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EVA BREUNIG

Im Dunkeln
lauert
die Angst

Roman
 
SCM Hänssler

SCM | Stiftung Christliche Medien

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Für meine wunderbare Tochter Agi,
die beim Schreiben dieses Buches eine große Hilfe war
und auch sonst
– gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Thesi –
eine Quelle der Inspiration und Freude ist

Inhaltsverzeichnis

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1

Obwohl die Februarnacht kalt war, lief Kieran der Schweiß über das Gesicht. Das lag nicht nur an dem dicken grauen Wintermantel mit Pelzkragen, den irgendjemand aus Kierans Pfadfindergruppe im Schrank seines Urgroßvaters gefunden hatte, und auch nicht an dem Kissen, das er zusätzlich unter den Mantel gestopft hatte, um sich breite Schultern zu verleihen. Vor allem lag es an der Wolfsmaske. Sie war aus Gummi und ziemlich eng und ließ kaum Luft an die Haut. Kieran spürte, wie die Schweißtropfen in seinen Augen brannten und ihm salzig in die Mundwinkel rannen.

Vorsichtig sah er sich auf der Straße um. Trotz seiner furchterregenden Wolfsverkleidung fiel er nicht sonderlich auf, denn es war Faschingsdienstag. Vereinzelt zogen noch kleine Pippi Langstrümpfe und Supermännchen an der Hand ihrer Mütter vom Kinderfasching nach Hause, während junge Paare in Smokings und langen Abendkleidern sich auf den Weg zu den letzten Bällen der Saison machten.

Kieran wäre eigentlich auch gern tanzen gegangen, am liebsten zum traditionellen Elmayer-Kränzchen – dem Hofburg-Ball, auf dem die »höheren Söhne und Töchter« Wiens der vornehmen Gesellschaft präsentiert wurden. Und am allerliebsten wäre er da mit Miriam, seiner Kollegin vom Pfadfinderleitungsteam, hingegangen. Unvorstellbar das Glück, mit ihr einen Wiener Walzer tanzen zu dürfen …! Stattdessen hatte sie ihn dazu eingeteilt, als grimmiger Wolf verkleidet an einer dunklen Ecke zu stehen und Kinder zu erschrecken.

Na gut, das machte auch Spaß!

Rasch zog er die Maske vom Kopf, wischte sich mit dem Ärmel des Urgroßvater-Wolfsmantels den Schweiß vom Gesicht und fuhr sich durch seine roten Haare, die ihm verschwitzt am Kopf klebten. Seine Fingernägel waren schwarz lackiert, um ihnen das Aussehen von Krallen zu geben. Hoffentlich ging das wieder runter – sonst würden seine Mitstudenten ihn morgen im Seminar für Wirtschaftsrecht ziemlich seltsam ansehen!

Eine Gruppe elf- bis dreizehnjähriger Jungen und Mädchen mit Pfadfinderhalstüchern – Späher und Guides, genauer gesagt die Patrouille »Hirsch« – bog in die Straße ein.

»Im Frühtau zu Berge wir zieh’n, fallera!«, sangen die Kinder, obwohl Nacht war und es in Wiens Innenstadt überhaupt keine Berge gab. Hastig zog Kieran die Maske über und drückte sich in eine Ecke der Hauswand. »Es grünen die Wälder und die Höh’n, fallera!« Auch das war stark übertrieben, denn in den Straßen und Gassen grünte nicht viel, schon gar nicht im Februar.

Als die Gruppe nahe genug herangekommen war, sprang die mächtige Gestalt urplötzlich aus ihrem Versteck, gab ein tiefes, unheilvolles Grollen von sich und schnitt den Kindern den Weg ab.

»Aaah!«, »Iiih!«, kreischten die Kinder erschrocken. »Ein Wolf!«

»Los, los, weitersingen!« Einer der Jungen wedelte auffordernd mit den Händen. »Nicht aufhören! Wölfe fürchten sich vor Gesang!«

»Wi-wir wandern … lala-laala!«, sang ein Mädchen tapfer mit dünner Stimme, obwohl ihr offenbar gerade der Text abhanden gekommen war. Gemäß seinen Anweisungen, als Wolf den Gesang zu scheuen, ging Kieran auf Abstand. Drohend, zum Sprung bereit, tänzelte er auf und ab.

