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Die Angaben im Text entsprechen dem Stand bei Konvertierung des E-Books Ende Januar 2015.
Dank an: Dirk Braunstein, Herbert Fischer-Solms, Anno Hecker und Martin Weishaupt (Formel-1-Forschungsstelle Frankfurt-Ferchenheim)
Zugeeignet den Wegberger Freunden
ISBN 978-3-492-97023-5
März 2015
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015
Redaktion: Wolfgang Gartmann, München
Coverkonzeption: Büro Hamburg
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de
Covermotiv: Übungsfahrt auf dem Nürburgring 2006 (Paul Gilham/Getty Images)
Litho: Lorenz & Zeller, Inning a. A.
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Man will nie jemanden vor sich haben.
Stirling Moss
Es waren ungefähr fünfzig Kilometer – von Bonn-Bad Godesberg nach Breidscheid. Ich kann mich nur an wenig anderes erinnern, worauf ich mich in meiner Kindheit so sehr gefreut habe. Einmal im Jahr machten mein Vater, meine beiden Brüder und ich einen Ausflug, dem ich tagelang entgegenfieberte.
Am frühen Sonntagmorgen wurden die Kühltaschen in den Familien-Pkw gepackt, randvoll mit Buletten, Brot, Käse, hartgekochten Eiern, Schokolade und Säften. Bier für den Vater? Ich weiß es nicht mehr. Dann ging’s los, wir fuhren an Wachtberg vorbei, durch den Kottenforst und bogen nach Süden ab, Richtung Eifel. Das Gefühl tiefer Geborgenheit, das ich mit dieser Landschaft verbinde, rührt wahrscheinlich aus dieser Zeit. Bis heute ist die leise Sehnsucht nicht geschwunden, irgendwann einmal in die Eifel zu ziehen.
Vermutlich spielten mein jüngerer Bruder Thomas und ich im Fond Formel-1-Quartett und schmissen mit PS-Zahlen, Drehzahlwerten und Höchstgeschwindigkeiten um uns. Das machten wir viele Jahre wie die Bekloppten (den beknackten sechsrädrigen Tyrrell hatte immer ich, da bin ich mir noch heute sicher), bis wir Tipp-Kick entdeckten und ganze Wochenenden damit zubrachten, brüllend und kommentierend und Stadionkulissen imitierend komplette Bundesligaspielzeiten runterzureißen.
Mein Bruder Wolfgang und mein Vater hoben derweil das Gesprächsniveau und bereiteten sich wenigstens halbseriös aufs 1000-km-Rennen vor, das ein Lauf zur Sportwagen-Weltmeisterschaft war. Spätestens bei Leimbach vor Adenau standen wir im Stau, aber auch das gehörte dazu. In Breidscheid – dort, wo die Nordschleife des Nürburgrings an ihrem tiefsten Punkt vorbeiführt – parkte mein Vater, anschließend suchten wir uns einen Flecken auf der stark abfallenden Wiese direkt an der Brücke, breiteten die Decken aus, studierten das Programmheft, lauschten den inflammierten und manchmal komischen Ausführungen des Streckensprechers Kalli Hufstadt (»Gestern guckte er mit dem Ofenrohr ins Gebirge«) und warteten aufgeregt auf das Dröhnen der Motoren, das nach dem Start zum erstenmal zu hören war, wenn die Meute durch den Adenauer Forst nahte.
Es gibt diese Stelle, diese Wiese immer noch, auch das altmodische Hotel und die schlichte Imbissstation hinter der Linksbiegung neben der Brücke, auf der die Fahrer Gas gaben, um tollkühn und bisweilen schlingernd in die anschließende Rechtskurve zu brettern, was so wirkte, als verschluckte der Berg die Autos.
Man hatte von der Naturtribüne eine hervorragende Sicht, und man hatte sechs Stunden Zeit, Bob Wollek die Daumen zu drücken, dem Teufelskerl aus dem Elsass, der 1979 abwechselnd mit John Fitzpatrick und Manfred Schurti einen grünen Kremer-Porsche 935 pilotierte und gewann. 1977 jagten sich Jacky Ickx und Jochen Mass (Martini-Porsche 935) und Rolf Stommelen, Tim Schenken und Toine Hezemans im roten 935. Mein Vater hatte immer eine Stoppuhr und ein Klemmbrett dabei und notierte die aktuellen Abstände. In die Phalanx der Porsche-Armada brachen Marc Surer und Manfred Winkelhock mit einem BMW 320i ein, und Hans-Joachim Stuck fegte um die Ecken, dass es zischte, was indes nur Wolfgang zu bewundern vermochte, denn er war ab und an zur Kurvenkombination Wehrseifen hinaufgestiefelt.
1978 behielt Klaus Ludwig die Oberhand, und Thomas und ich dachten uns einen virtuellen Spezialwettbewerb zwischen Klaus Ludwig und Klaus Niedzwiedz aus, der im Gruppe-5-Zakspeed-Ford natürlich keine Schnitte sah.
Zu bestaunen gab es neben den stolzen Porsche 935 die 911er und 934er, den einen oder anderen Ford Capri, Ford Escort oder VW Scirocco. 1979 war das spektakulärste Jahr: Neben Stommelen und Derek Bell im Liqui-Moly-Porsche 935 und Klaus Ludwig im Kremer-Porsche hielten uns ein flacher Lotus mit Harald Ertl, ein kantiger Lotus Esprit, ein Lancia Beta Montecarlo und offene Rennwagen in Atem: TOJ SC306, Chevron B36, Lola T390, Lola T297, Porsche 908. Zudem geistern der Porsche 936 und der BMW M1, den Stuck und Nelson Piquet lenkten, in meinem Gedächtnis herum, das müsste 1980 gewesen sein. Und gaffte ich nicht schon auf den Alfa Romeo T33 mit Mass und Jody Scheckter, dessen Name mich bereits 1975 durch und durch überzeugt haben musste? Ja, doch, als ich mir 1976 den Knöchel gebrochen hatte (mein Vater: »Ach was! Ich hatte tausend solche Knöchel! Der ist verstaucht«), fiel das Abenteuer für mich ins Tränenwasser, also musste ich schon 1975 am Ring gewesen sein.
