Beate M. Weingardt · Ein Mann – kein Wort
Beate M. Weingardt
Ein Mann – kein Wort
Warum Männer nicht gern über Gefühle reden
und Frauen sich nicht damit abfinden
Dieses E-Book darf ausschließlich auf einem Endgerät (Computer, E-Reader) des jeweiligen Kunden verwendet werden, der das E-Book selbst, im von uns autorisierten E-Book Shop, gekauft hat. Jede Weitergabe an andere Personen entspricht nicht mehr der von uns erlaubten Nutzung, ist strafbar und schadet dem Autor und dem Verlagswesen.
© 2008 SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten
Umschlag: Dietmar Reichert, Dormagen
Satz: Breklumer Print-Service, Breklum
Druck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
ISBN 978-3-417-21950-0 (E-Book)
ISBN 978-3-417-26262-9 (lieferbare Buchausgabe)
Bestell-Nr. 226.262
Datenkonvertierung E-Book:
Fischer, Knoblauch & Co. Medienproduktionsgesellschaft mbH, 80801 München
Ich widme dieses Buch all den Männern und Frauen, die mit ihrem Vertrauen und ihrer Offenheit dazu beigetragen haben, dass ich es schreiben konnte – allen voran meinem Mann, Ernst-Werner Briese. Und ich widme es allen Männern und Frauen, die um die Liebe in ihren Beziehungen kämpfen.
Inhalt
Einführung
1. »Caveman« oder: Die Steinzeit lebt
2. Wesentliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen – gibt es die überhaupt?
3. Von Natur aus anders – reden Männer und Frauen wirklich unterschiedlich?
4. Männer und Gefühle
5. »Doch wie’s da drin aussieht …« – Gefühlskontrolle als Notwendigkeit
6. Das Vorbild der Eltern
7. Unsere gefühlsarme Gesellschaft
8. Sprache und Körpersprache
9. Gesprächserfahrungen von Frauen mit Männern
10. Gesprächserfahrungen von Männern mit Frauen
11. Partnerschaften heute – ein anspruchsvolles Unternehmen
12. Verschiedenheit anerkennen, Verbundenheit einüben
13. Auch positive Gefühle und Gedanken ausdrücken
14. Gut miteinander leben heißt gut miteinander kommunizieren
15. Sich entgegenkommen, um sich wirklich zu begegnen
16. Partnerschaft und Glaube
Literaturliste
Einführung
»Ehe ist nie ein Letztes, sondern Gelegenheit zum Reifwerden.«
JOHANN WOLFGANG VON GOETHE
In diesem Buch geht es nicht um die Männer oder die Frauen, auch wenn sie im Text oft der Einfachheit halber so genannt werden. Es geht natürlich nur um einen Teil der Männer, nämlich um jenen Teil, mit dem Mann ebenso wie Frau sich möglicherweise wunderbar unterhalten kann – über Arbeit und Hobby, Urlaub und Sport, Computer und Autos, Musik und Technik, Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Zukunftsziele und vieles andere mehr. Ja, es ist in der Tat ein breites Spektrum an Lebensbereichen, worüber dieser Teil der Männer gerne spricht. Wenn man mit ihnen über eines oder mehrere dieser Themen redet, spürt man ihr Interesse, ihr Wissen, oft auch ihre Leidenschaft. Man kann von diesem Teil der Männer unter Umständen Wichtiges erfahren und lernen; es macht Spaß, zu fachsimpeln und zu diskutieren, Informationen und Erfahrungen auszutauschen – sofern sie nicht dazu neigen, Monologe zu halten und den anderen zum Zuhörer zu degradieren. Und sofern sie nicht der Meinung sind, im Zweifelsfall besser Bescheid zu wissen und recht zu haben – egal, worum es sich handelt.
Doch davon gehen wir aus. Allerdings fällt mir als Frau, je länger ich mich mit einem solchen Mann unterhalte, auch etwas anderes auf: nämlich, worüber er nicht spricht.
