


Dieses E-Book darf ausschließlich auf einem Endgerät (Computer, E-Reader) des jeweiligen Kunden verwendet werden, der das E-Book selbst, im von uns autorisierten E-Book Shop, gekauft hat.
Jede Weitergabe an andere Personen entspricht nicht mehr der von uns erlaubten Nutzung, ist strafbar und schadet dem Autor und dem Verlagswesen.
ISBN 978-3-7751-7197-7 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5525-0 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book:
CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
© der deutschen Ausgabe 2014
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: info@scm-haenssler.de
Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch
Titelbild: Torjubel nach dem Treffer zum 4:0 im WM-Spiel gegen Australien am 13. Juni 2010, © KARIM JAAFAR/AFP/Getty Images
Umschlag: Porträt Cacau, © Alexander León Diaz;
Porträt Oliver Bierhoff, © GES/Oliver Hurst
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach
Vorwort
Von Oliver Bierhoff
| Davi | ||
| Teil | 1 | Daheim in Brasilien |
| 1 | Kindheit in Mogi das Cruzes | |
| 2 | Alltag mit einem Alkoholabhängigen | |
| 3 | Keine vierundzwanzig Stunden ohne Fußball | |
| 4 | »Sei mutig und stark!« | |
| Levi | ||
| Teil | 2 | Zwischen zwei Welten |
| 1 | Ankunft in der Fremde | |
| 2 | In der fünften Liga | |
| 3 | Allein in Nürnberg | |
| Lidia | ||
| Teil | 3 | Zu Hause in Deutschland |
| 1 | Heimisch im Remstal | |
| 2 | Magische Momente | |
| 3 | Wechselhafte Jahre | |
| 4 | Eine Herzensangelegenheit | |
| 5 | Hier kommt Helmut | |
| 6 | Der Kreis schließt sich | |
Epilog
Anhang
Steckbrief
Glossar
Bildnachweis
Textnachweis
Bildteile
Bildteil 1
Bildteil 2
Bildteil 3
Bildteil 4
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Es sind die persönlichen Einblicke, die einen Menschen in all seinen Facetten erkennbar werden lassen. Zwar kennen Millionen Fans Cacau, als Bundesliga-Profi und deutschen Nationalspieler; als leidenschaftlichen Fußballer, dessen charakterlicher wie fußballerischer Werdegang tief beeindruckt. Vieles bleibt für sie aber Oberfläche.
Wer kennt Cacau wirklich? Den Menschen, seine Emotionen, seine Zweifel und seine Sehnsüchte? In diesem Buch – und das macht es so wertvoll – lernen wir ihn kennen, vor allem außerhalb des Platzes.
Natürlich wird auch hier sein sportlicher Werdegang beschrieben – der ihn von São Paulo über München, Nürnberg und Stuttgart in die weite Fußball-Welt führte. Als Torjäger des Landesligisten Türk Gücü München machte er auf sich aufmerksam, in Nürnberg konnte er sich in der Bundesliga etablieren, und 2007 machte er dann sein deutsches Meisterstück mit dem VfB Stuttgart. Empfehlungen, die ihn auch für die internationale Bühne interessant machten. 2009 debütierte er in der deutschen Nationalmannschaft bei der Partie gegen China in Shanghai, und bei der WM ein Jahr danach stand er im Kader, der in Südafrika den dritten Platz belegte. Fast dreihundert Einsätze in der Bundesliga dokumentieren einen bewundernswerten Lebensweg voller Höhepunkte, aber auch mit Rückschlägen und Tiefen.
Das Buch nimmt Sie, liebe Leserinnen und Leser, mit auf eine Reise, zurück in die Zeiten, in denen Cacau in ärmlichen Verhältnissen in der Region São Paulo aufwuchs. Sein Leben dort war geprägt von Verzicht, Problemen und unerfüllten Träumen. Doch auch seine ersten Schritte in Deutschland waren nicht von Leichtigkeit bestimmt. Auf sich allein gestellt, musste er sich in einer für ihn völlig fremden Welt neu orientieren. Sein Leben als Familienvater, sein vielfältiges Engagement als populärer Integrations-Botschafter und das damit verbundene öffentliche Eintreten für ein herausragendes gesellschaftliches Thema werden ebenso beleuchtet wie seine sozialen Projekte, mit denen er meist im Stillen wirkt. Eine große Rolle spielt natürlich auch sein christlicher Glaube, der für ihn die Grundlage allen Handelns ist. All das fügt sich zu dem Gesamtbild »Cacau«, zu einem geschätzten, liebenswerten und verantwortungsbewussten Menschen.
Gerne erinnere ich mich an die vielen tief gehenden, reflektierten Gespräche über den Fußball und das Leben, über Gott und die Welt, die ich mit ihm in seiner Zeit als Nationalspieler führen durfte. Oft ruhig und nachdenklich, konnte er aber mit einem Mal emotional, ja heißblütig auf dem Platz sein, wenn es nicht nach seinen Vorstellungen lief. Bei allem großen Ehrgeiz, der ihn stets antrieb, ging es ihm in erster Linie immer um den Erfolg der Mannschaft, um Teamgeist. In großer Offen- und Entschlossenheit hat er stets seine Meinung geäußert, um die Dinge voranzubringen, in die richtige Richtung zu lenken.
Ein Erlebnis, das ich mit Cacau verbinde, kommt mir immer wieder in den Sinn: Es war der 13. Juni 2010, unser erstes Spiel bei der WM in Südafrika, in dem wir 4:0 in Durban gegen Australien siegten. Den vierten Treffer erzielte Cacau in der siebzigsten Minute, nachdem er zwei Minuten zuvor von Bundestrainer Joachim Löw für Miroslav Klose eingewechselt worden war. Der anschließende Torjubel sollte weit über das sportliche Geschehen dieser Weltmeisterschaft hinaus für die deutsche Nationalmannschaft einen besonderen Stellenwert gewinnen.
Denn der gläubige Christ Cacau und der im Islam verwurzelte Mesut Özil feierten gemeinsam das gelungene WM-Debüt von Cacau. Beide umarmten sich nicht nur herzlich, sondern brachten außerdem ihren Glauben mit deutlichen Gesten zum Ausdruck, als jeder mit den Händen nach oben deutete. Ein Moment, der für viele zum Symbol geworden ist. Und das nicht nur für ein deutsches »Multikulti«-Team, das in Südafrika ob seiner attraktiven Spielweise und seines sympathischen Auftretens weltweit enorme Reputation erlangte. Für viele internationale Berichterstatter war diese Szene der Auslöser, um in ihren Kommentaren davon zu schreiben, dass wir in Südafrika für ein modernes, friedliches, integratives Deutschland standen – ein Vorbild abgaben, eine Visitenkarte in die Welt schickten …
Auch diese Begebenheit ließ mich Cacau schätzen lernen. Einen charismatischen Menschen, der damals einer von elf Nationalspielern mit Migrationshintergrund in unserem dreiundzwanzigköpfigen WM-Aufgebot war. Meine Verbundenheit mit ihm hält bis heute an.