»Wo wollt ihr hin?«, knurrte er. Seine Stimme klang gedämpft und ein wenig undeutlich. Das erhöhte den Unheimlichkeitsfaktor. Natürlich wussten die Kinder, dass sich da einer ihrer Pfadfinderleiter hinter der Maske versteckte. Kieran wiederum wusste, dass sie das mulmige Gefühl in der Magengrube und das wohlige Gruseln genossen und deswegen so taten, als hielten sie ihn wirklich für einen Wolf. Alle Kinder liebten es, erschreckt zu werden (na ja, fast alle) – das gehörte einfach dazu! Ein nächtliches Stadtgeländespiel musste unheimlich sein; schließlich waren sie Pfadfinder und keine Weicheier!

»Einer aus eurem Volk braucht Hilfe!«, rief Emil. Diesen Satz hatte die »weise alte Zigeunerin«, die sie bei ihrer letzten Station getroffen hatten, ihnen eingeschärft.

»Groarr!«, brüllte Kieran und sprang auf Emil los.

»Alle meine Entlein schwimmen auf dem See!«, sang Milli hastig los, und der Wolf wich brav zurück.

»Wir Wölfe zerrrfleischen euch Menschen«, knurrte er. »Warrrum wollt ihr einem von uns helfen?«

»Er liebt eine Tigerfrau!«, quiekte Sandra und duckte sich vorsichtshalber hinter David.

»AAAHRR!«, brüllte der Wolf.

»Schwimmen auf dem See!«, sang Milli hastig. »Köpfchen unter Wasser, Schwänzchen in die Höh!«

Kieran ließ davon ab, Sandra zu fressen, und knurrte: »Ihr meint Grrraunase, den Verrräter! Er gehört nicht mehr zu unserer Wolfsfamilie!«

»Warum?«

»Es ist falsch, eine Tigerin zu lieben!«, grollte er so bedrohlich und gruselig, wie er nur konnte. »Tiger sind nicht wie wir! Sie sind eingebildet, überheblich und halten sich für vornehm!« Jetzt kam ein wichtiger Teil seiner Rolle, den durfte er ausschmücken. »Tiger sind einfach anders! Goldgelb und gestreift – wie die schon aussehen! Und immer edle Kleidung! Halten sich wohl für was Besseres, die feinen Herrschaften! Zum Schlafen brauchen sie ein weiches Bettchen, am besten noch mit Gold beschlagen und mit Seide ausgepolstert! Ein Platz im Wald reicht ihnen nicht, ha!«

Kieran holte tief Luft. Die Augenlöcher der dämlichen Maske verrutschten ständig, sodass er die Kinder nicht richtig sehen konnte. Ob sein Vortrag wohl ankam? Ob die Kinder die Botschaft begriffen? In diesem Spiel ging es um Wölfe und Tiger, die – wie bekanntlich alle Hunde und Katzen – einander nicht ausstehen konnten. Das passte gut zum Fasching und eignete sich für ein Nachtgeländespiel sowieso hervorragend, weil es verrückt und ein bisschen gruselig war. Aber in Wirklichkeit sollten die Kinder vor Augen geführt bekommen, wie unsinnig es war, andere Völker nur deswegen abzulehnen und auszugrenzen, weil sie »anders« waren.

»Auf uns gewöhnliche Leute schauen diese eingebildeten, arroganten Katzen nur verächtlich herab«, fuhr Kieran aufgebracht fort. »So ein ganz normaler Wolf wie du und ich ist ihnen nicht gut genug! Sie sagen, wir würden stinken – ha! Dabei sind sie es doch, die nach parfümierter Katze riechen, dass einem schlecht werden kann! Warum sind sie nicht in Afrika geblieben, wo sie hingehören?! Wir brauchen sie hier nicht!«

»Das sieht dein Freund Graunase aber anders«, wandte Lukas ein.

»Graunase ist ein Verräter!«, tobte Kieran so bedrohlich, dass Milli und Sandra schnell wieder zu singen begannen. »Man verliebt sich nicht in solchen Tiger-Abschaum! Wir Wölfe haben Tiger schon immer verachtet, und das wird auch immer so bleiben!« Das ultimative Totschlagargument der Intoleranz: Das war schon immer so!

»Wenn ich ihn und seine ekelhafte Tigerfreundin in die Finger kriege …!« Kieran beendete den Satz nicht, aber die würgende Geste seiner Krallenhände ließ keinen Zweifel daran, was er dann tun würde.

