover. Foto: C.S. FUCHS)

Abb. 8: Altpaläolithisches Knochengerät mit eingeritzter Strichfolge (400 000 Jahre v.h.) aus Bilzingsleben (nach SCHÖSSLER 2003). Der Fund besteht aus einem Stück zerschlagenen Schienbeins eines Waldelefanten und ist mit einem Fächer aus Strichbündeln bedeckt (gestrichelte Linien ergänzt). Nach SCHÖSSLER handelt es sich um einen Mondkalender. Der Benutzer des Kalenders war Homo erectus.

Abb. 9: Altpaläolithische Protoplastik (A) aus Berekhat Ram, Israel (280 000-233 000 Jahre v.h.; nach GOREN-INBAR 1986) und (B) aus Tan-Tan, Marokko (500 000-300 000 Jahre v.h.; aus KUCKENBURG 2001).

Im Folgenden wird der zeitliche Ablauf der Besiedlung der Kontinente durch den Menschen dargestellt, wie er innerhalb der konventionellen Lehrmeinung vertreten wird.

Man geht heute davon aus, dass die Besiedlung der Welt durch den Menschen von Afrika aus erfolgte. Allerdings gibt es weit entfernt von Afrika in Südostasien (Indonesien) Knochenüberreste von Homo erectus, die auf 1,81 Millionen Jahre datiert werden (SWISHER III et al. 1994). Damit besitzen sie ein nahezu gleiches Alter wie die ältesten Funde aus Afrika, von woher der Mensch gekommen ist. Noch älter sind Steinwerkzeuge (Geröllgeräte) aus Afrika. Sie stammen aus geologischen Ablagerungen, deren Alter auf 2,6-2,5 Millionen Jahre radiometrisch bestimmt wurde (SEMAW et al. 1997). Als Hersteller dieser und anderer sehr früher Geröllgeräte vermutet man frühe Homininen5 (Australopithecus garhi, A. [Paranthropus] robustus, A. [Homo] habilis, Kenyanthropus [A., H.] rudolfensis). Sie werden im Evolutionsmodell als Vormenschen, im Grundtypmodell der Schöpfungslehre dagegen als ausgestorbene menschenaffenähnliche Tiere klassifiziert. Nach Auffassung des Autors (BRANDT 2000) dürften aber diese pliozänen Werkzeuge wie die späteren pleistozänen Werkzeuge auch von echten Menschen stammen, obwohl von ihnen aus dieser Zeit bisher keine allgemein anerkannten Knochenüberreste bekannt sind. Werkzeugfunde ohne dazugehörige Fossilreste sind in der Archäologie aber ein sehr häufiger Befund (FIEDLER 1997, FRANZEN 1999, BRANDT 2011). Das nahezu zeitgleiche früheste Auftreten des echten Menschen weit entfernt in Ostafrika und Südostasien vor knapp 2 Millionen Jahren und der Nachweis von weit über 2 Millionen Jahren alten Steinwerkzeugen, die wahrscheinlich von echten Menschen stammen, weisen auf eine frühere Existenz der Menschheit auf unserer Erde hin als allgemein angenommen. Wenig bekannt ist die Tatsache, dass zahlreiche Werkzeugfunde mit eindeutig menschlichen Bearbeitungsspuren aus wesentlich älteren geologischen Schichten geborgen wurden und von echten Menschen stammen dürften. Die ältesten Werkzeuge stammen aus Nordfrankreich und haben ein radiometrisches Alter von 59-56 Millionen Jahren (BRANDT 2011, siehe ausführlicher Teil II, Kap. 8). Dennoch wird aus methodischen Gründen bei allen Überlegungen in diesem Buch der konventionellen Lehrmeinung folgend von einer Menschheitsgeschichte ausgegangen, die erst am Ende des Pliozäns – nach radiometrischer Datierung vor ca. 2 Millionen Jahren – begann.