Einmal sind wir mit der Sippschaftskutsche, dem Peugeot 504 Familiale, über die Nordschleife gedackelt, links und rechts pfiffen und kesselten sie an uns vorbei. Auch ein Stock-Car-Rennen im Siebengebirge habe ich nicht vergessen, das war lustig, da ging’s halt ums Zerstören und Verschrotten, Kinder mögen so was – oder Jungs.
1977 schaute ich zusammen mit meinem Vater die LiveÜbertragung vom Großen Preis von Deutschland auf dem Hockenheimring an. Hans-Joachim Stuck in einem Brabham von Bernie Ecclestone wurschtelte sich am Ende auf den dritten Platz. Ich meine mich zu erinnern, dass Dad im Sessel währenddessen einen ziemlich untadeligen Nachmittagsschlaf hinzauberte. (Auf Youtube zeigen prächtige Privatfilmausschnitte – »Formel1 1977 GPvD Hockenheim« –, wie Stuck nach der Zieldurchfahrt Franz Josef Strauß herzte.)
Die achtziger Jahre verwehten weitgehend ohne Motorsport und ohne Formel 1 (trotzdem wurden Weltmeister ermittelt: Alan Jones, Keke Rosberg, Nelson Piquet, Lauda, Prost, Senna), und 1993, 1994 brach das Zeitalter des Michael Schumacher an. Offenbar hatte ich jetzt wieder Zeit für so was, ich entwickelte jedenfalls aufs neue eine Form von Hingabe, die sich schwer erklären lässt. Nein, sie ließe sich erklären, aber muss man Freunden klarzumachen versuchen, warum man in seinen Terminkalender die Grand-Prix-Wochenenden einträgt, um ja nichts zu verpassen, wenn diese Freunde einem ob der eigenen Passion rundheraus eine Verhaltensstörung, eine zerebrale Delle attestieren?
Nein, muss man nicht, und ich will ohnehin niemanden überzeugen.
Michael Schumachers Husarenritt Ende August 1995 in Spa, als der Weltmeister unter wechselnden Wetterbedingungen von Startposition 16 aus gewann, nach diversen haarigen Rad-an-Rad-Duellen mit Damon Hill, verfolgte ich in einer Pension in Bristol, allein. Meine Begleiterin hielt mich für plemplem und ging spazieren.
Nachdem Schumacher 1996 in Monaco eine der besten Qualifikationsrunden aller Zeiten hingelegt (im dritten Sektor acht Zehntel schneller als Hill!) und im ersten Rennumlauf den schauderhaft schlampigen, zickigen Ferrari dann auf feuchter Fahrbahn in die Leitplanken gepfeffert hatte, lief er zwei Wochen später in Barcelona förmlich über Wasser. Es war ein Grand Prix, der heute – auch auf Grund des üblichen Gejammers der Fahrer – umgehend abgebrochen würde, weil es unaufhörlich schüttete, und es war wahrlich ein »Rennen für die Geschichtsbücher« (inside-racing.de). Schumacher durchschnitt die Wassermassen und Gischtfontänen mit seinem mal wieder weidwunden Wagen, als gebe es nichts Leichteres, und ich rannte in der zweiten Rennhälfte vor glühender Nervosität pausenlos drei Stockwerke runter auf die Straße – und wieder rauf, um kurz die Lage zu sondieren. Für unsere traditionelle Formel-1-Herrentorte aus dem Frankfurter Café Laumer, in dem Adorno früher jeden Tag einen Cognac zu frühstücken pflegte, hatte ich kein Auge. Jacques Villeneuve gestand hinterher: »Als Schumacher an mir vorbeigeflogen ist, dachte ich mir: Um Himmels willen, die Formel 1 ist nichts für mich!« Und Stirling Moss verbeugte sich: »Das war kein Rennen, das war eine Demonstration schierer Brillanz.«
An diesem 2. Juni wurde der »Regengott« geboren, und ich war seit Schumachers erstem Sieg für die Scuderia endgültig restlos an diesen Sport verloren. Abermals zwei Wochen später weilte ich mit den Herren Gsella, Schiffner und Sonneborn nach einem Auftritt in Eschwege in einer italienischen Eisdiele. Auf mehreren Fernsehern lief der Große Preis von Kanada. Schumacher kam an die Box, und als der turnusmäßige Stopp absolviert war und er wieder lospreschte, fiel eine Antriebswelle aus der »roten Gurke« (Bild) raus. Die italienischen Kellner tobten, zeterten, fluchten und jaulten um die Wette, bestimmt eine halbe Stunde lang. Jeder Versuch zu zahlen scheiterte, und irgendwann verließen wir achselzuckend das Etablissement.
1997 fuhren die Frau und ich zum erstenmal nach Spa. Spa war damals noch der zuschauerfreundlichste Kurs in Europa. Man wurde nicht, wie etwa am Nürburgring, in eingezäunten Bereichen zusammengepfercht, sondern konnte auf Fußgängerwegen fast um die gesamte Piste herumlatschen.
Die Fans an der Strecke: ungeheuer zivilisiert. Das fiel uns damals sofort auf. Kein Gekrähe nach den jeweils »Unsrigen«, keine Sticheleien, kein Hohn, keine Aggressionen. Eine nahezu buddhistische Gelassenheit, eine milde Feierlichkeit und eine bunte Geselligkeit beherrschten die Szenerie. Die Leute strahlten, fröhliches Geplauder allenthalben, kein Rempeln und kein Schieben. Der Motorsportjournalist Elmar Brümmer hat recht: »Rennstrecken sind […] die letzten Biotope für eine wunderbare Fankultur: Ausschreitungen gibt es im Prinzip nie, die Massenveranstaltungen kommen mit wenig Ordnungsmacht aus.«
Im Bereich Les Combes/Malmedy trauten wir weder unseren Augen noch unseren Ohren, als um halb zehn (warum wurde das Warm-up vor etlichen Jahren gestrichen?) die erste Gruppe der Boliden über die Kemmel-Gerade heranraste. Die Eindrücke haben sich für immer eingeprägt. Der Lärm: überwältigend, unbeschreiblich. Es haute uns schier um, wir stierten wie Zehnjährige durch den Maschendrahtzaun, eine Gänsehaut nach der anderen. Die Autos spien Feuer, die Motoren röhrten, kreischten, sägten und sangen, in den Getrieben grummelte und hämmerte es.