Weit über das Sportliche hinaus vermochte Cacau seine Spuren im deutschen Fußball zu hinterlassen. Mit seinen menschlichen Qualitäten, seiner positiven Ausstrahlung, seiner Zuversicht und seiner Lebensfreude. Fast immer hatte er bei Länderspiel-Reisen ein Lächeln auf dem Gesicht und eine Aufmunterung für die Teamkollegen bereit. Auch bei Pressekonferenzen setzte er sich klug und kurzweilig ins Bild. Er redete im wahrsten Sinne des Wortes über Gott und die Fußball-Welt und avancierte damit schnell zu einem Sympathieträger, sogar bei den meist zurückhaltenden professionellen Zuhörern.
Seine Berufung als Integrations-Botschafter des Deutschen Fußball-Bundes war logische Konsequenz. Seine für ihn in dieser Rolle selbstverständlichen und couragierten Auftritte gehören längst zu dem positiven Bild in der Öffentlichkeit, ebenso wie sein Wirken als Christ, der täglich in der Bibel liest und gemeinsam mit seiner Familie in einer Gemeinde im Raum Stuttgart seinen Glauben lebt. Dass sein Fokus 2014 gen Brasilien geht, wo die besten Fußballer der Welt zusammentreffen, ist nicht nur selbstverständlich, sondern wird auf den folgenden Seiten dadurch lebendig, dass die Autorin Elisabeth Schlammerl gemeinsam mit Cacau Stätten seiner Jugend aufsuchte, um Geschichten und Geschichtchen, Erinnerungen und Begegnungen, Erlebtes und Durchlittenes lebendig werden zu lassen.
Ein packendes Buch – über das Leben, das Versagen und Siegen, das Leiden und Jubeln. Ein Buch, das Sie mitnimmt auf die Reise durch Stadien dieser Erde und Stationen eines beeindruckenden Lebens.
Viel Freude bei der Lektüre!

Oliver Bierhoff
Manager deutsche Fußball-Nationalmannschaft
Januar 2014

Nachdenklich, aber glücklich: Ich hadere nicht mit meiner Verletzung, sondern genieße die Zeit im Kreise meiner Familie, hier mit Lidia und Levi.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Mein Sohn Davi liegt auf meinem Bauch und schläft. Gedankenverloren streichle ich über seinen Kopf. Meine anderen beiden Kinder, Lidia und Levi, toben ein paar Meter entfernt durch das Wohnzimmer. Ein Stoffball fliegt gegen die Fensterfront. Auch wenn ich mich im Moment nur mithilfe von zwei Krücken mühsam durch unser Haus bewegen kann: Ich bin glücklich. An Fußballspielen ist in den nächsten Monaten nicht zu denken – und ich genieße die ungewohnte Situation.
Mein jüngster Sohn ist vor ein paar Wochen auf die Welt gekommen, fünf Tage bevor ich mir jenen Kreuzbandriss zuzog, der mich im Moment zum Stillhalten zwingt. Ich muss eine Schiene tragen und darf das lädierte linke Bein noch nicht belasten. Während meine Teamkollegen auf dem Rasen schwitzen, lasse ich mich einmal am Tag von meiner Schwägerin Tatiana zur physiotherapeutischen Behandlung in die VfB Reha-Welt fahren, gleich neben dem Stadion des VfB Stuttgart. Dort bekomme ich Lymphdrainagen. Sehr viel mehr ist derzeit noch nicht drin.
Die verhängnisvolle Szene im Training steht mir noch immer vor Augen, als ob sie gestern geschehen wäre. Es war Mittwochnachmittag, 17. Oktober 2012, die letzte Aktion der Übungseinheit, in der mich wieder einmal mein Ehrgeiz getrieben hatte. Vielleicht lag es daran, dass ich im Spiel zuvor nicht einmal eingewechselt worden war. Ich wollte mir, ich wollte dem Trainer beweisen, dass ich in die Mannschaft gehöre, und strengte mich deshalb ganz besonders an. Bei einem Zweikampf mit Antonio Rüdiger knickte ich dann nach innen weg. Ein heftiger Schmerz durchzuckte mein Knie. Ich schrie auf.
Als ich am Boden lag, spürte ich sofort: Das Innenband ist gerissen. Allerdings glaubte ich zuerst fest, dass es das Kreuzband nicht erwischt hatte, zumindest nicht das vordere.
Ich ließ mich anschließend sofort in das Haus des Sports neben der Mercedes-Benz Arena zur Untersuchung bringen. Dort bestätigte Doktor Heiko Striegel meinen Verdacht. Das Innenband war gerissen. Sicherheitshalber ordnete er eine Kernspintomografie an. Aber als er danach, begleitet von zwei Kollegen, mit gesenktem Kopf auf mich zukam, wusste ich sofort: Da war noch mehr kaputtgegangen bei diesem – letztendlich unnötigen – Tackling am Ende des Trainingsspiels. Also doch das Kreuzband! Das war’s wohl mit der WM, schoss es mir durch den Kopf. Es wäre etwas ganz Besonderes, im Sommer 2014 in Brasilien für die deutsche Nationalmannschaft zu spielen. Ich fühle mich zwar mittlerweile als Deutscher und bin hier im Remstal seit zehn Jahren zu Hause, aber aufgrund meiner Wurzeln werde ich immer auch Brasilianer bleiben.
Dass nicht das vordere Kreuzband gerissen war, erschien mir zunächst als Glück – wenn man in diesem Moment überhaupt von Glück sprechen konnte. Denn das hintere Kreuzband, so erklärte mir Heiko Striegel, lässt sich mit Muskeltraining ganz gut kompensieren und auch konservativ behandeln.
Unser Physiotherapeut Detlef Müller brachte mich anschließend nach Hause. Ich konnte mit meiner Schiene ja nicht mehr selbst Auto fahren. Vom ersten Schrecken hatte ich mich nun schon etwas erholt. Ich war erleichtert, dass ich erst einmal um eine Operation herumkam.
