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ISBN 978-3-417-26601-6 (lieferbare Buchausgabe)
CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
Bodenborn 43 · 58452 Witten
Internet: www.scmedien.de; E-Mail: info@scm-brockhaus.de
Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
Hoffnung für alle®, Copyright © 1983, 1996, 2002 by Biblica US, Inc., verwendet mit freundlicher Genehmigung des Verlags. (HFA)
Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. (GNB)
Neues Leben. Die Bibel, © 2002 und 2006 SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten. (NLB)
Titelbild: © Rahel Täubert
Satz: Christoph Möller, Hattingen
Vorwort
1 Aufgesammelt
Entdeckungen auf dem Weg
2 Gesungen und gepfiffen
Gedanken in Dur und Moll
3 Gepredigt
Reden von der Kanzel
4 Mitgemischt
Worte zum Zeitgeschehen
5 Angedacht
Biblische Impulse
6 Erlebt und erlitten
Alltagserfahrungen
7 Vis-à-vis
Begegnungen mit Menschen
Alphabetisches Textregister
Quellennachweis
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Die freundliche Pfarrerin strahlte mich an: »Ich schneide Ihre Artikel immer aus und hebe sie auf. Irgendwann kann ich sie gebrauchen.«
Dieses Buch nun macht Schluss mit der Loseblatt-Sammlung. Es fasst zusammen, was mir lesenswerth erscheint. Vorlesenswerth auch. Zeitschriftenartikel, Radiobeiträge und Buchkapitel mit zeitlos Werthvollem aus drei Jahrzehnten.
Puh – während ich das schreibe, komme ich mir schlagartig alt vor. Und tröste mich gleich selbst: Das ist ja jetzt nicht die schriftstellerische Schlussbilanz eines Schreibmüden. Kein »Das war’s!«. Eher eine Zwischenbilanz. Denn ich hoffe ja doch, dass mir auch künftig Lesenswerthes auf- und einfällt.
Dieses Buch ist ein Reiseführer. Irgendwie. Ein Reiseführer für Himmel und Erde. Für das Leben. Für den Glauben. Also steigen Sie ein bitte! Die Fahrt beginnt.
Jürgen Werth
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EINFACH
LESENS
WERTH
1 AUFGESAMMELT
ENTDECKUNGEN AUF DEM WEG
Sie heißt Inge, kommt aus Finnland, ist Reiseführerin in Kairo – und sie jodelt. So geht ihr auch im wilden Gewimmel des ägyptischen Museums kaum ein Reiseteilnehmer verloren. Gejodelt wird dort nämlich ausgesprochen selten.
Inge fiel mir ein, als ich las, was Jesus im 10. Kapitel des Johannesevangeliums über Hirten und Schafe sagt. Und damit über sich selbst und über mich. Ein paar Sätze aus diesem Kapitel:
Der Hirte ruft seine Schafe mit Namen und führt sie hinaus. Und wenn der Hirte alle seine Schafe hinausgelassen hat, geht er vor ihnen her, und die Schafe folgen ihm nach; denn sie kennen seine Stimme. Ein Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und umzubringen. Ich bin gekommen, damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen. Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. (aus Johannes 10)
Was Jesus hier beschreibt, ist viel mehr als eine Reisegruppe, es ist eine Lebens- und Dienstgemeinschaft, eine Vertrauensgemeinschaft.
Und was in Kairo gilt, gilt erst recht im täglichen Leben. Die Frage ist allerdings, ob ich die Stimme meines Hirten kenne. Ob ich sie heraushöre unter den Hunderten von Stimmen, die Tag für Tag meine Aufmerksamkeit beanspruchen.
Schafe können das, habe ich mir sagen lassen. Sie laufen nicht einfach irgendjemandem hinterher. Sie kennen genau die Stimme ihres Hirten. Diese Stimme ist ihnen vertraut. Dieser Stimme vertrauen sie.
In der Zeit der Nazidiktatur vermisste ein Bauer aus dem Marburger Land morgens seine Schafherde. Sie war offenbar gestohlen worden. Ein Bekannter, den er verzweifelt um Rat fragte, sagte: »Die findest du garantiert im Schlachthof.« Dorthin machte sich der Bauer auf. Als er angekommen war, erstarrte er. Nicht ein paar, nein Hunderte Schafe drängten sich in einem engen Hof. Wie sollte er da je seine Schafe finden können?
Doch er wusste Rat. Er rief eines nach dem anderen mit Namen. Und eines nach dem anderen löste sich aus der wild zusammengewürfelten Herde.