Um es kurz und knapp zu sagen: Er spricht über sein äußeres Leben, aber nicht über sein inneres. Er spricht – eventuell – über seine körperlichen Leiden, aber er spricht in der Regel nicht über seine seelische Verfassung. Er spricht möglicherweise über seine Herzrhythmusstörungen, aber nicht über das, was ihm zu Herzen geht. Er äußert unter Umständen Besorgnis über seinen hohen Blutdruck, aber verliert kein Wort darüber, was ihn seelisch massiv unter Druck setzt. Er spricht durchaus offen über seine Magenverstimmungen, aber nicht über das, was ihm so auf den Magen schlägt. Wir hören vielleicht beiläufig etwas über seine Nierensteine, aber keine Andeutung darüber, was ihm an die Nieren geht. Wir erfahren von seinen hartnäckigen Rückenschmerzen, aber nicht davon, woran er so schwer zu tragen hat …
Ich könnte die Reihe noch fortsetzen. Auffallend ist auf jeden Fall eines, nämlich die Sprachlosigkeit, wenn es um das eigene Gefühlsleben geht – und um das, was aufs Engste damit verbunden ist: das Beziehungsleben.
Natürlich – und erfreulicherweise – gibt es auch die anderen Männer, die über diese persönlichen Themen offen und ohne größere Hemmungen sprechen können, sofern sie ein aufgeschlossenes und vertrauenswürdiges Gegenüber vorfinden. Es gab sie schon immer – man denke nur an die Dichter, einen Dichter wie z.B. Johann Wolfgang von Goethe, der einmal schrieb: »Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide .«1
»Gab mir ein Gott«: Auch Goethe sah es offenbar als eine außergewöhnliche Gnade und Begabung an, dem Schmerz seiner Seele, aber auch ihren Freuden und ihren Bedürfnissen sprachlich Ausdruck verleihen zu können. Und in der Tat: Mir scheint, diese sprachfähigen Männer sind eine Minderheit. Zumindest erlebe ich dies in der Altersgruppe, mit der ich am häufigsten zu tun habe: bei den Männern über 40 Jahren. Hier dominiert eindeutig die Beredsamkeit, wenn es um Sachthemen geht, und es herrscht Schweigen, wenn es um personale, den Menschen und seine Beziehungen betreffende Fragen geht.
Ich vermag nicht zu beurteilen, ob der Befund bei der jüngeren Generation anders ausfallen würde – mit anderen Worten: ob es bei den jungen Männern nur noch eine Minderheit ist, die sich so schwer damit tut, über das eigene seelische Erleben zu sprechen. Schön und hilfreich wäre es – allein, ich habe meine Zweifel, die ich im 3. Kapitel begründen werde.
In diesem Buch geht es aber auch nicht um die Frauen. Sie sind genauso wenig eine einheitliche Gruppe, wie es das andere Geschlecht ist. Die Unterschiede innerhalb der Gruppe der Frauen sowie innerhalb der Männer sind summa summarum vermutlich größer als die Unterschiede zwischen den Geschlechtern, darin sind sich die Wissenschaftler schon seit geraumer Zeit einig.
Doch ein auffallender Unterschied darf genannt werden: Die meisten Frauen, die ich erlebe, sind anders als die Männer durchaus »sprachfähig«, was das eigene Innenleben betrifft, wobei es auch hier Unterschiede gibt in dem Ausmaß der Bewusstheit sowie der zu überwindenden Hemmungen. Und natürlich gibt es auch die anderen – die Frauen, die ihr persönliches Empfinden hermetisch vor der Umwelt abriegeln, möglicherweise auch gar keinen Zugang (mehr) zu diesem Empfinden haben. Die Frauen, die nie gelernt haben, offen über sich selbst zu sprechen, ihre Bedürfnisse und Empfindungen anderen gegenüber klar zu äußern – oder die es verlernt haben.
Möge sich also kein Mann und keine Frau von dem, was ich im Folgenden schreibe, pauschal beurteilt oder gar persönlich angegriffen und infrage gestellt sehen!
Wer über eine Gruppe von Menschen schreibt – in diesem Fall vorwiegend die Männer –, kommt nicht umhin, zu verallgemeinern. Manches wird damit vergröbert und vereinfacht dargestellt, zweifellos. Manches fällt unter den Tisch, keine Frage. Doch wer diese Nachteile umgehen möchte, darf nur ausgesuchte Einzelfälle darstellen – was ein Buch nicht unbedingt interessanter und schon gar nicht aussagekräftiger macht.
Wenn Sie, lieber Leser oder liebe Leserin, eindeutig zu den »Sprachfähigen« gehören, die ohne Probleme mit einer Person ihres Vertrauens über ihre intimen Gefühle und ihre persönlichen Beziehungen reden können: herzlichen Glückwunsch! Sie sind nicht gemeint. Aber vielleicht kennen Sie jemanden, dem dieses Buch guttun würde.
