Thomas Härry

Das Geheimnis deiner Stärke

Wie Gott deine Lebensgeschichte gebrauchen will

Die Edition
erscheint in Zusammenarbeit zwischen
SCM R. Brockhaus im SCM-Verlag Witten
und dem Bundes-Verlag Witten.
Herausgeber: Ulrich Eggers

Die zitierten Bibeltexte entstammen folgenden Übersetzungen: Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (GNB)

Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (LUT)

Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, © Katholische Bibelanstalt, Stuttgart (EÜ)

Revidierte Elberfelder Bibel, © 1985/1991/2006 SCM R. Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co KG, Witten (ELB)

Die Schrift, verdeutscht von Martin Buber und Franz Rosenzweig, © 1992 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (BuRo)

Zürcher Bibel, © 2007 Genossenschaft Verlag der Zürcher Bibel beim Theologischen Verlag Zürich (ZÜ)

© 2009 SCM R. Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten

Umschlag: Dietmar Reichert, Dormagen

Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg

ISBN 978-3-417-21008-8

Bestell-Nr. 226.286

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1: Die Seele

Seelische Verwirrung auf dem Campingplatz

Die Seele – vergessen und unterdrückt

Was ist die Seele?

Die Kluft zwischen Spiritualität und Seele überwinden

Wie wir mit unserer Seele gut umgehen können

Die Seele vor Gott öffnen

Die Reaktionen meiner Seele als Reden Gottes verstehen

Die Seele in die Spiritualität einbetten

Aus der Tiefe der Seele beten

Gottes Worten in meiner Seele Raum geben

Meine Seele vor anderen öffnen

Die zwei Seiten einer gesunden Spiritualität

Die konstante Ebene: meine Glaubensmuskeln trainieren

Die situationsbezogene Ebene: auf die spontanen Lektionen Gottes reagieren

Kapitel 2: Die Wunde

Wenn die Seele einstecken muss

Jeder Mensch hat seine Wunden

Eine Schulhofgeschichte und ihre Folgen

Jeftah – ein Leben mit unverarbeiteten Wunden

Macht als Genugtuung für erfahrene Verwundung

Zerstören, was man liebt

Zerstören, wer mich infrage stellt

Wunden ziehen Kreise

Meinen Wunden nicht länger ausweichen

Drei Wege, die Verwundete einschlagen

Der Verwundete, der verwundet

Der verwundete Vermeider

Der verwundete Heiler

Kapitel 3: Die Berührung

Sich begleiten lassen

Verstehen, wie die Wunde entstanden ist

Neuorientierung

Übernatürliche Intervention

Versöhnung

Ermutigung zur Lebenskompetenz

Die Bombe entschärfen

Die Berührung meiner Wunde durch den verwundeten Christus

Die »Feinde in mir« segnen

Kapitel 4: Das Kunstwerk

Was es bedeutet, dass Gott unser Vater ist

Gott ist ein guter Vater, der seine Kinder in Neues, Unbekanntes hineinbegleitet und -führt

Gott ist ein guter Vater, der seinen Kindern Unterstützung und Rückendeckung gibt und ihnen hilft, Erfolgserlebnisse zu haben

Gott ist ein guter Vater, der uns fördert, indem er uns auf gute Ziele hin ausbildet, erzieht und trainiert