Am Nachmittag kam Schumacher, »der unumstrittene Regenmeister der Formel 1« (Murray Walker), in der zweiten Runde, nachdem er gleich die vor ihm gestarteten Villeneuve und Alesi »verblasen« hatte, mit einem Vorsprung von sechzehn Sekunden den Berg hinunter, fünf Minuten später zog »der rote Teufel« (L’Équipe) seine Bahn schon vierzig Sekunden vor dem Rest des Feldes. Es war eine Königsvorstellung (siehe Youtube: »Schumacher Flies on Wet Track«), »ein Rennen der Superlative« (Bild).
Kurz zuvor hatte sich der große Dichter Horst Tomayer vor dem zumal von aufgeblasenen Ignoranten wiederholt geschmähten Rennfahrergenie verbeugt: »Du jedoch o Schumi auf in Kurven glühndem Gummi / bleibst wohlauf im Rennen / Wrrrm Wrrrm brausest du asbestbeschirmt vorüber / an den Werbebanden hinter strohnen Ballen […] // […] Fährst Du schlichten Sprit in Seinssinn wandelnd / wenn auch nicht grad leise«.
Selbstverständlich kann man über »die Kringeldreher« (Astrid Rawohl) und »die Zirkusaffen« (Niki Lauda) spotten, und Aldous Huxley, gewiss kein Dummerjan, urteilte apodiktisch: »Der moderne Mensch hat nur ein einziges neues Laster erfunden: die Geschwindigkeit.« Doch erstaunlich ist, dass gerade diejenigen, die garantiert am allerwenigsten Ahnung vom Motorsport und speziell von der Formel 1 haben, immer auch dessen und deren heftigste Verächter sind, uns nimmermüd’ mit ihrer Bescheidwisserattitüde zur Last fallen und – stellvertretend sei aus der taz zitiert, für die ich übrigens selbst schreibe – irgendwas vom »Dröhnen im Kopf«, vom »Schmieröl im Hirn« und vom »pubertären Schmierölsyndrom« zusammendelirieren.
Die reale Formel 1, das Sport- und das soziale Ereignis jenseits der Bildschirme und Redaktionsstuben, aktiviert ein vielleicht kindliches, naives Begeisterungspotential – und zwar geschlechtsübergreifend. Die Welt des Rennsports, das ist Spannung ohne RTL-Regie, das ist Krach ohne Bild, Gestank ohne Gestänker, das ist perplexes Glotzen, wenn ein winziges Vehikel innerhalb weniger Meter von 260 auf 80 km/h herunterbremst.
»Das Drama, die Farbenpracht, der Lärm und die Gefahr – das ist Formel 1«, fasst Murray Walker zusammen. Der Dokumentarfilm Speed Fever (Ottavio Fabbri/Mario Morra, 1978; mit Sydne Rome, James Coburn, Gene Hackman, David Niven und anderen) vermittelt mit gedehnten Zeitlupen und Interviews etwas von diesem atmosphärischen Amalgam, von der Bezauberung, die dieser Sport bei vielen auslöst, vom Leben der »Matadore«, auch von den grausamen Schicksalen und von der Grundhaltung der meisten Piloten: »Warum ich lebe? Um zu fahren. Wenn du nicht von einer Menschenmenge umjubelt wirst, wer bist du dann?« (Mario Andretti)
Ein ebenso eindringliches Panorama der Formel 1 in den siebziger Jahren, als der Rennsport Teil der Popkultur war, zeichnet der Film Champions Forever – The Formula One Drivers (1975) von Claude Du Boc – durch psychedelische Farbeffekte, lange Montagepassagen, beeindruckende Nahaufnahmen (Heckflügel wie Tischtennisplatten, Lufthutzen wie Kellerschächte, grollende, bösartig und giftig kratzende Motoren), Bilder von ausgelassen-übermütigen Fans und autobiographische Kurzerzählungen von Enthusiasten und einzig auf ihr Tun fixierten Draufgängern: Sie »ziehen wie mittelalterliche Ritter für jene Sponsoren in die Schlacht, die ihnen erlauben, Rennen zu fahren«.
Ein ähnlicher – und dritter – Grundkurs Formel 1: das Kaleidoskop Pole Position – The Warriors Of Formula 1 (Oscar Orefici/James Davis/Ronald King, 1980). Wir lernen, dass Formel-1-Fahrer ihr Rhythmusgefühl und ihr Reaktionsvermögen in Europa auf den Kartbahnen schulen, in Kanada bei Motorschlittenrennen, in Skandinavien bei Rallyes. Wir lernen, dass die Statements der »Ritter der Gefahr« zur einfältigen Gleichförmigkeit und Flachheit neigen (was Mario Andretti beim Start empfinde? »Gas geben«), und dass das ewige Besser-Schneller-Erster Ausdruck einer gereiften Persönlichkeit ist, mag man mit Recht bezweifeln. Zugleich erfahren wir allerhand über die Gründe der »unwiderstehlichen Faszination«, die sich mit dem »Tanz auf Gas- und Bremspedal« (Brümmer) verbindet, über das Ausreizen des Risikos, über die »Gier nach Leben« (Brümmer), über die Kämpfe mit dem Auto, mit der Strecke, mit sich selbst, über Rivalitäten und Streitereien, dito über ständige Reisen, über Einsamkeit, über Ängste.