Und ich? Kann ich die Stimme des guten Hirten Jesus von der Stimme meiner eigenen Wünsche und Träume unterscheiden? Von der Stimme von »Dieben«, die mir das Leben stehlen wollen? Das ist eine Frage der Übung. Und des Vertrauens.
Je besser ich Jesus kennenlerne, desto öfter bin ich bereit, auf ihn zu hören. Weil ich lerne, wie unendlich gut er es mit mir meint. Umgekehrt: Je aufmerksamer ich lausche, je ehrlicher ich nach seinem Willen frage, desto vertrauter wird er mir. Desto vertrauenswürdiger.
Und wie höre ich ihn? Wohl eher selten so wie die Nachrichtensprecherin in der Tagesschau. Es sei denn, es geht um eine außergewöhnliche Berufung. Etwa als der auferstandene Christus den Christenverfolger Saulus zu Boden wirft und ihn zum wichtigsten christlichen Theologen der Weltgeschichte beruft.
Doch meist redet der gute Hirte anders. Leiser. Durch ein Wort aus seinem Wort. Aus der Bibel. Ungezählte Menschen können erzählen, wie sich ein steinaltes Bibelwort für sie plötzlich in eine hochaktuelle und höchstpersönliche Anrede des Hirten verwandelt hat.
Hörer und Zuschauer des ERF schreiben immer wieder: Plötzlich redete da kein Mensch mehr zu mir, sondern Jesus selbst. Der Hirte redet durch Predigten. Durch Hinweise von Menschen, denen ich wichtig bin. Er redet durch Lieder.
Weil er uns liebt. Weil ihm unser Leben wichtiger ist als sein eigenes.
Nein, er jodelt nicht. Aber er redet. Und manchmal flüstert er. Und ich kann hören. Wenn ich die Ohren meines Herzens an seine Stimme gewöhnt habe.
Du glaubst, du träumst. Kommst dir vor wie Gulliver auf Reisen. Irgendwas stimmt da nicht: Entweder bist du zum Däumling geschrumpft, oder deine Umgebung leidet an Elefantiasis, hat plötzlich gigantische Ausmaße angenommen. Dabei gehst du nur durch einen Mammutwald. In Kalifornien heißen sie Redwoods, Rothölzer. Du hast es vorher nachgelesen, diese Bäume können 1300 Jahre alt werden und mehr als 100 Meter hoch. Doch jetzt, wo du durch einen ganzen Wald dieser Giganten flanierst, tritt die Maßstabsabteilung deines Gehirns in einen befristeten Streik. Auf einmal kommst du dir klein vor, ganz schön klein. Auf einmal fühlst du dich jung, ganz schön jung. Nein, Depressionen kriegst du nicht gerade, aber doch einen Anflug von Identitätskrise: Nimmst du dich nicht viel zu wichtig? Die paar Jahre, die du hier zu leben hast. Deine Pläne. Deine Pleiten. Die Blätter der Baumriesen scheinen dir zuzuwispern: Werde erst mal 1300 Jahre alt, werde erst mal 100 Meter lang, wenn wir dich ernst nehmen sollen.
Komisch, aber plötzlich denkst du über Gott nach, den Ewigen. Was er wohl über dich denken könnte, ob er dich überhaupt zur Kenntnis nimmt? Und dann fällt dir ein, dass das wohl schon andere vor dir gefragt haben mögen.
An eine Antwort, niedergeschrieben vor vielen Tausend Jahren, erinnerst du dich:
Gott weiß, was für ein Gebilde wir sind;
er gedenkt daran, dass wir Staub sind.
Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras,
er blüht wie eine Blume auf dem Felde;
wenn der Wind darübergeht,
so ist sie nimmer da,
und ihre Stätte kennet sie nicht mehr.
Die Gnade aber des Herrn währt
von Ewigkeit zu Ewigkeit
über denen, die ihn fürchten.
Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt,
so erbarmt sich der Herr über die,
die ihn fürchten. (Psalm 103,14-17.13)
Zugfahren in Indien – das ist ein ganz besonderes Abenteuer. Der Bahnsteig voller Menschen, der Zug voller Menschen. Überall liegen sie, sitzen sie, stehen sie. Ein Speisewagen ist überflüssig. Fliegende Händler geben sich die Klinke der Waggontür in die Hand. Nüsse, Früchte, Gebäck, Kaffee, Tee, du hast wirklich die freie Auswahl.