»Die beiden wünschen sich doch nur, dass Frieden zwischen euren Völkern herrscht!«, murmelte Antonia.

»Wünschen ist gratis!«, schnappte Kieran. »Darauf können sie lange warten!« Jetzt musste er noch »versehentlich« ein Geheimnis ausplaudern, das war wichtig für den weiteren Verlauf des Spiels. Also hieß es, dem Gespräch eine Wendung zu geben. »Mischt euch nicht in Sachen ein, die euch nichts angehen! Und hört bloß mit dem Gesinge auf, da wird einem ja ganz schlecht!« Er hielt sich die spitzen Ohren an der Maske zu. »Hoffentlich kommt ihr nicht auch noch auf die Idee, ›Should old acquaintance be forgot‹ zu singen! Davon werden wir weichherzigen Wölfe nämlich ganz rührselig! Dann könnten wir womöglich sogar vergessen, dass wir die abscheulichen Katzenviecher hassen und verachten – und das darf nie geschehen! Ist das klar?!« Er machte einen bedrohlichen Satz auf die Kinder zu, die kreischend zurückwichen.

»Ganz klar! Wiedersehen, Herr Wolf!«, grüßte Emil artig und winkte seinen Gefährten zum Aufbruch. Offensichtlich hatten die Kinder begriffen, dass das die Information war, die sie für das weitere Spiel brauchten. Sie stoben davon. In sicherer Entfernung stimmten sie das englische »Old-acquaintance«-Lied an.

Kieran lächelte unter seiner Maske. Er hatte kein Problem damit, sich als Gruselwolf zu verkleiden und Kindern einen Schrecken einzujagen. So konnten die Kids ihre Abenteuerlust ausleben, ohne wirklich in Gefahr zu sein. Und weil sie dabei auch gleich noch etwas über Kameradschaft, Toleranz und Nächstenliebe lernten, konnte er das gut mit seinem christlichen Gewissen vereinbaren. Es gab langweiligere Arten, Werte zu vermitteln, fand er. Und schlechtere Möglichkeiten, den Faschingsdienstag zu verbringen! Miriam und Daria, die sich dieses Geländespiel ausgedacht hatten, hatten wirklich immer wieder coole Ideen!

2

Zwei Straßen weiter saß Max Lenauer, genannt Leni, in einem barocken Lehnstuhl mitten auf dem Gehsteig. Das trug ihm erstaunte Blicke der Passanten ein, denn auch wenn am heutigen Tag manch seltsam verkleidete Gestalt umherzog, so hatte doch kein anderer seine Möbel dabei! Fröstelnd zog Leni seinen roten Umhang fester um die Schultern. Die Wölfe hatten es gut, die durften dicke Mäntel tragen! Der Gehrock aus rotem, golddurchwirktem Brokat und die weiße Rüschenbluse wärmten nicht wirklich, obwohl er ein T-Shirt darunter trug. Vervollständigt wurde sein Outfit durch eine Kniebundhose, weiße Strümpfe und Schuhe mit goldenen Spangen, die er in der Verkleidungskiste des Pfadfinderheimes gefunden hatte. Lenis strohblonde Haare waren zu zwei spitzen Ohren hochgebürstet und mit schwarzen Streifen aus Faschingshaarspray durchsetzt. Gelb-schwarz geschminkte Streifen im Gesicht und lange, aufgeklebte Schnurrbarthaare machten vollends klar, dass es sich hier um Graf Schnurro von Fangzahn, das Oberhaupt der Tigersippe, handelte.

Die Kinder wagten sich erst näher, als jeder ein Büschel Katzenminze in der ausgestreckten Hand vor sich hertrug. Leni drückte sich ins entfernteste Eck seines Thronsessels und hob ihnen abwehrend die Handflächen entgegen.

»Was wollt ihr denn mit dem Gemüse?«, fragte er herablassend in näselndem Tonfall. »Keine Sorge, ich fresse euch schon nicht! Ich hatte gerade eine kleine Antilope zum Abendessen. Ich bin satt!« Wie um sich selbst Lügen zu strafen, leckte er sich die Lippen und ließ dabei ein Paar spitze Reißzähne sehen. Die Kinder quiekten. Leni setzte noch ein blutrünstiges Grinsen drauf. »Und was wollt ihr?«, fuhr er fort. »Wartet – lasst mich raten: Cousine Samtpfote hat mal wieder einen Elefanten mit zu hohen Cholesterinwerten gebissen, und jetzt ist ihr übel? Muahaha!« Das hinterhältige Gelächter hatte er zu Hause vor dem Spiegel geübt.