Gott ist ein guter Vater, der Dinge, die wir »vermasseln«, wiedergutmacht

Der Vater, der Wunden in Stärken verwandelt

Kunst aus Müll

Der jährliche Müllwettbewerb made in USA

Wie Gott aus Zerbrochenem Neues macht

Ein Volk zerbricht

Gott verheißt Gescheiterten etwas Neues

Unsere falschen Erwartungen im Blick auf das Neue, das Gott mit uns vorhat

Gott – der Müllkünstler

Weshalb Wunden und Scheitern ein guter Nährboden für besondere Stärken sind

Wie aus Wunden Stärken werden können – zwei Beispiele

Henri Nouwen – Aufruf zu einem authentischen geistlichen Leben

Monty Roberts – der Mann, der zum Herzen von Pferden und Menschen durchdrang

Kapitel 5: Der Weg

Drei Schritte auf dem Weg von der Wunde zur besonderen Stärke

Der erste Schritt: sich der eigenen Zerbrochenheit stellen

Der zweite Schritt: Gott in der Zerbrochenheit sein Werk tun lassen

Der dritte Schritt: die Lektionen, die Gott lehrt, mit anderen Menschen teilen

Ein verwundeter Heiler ist geboren

Kapitel 6: Das Mandat

Eine veränderte Einstellung

Ewigkeit in unseren Herzen

Meine Rolle in Gottes monumentaler Geschichte

Gottes Mandate für Christen – eine Übersicht

Die Schöpfung

Die Familie

Organisationen

Ich selbst

Mein Nächster

Mein Mandat, ein Förderer und Ermutiger zu sein

Mangeldenken ablegen

Unserer Bestimmung näher kommen

Erkennen, wer meine Förderer waren

Zwei praktische Wege, andere zu fördern

Gemeinsame Zeit

Worte

In Begegnungen mit anderen einen Hauch der Ewigkeit einfangen

Finden Sie Ihr Einflussgebiet

Ein Wort zum Schluss

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Vorwort

Habe dein Schicksal lieb, denn es ist der Weg Gottes mit deiner Seele.

Fjodor M. Dostojewski

Seit vielen Jahren beschäftigt mich nicht nur die Frage, wie Menschen mit Gott im Alltag leben können, sondern auch, wie er sie für sich und seine Ziele mit dieser Welt gebrauchen kann. Nicht nur dann, wenn das Leben rund läuft, wir ungehindert unsere Fähigkeiten in einer Gemeinde oder einer sinnvollen Arbeit einbringen können und uns dabei das meiste gelingt. Sondern gerade auch dann, wenn uns Unzulänglichkeiten, Schwierigkeiten, Krisen und Verlusterfahrungen heimsuchen. Sind Menschen, die irgendwie eingeschränkt sind, weniger brauchbar als solche, denen es gegönnt ist, die Sonnenseite des Lebens ganz und gar zu genießen?

Ein Blick in die Bibel macht schnell deutlich: Die Mehrheit derer, durch die Gott Großes bewegt hat, waren begrenzte oder sogar zerbrochene Persönlichkeiten. Menschen mit gravierenden Mängeln, großen Schwächen und oft auch mit schmerzenden Wunden. Gott hat sich nicht daran hindern lassen, gerade sie zu segnen, an ihnen zu handeln und sie in seine Pläne mit dieser Welt einzubeziehen. Wenn ich mich heute in christlichen Kreisen umschaue, bekomme ich manchmal den Eindruck, dass wir das bei den Menschen der Bibel zwar wahrnehmen, aber nicht auf uns selbst übertragen. Viele Christen fühlen sich unbrauchbar, weil ihr Leben irgendwo einen Knick hat. Weil in ihnen etwas zerbrochen ist, weil sie verwundet wurden oder in irgendeinem Bereich des Lebens gescheitert sind. Mein Eindruck ist, dass ein solches Ereignis für viele eine lähmende Zäsur darstellt, die sich wie ein Schatten auf ihr weiteres Leben legt. Verzweifelt versuchen sie, diese Erfahrung und deren Folgen abzuschütteln, um endlich wieder zum vollen, ungehinderten Leben und Dienst für Gott durchzudringen. Wem das nicht gelingt, der fühlt sich auf der Verliererseite des Lebens. Disqualifiziert sich selbst dafür, dass er immer noch kämpft, Fragen hat, mit Wunden, Zweifeln und Unsicherheiten ringt.

Für solche Menschen habe ich dieses Buch geschrieben. Mein Anliegen ist, ihnen zu zeigen, dass das Geheimnis eines gesegneten Lebens, das brauchbar wird für Gott, nicht darin besteht, dass wir alles in den Griff bekommen und keine Probleme mehr haben. Sondern darin, dass wir die eigene Zerbrochenheit anerkennen und Gott darin sein veränderndes Werk tun lassen. Ich möchte Menschen dazu ermutigen, sich da, wo sie heute stehen, ihrer persönlichen Lebensgeschichte zu stellen, ihren Wunden nicht länger auszuweichen und Gott und sein Wirken in den Tiefen ihrer Seele willkommen zu heißen. Wie es Dostojewski unübertroffen schön ausgedrückt hat: In unserem Schicksal zeigt sich der Weg, durch den Gott unsere Seele formen will. Selbst zutiefst schmerzhafte persönliche Erlebnisse sind in seinen Augen wertvoll. Gerade durch zerbrochene Menschen vollbringt Gott einige seiner wertvollsten Taten. Verwundete, gescheiterte Menschen, deren Seele Gott heilend zu berühren beginnt, werden zu seinen bevorzugten Partnern, durch die er andere segnet und ermutigt. Menschen, die sich bisher für gescheitert und unbrauchbar hielten, fangen auf einmal an, zu glauben und damit zu rechnen, dass Gott durch sie andere Menschen entscheidend prägen und fördern kann. Und genau das erleben sie auch. Sie kennen das Geheimnis ihrer Stärke.