Ich falle auf. Ich bin weiß. Mancher lächelt mir freundlich zu. Einer tut so, als hätte er einen Fotoapparat, mit dem er fotografiert. Endlich verstehe ich: Er möchte, dass ich ihn fotografiere. Kein Problem. Das finden die anderen aufregend. Jeder möchte gern aufs Bild. An der nächsten Station steigt eines meiner Fotomodelle aus, ein junger Mann. Er kommt noch einmal an meinen Waggon und streckt mir die Hand zu durchs vergitterte Fenster: »Thank you«, strahlt er.
Warum?, denke ich erst, dann ist es mir klar: Ich habe ihn fotografiert. Einen Augenblick lang war er wichtig. Einen Augenblick lang stand er im Mittelpunkt. Etwas Besonderes in einer Gesellschaft von rund einer Milliarde Menschen, in der der Einzelne oft herzlich wenig gilt. Ich habe ihn angesehen, ich habe ihm ein Stück Ansehen gegeben. Und damit etwas, was ihm zusteht: Er ist ein Mensch, ein einzigartiger, ein unverwechselbarer Mensch, so wie ich auch. Geschöpf eines Schöpfers, Ebenbild Gottes.
Mensch, war ich müde. Schon nach zwei Stationen fielen mir die Augen zu. Als ich sie wieder aufschlug, fuhr mein Zug gerade aus dem Bahnhof, an dem ich hätte umsteigen sollen. Auch das noch.
Die nächste Station lag zum Glück nur ein paar Kilometer hinter der verschlafenen. Schnell raus und einen Blick auf den Fahrplan. Erfreulicherweise stand auf dem gegenüberliegenden Gleis ein Zug, der mich in ein paar Minuten zurückbringen würde. Eigentümlich war es schon, aber das kann ja passieren.
Pünktlich setzte sich mein Zug in Bewegung. Allerdings ein bisschen langsamer als üblich und auf ungewöhnlich holprigen Gleisen. Komisch, er gewann nicht an Fahrt, im Gegenteil, er wurde immer langsamer. Nach drei oder vier Minuten blieb er ganz stehen.
Als ich aus dem Fenster schaute, blickte ich in die Augen eines Bahnarbeiters, der gerade aus der Lok geklettert kam: »Was machen Sie denn da?«, fragte er mich, »wir sind hier auf dem Abstellgleis.«
Der Irrtum klärte sich schnell auf. Der erste Teil des Zuges war dorthin gefahren, wohin ich wollte, der zweite abgehängt und abgestellt worden. Zum Glück hatte der Bahnarbeiter seinen guten Tag und fuhr mich mit der Lok zurück zum Ausgangspunkt. Von dort ging’s dann mit dem richtigen Zug glücklich dahin, wo ich eigentlich hätte aussteigen und umsteigen sollen. Eine gute Stunde später war ich schließlich da, wohin ich wollte.
Eigenartig, wenn man aufs Abstellgleis gerät, denke ich noch heute manchmal. Nur gut, wenn du dann einen Menschen hast. Was nicht nur für Bahnhöfe gilt. Ich habe mir jedenfalls vorgenommen, die Abstellgleise des Lebens etwas aufmerksamer zu beobachten. Lernen kann ich dabei von einem, der eine Schwäche für Menschen auf Abstellgleisen hatte: Jesus von Nazareth. Wie sagte er doch einmal: »Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken« (Lukas 5,31).
Manchmal passiert es mittags: Über dem See Genezareth steigt die heiße Luft langsam nach oben und macht so Platz für Fallwinde von den Golanhöhen, vom Hermon und vom Libanongebirge. Dann verwandelt sich der friedliche See in ein sturmgepeitschtes Meer.
Auf diesem See entdeckten die Leute, die mit Jesus gingen, zum ersten Mal, dass er sogar die Elemente beeinflusst, ja beherrscht. Sie waren unterwegs vom einen Ufer zum anderen, als sie plötzlich von einem solchen Sturm überrascht wurden. Der Evangelist Matthäus vermerkt lakonisch: »Aber Jesus schlief.« Seine Leute wurden indes schier verrückt. Als alles nichts mehr half, weckten sie ihn. Jesus stand auf und bedrohte den Wind und das Meer. Da wurde es ganz stille.
Es war nicht irgendeine Bootsfahrt. Sie waren unterwegs zum östlichen Ufer des Sees Genezareth, in das Gebiet der sogenannten »Zehn Städte«, in heidnisches Land also. Auch dort wollte Jesus die Liebe Gottes bekannt machen.