Einen erneuten Dämpfer erhielt ich am Abend. Als ich mit der Schiene auf der Couch lag, telefonierte ich mit unserem Teamarzt Raymond Best, einem erfahrenen Sport-Orthopäden. »Wenn ich jemandem ganz sicher diese Verletzung nicht gewünscht hätte, dann bist du das«, sagte er. Ich verstand nicht ganz, warum. Ich habe doch noch Glück gehabt, dachte ich. Die Schiene müsse ich sechs Wochen tragen. Erst dann werde sich herausstellen, ob das stark eingerissene Kreuzband zusammengewachsen und stabil genug ist, erklärte mir Raymond Best. Wenn nicht, müsse ich doch noch unters Messer. Statt der geschätzten drei bis vier Monate Pause würde ich so insgesamt mehr als ein halbes Jahr ausfallen. Bei dieser Nachricht war ich dann doch sehr geschockt.
Es ist natürlich bitter, dass ich nun zum Nichtstun verurteilt bin und meinen Bewegungsdrang nicht ausleben kann. Noch schlimmer – so dachte ich zunächst – sei es allerdings, zuschauen zu müssen, wie meine Kollegen alle drei, vier Tage in der Bundesliga und der Europa League um Punkte kämpfen. Trotzdem ging ich gleich zum nächsten Spiel ins Stadion. Es war kein besonders schönes Gefühl, nur auf der Tribüne sitzen zu können, aber nicht so schlimm wie befürchtet.
Denn ich kann mich jetzt mehr um meine Familie kümmern. Ich genieße die Zeit mit dem kleinen Davi und unterstütze meine Frau Tamara – soweit es die Schiene eben erlaubt. Außerdem habe ich viel Zeit zum Nachdenken, auch über meinen Beruf. Im Trainings- und Spielalltag kommt das viel zu kurz. Man befindet sich meist wie in einem Tunnel, beschäftigt sich nur mit dem bevorstehenden Spiel, dem Trainingsalltag und mit der eigenen Situation. Zufriedenheit und Glück hängen dann manchmal zu sehr davon ab, ob man selbst gute Leistungen bringt und die Mannschaft erfolgreich spielt. Deshalb ist es ganz gut, wenn man es schafft, von Zeit zu Zeit über den Profifußball zu reflektieren.
Nun schaue ich seit Langem, vielleicht sogar zum ersten Mal in meiner Profilaufbahn, mit etwas Abstand auf meinen Beruf und bekomme dadurch eine andere, neue Sichtweise. Ich bin nun über dreißig und damit im »Finale« meiner Karriere angekommen. Wenn es gut geht, kann ich vielleicht noch zwei bis drei Jahre auf höchstem Niveau spielen.
Mit meiner Verletzung hadere ich nicht mehr. Ich nehme die Dinge an, wie sie sind, denn ich kann ohnehin nichts daran ändern und vertraue auch dieses Mal darauf, dass alles gut geht. Wie bisher auch alles in meinem Leben, das einst nicht unter den besten Voraussetzungen begonnen hatte.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Meine Mutter lacht noch immer herzhaft, wenn sie sich daran erinnert, wie ich zu meinem Spitznamen kam.
Ich feierte meinen dritten Geburtstag. Verwandte und Freunde saßen bei uns daheim um den Tisch und sangen Parabéns pra Você für mich. In der brasilianischen Version von Happy Birthday wird am Ende gefragt, wer sich an diesem Tag etwas wünschen dürfe. Das Geburtstagskind antwortet daraufhin mit seinem Namen. Meine Familie wartete an jenem 27. März 1984 gespannt darauf, wie sich der kleine Claudemir Jerônimo Barreto nennen würde.
»Cacaudemir«, sprudelte es stolz aus mir heraus. Ich erfreute zu jener Zeit meine Eltern regelmäßig mit ulkigen Wortschöpfungen, doch diese blieb nicht ohne Folgen für mich.
»Ab jetzt heißt du Cacau«, entschied meine Mutter. Seitdem kann sich kaum mehr jemand an meinen richtigen Namen erinnern. Ich bin überall Cacau. Nur die Lehrer und ein paar Mädchen in der Schule nannten mich später noch Claudemir.
Es war vielleicht einer der letzten halbwegs sorgenfreien Momente für unsere Familie. Gut zwei Jahre später zogen wir in unser Häuschen in Mogi das Cruzes, in der Rua A, Nummer 100. Meine Mutter hatte meinen Vater zum Kauf überredet. Oder besser gesagt: Sie hatte ihn dazu gezwungen. Davor waren wir oft umgezogen, hatten in mehr oder weniger armseligen Wohnungen zur Miete gelebt. Dann war am südöstlichen Stadtrand eine Siedlung mit knapp hundert kleinen Häusern entstanden, die sozial schwache Familien mithilfe eines günstigen Darlehens erwerben konnten. Dies schien eine gute Gelegenheit, eine eigene Immobilie zu kaufen, denn viel Geld hatten wir nicht.
Mein Vater arbeitete damals als Maschinist in einer Traktorenfabrik. Er musste mit seinem kargen Lohn die ganze Familie ernähren, denn meine Mutter kümmerte sich erst einmal um ihre drei Kinder. Die hatte sie in sehr kurzen Abständen zur Welt gebracht. Ich bin nur eineinhalb Jahre nach meinem Bruder Vlademir geboren. Damals hatten wir noch bei der Familie meiner Mutter im gut siebzig Kilometer entfernten São Bernardo gewohnt. Mein kleiner Bruder Ademir wiederum ist nicht einmal zwei Jahre nach mir auf die Welt gekommen. Bald danach sind wir nach Mogi das Cruzes umgezogen, einer damals gut zweihunderttausend Einwohner zählenden Universitätsstadt im Speckgürtel von São Paulo.
Der Darlehensvertrag für das Haus lief dreißig Jahre, und deshalb waren die monatlichen Raten relativ niedrig. Ein Glücksfall für uns. Die Mieten, die wir zuvor für die Wohnungen bezahlt hatten, waren zum Teil höher gewesen. Es gab ein kleines Wohnzimmer, eine kleine Küche, ein Bad und jeweils ein Schlafzimmer für die Eltern und eines für uns Jungen. Die Wohnfläche betrug nicht viel mehr als fünfzig Quadratmeter. Unsere wenigen Habseligkeiten transportierten wir am Tag des Einzugs mit einem Traktor, den sich mein Vater von seinem Arbeitgeber ausgeliehen hatte. Über nicht asphaltierte und deshalb holprige Straßen am Stadtrand von Mogi das Cruzes entlang erreichten wir das kleine Neubaugebiet.
Wir waren eine der ersten Familien, die ihr Haus bezogen. Damals gab es rund um die kleine Siedlung nur Brachland. Das hat sich im Laufe der Jahre geändert. Die unbebauten Flecken in dieser Gegend sind weniger geworden. Mittlerweile stehen zwei Straßen weiter sogar ein paar höhere Wohnhäuser. Als wir in der Rua A, einer kleinen, unbefestigten, holprigen Straße mit Schlaglöchern, ankamen, stand auf der anderen Straßenseite ein kleiner Junge und rief erstaunt: »Traktor, Traktor!« Ich glaube, er hatte solch ein Gefährt zuvor nur von Bildern gekannt.