Wer würde es bestreiten: Die Formel 1 ist Show, Glamour, Rummel, Zirkus, »das lauteste Spektakel aller Zeiten« (Champions Forever). Sie ist hemmungslose Prasserei und »eine absurde und obszöne Geldwäsche«, wie der renommierte englische Journalist Martin Jacques murrt. Sie ist »ein erschreckend kaltes und eitles Geschäft«, gab der Motorsportchef von Ford, Michael Kranefuss, Anfang der neunziger Jahre gegenüber dem Spiegel zu, ein Geschäft, dessen Regeln »ein Haufen ahnungsloser Leute« bestimme. Sie ist darüber hinaus jedoch: ein Sport, »beinharte Arbeit«, so der ehemalige Jaguar-, Red-Bull- und HRT-Pilot Christian Klien.
»Pushen«, »ans Limit gehen«, »übers Limit gehen« – das sind wohl die meistgebrauchten Ausdrücke der Fahrer und der Kommentatoren. »Es geht darum, 101 oder 102 Prozent zu geben, am Limit zu sein«, erläutert Emerson Fittipaldi in Grand Prix – The Killer Years (BBC 2010). »Es ist sehr schwierig, lange am Limit zu fahren«, bekannte schon Graham Hill zu einer Zeit, da die Volantvirtuosen keineswegs trainiert waren und trotzdem den Knüppelschaltungshebel herumwuchteten und das Lenken und das Bremsen zur körperlichen Tortur ausarteten. »Da ist die hohe Konzentration, da ist die körperliche Erschöpfung, und dann meldet sich irgendwann auch die psychische Erschöpfung.«
Wer sich das mal vor Ort vergegenwärtigt hat – die Demonstration fahrerischer Fertigkeiten im Verbund mit höchster technischer Intelligenz –, lacht bloß noch über das mediokre Gemecker der Allzuständigen. Ein Auto im Grenzbereich durch die Kurven zu werfen, zu schmeißen, durch sie hindurchzugleiten, die Randsteine touchierend, rasierend, »in Kurven Zeit zu finden« (die moderne Variante von Proust), das ist magisch. Trotzdem konzediere ich freimütig: Zu behaupten, ein Formel-1-Renner sei »nicht nur Metall, sondern ein Vollbluttier mit einer eigenen Seele« (Champions Forever), zu dem man eine Beziehung wie »zu seinem Pferd« (Jackie Stewart) aufbauen müsse; zu behaupten, dass »ein Fahrzeug leben« würde, so der Patron der frühen Formel 1, Juan Manuel Fangio (»Ich höre, wenn es einem Auto nicht gutgeht, das ist wie in der Musik, wenn ein Ton nicht stimmt«) – das schrammt, mit Verlaub, bedenklich nah an pseudomystischer Verklärung entlang. In John Surtees’ Worten klingt das dann so: »Jemand, der ein Auto versteht und verständnisvoll mit ihm umgeht, wird seine Beziehung zu diesem Auto genießen. Das ist eines der wunderbaren Erlebnisse des Rennfahrers – die Reaktionen des Autos erspüren und es so dirigieren, dass man das volle Potential aus ihm herausholen kann. Ein neues Auto kennenzulernen war so, wie einen neuen Menschen kennenzulernen. Man muss mit ihm kommunizieren, es verstehen lernen und es dazu bringen, zu einem zu sprechen.«
Aber warum sich überhaupt für Rennsport interessieren, für die Formel 1 begeistern? »Das Auto ist doch für den Menschen ein Wahnsinnsobjekt, schon das ganz normale Auto«, sagte Niki Lauda mal. »Ist doch logisch, dass das total ausgeflippte Rennauto die Krönung jedes vierrädrigen Gefährts ist – jetzt und auch in Zukunft.«
»In der fanatischen Liebe zu den Autos schwingt das Gefühl physischer Obdachlosigkeit mit«, gab Theodor W. Adorno in den Minima Moralia zu bedenken, hm. Peter Handke schrieb in einem Porträt über Lauda 1975 im Spiegel, es sei »doch auffällig, wie für immer mehr Leute der westlichen Welt die Vorstellung, ein ›guter Autofahrer‹ zu sein, jenen Sinn des Lebens wiederherstellt, welchen ihnen die Religionen, die politischen Systeme, auch die verschiedenen mystischen Einkehranweisungen immer weniger vermitteln«. Und Handkes These von der »allein seligmachenden Weltgemeinschaft der Techniker« bestätigte Peter Sloterdijk zwanzig Jahre später: »Man genießt die Fahrt als Fahrt und kann so die Frage nach den Zielen außer Kraft setzen. Autofahren ist eine Weltreligion. Die ganze Moderne ist wie eine Arena, eine in sich geschlossene Strecke. Deshalb sind auch die Formel-1-Rennen so wichtig. Sie sind der moderne Beleg für das, was der Apostel Paulus schrieb: Im Kreise laufen die Gottlosen.«
Das mit der Gottlosigkeit ist mir sehr recht, und wer den Sinn der Rennerei in Frage stellt, dem wollen wir Formel-1-Addicts entspannt entgegnen: »Kein Mensch braucht die Formel 1. […] Die Formel 1 ist unsinnig, aber sie macht verdammt noch mal Spaß.« (Chris Trautmann: 111 Gründe, die Formel 1 zu lieben – Eine Hommage an den schnellsten Sport der Welt, Berlin 2014)
»Wer argumentiert, die Formel 1 bringt nichts, muss sich auch fragen, warum Menschen auf dem Mond landen mussten. Die Welt hätte auch ohne dieses Abenteuer weiterbestehen können«, warf Alain Prost 1986 ein, und Murray Walker setzt in der dreiteiligen Dokumentation The Secret Life Of Formula One (Discovery Channel 2002) einen drauf: »Die Formel 1 ist das ultimative Destillat des Lebens.« Beziehungsweise: »Wen kümmert es, welchen Nutzen die Formel 1 hat? Welchen Nutzen hat Fußball? Welchen Nutzen hat Kricket?«
Die Formel 1 ist so sinnlos, wie Eisessen sinnlos ist, In-die-Gegend-Gucken, Modelleisenbahnbau, Musikhören. Der Formel-1-Insider Helmut Zwickl bezeichnet das rastlose Streben nach Überlegenheit, Erfolg und Perfektion als stetigen Versuch der »Eroberung des Sinnlosen« (Die wilden Jahre der Formel 1, Wien 2007). Die Leidenschaft für diese Welt der Eleganz, der Extravaganz, des Erfindungsreichtums, des Geschwindigkeitsrausches, der zugespitzten sportlichen Auseinandersetzung, der Dualismen und Kontraste ließe sich auch mit dem Rubrum von »der Schönheit des Sinnlosen« (Speed Fever) verbinden. Alles daranzusetzen, vor allen anderen ins Ziel zu kommen, ist sinnlos, doch die erbitterte Konkurrenz (»Der Zweite ist der erste Verlierer«) in diesem »Non-stop-Kampf« (Frank Williams) schadet niemandem außerhalb der »Gemeinde« (Martin Jacques) der Formel 1. Qualmende Motoren, platzende Reifen, kolossale Verbremser, gewagte Überholmanöver, turbulente Regenrennen sind sinnlos, aber sie sind fabelhaft sinnlos oder eben sinnlos fabelhaft.