Man kann den Sturm somit auch tiefer begreifen als ein rein meteorologisches Ereignis, als Versuch der gottfeindlichen Mächte nämlich, den Wirkungskreis Jesu einzugrenzen. Die Geschichte von der Sturmstillung bekommt so für mich noch eine andere Bedeutung: Jesus ist nicht nur der Herr über die Elemente, nicht nur Herr über Wind und Wetter. Jesus ist auch Herr über alles, was sich der Liebe Gottes in den Weg stellt. In meinem Leben, in der Welt. »Dass Jesus siegt, bleibt ewig ausgemacht« (Johann Christoph Blumhardt).
Sie nennen ihn den feurigen Elias. Das ist nun wirklich übertrieben, denn es ist alles andere als feurig, wenn er sich über die Schienen der korsischen Eisenbahn bewegt. Diese Schienen wirken wie zwei zittrig durchs Land gezogene Linien, die nicht genau zu wissen scheinen, ob sie beieinanderbleiben wollen oder nicht. Setz dich möglichst in den Triebwagen und nicht in den Anhänger, dort nämlich könntest du dir leicht einen Bandscheibenvorfall holen.
Eine Fahrt mit dem feurigen Elias ist ein Ereignis. Natürlich gibt der Fahrplan nur ungefähr an, wann du mit seiner Ankunft rechnen kannst, manchmal stehen Kühe auf den Schienen oder Schafe, und die sind mindestens so stur wie ihre Hirten. Manchmal ist irgendwo ein Felsbrocken auf die Gleise gepoltert, und den müssen Lokführer und Schaffner erst einmal aus dem Weg räumen. Doch scheint das hier niemanden so richtig aufzuregen. Heimkommen ist wichtiger als pünktlich ankommen.
»Laschagore«, sagen die Korsen, was man frei übersetzen könnte mit dem deutschen Ausspruch: »Komm ich heut nicht, komm ich morgen.« Dabei ist das gar kein typisch deutscher Ausdruck, möchte ich kühn behaupten, eher ein typisch korsischer. Aber Hand aufs Herz: Kommen wir wirklich schneller ans Ziel mit unserem Pünktlichkeitswahn, oder sind wir nicht zuweilen Sklaven unserer digitalen Funkuhren geworden?
Manchmal weiß ich nicht so recht, was besser ist. Manchmal weiß ich nicht so recht, was gesünder ist.
Jedenfalls setze ich mich in Gedanken zuweilen in den feurigen Elias und fahre, sagen wir, von Calvi nach Bastia. Dann denke ich darüber nach, ob es wirklich so wichtig ist, was sich als so dringend gebärdet. Und denke an einen Satz aus der Bibel: »Alles, was auf der Erde geschieht, hat seine von Gott bestimmte Zeit« (Prediger 3,1; GNB).
Und weiter:
»Das Beste, was der Mensch tun kann, ist, sich zu freuen und sein Leben zu genießen, solange er es hat. Wenn er aber zu essen und zu trinken hat und genießen kann, was er sich erarbeitet hat, dann verdankt er das der Güte Gottes« (Verse 12-13).
Ginge der alte König David heute über den Dizengoff Boulevard in Tel Aviv, er würde die Sprache der Menschen verstehen. Wenigstens das meiste, was sie so reden. Und setzte er sich in ein buntes Straßencafé, holte die alte Leier aus dem Gepäck und finge an, einen seiner alten Psalmen zu singen, die Menschen könnten mitsingen.
Das neue Hebräisch, Ivrit genannt, ist das alte Hebräisch. Diese Sprache hat die Jahrtausende überlebt. In den ärmlichen Synagogen der osteuropäischen Stedtl und in den dunklen Gebetsräumen in Palästina. Ja, so hieß Israel über Jahrhunderte, genannt nach den ärgsten Feinden der Juden, den Philistern.
Bittere Geschichte. Bittere Gegenwart. Denn der Krieg mit den Philistern geht weiter. Und das schönste und klangvollste hebräische Wort klingt immer noch wie ein Fremdwort: Schalom. Friede. Nein, eigentlich viel mehr als das: Wohlergehen, Geborgenheit, Harmonie, Glück, Zukunft, eins sein mit sich selbst, mit den Menschen, mit Gott. Gott. Ja, Israel ist sein Land. Mehr als jedes andere Land dieser Erde. Ausgesucht als Modellfall seiner Liebe. Nicht weil dieses Land größer war – es war kleiner. Nicht weil die Menschen, die in diesem Land lebten, frömmer waren – sie waren aufsässiger. Aber wohl doch auch gerade deshalb.