»Nein!«, kicherten die Kinder.

»Wir wollen, dass ihr mit den Wölfen Frieden schließt!«, stieß Emil hervor.

»Waaas?« Leni sprang auf die Sitzfläche des Stuhles, richtete sich zu voller Größe auf, wobei er darauf achtete, dass sein Umhang majestätisch um ihn wallte, und donnerte: »Niemals! Wölfe sind primitive, verachtenswerte Kreaturen ohne jede Lebensart!«

»Aber es gibt eine Tigerin, die sich in einen Wolf verliebt hat«, wandte Sandra ein.

»Eine schlimme Verirrung!«, dröhnte Graf von Fangzahn. »Noch nie haben wir edlen Tiger uns mit diesen stinkenden Hunden verbrüdert! Sie sind roh und animalisch! Haben keine Manieren und keinen Stil! Wie die schon angezogen sind, in ihren vergammelten Fellmänteln! Und potthässlich sind sie noch dazu. Da könnte meine Nichte Catzerina ja noch lieber eine Kakerlake nehmen!«

»Hast du denn schon mal mit einem Wolf geredet? Vielleicht sind sie nett und klug!«, schlug Antonia hoffnungsvoll vor.

»Geredet?! Das wäre ja noch schöner! Mit so einem dreckigen Köter spricht ein Graf von Fangzahn doch nicht! Wo kämen wir denn da hin?!«

»Und wie willst du dann jemals wissen, ob sie nett sind?«, fragte Lukas frech.

»Will ich ja gar nicht!«, bemerkte Leni hoheitsvoll und setzte sich wieder. »Und jetzt verschwindet und nehmt euer Gemüse gefälligst mit! Wirklich ein Glück, dass ihr wenigstens keine Knoblauchschokolade mitgebracht habt! Die ist so lecker … Von der werden wir Tiger ganz schwach im Kopf … Womöglich würde uns die so verwirren, dass wir doch noch auf euren unverschämten Wunsch eingehen würden. Und das darf nie geschehen!«

Die Kinder sahen einander an. Knoblauchschokolade – das war ihr Stichwort!

»Wiedersehen, Herr Graf!«

»Nichts da, Wiedersehen«, fauchte Leni und fletschte die Reißzähne. »Denkt dran – das nächste Mal könnte ich hungrig sein!«

3

Miris Blog

Love is in the air – Love me tender – Endless love

Liebe ist allgegenwärtig. Überall. Man muss sich ja nur anschauen, wie viel darüber geschrieben und gesungen wird – siehe Songtitel oben!

Aber: Was ist Liebe eigentlich?

Die Frage klingt banal. Und doch hab ich komischerweise einfach keine klare Antwort darauf. Da studiert man drei Semester Philosophie und beschäftigt sich mit den kompliziertesten metaphysischen Problemen, aber so was Allgegenwärtiges wie Liebe bleibt mir ein Rätsel. Seit ich mich von meinem Freund getrennt habe, beschäftigt mich dieses Thema ganz besonders, aber ich habe das Gefühl, je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger verstehe ich.

Also dachte ich, recherchier ich mal und frag ein paar Leute, die es vielleicht wissen könnten.

Wikipedia verrät mir, dass es verschiedene Formen der Liebe gibt: Freundesliebe, erotische Liebe, Nächstenliebe, Selbstliebe und so weiter. Ach wirklich! War ja wohl irgendwie klar, dass es zwischen »ich liebe Schokolade«, »ich liebe Sonnenaufgänge«, »ich liebe meine Eltern« und »ich liebe meinen Freund« irgendwelche Unterschiede geben muss !

Im Duden gibt es Erklärungen wie »Gefühl des Hingezogenseins, Anziehung, Wunsch nach Zusammensein«, aber auch »Sexualität«.

Und der Große Brockhaus von 1932 schreibt von einer »Ich-Du-Beziehung des ganzen Menschen zum ganzen Menschen« und von »Opferbereitschaft und Hingabe«. Der alte Schinken unterscheidet »Liebe« ausdrücklich von »Sexualität, die bloße Triebbefriedigung sucht«.

Aha.