In gewisser Weise ist das vorliegende Buch eine Fortsetzung meines ersten Buches Echt und stark: Kraftvoll glauben – Tiefgang finden. Einige der dort geäußerten Gedanken nehme ich erneut auf und vertiefe sie. Für alle, die Echt und stark nicht kennen, habe ich einige wesentliche Grundlagen im ersten Kapitel noch einmal aufgenommen und zusammengefasst.

Diesem Buch liegt eine Wochenendtagung zugrunde, die ich im November 2007 auf dem »Dünenhof« im deutschen Cuxhaven gehalten habe. Ina Dinnebier hat die dort gemachten Tonaufnahmen in geduldiger Arbeit zu Papier gebracht. Ihr gehört ein besonderes Dankeschön. Ina, ohne deine wertvolle Vorarbeit hätte ich es nicht geschafft, in einer bereits ausgefüllten Zeit dieses Buch zu schreiben.

Weiter möchte ich einmal mehr Ulrich Eggers für seine Anregung und freundschaftliche Ermutigung zu diesem Buch danken: Ohne dein Fördern würde es dieses Buch ebenfalls nicht geben.

Dann danke ich auch Silke Gabrisch, meiner Lektorin von SCM R. Brockhaus, für ihre zuverlässige und kompetente Unterstützung. Ich schätze unsere gute, konstruktive Zusammenarbeit und danke dir herzlich für so manche wertvolle Anregung!

Schließlich danke ich von ganzem Herzen meiner Frau Karin: Du bist meine größte Ermutigerin und hilfreichste Kritikerin! Dank deinen Impulsen ist vieles ausgewogener geworden und in ein klareres Licht gerückt.

Mein tiefster Dank gehört meinem himmlischen Vater und Freund. Dass ich dieses Buch schreiben kann, ist nichts anderes als der Beweis dafür, dass Gott sich von unvollkommenen, gebrochenen Menschen nicht begrenzen lässt. Ich kann kaum glauben, wie viel Gutes er hat werden lassen.

Aarau, am 16. September 2008

Thomas Härry

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Kapitel 1:

Die Seele

Seelische Verwirrung auf dem Campingplatz

Unsere ganze Campingausrüstung und die persönlichen Utensilien von fünf Familienmitgliedern in unserem alten Opel zu verstauen, ist jedes Jahr zur Urlaubszeit eine neue Herausforderung für mich. So auch in jenem Sommer vor ein paar Jahren, als wir beschließen, unsere Zelte in Südfrankreich aufzuschlagen. Nach mehreren Versuchen gelingt es auch diesmal, alles unterzubringen. Jeder Zentimeter Freiraum in unserem Auto ist ausgefüllt mit Taschen, Kleidern, Kocher, Büchern (ohne sie geht gar nichts ...), Schminkzeug (meine drei Töchter bestehen darauf, dass auch das unbedingt mitmuss!), Stühlen, einem Tisch, Zelten und was noch alles dazugehört. Mitten in der Nacht fahren wir los, um den Ferienstau am Gotthardtunnel zu umgehen.

Während die ganze Familie im Auto schläft, höre ich auf die leise, rhythmische Countrymusik aus dem Autokassettengerät. In mir kommt Ferienstimmung auf. Unglaublich gefreut habe ich mich auf diesen Urlaub. Zwei Wochen ohne Verpflichtungen, ohne Telefonate, ohne E-Mail. Keine Sitzungen, keine Predigten, kein Unterricht, keine Prüfungsarbeiten korrigieren, keine Gespräche, keine Konflikte wegen zu lauter Musik im Gottesdienst oder anderer, sehr relevanter Fragen im Reich Gottes.

Zehn Stunden später bauen wir auf einem kleinen, gemütlichen Campingplatz direkt am Meer unsere Zelte auf. Während unsere Mädchen die Umgebung nach gleichaltrigen Jugendlichen auskundschaften, machen Karin und ich es uns auf unseren Stühlen bequem und beginnen zu lesen.

Nach etwa vier Tagen steigt in mir ein seltsames Gefühl der Unzufriedenheit hoch. Anfangs vermag ich es noch zu verscheuchen. Doch es meldet sich immer wieder und wird stärker. Irgendetwas drückt auf meine Laune, und ich weiß nicht, was. Ich bin irritiert. Hier habe ich doch alles, was ich mir gewünscht habe: Ich kann ausspannen, habe Zeit zum Lesen, kann mich mit meinen Kindern am Strand tummeln. Zwei-, dreimal am Tag holen wir uns ein leckeres Eis im Strandcafé. Auf unserem Grill brutzeln saftige Fleischstücke. Genau danach habe ich mich doch wochenlang gesehnt, wenn ich gerade in einem schwierigen Gespräch steckte. Nun habe ich das alles und fühle mich schlecht. Was ist nur mit mir los?