Allein, was mir nicht schmecken will: das durchgängige Gerede davon, die Formel 1 sei ein »Krieg«, was mir nicht behagt: die implizite Affirmation der Grausamkeit. »Das einzige Ziel in der Formel 1 ist, dich zu zerstören«, gibt Murray Walker zu verstehen. »Die Formel 1 produzierte Reifenkriege, Elektronikkriege, Stallkriege, 1991 tobte der Spritkrieg«, erzählt Helmut Zwickl. »Die zwischenmenschlichen Beziehungen unter den Piloten verflachten dramatisch, mit dem großen Geld wuchs der Erfolgsdruck, das Wettrüsten erzeugte Feindbilder.«
»Auf dem Gebiet des Automobils hat der Sport den Krieg abgelöst«, daran ließ bereits Ferry Porsche keinen Zweifel. »Formel 1 ist Krieg. Jeder will ihn gewinnen«, ließ Ross Brawn als Technischer Direktor von Ferrari fallen.
Der Psychoanalytiker Erich Fromm fragte sich, warum die »Menschen heutzutage fasziniert sind vom Mechanischen, von der mächtigen Maschine, vom Leblosen und in zunehmendem Maße von der Zerstörung«. Vielleicht am prägnantesten kam diese Tendenz, diese Technikanbetung in Filippo Tommaso Marinettis degoutantem, explizit kriegsverherrlichendem und protofaschistischem Manifest des Futurismus aus dem Jahr 1909 zum Ausdruck, in dem »die Liebe zur Gefahr« und die »angriffslustige Bewegung« glorifiziert werden und in dem es heißt: »Wir erklären, dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen, ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.«
Nein, auch wenn Jacques Villeneuve jüngst monierte: »Es gibt in der Formel 1 keine Krieger mehr« – da gefällt mir die Schachmetapher weitaus besser. Ein Grand Prix sei »wie eine Partie Schach, die bei 300 km/h gespielt wird« (The Secret Life of Formula One), »eine Art Blitzschach« (Elmar Brümmer/Bodo & Ferdi Kräling: Rivalen der Rennstrecke – Die großen Duelle in der Formel 1, Bielefeld 2013), und während der Partie schälte der Meisterstratege Ross Brawn am Kommandostand allzeit geradezu kunstvoll behutsam seine Bananen.
So gefällt mir das.
Wenn man von Koblenz über die A 48 Richtung Eifel fährt und bei Daun auf die Landstraße abbiegt, gerät man mitten hinein in eine der schönsten Landschaften der Welt. Und das Allerschönste an den unspektakulär am Horizont gestaffelten Mittelgebirgszügen, an den Hochflächen, Wiesen und den dunkel schattierten Wäldern ist, dass das alles auf eine schon beinahe unglaubwürdige Weise immer noch anmutiger wird, je weiter man – den Abzweig zum Nürburgring ignorierend – über die Hohe Eifel, über Gerolstein und Prüm in die Schneifel vorstößt.
Die Straßen schlängeln sich, als hätte es sie bereits vor Tausenden von Jahren gegeben, grazil über Anhöhen und durch Täler, und bei Winterspelt, wo man für die letzten dreißig Kilometer bis zum gelobten Ziel wieder die Autobahn nimmt und die Grenze zu Belgien überquert, weitet sich das Panorama des Tannenwalds schließlich derart verheißungsvoll, dass es dem Motorsportfan, der seit Jahren zum Großen Preis von Belgien pilgert, richtiggehend warm ums Herz wird.
In den Ardennen, im Dreieck zwischen Stavelot, Malmedy und Francorchamps, liegt – Monte Carlo und Monza können einpacken – das wahre Mekka der Formel 1. Hier, auf dem Circuit de Spa-Francorchamps, feierte der siebenmalige Weltmeister Michael Schumacher 1991 sein Formel-1-Debüt und ein Jahr später seinen ersten Grand-Prix-Sieg. Doch auch ohne den eingeengten Blick des vornehmlich auf deutsche Piloten achtenden Formel-1-Anhängers erschließen sich einem von Jahr zu Jahr aufs neue der Charme und der Mythos der mit 7,004 Kilometern längsten Rennstrecke im Formel-1-Kalender.