Gottes Liebe nährt sich nicht aus dem Gegenüber. Gottes Liebe nährt sich aus seinem Herzen. Und so zeigt Gott gerade hier, dass sich die Menschen auf diese Liebe verlassen können, was ein Geheimnis ist. Das Geheimnis des Glaubens.
In der Zeitenwende nimmt es unüberbietbar eindrucksvoll Gestalt an. Ein kleines Kind kommt bei kleinen Leuten zur Welt, liegt in einem kleinen Futtertrog in einer kleinen Viehhöhle, wird von den wirklich kleinen unbedeutenden Schafhirten unbeholfen willkommen geheißen, muss schon bald nach der Geburt fliehen, weil ein Großer Angst um seine Macht hat, lernt den Beruf des Zimmermanns in der kleinen Werkstatt seines Vaters, zieht dann drei Jahre lang durchs Land, um für die Kleinen zu predigen und sie zu heilen, und wird am Ende zwischen zwei Kleinen an einem römischen Kreuz hingerichtet.
Ein Verlierer? Ein Sieger! Der Sieger, der wahre Mensch, der wahre Gott, besiegt den Hass durch Liebe, besiegt den Tod durch Sterben, überwindet die Gottesferne der Menschen, indem er sich selbst in den Riss stellt. Und besiegelt das Unvorstellbare durch seine Auferstehung und durch seine Himmelfahrt. »Von dort wird er kommen …« Zeitenwende. Hier ist sie passiert. In Israel zwischen Meer und Wüste. Kann man dieses Land eigentlich nicht nicht lieben, wenn man Gott liebt, wenn man von seiner Liebe überwältigt wurde?
Dabei gibt es hier so viel Nichtliebenswertes wie damals, wie immer. Ein Rabbiner sagte einmal: »Hier sind alle verrückt. Die Juden sind verrückt nach der Westmauer des Tempels. Die Christen sind verrückt nach der Grabeskirche, die Muslime sind verrückt nach dem Felsendom.« Pause. »Und Gott ist verrückt nach ihnen allen.«
»Sieh doch, dass dies Volk dein Volk ist«, sagte Mose einst zu Gott (2. Mose 33,13). Und Paulus, der aus diesem Volk stammt, schreibt den Christen in Rom: »Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er zuvor erwählt hat« (Römer 11,2).
Wir gehören dazu, wir Christen. Eingepfropft in den Mandelbaum, der wieder leuchtende Blüten trägt.
Leise und geheimnisvoll schreibt Gott die Weltgeschichte weiter …
Willst du auf diesen Berg, musst du früh aufstehen. Spätestens um drei wartet dein Führer auf dich. Ohne ihn würdest du den Weg zum Gipfel verfehlen. Warum so früh? Weil du vor dem Sonnenaufgang oben sein solltest. Und weil es danach erbarmungslos heiß wird. Du bist mitten in der Wüste Sinai. Und der Berg, auf den du steigen möchtest, ist der Djebel Mussah, der Mosesberg. Hier hat Gott Mose die Zehn Gebote anvertraut. Seine Regeln fürs Leben, fürs Zusammenleben, fürs Überleben.
Du gehst los, schweigend und müde. Der Weg schlängelt sich sanft den Berg hinauf. Nach einer guten Stunde aber wird es steiler, immer steiler. Wirst du’s schaffen? Kurz bevor die Sonne über die Gipfel der umliegenden Berge klettert, bist du oben. Und du ahnst, wie es wohl dem alten Anführer des Volkes Israel zumute gewesen sein muss, als er ganz allein hier oben stand. Allein vor seinem Gott. Wie du an diesem Morgen. Du betest. Auch um Vergebung. Denn allzu oft hast du dich nicht an die Regeln dieses Berges gehalten.
Die schweißtreibende nächtliche Wanderung ist einer der Höhepunkte deiner Israelreise.
Ein paar Tage später folgt ein weiterer. Und wieder ist es ein Berg. Doch diesmal bist du nicht allein. Tausende von Touristen aus aller Welt drängen und schieben hierher. Du bist in der Grabeskirche, die man über dem Felsen errichtet hat, der einmal Golgatha war. Hier haben sie das Kreuz in den Felsen gerammt, an dem der Sohn Gottes stellvertretend für die Gesetzlosigkeit der Menschen gestorben ist. Auch für deine, das weißt du. Und du kannst kaum glauben, dass Gott so völlig unerwartet ein völlig neues Kapitel der Weltgeschichte aufgeschlagen hat. Deiner Geschichte. Und die Überschrift heißt Gnade. Heißt Barmherzigkeit und Vergebung. Und du staunst und du dankst.