In den nächsten Tagen geht es mir nicht besser, im Gegenteil. Je länger wir auf diesem Campingplatz bleiben, umso elender fühle ich mich. In stillen Momenten, in denen ich nachts in meinem Schlafsack wach liege, tauchen in meinem Inneren dunkle Gedanken und Gefühle auf. Seltsame Zweifel melden sich. Selbstvorwürfe kriechen an mir hoch und krallen sich in meinen Gedanken fest. »Was ist das, was du machst, eigentlich wert? Lohnen sich deine Bemühungen als Lehrer und Pastor in der Gemeinde überhaupt? Für wen ist das, was du tust, wirklich relevant? Und deine Familie: Entgleiten dir deine bald erwachsenen Töchter nicht langsam? Was kannst du ihnen schon sein und geben? Sehen sie dich überhaupt noch als Leitfigur, als liebenden, sich kümmernden Vater? Haben sie sich innerlich vielleicht bereits von dir distanziert? Erwarten sie für ihr Leben vielleicht gar nichts Relevantes mehr von dir?« Solche und andere düstere Gedanken nehmen mich ein und lähmen mich. Ich wälze mich von der einen Seite auf die andere und falle schließlich in einen unruhigen Schlaf mit schlechten Träumen.

Mehrere Tage geht es so weiter. Nach außen lasse ich mir nichts anmerken, aber innerlich fühle ich mich hundeelend. Ich schleppe mich vom Zelt zum Strand und vom Strand zum Zelt. Ich lese lustlos in einem schlecht geschriebenen historischen Roman und versuche, meine Feriendepression mit einer Extraportion Eis abzukühlen. Es gelingt mir nicht. Ich bete. Lese in meiner Bibel. Das verschafft mir kurze Momente der Erleichterung. Aber sie halten nicht lange an. Eine Stunde später geht es nach der alten Leier weiter.

Als wir nach zwei Wochen unsere Zelte zusammenräumen und wieder Richtung Norden nach Hause fahren, bin ich richtiggehend erleichtert. Endlich fort aus diesem Umfeld, wo sich bei mir dieses entmutigende Schauspiel aus dunklen Gedanken und diffusen Gefühlen gebildet hat. Endlich zurück nach Hause und an die Arbeit!

Drei Wochen später sitze ich im Arbeitszimmer meines Mentors und Beraters, mit dem ich mich alle drei Monate treffe. Ich erzähle ihm von meinen irritierenden Urlaubserfahrungen. Davon, dass ich mir überhaupt nicht erklären kann, wieso es mir dort so schlecht ging und woher all diese Zweifel, Gefühle und negativen Gedanken kamen. Ich erzähle ihm, dass sie mich einfach überrumpelt haben und mich wie ein wehrloses Opfer mit ihren dunklen Fäden umgarnten, fesselten und festhielten, bis der Urlaub vorbei war.

Wie schon oft in vergangenen Treffen sprechen wir anschließend über mein Innenleben. Über jenen Teil meiner Persönlichkeit, der so vieles von dem, was ich fühle und denke, steuert. Mein Berater hilft mir mit geschickten Fragen, Licht ins Dunkel zu bringen.

Und auf einmal fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Was sich da in mir gemeldet hat, war meine Seele! Diese Fragen, dunklen Gefühle und Unsicherheiten waren verzweifelte Signale einer Seele, die damit überfordert war, dass sie nach Wochen anstrengender Arbeit und herausfordernder Projekte unvermittelt »arbeitslos« geworden war. Mein Innerstes kam nicht damit zurecht, dass ich von einem Tag auf den anderen keine Probleme mehr zu lösen hatte, keine »Berge« mehr bezwingen musste, was zwar anstrengend, aber auch ausfüllend und Sinn gebend für mich war. Nun auf einmal, im Urlaub, wo von einem Tag auf den anderen Nichtstun angesagt war, da reagierte meine Seele. Jetzt auf einmal hatte sie keine Herausforderungen mehr zu meistern. Damit kam sie nicht klar. Und so suchte sie sich eine andere Tätigkeit und beschloss: »Wie wäre es, wenn du dich zur Abwechslung mal nur um dich selbst drehen würdest? Dann hast du wenigstens etwas zu tun! Also lancieren wir doch das Projekt ›Selbstzweifel und Co.‹ und schauen, wie Thomas darauf reagiert ...«

Meine Seele war sehr erfolgreich mit diesem »Projekt« – sie schaffte es, mich vollkommen in Beschlag zu nehmen und mich mit ihrem Störprogramm auszuschalten. Und mir gelang es nicht, diesen Hilferuf von innen zu verstehen und darauf zu reagieren. Ich kam nicht auf die Idee, dass ich es wieder einmal mit meiner irritierten Seele zu tun hatte, die mich auf etwas aufmerksam machen wollte. Ich übersah und überhörte, was Gott mir zeigen und sagen wollte. Und war deshalb unfähig, irgendetwas gegen diese dunklen Stimmungen zu unternehmen.