Also, dass Liebe nicht dasselbe ist wie Sex, setze ich jetzt mal voraus. Ich meine, auf so ein Niveau muss ich mich als Philosophiestudentin nun wirklich nicht begeben!

Aber was ist Liebe sonst noch?

Bedeutet Liebe: verrückt nach jemandem sein, immer mit ihm zusammen sein zu wollen? Ist es das Kribbeln im Bauch, das Herzklopfen, die feuchten Handflächen, wenn man diesen Menschen trifft?

Meine »Testpersonen« (genauer gesagt: meine Eltern) meinen, dass das Kribbeln ein Zeichen für Verknalltheit ist, das bald vergeht und nichts zu bedeuten hat. Und das Immer-zusammensein-Wollen nennt man »Klammern«, nicht Liebe.

Oha.

Oder bedeutet Liebe, für jemanden sorgen zu wollen, immer sein Wohlergehen im Sinn zu haben? Alles zu tun, damit es demjenigen gut geht? Meine Schwester findet, dass das »Bemuttern« ist. Und dass es schnellstmöglich dazu führt, dass sich die Liebe (was immer das nun auch sei) verflüchtigt. Das stimmt wohl – ich kenne ja genug Leute im Freundeskreis, deren Beziehung wegen so was schiefgelaufen ist.

Andererseits haben einige meiner Testpersonen gemeint, Bemutterung (also Mutterliebe) sei die »reinste«, die »selbstloseste« Form der Liebe: Eine Mutter gibt alles und bekommt nichts. Sie vernachlässigt sogar ihre elementarsten Bedürfnisse wie essen und schlafen, damit es dem Kind gut geht. Und das Kind? Leistet nichts. Brüllt einfach ungeniert mitten in der Nacht, spuckt alles voll, nimmt keinerlei Rücksicht. Aber meine Mutter sagt, das stimmt gar nicht, dass Babys nichts zurückgeben. Wenn ein kleines Kind glücklich lächelt, sich vertrauensvoll ankuschelt oder die Mutter umarmt, dann sei es das Schönste, was es überhaupt gibt. Man bekommt also sogar jede Menge zurück, laut meiner Mutter. Und die muss es schließlich wissen.

Aber wie auch immer: Mutterliebe oder Bemutterung ist vielleicht gut für Kleinkinder – für Beziehungen zwischen Erwachsenen ist sie wohl nicht das Richtige.

Was also ist Liebe?

Ich bin der Antwort noch nicht wirklich näher gekommen …

4

» .-/.- -. /- - - /- /…. /. /-.- /. //..- /-. /-..// und so weiter«, las Emil die Punkt-Strich-Nachricht vor.

Eine vermummte Gestalt hatte Milli kurz nach Graf Fangzahns Station im Vorübergehen angerempelt und ihr diese Botschaft zugesteckt. Für die Kinder war klar: Offensichtlich handelte es sich hier um einen Morsecode! Emil zog sein Smartphone aus der Tasche und wollte das Internet zurate ziehen, aber Antonia fiel ihm in den Arm:

»Das ist unpfadfinderisch, was du da machst! Wir kriegen das auch ohne Handy hin!«

»Kennst du denn alle Zeichen?«, spöttelte Emil.

»Ich kann alle Merkworte für das Morsealphabet!«, brüstete sich Antonia. »Und ich weiß, dass eine Silbe, die ein ›o‹ enthält, für einen Strich steht, und Silben ohne ›o‹ für Punkte.«

»Genau!«, mischte sich Sandra ein. »Das fünfte Zeichen in dieser Botschaft steht für ›Ha-sen-züch-ter‹, vier Silben ohne ›o‹. Also ein ›H‹!«

»Ein Punkt ist ›E‹«, verkündete Lukas. »Merkwort ›Eis‹!«

»Da sind mehrere ›E‹s!« David nahm einen Stift und schrieb »E« über alle Einzelpunkte. »Das erste Zeichen ›Punkt-Strich‹ bedeutet ›A‹ – Merkwort ›An-ton‹!«, fügte er hinzu.