Abb. 10: Speerspitzen aus Stein aus Kathu Pan 1, Südafrika (500 000 Jahren v. h.). (Aus WILKINS et al. 2012)

Die ältesten Knochenüberreste des Menschen in Europa stammen aus Spanien. Es handelt sich um einen Unterkiefer mit einem Isotopenalter von 1,2-1,1 Millionen Jahren (CARBONELL et al. 2008) und um einen Zahn mit einem Isotopenalter von 1,4 Millionen Jahren (TORO-MOYANO et al. 2013). Nach MUTTONI et al. (2013) ist jedoch ungewiss, ob die Funde tatsächlich älter als eine 1 Million Jahre sind.

Relativ spät wurde Australien vor 60 000 Jahren besiedelt (ROBERTS et al. 1993).6 Nach heute verbreiteter Anschauung begannen die Menschen vor 20 000-15 000 Jahren in Amerika einzuwandern (Übersicht bei BARIÉ 2000 und NEMECEK 2001). Allerdings gibt es auch Forscher, die dieses Ereignis früher ansetzen: GONZALES und BENNETT vor 40 000 Jahren (HÖRSCHGEN & HÜGLER 2003) und GOODYEAR (2004)7 sogar vor 50 000 ƒJahren.8 Zum Ende des Paläolithikums (Altsteinzeit) vor etwa 10 000 Jahren war die Erde zu weiten Teilen von Menschen besiedelt. Sie ernährten sich alle vom Sammeln, Jagen und Fischen. Auf dieser Ernährungsbasis muss die Bevölkerungsdichte sehr niedrig gewesen sein. Dies ergibt sich aus theoretischen Analysen und der geringen möglichen Bevölkerungsdichte heute lebender Jäger und Sammler.

Die Bevölkerungszahl blieb im Paläolithikum aber nicht konstant. Sie stieg weltweit ganz allmählich an. Darauf weisen zum einen die Ausbreitung und zunehmende Dichte der archäologischen Hinterlassenschaften der Menschen und zum anderen die Änderung der Ernährungsbasis gegen Ende des Paläolithikums und im Mesolithikum (Mittlere Steinzeit) hin. Ein absolutes Bevölkerungswachstum mit einer zunehmenden Siedlungsdichte zeigt sich anhand der Siedlungsplätze des Menschen. Im Verlaufe des Paläolithikums breiteten sich diese auf der Erde aus und ihre Gesamtzahl nimmt zu, wobei am Ende des Pleistozäns ein beschleunigtes Wachstum zu verzeichnen ist (COLLINS 1986, BUTZER 1990, STRAUS 1983; Tab. 4). Tendenziell damit einher geht eine Zunahme der Menge der hinterlassenen Steinwerkzeuge sowie der Ausdehnung und Horizontdicke (Schichtdicke) der Siedlungsplätze (BUTZER 1990, STRAUS 1983). Dabei sind sich die Forscher einig, dass die heutigen Fundplatzzahlen etwa die einst herrschenden Relationen widerspiegeln und nicht durch unterschiedliche Erhaltungsbedingungen der Plätze grob verfälscht sind. Allerdings ist es sehr fraglich, ob der exponentielle Anstieg am Ende des Paläolithikums die einstige Situation real widerspiegelt oder nur durch eine künstliche unrealistische Verlängerung des Paläolithikums durch den vorausgesetzten konventionellen Zeitrahmen verursacht ist. In Anhang 1 sind neuere Abschätzungen der paläolithischen Bevölkerung regional und kontinentweit auf der Basis archäologischer, klimatischer und ethnographischer Daten aufgeführt. Sie zeigen eindrucksvoll, wie gering die Bevölkerungszahl und das Bevölkerungswachstum selbst im späteren Paläolithikum noch waren.

Methodisch völlig unabhängig von quantitativen archäologischen Hinterlassenschaften ergibt sich auch aus der Ernährungsstrategie der Menschen im Paläolithikum ein signifikanter Hinweis auf eine Zunahme der Bevölkerungsdichte.