Wollte man diejenigen, die beharrlich behaupten, die Formel 1 habe soviel mit Sport zu tun wie Unkrautjäten mit Hochseefischen, davon überzeugen, dass es einem bewundernswerten Akt der Konzentration gleichkommt, einen Formel-1-Wagen eineinhalb Stunden lang an der Grenze seiner Belastbarkeit im Kreis herumzujagen, müsste man sie einfach an die Ardennen-Achterbahn locken. Ganz gleich, an welchem Abschnitt des Parcours man dann stünde oder säße, man wäre, sofern die Wahrnehmung nicht vollends von Vorurteilen geleitet ist, in einem durchaus begriffslosen Sinn überwältigt von der Kunst, die sich einem darböte – der Kunst, diese kleinen, eine unbändige Kraft entfaltenden Karossen auf einer Strecke zu halten, die von Fahrern, Technikern, Managern und Zuschauern immer wieder einhellig als das Nonplusultra gerühmt wird, als »die beste Strecke der Welt«, wie es der französische Formel-1-Pilot Olivier Panis einmal ausdrückte.
Der erhabene Kurs war 1921 in Betrieb genommen worden und damals fast fünfzehn Kilometer lang. Ein Großteil der halsbrecherischen Strecke, mit der sich nur die Nürburgring-Nordschleife messen konnte, führte über gewöhnliche Landstraßen. 1950 beehrte die Königsklasse des Motorsports zum erstenmal die ostbelgische Provinz, und bei der Premiere siegte Juan Manuel Fangio, als sollte das Gesetz der folgenden Jahrzehnte, demzufolge in Spa-Francorchamps in der Regel nur die Größten ihres Fachs gewinnen, in Marmor gemeißelt werden. Sebastian Vettel, Alain Prost und Alberto Ascari behielten jeweils zweimal die Oberhand, Fangio und Damon Hill dreimal, Jim Clark und Kimi Räikkönen viermal, Ayrton Senna holte den Pokal fünfmal und Michael Schumacher, der Spa zu seiner »Lieblingsstrecke« kürte, sechsmal.
Sieben Jahre vor Niki Laudas Unfall auf der Nordschleife allerdings traten die Fahrer in den Streik. Während der Nürburgring offenbar nach wie vor als halbwegs beherrschbar galt (1970 aber dann auch erstmals boykottiert und nach Umbauten 1971 wieder ins Programm aufgenommen wurde), war den Hasardeuren die belgische Berg- und Talbahn schlicht zu gefährlich geworden. Erst nach einer Verkürzung um die Hälfte und umfangreichen baulichen Arbeiten kehrte die Formel 1 1983 zurück in jenes Revier, das bis heute zu Recht als Fahrerstrecke im genuinen Sinne geschätzt wird.
In Spa gab und gibt es keine Zufallssieger. In Spa entscheiden sportliche Kriterien. In Spa triumphiert letztlich das Können des Piloten über die Strategie, der Einsatz über das Kalkül der Taktiker in der Boxengasse. Als Michael Schumacher Ende der neunziger Jahre in einem Ferrari mit erheblichen aerodynamischen Defiziten gegen die wie ferngesteuert ihr Pensum abspulenden Boliden von McLaren-Mercedes kämpfte, konnte man etwa an der legendären, nunmehr leider verunstalteten Bus-Stop-Schikane von erhöhter Warte aus – auf einem Felsen, von dem man einen hervorragenden Blick in die Cockpits genoss – beobachten, wie er das Fahrzeug driftend um die Ecken hetzte, wie er einen minimal schnelleren Weg suchte, obgleich er technisch unterlegen war, wie er, über die endlos lange Hochgeschwindigkeitskurve Blanchimont heranknallend, den Bruchteil einer Zehntelsekunde später bremste. »Gas geben kann jeder Depp, das Bremsen ist die Kunst«, verriet Gerhard Berger mal, und hier sah man, hörte man, roch man – die Bremsscheiben zischten, das Gummi der Walzen schmolz und verdampfte zwischen den Fichten –, was er damit gemeint hatte.
Sollten Rennstrecken so etwas wie eine Physiognomie besitzen, eine »Seele«, die sich in Kurven, in Kombinationen ausdrückt, so würde man Spa-Francorchamps die Physiognomie des Wagemuts, der edlen Könnerschaft und der kristallinen Geistesgegenwart attestieren. Spa, diese dem behaglich, freundlich anmutenden Mittelgebirge eingepflanzte Tortur, bleibt ein Ereignis im ungeschmälerten Sinn der sportlichen Herausforderung, die durch keine noch so ausgeklügelte Ingenieursarbeit, deren Handschrift die Formel-1-Pisten jüngeren Datums tragen, zu evozieren ist.
Nähme man den Formel-1-Verächter an die Hand und mit nach Spa, man würde sich an der über zwei Bergkuppen gleitenden Malmedy-Rechtskurve postieren, wo Michael Schumacher einen der brachialsten Abflüge seiner Karriere hatte – oder an der um einen aufragenden Felsen herumführenden Rivage-Kurve, der, den Hang steil hinab, die Doppellinks Pouhon folgt, dann die Des-Fagnes-Kombination, eine tückische, weil kaum einsehbare Passage, die über eine kurze Gerade den Weg freigibt zur Stavelot-Rechts. Wäre der Formel-1-Skeptiker bei Sinnen, er würde zumindest etwas erahnen von dem, wofür Spa einsteht wie keine Retortenkonstruktion in Shanghai oder Abu Dhabi: für die Vermählung von Ästhetik und dem unberechenbaren Ausgang einer Anstrengung.
