Die Kakerlake

Für Timothy Garton Ash

Vorwort

Nach langwierigen, anstrengenden Verhandlungen unter erst einer Premierministerin, dann einem zweiten Premierminister, nach parlamentarischem Chaos und Stillstand, nach drei Wahlen und einer bitteren Spaltung des ganzen Landes war es schließlich so weit und Großbritannien setzte am 31. Januar 2020, Schlag 23 Uhr, das sinnloseste, selbstzerstörerischste Vorhaben in der Geschichte dieses Inselreiches in die Tat um. Der Rest der Welt (die Präsidenten Putin, Trump und deren Imitatoren ausgenommen) sah bestürzt zu. Nun, da wir die Europäische Union verlassen haben, stehen wir am Beginn eines mühseligen, mit einigem Glück vielleicht nur fünfzehn Jahre währenden Weges zurück zu Handels-, Sicherheits- und Wissenschaftszusammenarbeit sowie tausend anderen nützlichen Vereinbarungen, wie wir sie zuvor bereits gehabt haben. Und warum das Ganze? Meine Premierministerkakerlake gibt der deutschen Kanzlerin die einzig mögliche Antwort: weil.

Die Idee zu Die Kakerlake kam mir in jenem Moment dieses Prozesses in den Sinn, da Verzweif‌lung in Lachen umschlug. Viele haben sich damals gefragt, ob der Brexit selbst nicht aller Satire Hohn spricht. Welch boshafter Schriftsteller hätte sich so etwas jemals träumen lassen? Gelächter aber war letzten Endes das Einzige, das uns blieb.

Fragen werden wir uns noch lange stellen. So werden sich künftige Historiker mit den Lügen befassen, der zweifelhaften Finanzierung der Leave-Kampagne oder der Rolle, die Russland dabei spielte. Gewiss wird man auch jene Blindheit untersuchen, die der besondere Feenstaub verursacht, der allen populistischen Bewegungen in Europa, den USA, Brasilien, Indien und vielen Ländern mehr zu eigen ist. Man kennt die Zutaten: Irrationalität, Fremdenfeindlichkeit, Widerwillen gegen geduldige Analyse, Misstrauen gegenüber ›Experten‹ und der Wissenschaft überhaupt, die selbstherrliche Glorifizierung des eigenen Landes, die Begeisterung für Verschwörungstheorien, seit Neustem der Unwille, sich gegen Corona impfen zu lassen, der leidenschaftliche Glaube an einfache Lösungen, die Sehnsucht nach kultureller ›Reinheit‹ samt der Intoleranz, die sie mit sich bringt. Und dazu natürlich eine Handvoll zynischer Politiker, die bereit sind, diese Regungen auszubeuten.

Die Verhältnisse sind von Land zu Land verschieden. Brasilianische Populisten berufen sich auf ihren Patriotismus, wenn sie aus Profitgier den Amazonas-Regenwald abholzen. In den USA wünschen sich viele eine Grenzmauer zu Mexiko. Die Türkei hat die Kunst perfektioniert, Journalisten hinter Gitter zu bringen. Und in Polen wie in Ungarn zersetzen Regierungen die Fundamente der offenen Gesellschaft.

Als der Feenstaub uns in Großbritannien die Augen verschloss, mussten wir erfahren, dass die über viele Jahre gewachsene Ökologie der EU die Flora unserer Nation zutiefst geprägt hatte. Diese Pflanzen aus unserer Landschaft herauszureißen erweist sich bereits jetzt als ziemlich brutal und auch als gar nicht so einfach. Das aber kann niemanden davon abhalten. Wir werden weitermachen: weil!

Vieles am britischen Staat ist historisch gesehen ungerecht, doch lässt sich von dieser Ungerechtigkeit kaum etwas auf die EU zurückführen. Die Brexiter standen vor der Aufgabe, die Wählerschaft vom Gegenteil zu überzeugen. Bei 37 Prozent der Stimmberechtigten gelang es ihnen, und das genügte, um unser gemeinsames Schicksal auf Jahre hinaus in andere Bahnen zu lenken. In klassisch populistischer Manier präsentierten sich die Hedgefondsbesitzer, die Plutokraten, Eton-Absolventen und Zeitungsverleger des Brexit-Lagers als Feinde der Elite. Es gelang ihnen, und heute bildet diese Elite der Anti-Elitisten unsere Regierung.

Der Urtext für politische Satire in der englischsprachigen Literatur ist Jonathan Swif‌ts Ein bescheidener Vorschlag. Ich habe ihn mit sechzehn zum ersten Mal gelesen. Der ungerührt vorgebrachte Vorschlag, Babys zu kochen und zu essen wäre die Lösung für einen uralten Missstand, war so rabiat wie grotesk, in Swif‌ts Augen jedoch nicht minder grausam als die englische Herrschaft über Irland.

Mit dem Brexit ist etwas Hässliches, Fremdes in den Geist unserer Politik gedrungen, weshalb mir der Gedanke an eine Kakerlake angemessen schien, dieses meistverachtete aller Lebewesen. Kafkas Die Verwandlung weist den Weg für jeden schriftstellerischen Versuch, die Verwandlung eines Menschen in ein Insekt beschreiben zu wollen. Ich entschied mich, die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen. Nach der obligaten Verneigung vor Kafka habe ich mich Swif‌t zugewandt. Meine Aufgabe bestand darin, mir ein politökonomisches Projekt auszudenken, das so absurd war wie der Brexit. Ich weiß nicht, ob mir das mit dem Reversalismus gelungen ist. Vielleicht gibt es auch nichts, was es mit diesem Aberwitz aufnehmen kann, wenn man die schiere Dimension des Brexit-Projekts und seine voraussichtlichen Auswirkungen auf uns und mindestens eine weitere Generation bedenkt.

Fast zwei Drittel der britischen Wählerschaft haben nicht für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt. Industrie, Landwirtschaft, Wissenschaft, die Künste und die Finanzwelt waren gegen den Brexit. Drei Viertel der Parlamentsabgeordneten stimmten für einen Verbleib in der EU, am Ende aber ignorierten die meisten von ihnen das öffentliche Interesse und schoben Parteidisziplin vor oder den Satz »das Volk hat gesprochen« – dieser öde Sowjetsprech, dieser vernebelnde Feenstaub, der den Verstand blendet und unseren Kindern die Aussicht versperrt hat, frei in Europa leben und arbeiten zu können.

Der für die eigene Ignoranz blinde Populismus mit seinem Geraune von Blut und Boden, mit seinen unrealistischen, vermeintlich urbritischen Sehnsüchten und der tragischen Verachtung für soziale Toleranz mag künftig noch andere Monster heraufbeschwören, gewaltsamer und folgenschwerer als der Brexit; in ihnen allen aber wird der Geist der Kakerlake gegenwärtig sein. Wir sollten diese Kreatur folglich so gut wie möglich kennenlernen, um sie besser bezwingen zu können. Und ich glaube, das schaffen wir auch. Wenn es der Vernunft aber nicht gelingt, einer Nation die Augen zu öffnen, müssen wir die Satire zur Hilfe nehmen.

Diese Novelle ist ein Werk der Fiktion; Namen und Figuren entspringen der Phantasie des Autors, und jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Kakerlaken wäre rein zufällig.