Anhand von Siedlungsdichten heute lebender Jäger und Sammler und den klimatisch-geographischen Bedingungen auf der Erde am Ende des Paläolithikums lässt sich die Weltbevölkerung vor ca. 10 000 Jahren, kurz vor dem Übergang zur Landwirtschaft, abschätzen. Die genauen Zahlenangaben schwanken natürlich etwas von Autor zu Autor (Tab. 5). Aus ihnen ergibt sich aber, dass eine Größenordnung von 5-10 Millionen als Bevölkerungszahl am Ende des Paläolithikums zutreffend sein dürfte.

RegionQuelleZeit in 1000 Jahren v. h.Fundplatzzahl pro 1000 Jahre
Kleines Becken im südlichen AfrikaBUTZER 19903501
1009,7
12312,5
NordspanienBUTZER 1990750,2
281,8
19,58,8
13,59,5
Europanach Daten von COLLINS 1986 errechnet1300 - 8000,006
800 - 3400,043
340 - 2760,7
276 - 1760,4
127 - 403,09
40 - 1516

Tab. 4: Anstieg der Fundplatzzahlen im Paläolithikum.

Weltbevölkerungszahl (in Millionen)Autoren
4MCEVEDY & JONES 1978
5ELDREDGE 1998
5,32DEEVEY 1960
6BIRABEN 1979
8COALE 1974
8 - 9HASSAN 1981
8 - 10PRESSAT 1973
2 - 20 (5-10 am wahrscheinlichsten)CIPOLLA 1974

Tab. 5: Weltbevölkerungszahl am Ende des Paläolithikums vor der Entstehung der Landwirtschaft nach verschiedenen Autorenangaben.

Diese traditionellen Methoden der Bestimmung demographischer Prozesse in der Vergangenheit der Menschen basieren auf paläanthropologisch-archäologischen und ethnologischen Daten. Durch genetische Untersuchungen ist in den letzten Jahren eine neue Größe in die Diskussion um die Demographie der frühen Menschheit eingeführt worden. Es handelt sich um die effektive Populationsgröße. Kann aber von der effektiven Populationsgröße auf absolute Bevölkerungszahlen im Paläolithikum geschlossen werden? Auf diese Frage wird im Folgenden eingegangen.

1.2.2 Effektive Populationsgröße und tatsächliche Bevölkerungszahl

Aus genetischer Sicht ist die zentrale Größe für das Verständnis der ursprünglichen Struktur menschlicher Populationen die effektive Populationsgröße Ne (effective population size). Diese Größe ist ein Maß für die genetische Diversität (Vielfalt) innerhalb einer Population. Sie gibt nicht die Zahl der Individuen einer Population an.

Die effektive Populationsgröße ist ein genetischer Vergleichswert und gibt nicht die tatsächliche Individuenzahl der Population an.

Da die effektive Populationsgröße aber wie die tatsächliche Bevölkerungsgröße in Personenanzahl angegeben wird, verwechselt man sie manchmal mit der Gesamtanzahl der Personen der Population Nc (census population size) (z. B. KORINTHENBERG 2009)9. In der Fachliteratur werden auch Schlüsse von der effektiven Populationsgröße auf die Gesamtgröße der Population gezogen. Beispielsweise bedienen sich FABRE et al. (2009) des Faktors 8 für die Umrechnung beider Größen beim Neandertaler. Wie gut sind diese Schlussfolgerungen begründet?