In Brasilien verfügen die wenigsten Häuser in den Städten über Gärten oder wenigstens eine kleine Rasenfläche; nicht einmal in besseren Wohngegenden gehört das zum Standard. Statt einer Hecke oder eines Gartenzauns wie in Deutschland trennt die einzelnen Grundstücke oft nur eine schmucklose Mauer. In den Stadtteilen der Wohlhabenderen hat diese Abschottung vor allem Sicherheitsgründe. In unserem Viertel lag das eher am Preis. Die einzelnen Grundstücke waren relativ klein, rund um die Häuser gab es auf jeder Seite nur ein paar Quadratmeter Platz. Eine Betonwand war somit die kostengünstigste Möglichkeit, eine kleine Intimsphäre zu schaffen.
Wer es nicht gewohnt ist, umringt von drei oder vier Mauern zu sein, fühlt sich womöglich eingesperrt. Mittlerweile empfinde ich es auch ein bisschen bedrückend, denn in Deutschland habe ich großzügige Grundstücke mit viel Grün schätzen gelernt. Damals aber kannte ich es nicht anders. Deshalb machte ich mir darüber natürlich keine Gedanken. Mir gefiel unser Häuschen, so einfach, wie es war.
In der kleinen Siedlung zogen nach und nach viele Familien mit Kindern ein. Es herrschte eine friedliche Atmosphäre in den drei Straßen, und Kriminalität kam so gut wie nicht vor. Die Leute hatten alle eine feste Arbeit, wenngleich sie nicht üppig verdienten und sich keinen großen Luxus wie etwa ein Auto leisten konnten.
Allerdings stellte sich bald heraus, dass alle Nachbarn im Gegensatz zu uns ein weitgehend sorgenfreies Leben führten. Rundherum wurden die Häuser, die nur mit einer Basisausstattung verkauft worden waren, nach und nach herausgeputzt. Nur bei uns blieb fast alles, wie es am Anfang war. Wir hatten kein Geld, um Steinplatten um unser Haus zu legen oder die Außenmauer vollständig zu verputzen. Wir hatten nicht einmal genug Geld, um Kleinigkeiten zu erneuern. Nachdem irgendwann der Lichtschalter neben der Eingangstür kaputtgegangen war, mussten wir jedes Mal zwei Kabel kurzschließen, um die Deckenlampe in Betrieb zu nehmen.
Nur die Fläche hinter und neben dem Haus betonierten wir nach ein paar Jahren. Anfang dieses Jahrtausends, kurz bevor meine Mutter das Haus verkaufte, hatte ich von meinem Amateurgehalt in Nürnberg etwas gespart. Mit diesem Geld sorgte ich bei meinem Besuch in Mogi das Cruzes dafür, dass endlich die Schotterauffahrt befestigt wurde und wir ein ordentliches Eingangstor anbringen konnten.
Wir mussten uns die Raten für die eigene Immobilie im wahrsten Sinne des Wortes vom Munde absparen. Nur selten spricht meine Mutter davon. Sie erinnert sich ungern an diese harten Zeiten: »Ich habe früher, wenn ich ins Bett gegangen bin, manchmal nicht gewusst, was wir am nächsten Tag essen werden.«
Unsere Ernährung war nicht sehr abwechslungsreich oder gar ausgewogen. Manchmal standen wir noch immer hungrig vom Tisch auf. Es gab Bohnen mit Reis und Ei, manchmal nur Reis und Ei oder grünen Salat. Fleisch oder Fisch bedeutete Luxus für uns, den wir uns nicht leisten konnten.
Als sich meine Mutter dann später bei gut situierten Familien in São Paulo um den Haushalt kümmerte, brachte sie manchmal ein kleines Stück Fleisch mit, den großzügig abgeschnittenen Fettrand einer Lende zum Beispiel, den man sonst weggeworfen hätte. Oder sie durfte Essensreste nach einer Einladung mitnehmen.
»Hast du etwas mitgebracht?«, fragten wir deshalb fast immer erwartungsvoll, wenn unsere Mutter am Abend nach Hause kam. Ohne eine Antwort abzuwarten, durchsuchten wir ihre Tasche. Wenn wir etwas fanden, war das für uns wie ein Feiertag.
Not machte auch uns erfinderisch, und manchmal begaben wir uns dabei an den Rand des gesetzlich Erlaubten. Ein paar Meter von unserem Haus entfernt, weiter oben an der Straße, befand sich eine Plantage mit vielen Kaki-Bäumen. Wir kletterten oft über den Zaun und stibitzten die leckeren Früchte. Ab und zu wurden wir vom Besitzer erwischt – und wüst beschimpft. »Haut ab, sonst setzt es eine Tracht Prügel«, brüllte er uns nach.
Bei dem kleinen Kiosk am Ende der Straße, den eine Nachbarin betrieb, ließen wir oft anschreiben. »Ganz bestimmt kommen wir morgen vorbei und bezahlen«, versprachen wir der netten Frau. Wir beglichen unsere Schulden aber weder am nächsten Tag noch am übernächsten. Wir hatten schlicht und ergreifend kein Geld. Die Kioskbesitzerin war deshalb ziemlich verärgert.
Als unsere Mutter davon erfuhr, wurde sie sehr böse. »Das macht ihr nie wieder«, schärfte sie uns ein. Bei der Nachbarin bezahlte sie die Schulden, entschuldigte sich und bat sie, uns nur noch gegen Bargeld – das wir natürlich nie hatten – zu bedienen. Es war ihr schon peinlich genug, dass sie selbst manchmal bei Bekannten betteln musste, um ihre Familie zu ernähren. Mal brauchte sie ein Ei, mal ein bisschen Mehl oder Zucker.
Meine Mutter empfand die Situation sicher schlimmer als wir, zumindest, solange wir klein waren. Für uns war das karge Leben Normalität, obwohl wir sahen, dass es den Leuten rundherum etwas besser ging. Aber wenn man es gewohnt ist, mit wenig auszukommen, vermisst man auch nichts. Später, als wir in die Schule gingen, lernten wir andere Familien kennen, die zwar ebenfalls nicht reich waren, aber immerhin genügend Geld besaßen, um ausreichend Essen auf den Tisch zu bringen, den Kindern ordentliche Kleidung und ein bisschen Spielzeug zu kaufen. Da wurden uns die sozialen Unterschiede und unsere eigene schwierige Situation erst richtig bewusst. Die größten Sorgen hatte meine Mutter, wenn einer von uns krank war und Medikamente benötigte, die wir uns nicht leisten konnten. »Alles andere«, sagt sie im Rückblick, »schafft man irgendwie.«
Leckereien gab es bei uns so gut wie nie. Manchmal bettelte meine Mutter an unseren Geburtstagen die Zutaten für einen einfachen Kuchen bei den Nachbarn zusammen und überraschte uns damit. Das war dann aber meistens auch das einzige Geschenk, das es gab. Den Kuchen aber aßen wir nicht allein, sondern luden die Nachbarskinder zu uns ein, mit uns zu feiern. An Weihnachten gab es oft ein besonders leckeres Essen – zumindest für unsere Verhältnisse. Manchmal lag sogar für jeden von uns ein kleines Geschenk unter dem Plastikweihnachtsbaum, der nach den Feiertagen wieder zusammengeklappt und in die Ecke gestellt wurde.