»Spa ist eine Naturrennstrecke mit einzigartigen Anforderungen«, betonte Mario Theissen, der ehemalige Motorsportdirektor von BMW. »Dort folgt der Streckenverlauf den landschaftlichen Gegebenheiten und nicht umgekehrt.« Der deutsche Formel-1-Pilot Nick Heidfeld beschrieb die berühmte Eau Rouge, die Kurve aller Kurven, die sich im Anschluss an die Start-Ziel-Gegengerade an den Berg schmiegt wie eine Kobra, fast glückselig: »Wenn die Autos dort bergab rauschen und nach der Kompression wieder bergauf beschleunigen, sind Speed und Kraft wirklich eindrucksvoll.« Und Jenson Button im August 2014 beinahe entzückt: »Wir Fahrer sind bescheuert, wie wir dort durch die Senke jagen. Man hat in dem Rechtsbogen Übersteuern, wenn man oben ankommt, will das Heck wieder in die Gegenrichtung stellen. Das ist alles nicht normal, macht aber unheimlich viel Spaß. Es gibt wenige Strecken, auf denen ich immer wieder das Gefühl habe, dass es mal wirklich knapp war. In Spa ist das der Fall.«
Das Fernsehen ist nicht in der Lage, die Impressionen wiederzugeben, die die Formel 1 in Spa noch jenem zu bieten vermag, der sich, alter Sitte gemäß, vor Ort begibt. Pascal Vasselon, Technischer Direktor von Toyota, sagte es so: »Spa ist wirklich ein spezieller Ort – einfach phantastisch. Steht man am Boden von Eau Rouge und schaut den Berg hinauf zur Raidillon – es ist sagenhaft. Das Fernsehen verwischt die Relationen ein wenig, aber für die Zuschauer vor Ort ist es umwerfend.«
Sportspielfilme kranken beinahe stets daran, dass das Ereignis in realiter größer und eindrücklicher als die cineastische Umformung und (Nach-)Erzählung ist; und weil sie die fehlende Ergebnisoffenheit meist auch noch durch hanebüchene dramatische und narrative Effekte zu kompensieren versuchen, gehen sie einem obendrein auf den Senkel. Sportspielfilme also sind, mit Niki Lauda zu reden (der allerdings Dokumentarfilme ebensowenig leiden kann, die hält er für »null und nichtig«), ein »Blödsinn«. (Million Dollar Baby von Clint Eastwood, dieser anbetungswürdige Geniestreich, ist, nebenbei, kein genuiner Sportfilm, sondern eine tastende und überwältigend anrührende Erkundung der Conditio humana.)
Und dann kommt 2013 Ron Howards Rush – Alles für den Sieg in die Kinos, und man muss – und tut das gern – all seine begründeten Urteile über das Sportspielfilmunwesen in die Tonne kloppen.
Rush ist ein brillantes Mainstream-Epos über die Antagonisten James Hunt und Niki Lauda: phantastisch photographiert und koloriert, mit extremen Untersichten, sinnvoll montierten Superslowmotions und liebevoll in Szene gesetzten Details (die hie und da nicht den historischen Tatsachen entsprechen, aber wen juckt das?). Zudem versteht es Howard meisterlich, die Dramaturgie eines Formel-1-Rennens in Schnittfolgen, die an keiner Stelle manieristisch wirken, einzufangen, und die beeindruckende Kameraarbeit von Anthony Dod Mantle verkörpert gewissermaßen das, was den Motorsport (neben anderem) ausmacht: die Geschwindigkeit.
Rush ist ein atmosphärisches Konzentrat der legendären Formel-1-Saison 1976 und ihrer Vorgeschichte, und Daniel Brühl in der Rolle als Lauda hänge man ob seiner unfassbaren schauspielerischen Leistung bitte ein paar jener Lorbeerkränze um, die den Grand-Prix-Siegern früherer Tage gereicht und die irgendwann verboten wurden, weil sie die Logos der ruhmreichen Sponsoren verdeckten.
Es sind nicht nur die Sequenzen über »Rebellen, Wahnsinnige, Träumer«, die ungemein überzeugen, über »Menschen, die unbedingt eine Spur hinterlassen wollen und dafür bereit sind zu sterben«, über Besessene, die sich in einen Sarg zwängen, »durch den leistungsfähiger Kraftstoff fließt«, wie es James Hunt, kaum weniger begnadet denn Lauda dargestellt von Chris Hemsworth, ausdrückt: »Wenn man’s genau nimmt, ist es eigentlich ’ne Bombe auf Rädern.«
Es sind auch nicht allein die empathischen, plastischen Figurenzeichnungen – hie Lauda, fast krankhaft zielstrebig und aufs Geld fixiert, kühl und zynisch, schnörkellos, diszipliniert, herablassend, ein »kaltblütiger Techniker und rationeller Ökonom« (Spiegel 40/1977), ein Meister der Fahrzeugabstimmung und der Rennstrategie, dem sein Teamkollege bei Ferrari, Clay Regazzoni, mal die Frage stellt: »Sag mal, warst du jemals kein Arschloch?«, und der seiner zweiten Ehefrau Marlene unterbreitet: »Das Glück ist ein Feind. Es schwächt dich. Es lässt dich zweifeln.« (Verbürgt ist übrigens Marlene Laudas Satz: »In seiner Zeit als Rennfahrer war er das größte Arschloch der Welt.«) Und da: der Schlawiner James Hunt (»Ich bin ein Holzkopf, und Disziplin ist nicht unbedingt meine Stärke«), grobianisch, unberechenbar, verletzlich, »der letzte große romantische Fahrer in der Formel 1« (Clash Of The Titans, BBC 1996), auf der Piste bisweilen ein Künstler, der sich zwischen den Leitplanken ausdrückte, und ein Monster zugleich, ein Hasardeur, der der Überzeugung war, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen sei »etwas Edles, als seien wir Ritter«, und der vor jedem Start wegen seiner schier nicht zu bändigenden Nervosität enorme Portionen »lustiger Sachen« (Jody Scheckter) rauchte, derweil er in der Regel ohnehin noch besoffen und/oder mit Koks vollgestopft war.
Nicht nur all das – es sind auch die ergreifenden Momente des gegenseitigen Respekts und der Kameradschaft. Hunt und Lauda, der bis heute behauptet, keine Freunde zu haben, waren Freunde, und am Ende des Films sagt Daniel Brühl, während wir den echten Niki Lauda sehen, im Off: »Er gehörte zu den ganz wenigen, die ich mochte, und zu den noch wenigeren, die ich respektierte. Er bleibt der einzige Mensch, den ich je beneidet hab’.«
Und Niki Lauda stehen Tränen in den Augen.