Unter idealen Bedingungen, d. h. bei Selektionsneutralität (alle Individuen haben dieselben Überlebens- und Fortpflanzungschancen) und Mutations-Drift-Gleichgewicht (keine zufälligen Änderungen des Genpools) innerhalb einer Population, könnte man nach HAWKS et al. (2000) die Gesamtgröße einer Population auf der Basis der effektiven Populationsgröße bestimmen. Unter den obigen Voraussetzungen ist die effektive Populationsgröße gleich der Zahl der sich in der Population fortpflanzenden Individuen. Sie ist kleiner als die Größe der Gesamtpopulation, weil letztere auch Kinder, Jugendliche und erwachsene Menschen umfasst, die sich aus irgendeinem Grund nicht fortpflanzen (BLANKENHORN 2003). Die Gesamtzahl der Individuen einer Population könnte sich bei Selektionsneutralität und Mutations-Drift-Gleichgewicht also durch Multiplikation der effektiven Populationszahl mit dem Faktor 2-3 berechnen lassen. In Wirklichkeit gibt es jedoch diesen einfachen Zusammenhang zwischen der Gesamtpopulationsgröße und der effektiven Populationsgröße nicht, denn die effektive Populationsgröße wird nicht nur von der Gesamtpopulationszahl, sondern von einer Vielzahl weiterer Faktoren bestimmt, die weitgehend nicht quantifizierbar sind (HAWKS et al. 2000, GAUGER 2012). Dazu gehören zum Beispiel lokale Aussterbeereignisse oder die Aufspaltung der Gesamtpopulation in einzelne Gruppen. Um den Einfluss dieser Faktoren zu berücksichtigen, ersetzen Genetiker die Gesamtpopulationsgröße durch die effektive Populationsgröße. Doch unser Wissen über das Geschehen im Paläolithikum ist für die Bestimmung realistischer Umrechnungsfaktoren viel zu gering (HAWKS et al. 2000, GAUGER 2012).

Den vielleicht bedeutsamsten Einfluss auf die genetische Diversität einer Population hat wahrscheinlich die Selektion. Die Selektionsprozesse in der Vergangenheit sind aber unbekannt und möglicherweise auch nicht erforschbar. Die effektive Populationsgröße kann deshalb keine demographische Größe sein (HAWKS et al. 2000). Praktisch zeigt sich das darin, dass bei gleicher effektiver Populationsgröße die tatsächliche Populationsgröße sehr verschieden sein kann. Ein besonders beeindruckendes Beispiel ist die heutige Menschheit, deren effektive Populationsgröße mit 10 400 Individuen angegeben wird (siehe CHARLESWORTH 2009). Nach einer Untersuchung von HUFF et al. (2009) betrug die effektive Populationsgröße der Menschheit zu Zeiten des Homo erectus vor 1,2 Millionen Jahren 18 500 Individuen. Demnach ist die effektive Populationsgröße des Menschen weitgehend unabhängig von der Gesamtbevölkerungszahl immer relativ klein.

Von der effektiven Populationsgröße kann nicht auf die tatsächliche Größe der Bevölkerung geschlossen werden.

1.2.3 Rätselhaft niedriges Bevölkerungswachstum im Paläolithikum

Zur Bevölkerungsentwicklung im Paläolithikum wird heute immer noch am häufigsten eine Publikation von DEEVEY aus dem Jahr 1960 zitiert, wobei andere Autoren ähnliche Bevölkerungszahlen angeben.10 Seinen Angaben zufolge (Tab. 1) betrug das durchschnittliche jährliche Bevölkerungswachstum in dieser Epoche 0,0004%. Aufgeschlüsselt nach den einzelnen Zeitperioden ergibt sich ein minimaler Anstieg der jährlichen Bevölkerungswachstumsrate von 0,0003% (1 Million-300 000 Jahre v.h.) auf 0,0004% (300 000-25 000 Jahre v.h.) und schließlich auf 0,003% (25 000-10 000 Jahre v.h.).

Geht man nicht wie DEEVEY (1960) von 1 Million, sondern von den heute üblichen 2 Millionen Jahren Menschheitsgeschichte aus, dann fällt die Wachstumsrate für das Altpaläolithikum und damit für das Paläolithikum insgesamt noch niedriger aus. Am Ende des Paläolithikums und im Neolithikum kam es dann im Nahen Osten, aber auch in der übrigen Welt, zu einer deutlichen Zunahme der Bevölkerungswachstumsraten. Das durchschnittliche jährliche Wachstum dürfte im Nahen Osten unmittelbar vor dem Neolithikum ca. 0,03% (HASSAN 1978) und während des Neolithikums ca. 0,1% (CARNEIRO & HILSER 1966, HASSAN 1978) betragen haben.