»Aber was ist das zweite?«

Nach einigem Probieren und Rätseln gelang es ihnen, die Botschaft vollständig zu entschlüsseln:

»Apotheke und Süßwaren Gunilla und Drusilla. Fledermausgelee, Spinnwebzuckerwatte, Knoblauchschokolade. Rathauspark 1.«

»Los, das ist also unsere nächste Adresse!«

Die Zwillingsschwestern Daria und Miriam, die Autorinnen des schaurig-schönen Stadtgeländespiels, spielten natürlich die beiden schrulligen Apothekerinnen in ihrer Süßigkeitenküche. Mit ihrer überschäumenden Fantasie, ihrem komödiantischen Talent und ihrer Lust am Verkleiden waren sie voll in ihrem Element. Im Rathauspark loderte ein echtes Feuer in einer flachen Metallschale – natürlich hatten sie eine Genehmigung der Polizei dafür –, und darüber hing ein Kupferkessel an einem Dreibein. Auf der Wiese lag eine dünne Schneekruste, die den Feuerschein schwach reflektierte und huschende, tanzende Lichteffekte schuf. Die Schwestern hatten ihre Haare wild toupiert und farbig angesprüht – Daria grün, Miriam pink. Dazu trugen sie altmodische Hüte, zerlumpte Kleiderschürzen und Bergschuhe. Von Miriams Hut baumelte eine riesige Gummispinne, Daria trug eine Stofffledermaus auf der Schulter. Beide waren mit falschen Warzen und Falten geschminkt, und einige Zähne waren geschwärzt, sodass sie wie Zahnlücken aussahen. Die Zwillinge waren für ihre Liebe zum Detail berühmt.

Als die Gruppe eintraf, rührte Daria mit einem Besenstiel im Kessel herum, während Miriam ein Rezept aus Pergament hielt, durch eine dicke Brille hindurch die Zutaten ablas und allerlei Ingredienzien in den Topf warf.

»Schau mal, Drusilla – Menschlein!«, kicherte Miriam mit greisenhaft verstellter Stimme. »Gehören denn welche in unseren Trank?«

»Aber Gunilla, wir kochen doch keine Kinder!«, krächzte Daria zurück. »Wir sind Vege-Vere-Veteranen!«

»Veterinäre, meinst du? Die, die kein Fleisch essen?«

»Vegetierer«, versuchte Drusilla-Daria es noch einmal.

»Vegetarier?«, half Antonia aus.

»Genau! Vegetarier!«, jubelten die beiden Apothekerinnen und tanzten um den Kessel.

»Aber – wenn wir euch nicht kochen sollen, was wollt ihr dann hier?«, fragte Gunilla-Miriam schließlich.

»Wir hätten gern etwas Knoblauchschokolade«, bat Emil artig und schoss ein Handyfoto von der Feuerstelle mit dem Kessel und den zwei verkleideten Gestalten.

»Ah-hahaha! Hihihi!«, kicherten die beiden schaurig und ließen ihre grauenvoll entstellten Gebisse sehen. »Habt ihr Gold?«

Die Kinder sahen einander an und zuckten ratlos die Schultern. Gold hatten sie nicht. Hatten sie womöglich eine Station ausgelassen?

»Ha!«, kreischten die Apothekerinnen. »Die haben kein Gold! Kommen mit leeren Taschen, ha! Ja, glaubt ihr denn, wir verschenken unsere Süßigkeiten?« Daria beugte sich bedrohlich vor und kam mit ihrem Gesicht so nah an das von Emil heran, dass der Junge ein paar Schritte zurückstolperte.

»Kommt wieder, wenn ihr Gold habt!«, beschied ihnen Miriam.

»Oder Edelsteine!«, fügte Daria hinzu.

Die Kinder standen unschlüssig da und wussten nicht, wo sie jetzt hingehen sollten.

»Aaah – das sind starke Kinder, die können auch arbeiten«, fand Miriam plötzlich.

»Oh ja, arbeiten, oh ja!«, echote Daria.

»Ihr könnt ein bisschen Holz hacken«, schlug Miriam vor und deutete auf einen Hackstock, in dem ein Beil steckte. Daneben lag ein Stapel Holzklötze und ein zweiter Stapel mit bereits kleingehacktem Holz. Offenbar waren schon andere Patrouillen vor ihnen hier gewesen.

Lukas war der Erste. Breitbeinig stellte er sich vor den Hackstock und ergriff das Beil mit beiden Händen.

»So ist’s gut!«, lobte Gunilla-Miriam. »Beine breit, damit du dir nicht ins Schienbein hackst, falls du abrutschst. Und das Holz niemals mit der Hand festhalten! Steht eh von allein.« Sie stellte ihm ein Holzstück hin. Lukas holte aus und spaltete den Klotz mit einem Schlag.