Sollten Sie jedoch nicht zu jenen, wie Goethe es nennt, von Gott Begabten gehören, die diese Sprachfähigkeit besitzen, so wünsche ich Ihnen, dass Sie nach der Lektüre dieses Büchleins zumindest eines begriffen haben: Es lohnt sich unbedingt, die eigene emotionale Sprachfähigkeit zu entwickeln. Es lohnt sich um Ihrer selbst willen – aber auch um all der Menschen willen, die Sie wirklich lieben. Ihre Erlebniswelt wird vielfältiger und intensiver, Ihr Verständnis für andere Menschen erweitert sich, Ihre Fähigkeit zur Anteilnahme und Einfühlung nimmt zu. Und nicht zu vergessen: Ihre Kompetenz, sich selbst klar und deutlich mitzuteilen – auch, was Gefühle und Bedürfnisse anbelangt –, wird sich steigern. Ja, wenn es stimmt, dass liebevolle Beziehungen und das Erlebnis von Anerkennung, Wertschätzung, Verbundenheit und Vertrauen das Wichtigste in unserem Leben sind (wovon ich überzeugt bin), dann kann man ohne Übertreibung sagen: Wer lernt, mit einigen anderen Menschen nicht nur das äußere, sondern auch das innere Leben zu teilen, nicht nur die Erfolge, sondern auch das Scheitern, nicht nur die Freude, sondern auch den Schmerz »mit-zu-teilen«, der wird einen spürbaren Zuwachs an Reife, Glück und Lebensqualität erfahren.
1. »Caveman« oder: Die Steinzeit lebt!
»Ich kann mit meinem Freund zwei Stunden durch die Gegend fahren und nichts reden. Das kann ich mit meiner Frau nicht.« – »Aber warum fahren Sie dann nicht allein?« – »Weil es so schön ist, gemeinsam in eine Richtung zu schauen.«
DIALOG ZWISCHEN EINEM MANN UND DER AUTORIN
Seit Jahren sieht man sie strömen – Hunderte, ja inzwischen sicher Tausende von Männern und Frauen aller Altersgruppen und Bildungsschichten, die nur ein Ziel haben: Sie wollen das Stück »Caveman«2 in einem Stuttgarter Theater sehen. Karten müssen Monate im Voraus bestellt werden, so wurde auch mir mitgeteilt. Und eines Tages war es so weit: Auch ich tauchte ein in die Welt des Höhlenmenschen (engl. »caveman«), dargestellt von einem gut aussehenden, kräftig gebauten, agilen Mittvierziger namens Tom.
Das Stück beginnt mit einem Paukenschlag: Während »er« (Tom) mit seinem Freund vor der Haustür per Handy telefoniert, wird er von seiner Lebensgefährtin (Heike) mit Sack und Pack vor eben diese Türe gesetzt. Erst entgeistert, dann hilflos und empört steht er, ausgesperrt und weggeschickt, vor seinen Habseligkeiten – und nimmt das Ereignis als Anlass, um die folgenden zwei Stunden in einsamen, aber ungemein redseligen Monologen über die Unterschiede zwischen Männern und Frauen zu philosophieren.
Der Kern dieser Ausführungen, den er in unzähligen Wiederholungen und garniert mit vielen urzeitlich klingenden Grunz- und Brummlauten dem Zuschauer geradezu einbläut, besteht in der These: Mann und Frau haben sich seit der Steinzeit in ihrer Veranlagung und damit auch in ihrem Verhalten nicht grundlegend verändert.
»Er« ist immer noch der Jäger, der auf die Jagd geht und vor allem darauf aus ist, Beute zu machen. »Sie« ist immer noch die Sammlerin – nur dass sie heute eben nicht mehr Beeren und Pilze, sondern zum Beispiel Klamotten und persönliche Informationen sammelt. Natürlich auch noch vieles andere.
»Er« hat ein Ziel – wohlgemerkt: eines! – vor Augen, das er geradlinig und mit aller Kraft ansteuert und dabei alles andere in seiner Umgebung konsequent ausblendet. »Sie« hat ihre Augen und Ohren überall, kann mehrere Dinge gleichzeitig tun, sieht alles, hört alles, und damit nicht genug: will über alles reden. Doch ein Jäger, der gerne redet, würde bald verhungern oder aus der Gruppe ausgestoßen werden, weil er nur stört und den Jagderfolg gefährdet – also haben vermutlich am ehesten jene Männer überlebt, die allenfalls das Nötigste miteinander redeten oder sich am besten nur mit Brummlauten, Gesten und Handzeichen verständigten. Deren Nachfahren sind die Männer von heute.