Das extrem niedrige Bevölkerungswachstum im Paläolithikum macht allen mit dieser Thematik sich beschäftigenden Anthropologen seit Jahrzehnten Kopfzerbrechen. Denn es ist rätselhaft, weshalb die Wachstumsrate so lange derart gering war. Wie niedrig dieses Wachstum war wird einem sofort klar, wenn man sich vergegenwärtigt, was selbst ein jährlicher Zuwachs von nur 0,004%, der leicht über dem Wachstum am Ende des Paläolithikums, aber immer noch um einen ein- bis zweistelligen Faktor niedriger als in historischer Zeit ist (Tab. 2), bedeutet: eine 10 000 Menschen umfassende Bevölkerung wächst in 200 Jahren auf 10 080 Menschen (ein offensichtlich äußerst geringes Wachstum), in 300 000 Jahren aber auf über 1,6 Milliarden Menschen an! DEEVEY (1960) schätzt die Bevölkerungszahl vor 300 000 Jahren aber bereits auf 1 Million Menschen, das würde bei obiger Wachstumsrate von 0,004% eine Bevölkerungszahl von unmöglichen 162 Milliarden Menschen am Ende des Paläolithikums bedeuten. Bei nur mäßig höherer jährlicher Wachstumsrate als 0,004% oder Verlängerung der Zeit über 300 000 Jahre hinaus kommt man auf noch absurdere Zahlen bzw. auf eine noch viel raschere „Überfüllung“ der Erde. GROUBE (1996) spricht deshalb auch von der „Tyrannei des Exponenten“.11 Nahezu während der gesamten Menschheitsgeschichte (99,5%) war das jährliche Bevölkerungswachstum fast null (Abb. 11). Diese für Paläodemographen (die sich mit der Bevölkerungsentwicklung in der Vorzeit beschäftigen) sehr mysteriöse Situation drückt PENNINGTON (2001, S. 173) so aus: „Given what we know about our reproductive capacity and survival under worst conditions, it is puzzling that there were so few of us for so much of our history.“12

Abb. 11: Weltbevölkerungsentwicklung von 2 000 000 v. Chr. bis 2000 n. Chr. (Nach BLAXTER 1986)

Das extrem niedrige Bevölkerungswachstum im Paläolithikum ist völlig rätselhaft.

Das äußerst geringe Bevölkerungswachstum im Paläolithikum errechnet sich aus der Länge dieser Epoche. Diese Länge ist durch radiometrische und andere Datierungsverfahren vorgegeben, die in der Regel als völlig glaubwürdig eingeschätzt werden. Von Datierungsverfahren unabhängige Abschätzungen der Bevölkerungsentwicklung müssten deshalb ebenfalls auf ein äußerst geringes Wachstum der paläolithischen Menschheit hinweisen.

Wir wollen zunächst der Frage nachgehen, ob anhand von Skelettüberresten das Bevölkerungswachstum im Paläolithikum bestimmbar ist.

Anschließend werden die Lebensverhältnisse der Jäger und Sammler im Paläolithikum und heute diskutiert und gefragt, welche lebenden Jäger und Sammler am ehesten als paläolithische Modellbevölkerung in Frage kommen. Vor dem Hintergrund der demographischen Parameter solcher Modellgruppen wird dann das äußerst geringe paläolithische Bevölkerungswachstum diskutiert und Erklärungsversuche für dieses Phänomen auf ihre Plausibilität hin untersucht.

2. Sind demographische Eckdaten anhand von Skeletten bestimmbar?

2.1 Geburtenrate

Frauen weisen oft an den Schambeinen besondere Läsionen auf. Diese bezeichnete man als Entbindungsnarben, weil man sie als Geburtsfolgen interpretierte. Es wurde vermutet, dass die Anzahl der Schambeinnarben mit der Anzahl der geborenen Kinder in direktem Zusammenhang steht (ANGEL 1969). Untersuchungen an Skeletten von Frauen, deren Gesamtgeburtenrate bekannt war, zeigten jedoch, dass die Zahl der Schambeinnarben nicht von der Gesamtgeburtenzahl abhängt (HOLT 1978, KELLEY 1979, SUCHEY et al. 1979), so dass die Zahl der Geburten leider nicht anhand der Skelette bestimmt werden kann.