Und es sind, zuletzt, die Impressionen aus einer Zeit, in der die Formel 1 »ein globaler, endloser Karneval« war, unbeschwert, ungezügelt, laut, libertär, hippiesk, verspielt, lässig. »Die Formel 1 zu dieser Zeit war volksnah und unverkrampft«, schreibt der Journalist Urs Arnold. Sie war so, »wie sie sich viele Fans – und auch Journalisten – in Zeiten hermetischer Boxenabriegelung und paranoider technischer Geheimniskrämerei wieder wünschen würden«. Und anlässlich des Filmstarts erzählte Herbert Völker, lange Jahre Chefredakteur des österreichischen Magazins Autorevue, in der Tageszeitung Standard: »Die Freiheit an den Strecken und Fahrerlagern taucht wie ein romantisches Märchen aus der Erinnerung [auf]. Es hat noch richtig fein gestunken, nach süßlich-verbranntem Öl und geschmortem Gummi, wie es sich gehört. Groupies waren noch Groupies, nicht höhere Töchter, und wenn sich eine einbildete, einen Rennfahrer ins Bett kriegen zu wollen, gab es kein großes Theater. Überhaupt plätscherten das Leben und dessen Wahrnehmung entspannter als heute, obwohl noch keiner ›cool‹ sagte. Cool galt eigentlich nur für Mentholzigaretten, die man noch überall – und zwar überall – rauchen durfte. Höchstens an der Boxenmauer gab es vielleicht einmal einen freundlichen Wink: Geh doch einen Meter zurück.«
Im August 2014 blickte die Süddeutsche Zeitung auf »legendäre Formel-1-Duelle« zurück: auf den Kampf zwischen Juan Manuel Fangio und Giuseppe Farina (beide auf Alfa Romeo), der 1950 den ersten Titel überhaupt im letzten von lediglich sechs gewerteten Läufen gewinnt; auf das Jahr 1958, in dem – die Formel 1 war »ein wilder Wanderzirkus furchtloser Helden« – Stirling Moss Mike Hawthorn mit einem Punkt unterliegt, weil er, Gentleman von den Haarwurzeln bis zu den kleinen Zehen, gegen Hawthorns Disqualifikation beim Großen Preis von Portugal erfolgreich Protest einlegt (»Wenn ich mich nicht so für ihn eingesetzt hätte, wäre ich jetzt Champion. Aber ich würde das jederzeit wieder tun, weil es fair war«); auf den tragischen Ausgang der WM 1961, als Wolfgang Graf Berghe von Trips im vorletzten von acht Rennen in Monza bei vier Punkten Vorsprung tödlich verunglückt und sein bester Freund Phil Hill Weltmeister wird; auf Alain Prost gegen Ayrton Senna 1989 (wir kommen später darauf zurück), auf Michael Schumacher gegen Damon Hill (1994), Schumacher gegen Jacques Villeneuve (1997), Schumacher gegen Mika Häkkinen (2000) und auf Fernando Alonso gegen Sebastian Vettel (2012). Sowie auf, selbstverständlich, Lauda contra Hunt, auf den »Vergleich zweier Sportler, die unterschiedlicher kaum sein könnten«, auf »die McEnroes und Connors’ des Motorsports« (Rivalen der Rennstrecke).
Lauda stammt aus einer Industriellenfamilie, weigert sich jedoch von früh an, das künftige Erbe fortzuführen. Kultur schert ihn einen feuchten Kehricht, um Bücher macht er –wie später übrigens auch Michael Schumacher – einen weiten Bogen. Das ist bis heute so: »Ich lese nicht. Ich hasse es, Bücher zu lesen. In den Urlaub kommt mir kein Buch mit. Und wenn Sie etwas über meine Allgemeinbildung wissen wollen, die ist gleich null.«
Die Schule verlässt er ohne Abschluss. Laudas oft beschriebene »eiserne Entschlossenheit« (Tom Rubython: In The Name Of Glory – 1976 – The Greatest Ever Sporting Duel, London 2011), die »Gemütsarmut«, die man ihm immer wieder vorgeworfen hat, die »Brutalität«, die er sich selbst attestierte, all das resultiert ihm zufolge aus einer Kindheit, in der er ein »Seicherl« gewesen sei, ein Weichei. Er sei »zu einem harten Hund gemacht« worden, sagte Lauda 2009 gegenüber dem österreichischen Magazin Profil. »Mein Großvater diente mir vor allem als Widerstand. Wenn ich mich nicht gegen den so dermaßen durchsetzen hätte müssen und der mich, wo er nur konnte, behindert hätte, wäre ich wahrscheinlich ein mittelmäßiger Rennfahrer geworden. Der Alte hat mit seiner Dominanz die ganze Familie terrorisiert. Alle, auch meine Eltern, wären fast untergegangen durch diesen Terror. Ich habe meinen ganzen Einsatz darauf konzentriert, ein Nicht-Lauda zu werden. Und dieser ›Trottelsport‹ war das beste Mittel dazu.«
Das einzige, was Niki Lauda interessiert, sind Autos und Geld, um Rennen bestreiten zu können. Das organisiert er bei Banken (der Familienname hilft), und 1970 fährt er sich in der »Wahnsinnsformel«, der Formel 3, »den Arsch ab«, soll heißen: Er nimmt sich vor, »alle niederzubügeln«, und baut einen üblen Unfall nach dem anderen. Einer seiner nicht minder wahnsinnigen Konkurrenten: James Hunt, der bald den Ziernamen »Hunt the Shunt« trägt, Hunt der Abräumer, der Crasher, der Verschrotter.
Hunt, in wohlhabenden Verhältnissen aufgewachsen, pfiff ebenfalls mehr oder weniger auf dieses Zeug namens Bildung, Konventionen und Einschränkungen jedweder Art ignorierte er einfach. »Er war immer ein Rebell«, erzählt seine Mutter Sue in Clash Of The Titans. »Er hat keinerlei Autoritäten akzeptiert. Er hat seinen Willen fast immer bekommen.«