In diesem Gespräch mit meinem Mentor lernte ich meine Seele wieder ein kleines Stück besser kennen. Verstand einmal mehr, dass sie diesen Teil meines innersten Seins ausmacht, wo Gott mich wichtige Dinge lehren will. Wenn ich mir dessen bewusst bin, erkenne ich die Lektion, die da für mich bereitliegt, kann sie annehmen und darauf reagieren. Wenn nicht, dann erlebe ich mich als Opfer undefinierbarer Empfindungen und Gedanken, die ich dann jeweils mehr oder weniger erfolgreich abzuschütteln versuche.

Heute weiß ich, dass ich diesen Übergang von den verantwortlichen und herausfordernden Tätigkeiten als Leiter hin zu zwei Wochen Nichtstun bewusster hätte planen können. Ich kann offensichtlich mit einem solch abrupten Wechsel von angespannter Aktivität zu totaler Entspannung schlecht umgehen. Meine Seele ist damit überfordert. Ich kann und muss deshalb darauf Rücksicht nehmen.

Konkret heißt das, dass ich meine ersten Urlaubstage nicht einfach mit Nichtstun verbringen sollte. So kann ich verhindern, dass meine Seele plötzlich hilflos in einer gähnenden Leere baumelt, mit der sie nicht umgehen kann. Daher plane ich zusammen mit meiner Familie oder auch alleine ein paar Dinge ein, die mich auf irgendeine Weise fordern und mir ein sanftes Landekissen bescheren, wenn ich in den Urlaub fahre und mich entspannen will.

Hier lag also die erste Lektion, die sich hinter diesen Frustferien versteckte. Dann gab es noch etwas, mit dem ich mich auseinandersetzen wollte; nämlich mit der Frage: Welchen Unwahrheiten und entmutigenden Einflüsterungen aus meinem Innern bin ich wieder einmal auf den Leim gegangen? Welche Korrektur braucht mein Denken und Fühlen, wenn sich solche Zweifel in mir melden? In den Wochen nach diesen Ferien gab es einiges, das ich neu durchbuchstabierte und in meinem Tagebuch festhielt.

Dieses Erlebnis ist ein ganz persönliches. Es enthält keine zwingende, allgemeingültige Aussage für Sie als Leser, was die Gestaltung Ihres Übergangs von der Arbeit zum Urlaub betrifft. Das ist meine individuelle Schlussfolgerung. Die Sache, die auch für Sie gilt, ist eine andere: Auch Sie haben eine Seele, die von Gott in Sie hineingelegt wurde und den innersten Teil Ihrer Persönlichkeit ausmacht. Sie mögen sich Ihrer Seele nur selten bewusst sein. Vielleicht fristet sie in Ihrem Körper sogar ein eher kümmerliches Dasein. Dennoch ist sie da. In gewissen Momenten Ihres Lebens meldet sie sich. Besser gesagt: In Ihrer Seele meldet sich Gott. Denn die vielleicht wichtigsten Lektionen für unser Leben schickt Gott uns nicht durch einen Brief, der vom Himmel fällt. Er schickt sie durch die leisen und lauten Regungen unserer Seele.

Die Seele – vergessen und unterdrückt

In Psalm 66 ruft der Beter: Kommt, hört zu, alle, die ihr Gott fürchtet, dass ich erzähle, was er (Gott) an meiner Seele getan hat (Elberfelder; Vers 16). In diesem Vers spricht einer, der weiß, wie es um seine Seele steht und wie Gott an ihr gehandelt hat. Die Seele spielt in unserer Glaubensentwicklung eine Schlüsselrolle. Wer Gottes Handeln in seinem Leben und seinen Willen für sich persönlich erkennen will, der muss seine Seele verstehen lernen.

Vielleicht ist das für Sie ein fremder Gedanke. Eine lange Zeit ging es mir ebenso – damals, als ich mir der zentralen Bedeutung der Seele für unser Leben noch nicht bewusst war. Als ich noch nicht verstand, welche wichtige Rolle sie in meiner Gottesbeziehung spielt.