2.2 Lebenserwartung

In der Literatur wird oft ein kurzes, sehr mühsames und gefährliches Leben der Paläolithiker geschildert, wobei die Neandertaler in der Regel im Mittelpunkt stehen. Fachwissenschaftlich kann sich die Meinung auf eine Studie von TRINKAUS (1995) anhand von 220 Neandertalerüberresten stützen. In dieser Studie wurde festgestellt, dass die Neandertaler meist zwischen dem 20. und 30. Jahr und insgesamt über 80% vor dem 40. Lebensjahr starben. Damit zeigt sich ein ständiger Anstieg der Sterblichkeit vom Neugeborenenalter an mit einem Höhepunkt im jüngeren Erwachsenenalter, so dass nur wenige das ältere Erwachsenenalter erreichten. Rezente menschliche Vergleichspopulationen zeigen dagegen eine hohe Sterblichkeit der Neugeborenen und eine ständige Abnahme der Mortalität von der Kindheit bis in das Jugendalter mit einem Anstieg erst wieder bei den älteren Erwachsenen (Abb. 12). Da außerdem eine Population mit einer Mortalitätsverteilung wie die der Neandertaler wegen zu geringer Nachkommenschaft bald ausgestorben wäre, kann die von TRINKAUS (1995) untersuchte Neandertaler-Skelettserie nicht den Querschnitt der damals lebenden Population widerspiegeln. Es gibt verschiedene Faktoren, die für die offensichtlich nicht repräsentativen Mortalitätsalter verantwortlich sein können, wobei ein Problem die Todesalterbestimmung ist (AUFFERMANN & ORSCHIEDT 2002).

AYKROYD et al. (1999) haben die üblichen Alterseinschätzungen auf der Grundlage von Abnutzungseinschätzungen von Knochen und Zähnen kritisiert. Bei der sehr begrenzten Zahl von Fällen, in denen das Skelett- und Zahntodesalter von adulten (erwachsenen) Individuen aufgrund von anderen vertrauenswürdigen Quellen mit dem wahren Todesalter verglichen werden konnte, zeigte sich eine Unterschätzung bei den älteren und eine (in geringerem Maße) Überschätzung der jungen Individuen mit der Folge einer zu geringen Altersangabe der Gesamtpopulationen.

VOGT (2000) zitiert als Beispiel einer besonders krassen Fehleinschätzung die Untersuchungen am Maya-Fürst Hanab Pakal, der im 7. Jahrhundert n. Chr. lebte. Anthropologen gaben in den 1950er Jahren sein Todesalter mit 40 Jahren an. Drei Jahrzehnte später fand man eine Grabsteininschrift mit der Angabe, dass dieser Herrscher erst mit 80 Jahren verstarb.

Das Resumee ihrer Untersuchung haben AYKROYD et al. (1999, S. 55) an den Anfang des Titels ihrer Publikation geschrieben „Nasty, brutish, but not necessarily short …“13 Wenn auch die Skelettalterbestimmung bei Erwachsenen nur grob möglich ist, zeigen Beispiele, dass die Frühmenschen entgegen weitverbreiteter Meinung auch älter werden konnten. So wird das Alter des Schienbeins von Shanidar 2, einem Neandertaler aus dem Jungpleistozän, aufgrund einer knochengeweblichen Untersuchung mit 27,7-44,7 oder 46,2-64,0 Jahre (je nach verwendeter Formel) angegeben. Für ein Schienbein aus Boxgrove aus dem Mittelpleistozän (ca. Jahre 500 000 v. h.) betragen die entsprechenden Einschätzungen 31,0-48,0 oder 53,7-71,5 Jahre (STREETER et al. 2001).