Doch hin und wieder müssen auch Männer miteinander kommunizieren. Das Nötigste, was es zwischen ihnen zu bereden gibt, sind natürlich Fragen, die die Jagd, den Kampf und die Taktik betreffen. Früher war es der Kampf um das Wild, um die Frauen oder mit dem Feind – heute ist es der Kampf um Karriere, Vorsprung, Sieg, Überlegenheit, Macht. Früher war es die Jagd nach Beute – heute ist es die Jagd nach materiellen Errungenschaften, sei es, weil sie nützlich sind, wertvoll oder technisch interessant, oder weil man mit ihnen Eindruck machen kann.
Weil »er« jedoch seiner Natur gemäß nur das Nötigste redet, spricht er natürlich mit seinesgleichen nicht über so menschliche »Nebensächlichkeiten« wie Aussehen, Befinden, Gefühle, Sorgen und Probleme. Was für ein Ziel könnte mit solchen Gesprächen erreicht werden, welchen Vorteil könnten Informationen dieser Art bringen? Das ist zunächst äußerst unklar – na bitte!
»Sie« hingegen spricht mit anderen Frauen, ohne dass sie dabei ein klares Ziel im Auge hat. Wer sammelt, muss sich nicht total konzentrieren, sondern hat den Kopf auch für anderes frei. Außerdem macht es die Arbeit kurzweiliger, wenn man sich nebenher unterhalten kann. Kein Wunder, dass Kommunikation für »sie« einfach wichtig ist. »Sie« interessiert sich im Übrigen für alles – besonders für andere Menschen. So sorgt die Frau für den Informationsaustausch, aber auch für die guten Beziehungen in Familie und Nahbereich – während der Mann in erster Linie für die materielle Versorgung sowie den Schutz seiner Lieben zuständig ist. Und dazu muss er Ziele haben – und handeln; er muss Probleme erkennen – und sie lösen!
Und weil, so die Ausführungen unseres redseligen Protagonisten, sich Männer und Frauen erstens seit der Steinzeit in ihren angeborenen Denk- und Verhaltensprogrammen quasi nicht verändert haben und zweitens in vielen Punkten sehr verschieden sind (»Das sind zwei ganz verschiedene Kulturen mit ganz verschiedenen Sprachen!«, verkündet Tom), ist es wahrhaftig viel verlangt, dass die beiden Geschlechter sich auch noch gegenseitig verstehen und einfühlsam miteinander umgehen sollen. Genauer gesagt: Es ist nicht viel verlangt – sondern zu viel!
Die zahllosen Beispiele, mit denen der temperamentvoll agierende Alleindarsteller seine Ausführungen untermalt, sorgen Abend für Abend für großes Vergnügen beim Publikum – zum einen, weil diese Beispiele mithilfe von drastisch übertreibender Wortwahl und Körpersprache einfach zum Lachen reizen, zum anderen aber auch, weil die Zuschauer in schöner Abwechslung sowohl ihr eigenes als auch das andere Geschlecht höchst treffend dargestellt sehen und diese Spiegelung sehr amüsant finden. Denn schließlich wird das darin Gezeigte nicht als Vorwurf, sondern als schlichte Feststellung präsentiert. Man muss sich deshalb nicht angegriffen, kann sich schlimmstenfalls durchschaut fühlen. Und gehört dabei – auch dies ein Trost – offensichtlich zu den »ganz normalen Männern« und »ganz normalen Frauen«.
Fazit: Die versöhnliche Botschaft des Stückes scheint zu sein: »Nehmt diese Unterschiede zwischen Mann und Frau bitteschön wahr, dann werdet ihr euch viele Enttäuschungen und Probleme in euren Beziehungen ersparen. Und nehmt sie, wenn möglich, nicht zu ernst, sonst werdet ihr euch daran wund reiben und genau das aufs Spiel setzen, was euch doch so viel bedeutet: die Liebe zueinander, das Zusammensein, die Harmonie.«
2. Wesentliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen – gibt es die überhaupt?
»Kein Airbag – wir sterben wie Männer«
AUTOAUFKLEBER, GESEHEN AM 5. MÄRZ 2008
AUF DER AUTOBAHN HEILBRONN-NÜRNBERG
Schaut man sich die einschlägige und inzwischen fast uferlose Literatur zu diesem Thema an, so stellt man fest, dass es im Grunde zwei Positionen gibt. Die einen betonen die Unterschiede zwischen Männern und Frauen sehr stark3, die anderen schwächen die vermeintlichen Unterschiede eher ab. Nimmt man die jeweiligen Argumente jedoch genauer unter die Lupe, so stellt man fest: Es kommt ganz offensichtlich auf die Sichtweise an!
Ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, ein Forscher und eine Forscherin vergleichen einen nackten Mann und eine nackte Frau, die vor ihnen stehen. Der Forscher sagt: »Mann und Frau sind im Wesentlichen gleich. Beide haben einen Kopf, zwei Arme, zwei Hände, zwei Beine, zwei Füße, einen Rumpf und einen Bauchnabel. Beide haben Haare, Gelenke, Augen, Ohren, Nase, Mund. Okay, unterhalb des Bauchnabels sind sie etwas unterschiedlich, und auch der Oberkörper hat leicht unterschiedliche Ausmaße. Aber das sind alles Kleinigkeiten, verglichen mit der enorm hohen Menge an Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten!«
Die Forscherin entgegnet: »Aber ich bitte Sie: Alles ist anders, nicht nur der Oberkörper und die Partie unterhalb des Bauchnabels! Sehen Sie denn nicht: Kopf, Arme, Hände, Beine, Füße und der Rumpf – dies alles ist bei der Frau etwas anders geformt als beim Mann. Und natürlich haben beide Augen, Ohren, Nase und Mund – aber Sie werden doch zugeben, dass ein Männergesicht eindeutig anders aussieht als das Gesicht einer Frau, selbst ohne Bart! Außerdem: Sehen Sie denn nicht die höchst unterschiedliche Hüft-Becken-Partie?! Deutlich gerundet bei der Frau, hingegen eher in gerader Linie verlaufend beim Mann …! Wenn man sich die beiden Silhouetten anschaut, so ist doch völlig unverkennbar, dass eine Frau nicht mit einem Mann zu verwechseln ist! Im Übrigen wird dieser Unterschied auch schon in der Bibel betont: Da heißt es, dass Gott den Mann aus Ackerboden ›formte‹, aber die Frau ›baute‹ – aus seiner Rippe!«4
So weit die unterschiedlichen Sichtweisen der beiden Forscher.
Wer von beiden hat recht? Natürlich beide – es kommt lediglich darauf an, worauf man sein Hauptaugenmerk richtet und vor allem: welches Gewicht man den wahrgenommenen Unterschieden gibt.
Zahlreiche Wissenschaftler, die sich mit Geschlechtsunterschieden beschäftigen, neigen heute dazu, die durchaus beobachtbaren Unterschiede als »wenig ins Gewicht fallend« zu betrachten, weil sie die Menge der Gemeinsamkeiten zwischen den Geschlechtern als weitaus größer und gewichtiger ansehen. Frauen sind, so sagen sie, zwar körperlich etwas schwächer als Männer und dadurch nicht ganz so ausdauernd, sie verfügen jedoch über die gleiche Intelligenz und sind zu den gleichen geistigen Leistungen wie Männer in der Lage. Zwar gibt es leichte Unterschiede in einzelnen Teilleistungen des Gehirns – Männer haben beispielsweise ein besseres räumliches Vorstellungsvermögen als Frauen –, aber diese Unterschiede fallen angesichts der Menge an Ähnlichkeiten kaum oder gar nicht ins Gewicht. Dagegen stellt eine Wissenschaftlerin, die sich mit der »Psychologie der Geschlechtsunterschiede« über Jahre hinweg beschäftigt hat, klipp und klar fest: »(Es) zeigt sich …, dass es irrig und gefährlich ist, die Geschlechtsunterschiede nur deshalb für bedeutungslos zu halten oder gar zu ignorieren, weil sie im Mittel geringfügig sind. Tatsächlich kommen bei der Konfrontation der Geschlechter …) Prozesse in Gang, die auch kleine Unterschiede verstärken und dadurch zu einem polarisierenden Effekt führen können.«5
Deutlich wird: Entscheidend ist nicht das Ausmaß der beobachteten Unterschiede, sondern entscheidend ist die Frage, wie sich diese Unterschiede im praktischen Leben und vor allem im Zusammenleben der Geschlechter auswirken. Und hier kann man ohne Übertreibung sagen: Im Zusammenleben von Männern und Frauen haben einige »an sich« möglicherweise eher geringfügige Verschiedenheiten je nach den Umständen gravierende Auswirkungen.