Wir lernten früh, uns selbst zu beschäftigen und Spiele zu erfinden, um uns die Zeit zu vertreiben. Am Ende unserer Straße befand sich eine freie Rasenfläche, auf der später einmal ein Spielplatz entstehen sollte; doch da war ich längst weggezogen. Wir brauchten damals aber auch weder Klettergerüst noch Sandkasten. Wir waren selig, ein kleines Areal zu haben, auf dem wir herumtoben – und natürlich Fußball spielen – konnten.
Spielzeug gab es kaum in unserem Haus, ganz selten bekamen wir von Freunden oder auch von weiter entfernt wohnenden Verwandten bei ihren seltenen Besuchen etwas geschenkt. Meist waren die Teile dann schon gebraucht – und bald kaputt. Denn auch wir unterschieden uns nicht von anderen Kindern und gingen keineswegs besonders pfleglich mit unseren Sachen um. Am häufigsten bekamen wir einen Ball geschenkt. Es war ein halbwegs preisgünstiges Präsent, weil es sich natürlich in der Regel nicht um einen hochwertigen Fußball handelte. Außerdem hatte es den Vorteil, dass wir drei Brüder damit gemeinsam spielen konnten.
Eines Tages – ich war etwa neun Jahre alt – kam meine Mutter mit einer großen Plastiktüte nach Hause. Wir waren natürlich wahnsinnig neugierig. »Was ist in der Tüte?«, fragten wir aufgeregt. Sie schmunzelte. Doch dann sah sie die unaufgeräumten Zimmer und wurde wütend. Den Inhalt der Tüte präsentierte sie uns anschließend, aber nur, um die nagelneuen Fußballschuhe gleich wieder wegzupacken. »Die verschenke ich an andere Kinder. Denn ihr habt sie heute nicht verdient«, schimpfte sie. Tatsächlich brachte sie die Schuhe zu unseren Nachbarn. Dort blieben sie, bis das Haus picobello sauber war. Vermutlich hatten wir noch nie so schnell und so gründlich geputzt wie an diesem Tag.
Mutter war versöhnt und überreichte schließlich Vlademir schwarz-gelbe und mir schwarz-rote Schuhe. Vermutlich war sie ganz froh, dass sie nicht auch noch auf Schuhe für Ademir hatte sparen müssen. Mein jüngerer Bruder legte damals keinen großen Wert auf Fußball. Nur gelegentlich, wenn er von uns dazu gedrängt wurde, kickte er mit.
Bis dahin hatten wir meistens barfuß gespielt – oder mit alten Turnschuhen, die wir geschenkt bekommen hatten. Manchmal liehen wir uns auch die abgetragenen Fußballschuhe von Freunden. Nun waren wir zum ersten Mal im Besitz von eigenen, brandneuen Schuhen. Was für ein unglaubliches Glücksgefühl! Als wir das erste Mal damit auf dem Fußballplatz auftauchten, platzten wir fast vor Stolz, obwohl das eigentlich nur für uns etwas ganz Besonderes war. Die meisten unserer Mitspieler hatten halbwegs gute Schuhe. Ich zog diesen Traum in Schwarz-Rot in den ersten Tagen überhaupt nicht mehr aus, legte mich damit sogar schlafen. Die Erd- und Sandspuren auf dem hellen Bettlaken störten nur meine Mutter.
Es handelte sich um keine besonders hochwertigen Schuhe, aber das war uns ziemlich egal. Es war trotz des Ärgers wegen des unaufgeräumten Hauses der schönste Tag in meinem bisherigen Leben. Aber auch für unsere Mutter war es schließlich ein wunderbares Erlebnis. Sie spürte, welch große Freude sie uns damit gemacht hatte. Später saß sie am Tisch und weinte. Ausnahmsweise aber nicht aus Kummer oder Sorge, sondern vor lauter Rührung. Erst viel später wurde mir klar, dass dieses Geschenk ein unglaublicher finanzieller Kraftakt für sie gewesen sein musste.
Der einzige Luxus, den sich meine Eltern leisteten, war ein Fernseher. Ein solches Gerät ist kein Statussymbol, sondern gehört regelrecht zu den Grundbedürfnissen der Brasilianer. Schon allein wegen der Übertragungen der Fußballspiele spielt Fernsehen eine große Rolle in Brasilien. Sogar in den Favelas, den Elendsvierteln, schaffen es einige Leute, sich ein Empfangsgerät zu besorgen. Als aber unser Apparat später den Geist aufgab, hatten wir gerade kein Geld für einen neuen. So war ein altes Transistorradio, das nur noch wenige Programme empfangen konnte, ein paar Jahre lang unser einziger Ersatz. Wir saßen bei Fußballübertragungen um das rauschende, knisternde Radio und lauschten der Stimme des Reporters.
Als unser Vater eines Tages wieder mit einem Fernseher ankam, waren wir heilfroh. Wir drei Jungs zumindest. Meine Mutter hingegen schimpfte, denn sie befürchtete, dass das Gerät auf nicht ganz legale Weise in unseren Besitz gekommen sei. »Bist du jetzt unter die Banditen gegangen? Hast du den gestohlen?«, schrie sie meinen verdutzten Vater an. Wir Kinder verkrochen uns erschrocken in der Ecke und hatten Angst, dieser schöne Fernseher würde nun wieder aus unserem Haus verschwinden.
Es handelte sich um einen riesigen Apparat mit Fernbedienung, der ganz offensichtlich nicht gerade billig war. Aber tatsächlich war er rechtmäßig erworben. Mein Vater besitzt große Überzeugungskraft und kann Menschen gut um den Finger wickeln. So hatte er es geschafft, den Verkäufer zu überreden, ihm einen Kredit zu gewähren, obwohl er damals nicht arbeitete und deshalb eigentlich keine Schulden hätte machen dürfen.