Das irritierende Erlebnis während unseres Campingurlaubs hat mir wieder einmal auf die Sprünge geholfen und mich meine Seele besser verstehen lassen. Es hat mir erneut vor Augen geführt, welche geniale Schöpfung ich als Mensch bin. Gott hat mich mit einer lebendigen Seele beschenkt!

Was genau hat es mit der Seele auf sich? Was meint die Bibel, wenn sie von der Seele spricht? Welche Rolle spielt sie in unserem Leben und in unserem Glauben? Wie können wir mit irritierenden Gedanken und Gefühlen, die sich in unserer Seele melden, umgehen?

Was ist die Seele?

In meinem Buch Echt und stark erzähle ich von meinen ersten Entdeckungen in Bezug auf dieses Thema. Während einer Überforderungskrise habe ich vor einigen Jahren begonnen, bewusst über die Rolle der Seele für mein Leben als Christ nachzudenken. Dabei habe ich mit Erstaunen festgestellt, welch zentrale Rolle sie im hebräisch-christlichen Menschenbild der Bibel spielt. Ich möchte an dieser Stelle das dort Gesagte nicht ausführlich wiederholen und beschränke mich auf ein paar entscheidende Leitgedanken.

Die Seele umfasst das Innerste des Menschen. Reif werden bedeutet, dass wir unser Innerstes ernst nehmen und in unseren Glauben an Jesus Christus integrieren. Die Bibel betont, dass wir als Christen ganze, ungeteilte und damit reife Menschen werden sollen. Paulus schreibt davon in Kolosser 1,28:

Ihn (Christus) verkündigen wir, indem wir jeden Menschen auf den rechten Weg weisen und jeden unterrichten in aller Weisheit, um jeden Menschen als in Christus vollkommen hinzustellen (ZÜ).

Vielleicht wird der Zusammenhang dieser Bibelstelle mit dem Obengesagten nicht gleich klar, aber ich werde im Folgenden näher erläutern, was ich meine. Wir wissen heute, dass Paulus seine Briefe in der griechischen Koine-Sprache geschrieben hat. Er tat dies, damit die Mehrheit der Menschen im Römischen Reich seine Briefe lesen und verstehen konnten. So verwendete er hier das griechische Wort »teleios«, das die meisten Bibelübersetzungen mit »vollkommen« übersetzen. Das ist sachlich richtig und kann dennoch irreführend sein. Wenn wir lesen, dass Paulus sich dafür einsetzte, dass Menschen in Christus »vollkommen« werden, dann verleitet uns das leicht zur Annahme, Paulus wolle, dass wir moralisch unbescholtene Menschen werden. Beinahe perfekte, brave, jeden Fehler vermeidende und über jeder Versuchung stehende, abgeklärte, fromme Christen. Ein solches Leben ist nicht nur langweilig – es ist auch nicht das, was Gott von uns erwartet. Zu viele Menschen haben sich schon endlos abgemüht im Krampf um die fromme Vollkommenheit. Manche sind daran zerbrochen. Und einige sind dabei stolz geworden, weil sie sich einbilden, sie hätten es tatsächlich geschafft.

Paulus hat zwar in griechischer Sprache geschrieben, er selbst war aber durch und durch Jude (siehe Philipper 3,5). Er hat nicht nur perfekt Hebräisch gesprochen, sein Denken, sein Welt- und Menschenbild waren weit mehr im hebräischen Judentum verwurzelt als im griechischen Hellenismus. Dass er seine Briefe in griechischer Sprache verfasste, war für ihn lediglich Mittel zum Zweck. Auf diese Weise konnte er sich möglichst vielen Menschen verständlich machen. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Paulus in erster Linie Hebräer und nicht Grieche war.

Das hebräische Denken unterscheidet sich in mancher Hinsicht fundamental vom griechischen.1 Vor allem das Menschenbild des Hebräers ist ein ganz anderes als das des Griechen. Wenn deshalb Paulus in Kolosser 1,28 von Vollkommenheit schreibt, dann verwendet er dafür zwar das gängige griechische Wort »teleios«, gleichzeitig hat er dabei aber die Bedeutung des entsprechenden hebräischen Wortes »tamim« vor Augen: Wir Menschen sollen in Christus »tamim« werden. Das heißt: »ganz« oder »ungeteilt«. Hier geht es nicht um ein Vollkommenheitsideal oder Perfektionismus. Hier geht es darum, ganz zu werden, darum, dass etwas Zerbrochenes, Geteiltes oder Getrenntes wieder zu einer Einheit zusammengefügt wird. Dazu gehört die Aufhebung des Bruchs zwischen Gott und uns Menschen, eines der großen Themen der Bibel. Hier in Kolosser 1,28 denkt Paulus auch an die Zerrissenheit im Inneren des Menschen, die durch Gottes heilendes, verbindendes Wirken aufgehoben werden soll; an die Trennung zwischen äußerem Verhalten und seelischem Befinden, zwischen dem Körper und dem inneren Menschen; an den Bruch zwischen Leib und Seele, zwischen Tun und Sein. Das entspricht der Aufforderung Gottes an Abraham in 1. Mose 17,1: Ich bin der gewaltige Gott. Geh einher vor meinem Antlitz! Sei ganz! (BuRo).