Nichts anderes will wohl auch »Caveman« den Zuschauern deutlich machen. Die Unterschiede im Verhalten und Empfinden von Mann und Frau charakterisieren das Stück geradezu. Nur drei Beobachtungen bezüglich der Eingangsszene seien erwähnt:
Ein Mann wird von seiner Freundin buchstäblich »vor die Tür gesetzt«. Als einziger Kommentar ihrerseits schallt es ihm (sinngemäß) hinterher, sie hätte genug von seinem unreifen prähistorischen Verhalten, er solle gefälligst mal in sich gehen und über sich nachdenken.
Was würde eine Frau, die soeben verlassen wurde, an dieser Stelle tun? Sie würde, wenn ihr etwas an dem Mann liegt, möglicherweise spontane Wut zeigen – aber in absehbarer Zeit würde diese Wut einer tiefen Traurigkeit oder Enttäuschung Platz machen. Während Wut die aggressive Reaktion auf eine seelische oder körperliche Verletzung ist, die den eigenen Schmerz durch den Versuch eines Gegenangriffs zu lindern versucht, stellt eine die Wut irgendwann ablösende Trauer die eigentlich angemessene Reaktion auf unabänderlichen seelischen Schmerz dar. Denn der Schmerz wird in der Trauer nicht abgewehrt, sondern zugelassen.
Von Trauer ist jedoch in dem zweistündigen Monolog des Hauptdarstellers keine Andeutung zu hören, zu sehen oder zu spüren. Stattdessen geht er von der Wut nahtlos über ins Analysieren, Räsonieren, Argumentieren, Spekulieren … – sprich: Er versucht, das ganze Drama von seiner Person wegzuschieben, indem er sein Schicksal auf eine »allgemein menschliche« Ebene hievt und zu einer unpersönlichen Grundsatzfrage macht, frei nach dem Motto: »Es geht hier nicht um meine Partnerin und mich – es geht um Männer und Frauen ganz allgemein!«
Mit dieser »Versachlichung« macht »er« das, was er am besten kann: über Sachthemen reden, ohne sich als Person, ohne die eigenen Gefühle dabei ins Spiel bringen zu müssen. Allenfalls gelegentliche Anflüge von offen geäußertem Selbstmitleid (gefördert durch Alkoholkonsum) deuten an, dass er seelisch leidet. Doch dieses Leid verbirgt sich hinter einem Wortschwall, hinter Flucht in die Aktivität (dargestellt unter anderem durch ruheloses Herumrennen auf der Bühne) und hinter Sarkasmus.
Doch auch eine Frau hätte, gerade »in die Wüste geschickt«, aus ihrer Wut und dem darauf folgenden Schmerz, aus ihrer Trauer, irgendwann auftauchen und nachdenken müssen. Das hätte sie auch getan – doch sie hätte, und das halte ich für den zweiten gravierenden Unterschied, mit großer Wahrscheinlichkeit angefangen, ganz konkret über sich, ihren Partner und die bisherige Beziehung nachzudenken. Möglicherweise hätte sie dabei die falschen, kaum weiterführenden Fragen gestellt (»Wer ist schuld? Warum erwische ich immer solche schwierigen Typen? Was ist an mir so verkehrt, dass ich immer wieder verlassen werde? Warum sind Männer so grausam?«) – aber sie hätte sicher nicht versucht, ihre persönliche Betroffenheit und Verunsicherung unverzüglich zu »rationalisieren« und daraus ein allgemeines Sachthema zu machen. Der Mann jedoch schafft es, das Thema so zu »behandeln«, dass er sich selbst dabei nicht oder nur ansatzweise infrage stellen muss.