Trotz aller finanziellen Sorgen wurden wir später, als wir größer waren, von unserer Mutter nie dazu gedrängt, Geld zu verdienen. Bis ich nach Deutschland ging, meinen ersten Vertrag unterschrieb und ein kleines Gehalt bekam, habe ich kaum etwas zum Lebensunterhalt beigetragen. Ich habe nur ein paarmal meinem Vater bei Maurerarbeiten geholfen und dafür ein paar Reais eingesteckt.
Einmal allerdings hatten mein Freund und ich eine grandiose Idee, die sogar ausbaufähig gewesen wäre. An einem sonnigen Sommersonntag im Dezember spielte ich mit einem Freund auf der Wiese neben der großen Straße, die von Mogi das Cruzes ans Meer nach Bertioga führt. Wir hatten das Gefühl, die ganze Stadt mache sich die rund fünfzig Kilometer auf den Weg an den Strand. Eine endlose Autoschlange zog sich über die Serra do Mar, eine parallel zum Atlantik verlaufende sanfte Bergkette. Der Verkehr wurde immer dichter und kam irgendwann zum Erliegen. Es wehte kein Lüftchen, und die Mittagssonne brannte auf die Autodächer. Damals gehörten Klimaanlagen längst noch nicht zur Standardausrüstung jedes Mittelklassewagens, sodass es im Inneren richtig heiß wurde.
»Die Leute könnten etwas zu trinken gebrauchen«, stellte ich fest.
Mein Freund, dessen Vater einen kleinen Kiosk betrieb, gab mir recht und kam mit einem guten Vorschlag um die Ecke: »Wir könnten denen Wasser verkaufen. Vielleicht können wir ein paar Flaschen von Papa haben.«
Tatsächlich durften wir das Kühlregal ausräumen, spazierten mit so vielen Flaschen auf dem Arm, wie wir tragen konnten, an den stehenden Autos vorbei und boten unsere Ware für je einen Real an. Die Nachfrage war groß. Innerhalb kürzester Zeit hatten wir alles verkauft. Da plünderten wir – selbstverständlich mit Erlaubnis des Kioskbesitzers – den gesamten Wasservorrat, kühlten nach und nach die Flaschen und machten für unsere Verhältnisse ein Riesengeschäft.
Allerdings profitierten nicht in erster Linie wir davon, sondern der Vater des Freundes. Er kassierte den größten Teil der Einnahmen und überließ uns nur einen Bruchteil. Damals freute ich mich riesig über den für mich großartigen Verdienst. Heute denke ich allerdings, dass wir ein bisschen über den Tisch gezogen wurden. Ich finde, es hätte uns mindestens die Hälfte des Gewinns zugestanden. Immerhin hatten wir die Geschäftsidee gehabt und obendrein auch noch die Arbeit erledigt. Obwohl uns die Aktion großen Spaß gemacht hatte, blieb sie einmalig. So endete meine Karriere als Wasserverkäufer auf der Straße an dem Tag, an dem sie begonnen hatte.
In Brasilien besteht zwar Schulpflicht, die allerdings nur oberflächlich überwacht und deshalb nicht strikt eingehalten wird. Vor allem in den ländlichen Gegenden fahren oft weder Bus noch Bahn, und die Familien haben gerade genug Geld, um zu überleben. Viele Eltern schicken ihre Kinder deswegen nur für ein paar Jahre oder gar nicht zur Schule. Für uns stand das nie zur Debatte. Unsere Mutter hat uns von Anfang an vermittelt, wie wichtig es ist, zu lernen. »Wenn ihr mal ein besseres Leben führen wollt, müsst ihr gut in der Schule sein. Ihr müsst fleißig sein und immer aufpassen.« Sie legte auch deshalb so viel Wert darauf, weil sie selbst nach nur vier Jahren die Schule hatte verlassen müssen, um Geld zu verdienen.
Ihrem Vater war es wichtiger gewesen, von ihr einen finanziellen Beitrag zum Lebensunterhalt der Familie zu erhalten, als ihr eine gute Ausgangsposition für das spätere Berufsleben zu ermöglichen. Irgendwann setzte sie sich zwar durch und ging noch zwei Jahre auf die Abendschule. Das war damals das Minimum, um einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Ich glaube, sie leidet noch heute unter der verpassten Chance. »Ihr könnt mehr herausholen aus eurem Leben als ich!« Diese Überzeugung wiederholte sie immer wieder.
Unsere Schule lag zu Fuß gut zehn Minuten von unserem Haus entfernt. Wir mussten die Bundesstraße überqueren und einen kleinen Hügel bis zum benachbarten Ortsteil hinauflaufen. Ich kann nicht behaupten, ich sei sehr fleißig gewesen oder Lernen habe zu meinen Lieblingsbeschäftigungen gehört. Ich tat, was getan werden musste, nicht mehr. Trotzdem war ich ein passabler Schüler, in Mathe und Sport gut bis sehr gut, in den anderen Fächern stand immer mindestens eine zufriedenstellende Zensur im Zeugnis.
Irgendwann entdeckte ich, dass es nicht schlecht ist, bei den Mädchen zu sitzen. Die meninas trieben weniger Unfug und konzentrierten sich vor allem auf den Unterricht. Außerdem stieg mit der Platzwahl mein Image bei den Lehrern. Denn wer in der Ecke bei den Mädchen saß, wurde für lernwillig, artig und einen aufmerksamen Schüler gehalten. Ich verbesserte mich schnell um eine halbe bis ganze Notenstufe.
Manche Eltern achteten nicht so darauf, wie sich ihre Kinder in der Schule entwickelten. Meine Mutter hingegen schon. Sie besuchte regelmäßig die Elternabende und erkundigte sich bei den Lehrern nach unserem Leistungsstand. Sie hätte sofort eingegriffen, wenn sie das Gefühl gehabt hätte, wir würden die Schule vernachlässigen.
Zumindest bei mir war dies nie der Fall. Bei meinen Brüdern hingegen musste unsere Mutter schon mal ein Machtwort sprechen. Vor allem Ademir war die Schule nicht so wichtig. Kurioserweise studierte ausgerechnet er später ein paar Semester, als Einziger von uns drei. Das hätte in den ersten Schuljahren kaum einer für möglich gehalten. Allerdings lag das in erster Linie daran, dass Ademir Fußball immer nur als Hobby betrachtete und im Gegensatz zu meinem älteren Bruder und mir nicht als Karrierechance.
Ich bestand nach der elften Klasse ebenfalls die Aufnahmeprüfung für die Uni. Ernsthafte Gedanken an ein Studium verschwendete ich allerdings nicht, denn ich war fest von einer erfolgreichen Fußballkarriere überzeugt. Meine Mutter kostete die Prüfungsteilnahme nur eine Lebensmittelspende für einen guten Zweck, für mich bedeutete sie vor allem Selbstbestätigung. So begründete ich den Test damals jedenfalls. Aber wer weiß, vielleicht betrachtete ich diese Möglichkeit ganz unbewusst doch als Rückversicherung, falls ich mit meinem großen Traum scheitern sollte.