Gott will ungeteilte, ganze Menschen. Ihr äußeres Verhalten soll das widerspiegeln, was in ihrem Innersten ist. Der Hebräer verwendet zur Bezeichnung des inneren Menschen vor allem zwei Begriffe: Herz (leb) und Seele (näphäsch), wobei diese beiden Aspekte nicht streng voneinander zu trennen sind. Es sind lediglich zwei verschiedene Beschreibungen für das, was in uns ist. Herz und Seele bilden den Kern des Menschen. Zusammen mit dem Körper sind sie das, was eine Persönlichkeit ausmacht. Das heißt: Der Hebräer sieht den gesunden Menschen als eine Einheit. Das Äußere (Leib) und das Innere (Herz, Seele) bilden zusammen ein ungeteiltes Ganzes. So hat Gott sich den Menschen gedacht und geschaffen.

Wenn man den Begriff »Seele« auf seine biblische Bedeutung hin untersucht, entsteht ein buntes, reiches Bild dessen, was unseren inneren Menschen ausmacht2:

Die Seele bringt unsere Emotionen hervor. Freude, Frustration, Angst, Unsicherheit, Geborgenheit, Zufriedenheit, Minderwertigkeit, Ärger, Wut usw. Die ganze Palette dessen, was ein Mensch in seinem Inneren empfinden kann, gehört dazu. All diese Gefühle formen sich in unserer Seele. Durch sie nehmen wir erst wahr, dass wir eine Seele haben.

In der Seele finden sich weiter unsere Verlangen und Begehren: Dinge, die wir uns wünschen. Unsere sexuellen Regungen zum Beispiel. Aber auch Ziele, die wir anstreben, und Absichten, die uns steuern; sowohl gute als auch fragwürdige.

Die Seele, das ist unser Verstand: die Fähigkeit, zu denken, zu planen, zu berechnen, logische Schlussfolgerungen zu ziehen, komplizierte Zusammenhänge zu durchschauen.

In der Seele sind schließlich auch unsere Ziele und Absichten verborgen: unsere Motive, die hinter unserem Handeln stehen. Die geheimen, oft uns selber verborgenen Gründe, weshalb wir etwas denken, etwas tun, oder auch nicht tun.

Wenn ein Mensch zum Glauben an Christus findet, fängt die Erneuerung des von der Sünde zerrissenen, geteilten Menschen an. Christus beginnt, ihn zu einem ganzen, ungeteilten Menschen wiederherzustellen. Um dieses Ziel zu erreichen, müht sich Paulus gemäß seiner Aussage in Kolosser 1,28 unermüdlich ab. Sein Verkündigen, Ermahnen und Lehren sollen dazu beitragen, dass Menschen in Christus ungeteilt und ganz werden. Denn so hat Gott sie sich gedacht. Die Erneuerung, die Gott uns schenken will, möchte unsere Ganzheit wiederherstellen. Überall dort, wo etwas in oder an uns geteilt, zerrissen oder abgespalten wurde, beginnt Gott, zu verbinden und wiederherzustellen.

Ungeteilt sein heißt: Wo zwischen unserem Körper und unseren Empfindungen eine Trennung entstanden ist, lernen wir nun, unterstützt von der Kraft des Heiligen Geistes, diese Trennung zu überwinden. Gottes Absicht für uns ist, dass wir zu Menschen werden, die ihre Gefühle wahrnehmen lernen. Die es zulassen, dass Gott ihren negativen Emotionen begegnet und sie verändert. Gott möchte uns dabei helfen, gute, normale Empfindungen, die zu unserem Menschsein gehören, anzunehmen und zu ihnen zu stehen.

Ungeteilt sein heißt, uns mit unseren schwierigen Gefühlen auseinanderzusetzen, statt sie zu unterdrücken. Denn gerade irritierende Emotionen weisen uns auf wichtige Wachstumslektionen hin, die Gott uns lehren möchte. (Mein emotionales Tief auf dem Campingplatz war ein Beispiel dafür.)