Auch einen dritten Unterschied hätte man meines Erachtens beobachten können, wenn eine Frau betroffen gewesen wäre: Obwohl das Stück damit beginnt, dass der Darsteller mit einem Freund oder Bekannten telefoniert und nach Ende des Telefonats feststellt, dass seine Partnerin ihm soeben den Laufpass gegeben hat, kommt er in den folgenden zwei Stunden nicht ein einziges Mal auf die Idee, in seiner Betroffenheit und Hilflosigkeit eben diesen Freund noch einmal anzurufen. Was läge näher, als ihm seine Lage zu schildern, bei ihm seelischen Beistand – oder vorläufigen Unterschlupf – zu suchen? Offenbar liegt es für die meisten Männer weitaus näher, psychisches Leid sowie persönliche Probleme und Beziehungsschwierigkeiten für sich zu behalten und sie in inneren Monologen ganz allein mit sich selbst abzumachen. Es würde sie vermutlich enorme Überwindung kosten, einem Dritten gegenüber ihre Trauer, aber auch ihre Hilf- oder Ratlosigkeit zu formulieren und einzugestehen. Und eine Frau? Eine Frau hätte mit ziemlicher Sicherheit bald, nachdem sie den Rausschmiss bemerkt hätte, zum Handy gegriffen und jemanden angerufen, der ihr nahesteht – vielleicht die Freundin, mit der sie soeben noch telefonierte, oder eine andere Person, zu der sie Vertrauen hat. Sie hätte das Bedürfnis gehabt, ihre seelische Betroffenheit mit jemandem zu teilen, der oder die ihr möglicherweise Unterstützung, Einfühlung und Verständnis entgegenbringt. Sie hätte keineswegs erwartet, dass der Mensch, den sie anruft, ihr eine »Lösung« ihres Problems anbietet – es hätte ihr zunächst völlig genügt, mit ihm ausgiebig über ihr Befinden reden zu können.
Wohlgemerkt: Auch der Mann redet in dem Stück, er redet enorm viel, und er redet sehr leidenschaftlich, mit deutlicher emotionaler Beteiligung. Aber es sind Selbstgespräche, die er führt – er braucht dazu, so scheint es, kein Du, kein Gegenüber, keine Resonanz.
Man kann sich natürlich auf den Standpunkt stellen, dass diese Unterschiede in der Reaktion auf eine emotional äußerst aufwühlende Situation alles in allem doch eher zufällig oder zunächst unwesentlich seien. Mag sein – doch für den weiteren Prozess, in dem seelische Krisen und Erschütterungen verarbeitet werden, spielen sie eine bedeutende Rolle. Und wesentlich werden diese Unterschiede ganz gewiss in dem Moment, wo zwei Menschen, die so unterschiedlich reagieren, aufeinanderprallen und versuchen, einander zu verstehen bzw. sich miteinander zu verständigen! Enorm gravierende Folgen haben diese Unterschiede erst recht dann, wenn beide – Mann und Frau – das Gefühl haben: »Er/Sie wird mir nicht gerecht, kann nicht angemessen auf mich eingehen, geschweige denn mit mir umgehen.« Folgender Dialog ist dafür typisch:
Sie (nachdem sie schon einige Zeit auf ihn eingeredet hat): »Du hörst mir ja gar nicht zu!« – Er (genervt): »Das habe ich jetzt doch schon eine Stunde lang getan, wann kommst du endlich zur Sache?« – Sie (wütend): »Du verstehst mich überhaupt nicht!« – Er (ebenfalls wütend): »Doch, aber es bringt jetzt doch wirklich nichts, alles nochmals bis aufs Kleinste durchzukauen!«
Es ist unschwer zu vermuten, dass nicht nur in diesem Fall der Dialog mit beidseitiger Verletztheit, Vorwürfen, Frustration und Streit vorläufig endet. Langfristig steigt dadurch die Wahrscheinlichkeit von gegenseitigem innerem Rückzug, Resignation oder gar von Trennung.
Fazit: Dass erhebliche, schon im Mutterleib angelegte Unterschiede zwischen Männern und Frauen bestehen, ist keine Frage. Sie betreffen nicht nur den Körperbau, sondern auch die Struktur des Gehirns und damit die Art zu denken, zu fühlen, zu reagieren und sich unter Stress zu verhalten. So unerheblich all diese Unterschiede in »Friedenszeiten« sowie bei vielen alltäglichen Aufgaben und Handlungsabläufen sein können, so relevant können sie in Krisenzeiten und bei außergewöhnlichen Anforderungen sein, die sich im Lauf der Kommunikation oder Partnerschaft zwischen Mann und Frau ergeben. Dies gilt vor allem für konfliktreiche und stressbeladene Situationen, in denen jedes Geschlecht auf besonders tief verwurzelte, aber unreflektierte Reaktionsmuster zurückgreift. Grundsätzlich kann man allerdings sagen: Eine Frau sucht unter Stress tendenziell eher Kommunikation und seelische Nähe zu anderen Menschen, ein Mann meidet unter Stress eher Kommunikation und seelische Nähe. Er zieht sich stattdessen lieber in sich selbst (oder in seine »Höhle«, siehe »Caveman«) zurück.