In unserer Schule stand eine Tischtennisplatte. Das Spiel mit dem kleinen Zelluloidball wurde zu meiner zweiten sportlichen Leidenschaft. In den Pausen und bei Schulturnieren lieferte ich mir harte Duelle mit meinen Mitschülern. Bald gehörte ich zu den Besten in der Klasse. Ich zeigte sicherlich Talent, aber eine Tischtenniskarriere war für mich natürlich nie eine Alternative zum Fußball. Auch heute spiele ich noch gerne und besitze sogar einen Profischläger. Obwohl ich schon vor der Reise zur Weltmeisterschaft nach Südafrika erfuhr, dass in unserem Quartier eine Tischtennisplatte stehen würde, vergaß ich, meinen Penholder-Schläger mitzunehmen. Das war für mich jedenfalls eine gute Ausrede, als ich ein paarmal gegen Marko Marin, meinen Lieblingsgegner im Kreise der deutschen Nationalmannschaft, verlor.
In staatlichen Schulen, wie wir sie besuchten, ist das Niveau nicht so hoch wie in privaten. Doch Letztere kosten eine Menge Geld und kamen deshalb nicht infrage. Und doch habe ich eine halbwegs annehmbare Allgemeinbildung erhalten. Nur in einem Punkt muss ich das brasilianische Schulsystem kritisieren. Bis heute wird leider kein großer Wert auf Fremdsprachen gelegt.
Zwar stand auf meinem Stundenplan sieben Jahre lang das Fach Englisch, aber am Ende war ich nicht in der Lage, auch nur einen einfachen Satz fehlerfrei zu sprechen. Wenn ich von meinen in der Schule erworbenen Englischkenntnissen erzähle, behaupte ich immer, von der fünften bis zur elften Klasse hätte ich nicht mehr als das Verb to be gelernt. Das ist natürlich ein bisschen übertrieben, aber in einem Schwellenland wie Brasilien, das bis vor Kurzem als die aufstrebende Nation galt und in der globalen Wirtschaftswelt ein Wörtchen mitreden will, müsste der Fremdsprachenunterricht in der Schule eine sehr viel wichtigere Rolle spielen als bisher.
Wie fast jedes Kind empfand auch ich die Schule manchmal als lästige Pflicht. Vor allem später, als ich sie mit dem täglichen Fußballtraining unter einen Hut bringen musste. Doch für mich war Lernen nie Druck. Rückblickend gesehen, bin ich froh und meiner Mutter sehr dankbar, dass sie es geschafft hat, uns zu vermitteln, dass es keine Alternative zu einer guten Ausbildung gibt. Meine beiden Brüder können auch deshalb heute ein sorgenfreies Leben führen, weil sie einen guten Schulabschluss geschafft haben. Ademir gründete nach seinem abgebrochenen Studium ein kleines Transportunternehmen, Vlademir erlernte nach seiner kurzen und deshalb nicht sehr gewinnbringenden Profikarriere einen Handwerksberuf.
Nicht nur bei der Schule kannte unsere Mutter kein Pardon. Sie legte größten Wert darauf, uns zu rechtschaffenen und ehrlichen Menschen zu erziehen. Dazu gehörte selbstverständlich, dass wir die Finger von Drogen ließen. In unserer Siedlung traute sich niemand, uns mal ein bisschen »Gras« anzubieten. Nicht nur wir hatten riesigen Respekt vor unserer Mutter. Auch alle unsere Freunde oder Bekannten wussten, dass sie großen Ärger bekommen hätten. Ich glaube, unsere Mutter hätte sich den Kleindealer zur Brust genommen. Selbst, wenn er bewaffnet gewesen wäre und sie damit ihr eigenes Leben riskiert hätte.
Sehr oft wurde ich allerdings nicht in Versuchung geführt. Ein Schulkamerad aus einer höheren Klasse verteilte einmal Marihuana, aber da erinnerte ich mich an die Worte meiner Mutter: »Lasst euch nicht beeinflussen, geht euren eigenen Weg.« Ich lehnte dankend ab und nahm sogar in Kauf, als Außenseiter abgestempelt zu werden. Das war nicht einfach. Doch auf längere Sicht verdiente ich mir damit sogar Respekt. Außerdem hatte ich ohnehin viele Freunde, die wie ich nichts mit Drogen zu tun hatten. Eins habe ich in meiner Kindheit und Jugend gelernt: Immer, auch wenn das Leben noch so ausweglos erscheint, gibt es einen Weg ohne Kriminalität und Drogen.
Trotz dieser werteorientierten Erziehung war nicht zu verhindern, dass wir wie alle Jungen das Flegelalter auslebten. Dazu gehörten Mutproben und ein paar Dummheiten. Als ich vierzehn oder fünfzehn Jahre war, zog ich mit anderen Jungs durch die Straßen. Mal machten wir uns einen Spaß daraus, ein Stück Schokolade zu klauen, mal schossen wir mit Steinschleudern auf Fensterscheiben und Straßenlaternen.
Aber ich kann mich nur an zwei etwas unangenehme Begegnungen mit Gesetzeshütern erinnern. Beim ersten Mal beobachteten uns zwei Polizisten, wie wir unsere Steinschleudern ausprobierten. Weil in dieser Gegend zuletzt viel randaliert worden war, verdächtigten die beiden uns. Sie stiegen aus ihren Autos aus, mit der Pistole in der Hand. Zum Glück legten sie diese aufs Autodach, ehe sie uns mit Drohgebärden ins Verhör nahmen.
Immer wieder beteuerten wir unsere Unschuld, und endlich, nach einer halben Stunde, ließen sie uns laufen. Wir zitterten am ganzen Leib. Einige heulten sogar los. Ich übrigens auch. In diesem Moment war es uns egal, dass Tränen für starke Jungs, wie wir sie sein wollten, ziemlich uncool sind.
Das andere Mal wurde ich Opfer einer Verwechslung. Als ich auf dem Weg zu einem Freund in einem anderen Ortsteil war, suchte dort die polícia gerade einen Mann in kurzen Hosen und blauer Jacke, der zuvor ein Haus ausgeraubt hatte. Dummerweise trug ich eine kurze Hose und eine blaue Jacke. Ich wusste nicht, wie mir geschah, als ein Polizist mich festnehmen wollte. Wir führten ein für mich nicht sehr angenehmes und lautes Gespräch.