Ungeteilt sein hat ferner Auswirkungen auf unsere Beziehungen. Wir werden zu Menschen, die sich vor anderen weniger verstellen. Wir werden zu Menschen, die sich nicht mehr dazu drängen lassen, Dinge zu tun, die sie nicht für richtig halten. Wir werden frei vom Zwang, eine Rolle zu spielen, die gar nicht zu uns passt und nicht dem entspricht, wer wir eigentlich sein wollen und sollen. Die Diskrepanz zwischen unserem Fühlen und Reden wird kleiner. Wir werden zu Menschen, die anderen gegenüber artikulieren können, was sie in ihrem Innersten beschäftigt. Wir werden zu Menschen, die es immer weniger nötig haben, andere mit ihren Worten über das hinwegzutäuschen, was sie wirklich empfinden.

Ungeteilt sein und glauben heißt, Gottes Geist zu erlauben, den Abstand zwischen unserem religiösen Verhalten und unseren tatsächlichen Überzeugungen und Empfindungen zu überwinden. Er möchte uns zu Menschen machen, die echt und ehrlich zu beten beginnen. Zu Menschen, welche die Worte der Bibel in das Innerste ihres Herzens hineinlassen und sich von ihnen verändern lassen. Menschen, für die das Feiern eines Gottesdienstes, eine Zeit der Anbetung oder die Mitarbeit im Reich Gottes nicht mehr eine Alibiübung zur Beruhigung fremder Erwartungen oder des eigenen schlechten Gewissens ist. Ein ganzer Mensch zu werden bedeutet, dass wir beginnen, diese Dinge mit Überzeugung und von ganzem Herzen zu tun – für Gott und für andere Menschen.

1 Siehe dazu das Buch von Thorleif Boman: Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 5. Auflage, 1968. Dieses Buch ist meines Wissens allerdings nur noch antiquarisch erhältlich.

2 Siehe dazu mein Buch Echt und stark: Kraftvoll glauben – Tiefgang finden. Wuppertal: R. Brockhaus Verlag, 2007, Seiten 25-30. Wenn Sie sich ausführlicher mit dem jüdischen Menschenbild auseinandersetzen möchten, empfehle ich Ihnen die sorgfältige Studie von Hanns Walter Wolff: Anthropologie des Alten Testaments. München: Chr. Kaiser Verlag, 1990.

Die Kluft zwischen Spiritualität und Seele überwinden

Viele Christen leiden unter der Trennung zwischen ihrer Spiritualität – also ihrem Glaubensleben – und ihrer Seele. Zwischen geistlicher Übung und innerster Wahrhaftigkeit. Zwischen Engagement für Gott und Erneuerung des inneren Menschen.

Ich habe selber lange Zeit als geteilter Mensch gelebt. Ich habe mich in den klassischen geistlichen Disziplinen ausgekannt und sie mit Überzeugung praktiziert: Gebet, Einsamkeit, Hören auf Gott, Studium und Meditation der Bibel, Stille, Dienst, Gemeinschaft – und wie sie alle heißen. Gleichzeitig habe ich erfolgreich viele Regungen meiner eigenen Seele nicht beachtet. Ich betrachtete sie als nicht relevant für meinen Glauben. Eher als störend und hinderlich. Und so habe ich sie zurückgehalten, unterdrückt und verleugnet. Das hat in meinem Leben manchen Schaden angerichtet. Ich habe beispielsweise kaum realisiert, wie sehr meine Arbeit für Gott vom Bedürfnis nach Anerkennung geprägt war. Oder dass ich mich von Entmutigung und Kritik zu unguten Reaktionen habe verleiten lassen. Einige meiner früheren Predigten waren nicht viel mehr als ein Versuch, eigenen Ambitionen mit biblischer Schützenhilfe zum Durchbruch zu verhelfen. Ich war mir dieser Dinge aber nicht bewusst, weil ich meine eigene Seele zu wenig kannte und durchschaute.

Heute weiß ich: Meine Seele ist Gott wichtig. Gott hat mich als Mensch mit Empfindungen, Gefühlen und Wünschen geschaffen. Dass ich Ziele verfolge, Absichten habe, dass ich planen und denken kann, ist ein Ausdruck davon, dass ich eine lebendige Seele habe. Und was sich dort regt, darf ich vor Gott ausbreiten. Ich kann mit ihm darüber reden, auch über die dunklen Seiten. Es ist gut, meine Seele wahrzunehmen und sie vor Gott und mir selbst nicht zu verstecken. Ich soll ja ein Mensch werden, der in Christus »tamim« wird. Ungeteilt. Der als ganzer Mensch vor Gott lebt. Mit allem, was in seinem Innersten schlummert und sich dort tummelt. Gott will meine Seele nicht abtöten. Im Gegenteil: Ich darf mit allem, was in mir ist, zu Gott kommen.