3. Von Natur aus anders – reden Männer und Frauen wirklich unterschiedlich?
»Was mir besonders gut gefällt: Das Stück beschreibt genau, wie schwer es uns Männern fällt, uns über einen bestimmten Punkt hinaus anderen Menschen zu öffnen.«
MICHAEL SCHANZE6
Zwei Hauptthesen, die »Caveman« aufstellt, sind für unser Thema besonders relevant:
Männer reden generell weniger als Frauen.
Männer sprechen mit Vorliebe über Sachprobleme und Sachthemen und vermeiden Gespräche über ihre seelische Verfassung oder ihre eigenen Probleme. Frauen sprechen ohne Mühe auch von sich selbst und ihren Gefühlen oder seelischen Belastungen.
Reden Männer wirklich weniger als Frauen?
Der zweistündige Monolog des »Caveman« weist deutlich in eine andere Richtung. Ist er eine Ausnahme? Immer wieder wird eine Statistik zitiert, derzufolge Frauen am Tag 20 000 Wörter reden, Männer hingegen nur 7 000 Wörter. Doch diese Statistik scheint falsch zu sein! Eine aktuelle amerikanische Studie mit 400 Männern und Frauen brachte nämlich ein überraschend anderes Ergebnis an den Tag: Frauen benutzten durchschnittlich 16 200 Wörter am Tag – Männer gerade mal 500 Wörter weniger, nämlich 15 700 Wörter. Wie kam man zu diesen exakten Zahlen? Die Teilnehmer wurden mit einem Spezialrecorder ausgestattet, der sich fünf Mal pro Stunde für den Träger unmerkbar automatisch einschaltete und für 30 Sekunden die Äußerungen des Probanden aufnahm. Der Versuch erstreckte sich über mehrere Tage. Nach der Testphase wurden die aufgezeichneten Daten ausgewertet und auf den Tag hochgerechnet.
Fazit: Der Unterschied zwischen Männern und Frauen liegt offensichtlich nicht in der Menge des Gesprochenen.7 Er liegt jedoch in den Inhalten.
Doch nun zu der zweiten, wesentlich schwierigeren Fragestellung: Benutzen Männer Sprache auf andere Weise als Frauen? Anders gefragt: Reden sie über andere Themen? Vermeiden sie es, über ihre Gefühle oder seelischen Belastungen zu reden?
An dieser Stelle muss ich etwas weiter ausholen und die Wissenschaft befragen. In ihrem äußerst gründlichen und umfassenden Überblick über die aktuellen Forschungsergebnisse der Wissenschaft zum Thema »Verhaltensunterschiede der Geschlechter«8 stellt Doris Bischof-Köhler Folgendes fest:
Es scheint in der Tat schon sehr früh in der Geschichte der Menschheit eine Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern gegeben zu haben. »Die Frauen bestreiten durch Sammeln von Nahrung … einen Bestandteil des Unterhalts, übrigens einen recht wesentlichen.«9 Sammeln ist nicht so risikobelastet wie Jagen, dafür sind mehr Umsicht und Vorsicht notwendig – zwei Eigenschaften, die auch bei der Fürsorge für kleine Kinder unabdingbar sind. Die Kinder konnten bei den Sammelexkursionen mitgenommen werden, was sicher mit ein Grund für diese Arbeitsteilung gewesen sein dürfte. Je aufmerksamer und fürsorglicher die Mutter ihrem Kind gegenüber war, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind die ersten Lebensjahre überlebte.
Fürsorglichkeit und Einfühlungsvermögen bilden existenziell wichtige Eigenschaften der Mütter, um ihre Nachkommen am Leben zu erhalten. Man muss sich klarmachen, dass schon aufgrund der rund dreijährigen Stillzeit die Betreuung des Kleinkindes fast ausschließlich in den Händen der Mutter lag.10
Die Großwildjagd war hingegen die Domäne der Männer. Zu ihr gesellten sich sehr früh schon die Kriegsführung sowie, damit verbunden, die Metallbearbeitung und die Herstellung von Waffen, die ebenfalls ausschließlich von Männern durchgeführt wurden. Für beides, Jagen und Kriegführen, bedurfte es solcher Eigenschaften wie Risikobereitschaft, Unternehmenslust, Konkurrenzverhalten, aber auch Kooperationsbereitschaft.
Da sowohl bei der Jagd als auch im Kampf spontan massive Angstgefühle auftauchten, lag es im Interesse der Männer, sich von diesen Gefühlen nicht allzu sehr ablenken oder gar bestimmen zu lassen. Dies gelang am ehesten, wenn die Gefühle nicht ins Bewusstsein dringen konnten und schon gar nicht sprachlich artikuliert