»Bravo! Starker Bursche! Kriegt vielleicht Schoki!«, jubelte Miriam.

Auch die anderen Kinder versuchten ihr Glück. Sandra schlug nicht fest genug zu; das Beil blieb im Holz stecken und musste mit einem Hammer tiefer hineingetrieben werden. Davids Holzstück sprang davon und das Beil schwang zwischen seine Beine. Gut, dass er sie so breit aufgestellt hatte! Als alle dran gewesen waren, schienen die Köchinnen zufrieden.

»Hier, lecker Knobi!«, krächzte Daria und überreichte Lukas eine Tafel Schokolade. Die Aufschrift auf dem Umschlag war mit dem Bild einer Knoblauchknolle überklebt worden. Daneben stand in altmodischer Schrift »Gunillas und Drusillas feine Knoblauchschokolade – mit ganzen Knoblauchstückchen, zartschmelzend«.

»Aber nicht selber essen!«, warnte Drusilla-Daria. »Die Wirkung auf Menschen wurde nie erforscht!«

»Wahrscheinlich muss man kotzen«, flüsterte Emil in Millis Ohr und grinste.

»Frechheit! Du beleidigst unsere weltberühmte Spezialität?!«, kreischte Miriam durchdringend. »Gib sie sofort wieder her!«

»Oh – nein, ich meinte, sie ist sicher super lecker!«, verbesserte sich Emil hastig.

»Köstlich! Deliziös! Sensationell!«, tadelte Daria.

»Ja, genau«, stimmte Antonia eilfertig zu. »Einzigartig!«

Das besänftigte die Apothekerinnen, und sie begannen wieder zu kochen.

»Äh – wo müssen wir denn jetzt hin?«, fragte Sandra.

»Folgt den Lichtern!«, sangen die beiden.

Milli deutete auf die nahe gelegenen Büsche. Dort leuchtete ein schwaches Licht in kurzen Abständen auf – dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz.

»SOS«, übersetzte Milli. »Das internationale Notsignal! Das ist wohl das Licht, dem wir folgen sollen!«

5

Als die Kinder in Richtung der Lichtsignale davongezogen waren, sah Daria auf die Uhr. »Noch zwei Gruppen. Wir liegen gut in der Zeit!«

»Ja, es klappt alles gut!« Miriam holte ihr Handy aus den vielschichtigen Röcken, die sie übereinander trug, und schrieb eine SMS an Kathi, die die erste Station – die »weise alte Zigeunerin« – innehatte: »Schon alle Gruppen durch bei dir?«

Wenig später kam die Botschaft zurück: »Grad war die letzte da. Ich geh jetzt in euren Keller und werde zu Catzerina.«

Der Keller von Darias und Miriams Großeltern war schon Schauplatz vieler Geländespiele gewesen. Das Haus, in dem die Familie wohnte, lag mitten in der Wiener Innenstadt hinter einer barocken Kirche, und der Keller führte mehrere Stockwerke in die Tiefe. Mächtige alte Gewölbe grenzten an verwinkelte Kammern; die Treppen waren steil und hatten schiefe, verschieden hohe Stufen. Dazu roch es nach Moder. Die Location war wie geschaffen für ein Spiel wie dieses!

»Wer spielt eigentlich den Bräutigam?«, erkundigte sich Daria.

»Kieran. Der hat die zweite Station, da müssten auch demnächst alle durch sein. Dann hat er Zeit, sich umzuziehen. Ein Wolf ist er eh schon, er muss nur das rosa T-Shirt anziehen, auf dem ›I ♥ Catzerina‹ steht.«

»Hoffentlich ist es groß genug, dass er es über den Mantel kriegt!«

»Es ist XXL, das sollte doch reichen«, bemerkte Miriam. »Sooo fett ist Kieran ja nun wirklich nicht, selbst mit Mantel!«

»Glaubst du, die Kinder checken, worum es eigentlich geht?«, fragte Daria besorgt.