Abb. 12: Vergleich der Überlebensraten der Neandertaler mit denen lebender Jäger- und Wildbeuterpopulationen. (Nach Daten von TRINKAUS 1995)

Eine weitere Unsicherheit bei der Bestimmung von Mortalitätsprofilen von Populationen betrifft die Frage, inwieweit die gefundenen Skelettteile überhaupt die Gesamtbevölkerung repräsentieren (AYKROYD et al.1999, AUFFERMANN & ORSCHIEDT 2002). Auf dieses Problem soll hier aber nicht weiter eingegangen werden.

2.3 Ergebnis

Als Fazit bleibt festzuhalten, dass eine Abschätzung der Geburtenrate anhand der Skelettreste der Paläolithiker nicht möglich ist. Aber auch die Lebenserwartung lässt sich auf dieser Basis nicht sicher ablesen.

Demographische Eckdaten sind anhand von Skeletten nicht bestimmbar.

Allerdings kann man, wenn auch nur sehr grob, durch Einschätzung der Lebensbedingungen auf Geburtenrate und Sterblichkeit schließen. Da die Kulturen der Vorzeit nach derzeitigem Kenntnisstand alle auf dem Jagen und Sammeln beruhten, liegt es nahe, auf der Suche nach Lösungen für das bevölkerungsdynamische Rätsel der menschlichen Vorgeschichte zunächst die paläolithischen Lebensbedingungen zu studieren und anschließend die demographische Situation heutiger Jäger und Sammler, die unter vergleichbaren Bedingungen leben, genauer zu betrachten.

3. Lebensverhältnisse in der Steinzeit

Das Leben der Frühmenschen wird oft als düster geschildert. Es sei kurz und brutal gewesen. Können diese bedrückenden Lebensumstände nicht das fehlende Bevölkerungswachstum in vorgeschichtlicher Zeit erklären? Doch stimmt dieses Bild überhaupt? Wie gut war die Ernährung der Frühmenschen? An welchen Krankheiten litten sie? Wir wollen im Folgenden auf all diese Fragen eingehen. In Abschnitt 1.2 wurde schon dargelegt, dass im Paläolithikum und noch im Mesolithikum die Menschen auf der Erde ausschließlich Jäger und Sammler waren. Ackerbau und Viehwirtschaft entwickelten sich erst später im Neolithikum. Auch eine zweite wichtige Tatsache kam in diesem Kapitel zur Sprache: Die Menschheit war nahezu während des gesamten Paläolithikums eine kolonisierende Bevölkerung, d. h. sie besiedelte nach und nach eine zuvor von Menschen unbewohnte, meist ressourcenreiche Welt. Dieser Umstand hat, wie im Folgenden gezeigt wird, die Lebensbedingungen im Paläolithikum stark bestimmt.

Die Lebensverhältnisse der Menschen in vorgeschichtlicher Zeit können zum einen auf der Grundlage der Hinterlassenschaften ihres Lebens (z. B. Nahrungsüberreste, Werkzeuge) und zum anderen auf der Basis ihrer Skelettüberreste beurteilt werden. Anhand beider Arten von Hinterlassenschaften wollen wir uns ein Bild von den Lebensumständen der Frühmenschen machen.

3.1 Ernährungssituation – Theoretische Überlegungen und Fundplatzüberreste

Im Folgenden wird zunächst auf die Rangordnung von Nahrungsquellen bei Jägern und Sammlern eingegangen. Es geht dabei um die Frage, welche Nahrungsressourcen unter welchen Bedingungen bevorzugt genutzt werden. Danach werden die Ernährung von rezenten und paläolithischen Jägern und Sammlern und die Nahrungsquellen als Indikatoren der Bevölkerungsentwicklung betrachtet.