Doch nicht meine Überzeugungskraft rettete mich, sondern eine Frau, die ich aus der Schule kannte. Sie kam gerade vorbei, und als ich sie sah, schrie ich über die Straße: »Bitte, sag, dass ich kein Räuber bin!«
Zum Glück half sie mir aus der Patsche. »Lassen Sie den Jungen gehen. Der ist zwar arm, aber er würde nie etwas stehlen. Er ist ein guter Junge«, erklärte sie dem Polizisten. Der ließ mich daraufhin los und machte sich auf den Weg, den richtigen Übeltäter zu suchen. Ganz schien die Frau von meiner Unschuld aber nicht überzeugt. »Du hast aber auch wirklich nichts damit zu tun, oder?«, fragte sie mich unsicher.
Kurz darauf packten wir unsere Steinschleudern weg – und gingen auf die ersten Partys. Dass ich damals ab und zu ein Bier zu viel trank, gefiel meiner Mutter nicht. Kam ich angetrunken nach Hause, redete sie mir ins Gewissen, damit aufzuhören.
Tatsächlich beschloss ich eines Tages, mein Leben zu ändern. Den Ausschlag gab ein Abend, der sehr unangenehm für mich endete. Wir hatten uns wieder einmal bei einem Freund getroffen, um gemeinsam ein Fußballspiel im Fernsehen anzuschauen. Zu dritt vernichteten wir innerhalb kürzester Zeit eine ganze Palette mit Bierdosen. Ich kann nicht sagen, wie viel ich davon trank, nur, dass es zu viel für meinen Körper war. Ich kam ziemlich benebelt nach Hause. Allerdings hatte ich mich für später bereits mit Tamara, die damals schon meine Freundin war, verabredet.
Meine Mutter hielt es für keine gute Idee, noch einmal das Haus zu verlassen, und schon gar nicht, dass mich meine Freundin in diesem Zustand erleben sollte. »Es wäre besser, du würdest nicht zu Tamara gehen, sondern hierbleiben«, versuchte sie, mir meinen Spaziergang zu Tamara auszureden. Aber ich hörte nicht auf meine Mutter, sondern machte mich auf den rund halbstündigen Weg. Ich war noch nicht lange unterwegs, da begann das Bier in meinem Magen, zu rebellieren. Mir wurde übel, und schließlich musste ich mich auf der Straße ein paar Mal übergeben. Als Tamara mich empfing, war ich entsprechend von der Rolle. Sie enthielt sich aber jeglichen Kommentars.
Es bedurfte auch überhaupt keiner Schelte, denn sobald ich wieder nüchtern war, setzte ein Umdenkprozess ein. Es ist definitiv mein letzter Rausch gewesen. Alkohol spielt seitdem in meinem Leben keine Rolle mehr. Vielleicht einmal im Jahr, wenn ich mit meiner Frau am Hochzeitstag oder an einem Geburtstag zu unserem Lieblingsitaliener in Korb gehe, trinke ich ein Gläschen Wein. Aber ich brauche das nicht unbedingt und genieße es nicht einmal besonders. Im Kreise meiner Mannschaftskollegen, bei Vereinsfeiern, sofern ich überhaupt dabei bin, dem obligatorischen Mannschaftsausflug zum Cannstatter Wasen oder sonstigen gesellschaftlichen Anlässen halte ich mich hingegen stets an Apfelschorle, Spezi oder Fruchtsäfte.
Cida do Rato sah mich von ihrem Fenster aus, wie ich aus meinem Auto stieg. Sie wohnt fast am Ende der Rua A, die mittlerweile Rua Ubirajara de Barros Gomes Martins heißt. Mit ihrem Enkelkind auf dem Arm kam sie über die Straße gelaufen. Sie begrüßte mich so herzlich, als ob wir uns schon jahrelang nicht mehr gesehen hätten. Dabei hatte ich doch erst bei meinem letzten Besuch in Brasilien ein paar Monate zuvor vorbeigeschaut – und ein kleines Fest mit einem Fußballspiel organisiert. In der kleinen Siedlung an der großen Straße nach Bertioga leben noch immer viele Leute, die ich aus meiner Kindheit kenne. Es hat sich einiges verändert. Die Straße ist geteert, vor vielen Häusern stehen mittlerweile Autos, und mittendrin hat ein Kindergarten eröffnet.
Es ist immer schön, meine früheren Nachbarn wiederzusehen. Und ich glaube, auch sie freuen sich, wenn ich vorbeischaue. Anfangs waren sie etwas skeptisch. Sie dachten, ich würde sie vergessen, da ich nun ein bekannter Fußballprofi bin. Doch bald wurden sie vom Gegenteil überzeugt.
Unsere Mutter brachte uns einen respektvollen Umgang mit den Mitmenschen bei – und dass wir nie unsere Wurzeln vergessen sollten. Ich habe auch noch immer engen Kontakt zu meinen beiden besten Freunden aus der Schulzeit, Ulisses und Rafael. Trotz der riesigen Distanz, die zwischen uns liegt. Trotz der unterschiedlichen Entwicklung, die wir durchgemacht haben. Wenn ich in der Sommerpause oder über Weihnachten nach Brasilien komme, treffe ich sie regelmäßig. Wir verleben stets schöne Stunden und führen angeregte Gespräche. Da ist es egal, dass ich Fußballprofi in Deutschland bin und sie als kleinere Angestellte ihr Geld verdienen. Sie helfen mir auch, dass ich nie vergesse, wo ich herkomme. Ich bin in Mogi das Cruzes irgendwie doch wieder ein bisschen der Cacau von früher.
Auch meinen Kindern habe ich die kleine Siedlung gezeigt. Es ist mir wichtig, dass sie wissen, wo ich herkomme. Die Leute wissen längst, dass ich noch immer einer von ihnen bin und es auch immer bleiben werde. Ich fühle mich wohl hier, trotz der schweren Kindheit und manch trauriger Erinnerung. Wir haben eine gemeinsame Geschichte. Eine Geschichte, die ich nicht vergessen will.
Vielleicht sind meine ehemaligen Nachbarn ein bisschen stolz darauf, dass jemand aus der Siedlung seinen großen Traum verwirklichen konnte. Ich verstehe, dass sie deshalb teilhaben wollen an meinem Leben, das nun ganz anders als das ihre ist. Dennoch begegnen sie mir nicht anders als früher. Sie erzählen mir, was in den vergangenen Monaten passiert ist, von neuen Enkelkindern, ihren kleinen oder größeren Sorgen, von verkauften Häusern und beruflichen Veränderungen. Es ist wie damals. Fast jedenfalls.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Vielleicht würde ich heute trotz aller Entbehrungen von einer glücklichen Kindheit sprechen und dem täglichen Existenzkampf im Nachhinein viel Positives abgewinnen, wenn nicht die Krankheit meines Vaters unser Alltagsleben in besonderem Maße erschwert und belastet hätte.