»Natürlich!«, beruhigte ihre Schwester sie. »Wir haben beim letzten Pfadfinderheimabend über Integration von Minderheiten und über den Umgang mit Migranten geredet. Und dass die Verschiedenartigkeit keine Bedrohung sein muss, sondern eine Bereicherung darstellen kann, wenn man bereit ist, vorurteilslos aufeinander zuzugehen und so weiter. Die Kinder müssten echt begriffsstutzig sein, wenn sie den Zusammenhang nicht kapieren!«

Daria nickte zustimmend. »Wenn ich so drüber nachdenke, ist unser Spiel gar nicht übel! Die Schwerpunkte ›Abenteuer‹, ›weltweite Verbundenheit‹ und ›Gemeinschaft‹ haben wir damit jedenfalls abgearbeitet!«

»Hach, was sind wir doch für coole Vorzeige-Pfadis!« Miriam rollte die Augen und bleckte ihr fürchterliches Gebiss.

»Stimmt«, grinste Daria zahnlückig zurück. »Außerdem sieht der Leni im Grafen-Outfit unheimlich sexy aus!«

Miriam zuckte die Achseln. »Mir doch wurscht – das ist dein Freund!«, brummte sie mürrisch.

»Hey, was machst du denn für ein Gesicht?«, rief Daria. »Etwa immer noch wegen diesem blöden Sebastian?!«

»Was heißt da ›immer noch‹?!«, giftete Miriam. »Unsere Trennung ist gerade mal vier Wochen her!«

»Ja, na und?«, gab Daria angriffslustig zurück. Doch bevor die beiden einen ihrer berüchtigten Zwillingsstreite beginnen konnten, bei denen regelmäßig die Fetzen flogen, tauchte die nächste Gruppe Kinder auf, und die Zwillinge verwandelten sich schlagartig in die dümmlichen, Schokolade einkochenden Apothekerinnen zurück.

Zum Showdown kamen alle Gruppen im Keller zusammen. Mit vereinten Kräften sangen etwa dreißig Kinder »Should old acquaintance be forgot«, um mit diesem Lied-Trick die versöhnliche Seite bei den Wölfen zum Vorschein zu bringen, und fütterten die Tiger mit der Knoblauchschokolade. Die Tiger und Wölfe wurden sanft wie schnurrende Kätzchen und Schoßhündchen. Nachdem alle Frieden geschlossen hatten und Graunase seine Catzerina in die Arme schließen durfte, ging es zurück ins Pfadfinderheim.

Auf dem Weg unterhielten sich die Kinder mit roten Wangen über das Erlebte. Über eines waren sie sich einig: Das Geländespiel war wieder mal »obercool« gewesen!

»Also, bei diesem Hexenkessel in der ›Apotheke‹ hab ich mich fast ein bisschen gefürchtet!«, gestand Sandra. »Das war so gruslig, mit dem Feuer von unten, dann sehen die Gesichter auch so verzerrt aus!«

»Ich hab gleich gewusst, dass das die Zwillinge sind«, prahlte Emil.

»Ja, eh – aber unheimlich war’s doch. Soll’s ja auch, sonst wär’s langweilig!«

»Stimmt«, fand David. »Man kommt ja deswegen her, um sich zu gruseln.«

»Und schließlich ist niemand so blöd, sich echt zu fürchten!«, setzte Lukas hinzu.

»Na ja … Im Herbst war mal kurz eine da, bei der bin ich mir nicht so sicher«, sinnierte Milli. »Erinnert ihr euch, so eine kleine Dicke – die hat da unten im Keller fast geheult vor Angst!« Sie kicherte. »Danach ist sie nie wieder zum Heimabend gekommen.«

»Das war aber auch wirklich sehr unheimlich«, verteidigte Antonia das unbekannte Mädchen. »Und es war ihr allererstes Nachtgeländespiel – sie hat ja gar nicht gewusst, wie so was bei uns läuft.«

»War das nicht diese grässliche Story, wo Kieran mit Organen gehandelt hat?«, erinnerte sich Sandra. »Das war schon extrem! Er hat den Leuten ihre Nieren rausoperiert und ihnen die Augen ausgestochen, um ihre Hornhäute zu verkaufen, oder so … Und dann waren alle so grauslich geschminkt, mit blutigen Augen, und sind blind und sterbend rumgewankt … Ehrlich gesagt, da hätt’ ich auch fast geheult! Obwohl mir klar war, dass es bloß Kathi und Tessa mit roter Farbe im Gesicht waren!«

»War die nicht aus deiner Klasse?«, kam Milli auf das dickliche Mädchen zurück und sah Emil an.

»Die war doch verknallt in dich«, fiel es David wieder ein, »und ist nur wegen dir überhaupt zu den Pfadfindern gekommen!«