3.1.1 Rangordnung der Nahrungsquellen bei Jägern und Sammlern

Jäger und Sammler ernähren sich von einer großen Anzahl wilder Pflanzen und Tiere. Diese Nahrung kann man nach ihrer Rentabilität in eine Rangordnung einstufen. Hochrangige Ressourcen liefern reichlich Nahrung im Verhältnis zu den Mühen, die das Auffinden, die Beschaffung und Verarbeitung der Nahrung machen. Bei niedrigrangiger Nahrung dagegen ist das Verhältnis des Nahrungswertes zum Aufwand schlecht.

Man kann die verschiedenen Nahrungsmittel nach Energiewert pro Gewichtseinheit (Bruttoertrag) und nach Energiewert pro Stunde Aufwand zur Ertragsgewinnung (Nettoertrag) einstufen. Ergebnisse von experimentellen und ethnographischen (völkerkundlichen) Studien über Brutto- und Nettoertrag verschiedener Nahrungsquellen sind in Tab. 6 aufgeführt. Aus diesen Untersuchungen lassen sich einige allgemeingültige Schlüsse ziehen (KUHN & STINER 2001).

Beim Bruttoertrag stehen an erster Stelle kalorienreiche Lebensmittel wie Getreide und Nüsse, dann Fleisch, verschiedene andere Nahrungsklassen und zuletzt Blätter. Beim Nettoertrag dagegen herrscht eine andere Reihenfolge. Fleisch steht hier an erster Stelle, doch muss noch zwischen Groß- und Kleinwild unterschieden werden. Das Fleisch kleiner Tiere ist zwar bezogen auf ihr Gewicht so nahrhaft wie das Fleisch großer Tiere, aber das Einfangen bzw. das Jagen kleiner Tiere ist oft aufwändiger und der Nettoertrag damit geringer. So erfordert das Erlegen eines Huftiers (Reh) zwar mehr Energie als das Einfangen eines Hasen, doch müssen viele Hasen gefangen und zubereitet werden, um die gleiche Fleischmenge zu gewinnen, die ein nur mäßig großes Huftier liefert. Kleine Säugetiere, Reptilien und Vögel nehmen auf dieser Skala Mittelplätze ein, können aber aus anderen Gründen attraktiv sein. Sie sind beständiger verfügbar, und z. B. können Schalentiere und manche Reptilienarten auch von alten Menschen und Kindern eingesammelt werden. Der Nettonahrungsertrag von Getreide und Nüssen ist relativ gering, weil ihre Verarbeitung z. B. durch Mahlen und Zerstampfen sehr arbeitsintensiv ist. Der Bruttoenergieertrag von Getreide in Tab. 6 bezieht sich auf den gekochten Zustand. Ohne diese arbeitsintensive Zubereitung wäre der Energiewert weit geringer (KUHN & STINER 2001).

NahrungsklassenEnergie in MJ(kcal)/kg Nahrung (Bruttoenergieertrag)Energie in MJ(kcal)/Stunde Aufwand zur Gewinnung (Nettoenergieertrag)
Samen und Nüsse13,188 (3150)3,520 - 6,508 (841 - 1554)
Wurzeln und Knollen2,926 (699)6,120 - 10,412 (1462 - 2487)
Großwild6,980 (1667)63,398 (15142)
Kleine Säugetiere6,980 (1667)16,034 (3830)
Reptilien4,489 (1072)15,850 (3786)
Vögelkeine Angaben4,472 (1068)
Früchte2,403 (574)keine Angaben
Blätter1,250 (299)keine Angaben

Tab. 6: Durchschnittlicher Brutto- und Nettoenergieertrag verschiedener Nahrungsklassen für Jäger und Sammler. (Nach KUHN & STINER 2001)

Nahrungsquellen mit großem Nettoertrag sind im Allgemeinen selten, solche mit geringem Nettoertrag häufiger zu finden. Großes Wild ist weit verteilt und über größere Strecken mobil. Dagegen lebt kleineres Wild in höherer Dichte. Getreide und Nüsse erbringen von allen Nahrungsquellen den geringsten Nettoertrag, sind aber am reichlichsten vorhanden und örtlich konzentriert (KUHN & STINER 2001).

UHNTINER