Und plötzlich freust du dich auch über die unzählbar vielen Menschen, die hierherströmen. Und du betest, dass sie wie du die liebevoll ausgestreckte Hand Gottes ergreifen. Die Hand, die Christus heißt.
Mit mehreren Bussen waren wir unterwegs Richtung Marrakesch. Es ging quer durch die marokkanische Wüste. Das Reisebüro hatte einen Reservebus mitgeschickt, falls es unterwegs eine Panne geben sollte. Das war eine kluge Entscheidung. Denn tatsächlich blieb einer der Busse auf der Rückfahrt liegen.
Der Reservebus war allerdings keine wirkliche Hilfe. Er hatte die Rückfahrt von Marrakesch als Erstes angetreten … Doch das ist eine andere Geschichte.
Ich möchte stattdessen diese kleine Episode erzählen. Denn der Fahrer dieses ausgefallenen Busses machte nicht etwa als Erstes die Motorhaube auf. Nein, er holte sich seinen kleinen Gebetsteppich, kniete sich neben den Bus Richtung Mekka und begann zu beten.
Die anderen im Bus, deutsche Touristen, Christen zumeist, waren amüsiert und irritiert. Was bedeutet denn das, wenn ein Busfahrer betet? Ist das nicht ein Zeichen dafür, dass die Lage ausgesprochen hoffnungslos ist? Oder bedeutet es etwas anderes? Nämlich dass nichts so sehr hilft wie beten? Hat dieser Muslim den Christen damit nicht ungewollt eine kleine Lektion erteilt?
Eine andere Begebenheit: Ein Freund berät Regierungen in aller Welt in Sachen Medien und Kommunikation. Vor einiger Zeit war er in Indonesien und stellte fest: Sobald der Muezzin vom Minarett zu singen begann, unterbrachen seine Gesprächspartner ihre Arbeit und widmeten sich dem Gebet.
Der Freund sagte später zu einem seiner indonesischen Gesprächspartner: »Ich wollte, das wäre bei uns Christen auch so.« Worauf der Indonesier verschmitzt antwortete: »Ich bin froh, dass es nicht so ist. Wer weiß, welche Kraft ihr dann auf einmal bekommen würdet.«
Ich denke an Daniel. »Er hatte aber an seinem Obergemach offene Fenster nach Jerusalem, und er fiel dreimal am Tag auf seine Knie, betete, lobte und dankte seinem Gott« (Daniel 6,11).
Fromme Juden halten es bis heute wie fromme Muslime. Gebete sind ein fester Bestandteil des Alltags. Bei den Juden ist das Gebet an die Stelle des Opferdienstes im Tempel getreten. Sie nennen das Gebet zuweilen: »Lobopfer mit den Lippen«.
Ich finde, viele von uns Christen können davon eine Menge lernen. Es hilft, regelmäßige Zeiten für das Gebet zu reservieren. Für den stillen Umgang mit Gott. Beim Aufstehen zum Beispiel. Beim Zubettgehen. Zum Beginn der Mahlzeiten. Klar, solche Gebetsübungen können zu leeren Ritualen verkommen. Doch vielleicht ist auch das richtig: Wer nicht regelmäßig betet, betet irgendwann überhaupt nicht mehr.
Ich beginne meinen Tag in der Regel mit Luthers Morgensegen. Und ich schließe ihn in der Regel mit Luthers Abendsegen. Ich bete jeden Tag das Vaterunser. Ich bete zu Tisch. Und immer wieder erinnern mich die Glocken des nahen Kirchturms daran, meine Gedanken von aller irdischen Belanglosigkeit loszureißen und Richtung Himmel zu wenden.
Ich darf immer mit Gott reden – klar. Ich brauche dazu keine festen Gebetszeiten. Ich darf ihm alles sagen, was ich auf dem Herzen habe – klar. Ich brauche dazu keine vorformulierten Texte. Und doch ist beides oft eine große Hilfe gerade in Zeiten, in denen ich besonders beschäftigt bin, in denen ich besonders schwere Probleme zu bewältigen habe, in denen ich besonders schwach und angeschlagen bin. Dann nämlich kann ich erleben, dass feste Zeiten und feste Texte wie ein Sessellift sind, der meine Seele mitnimmt zu Gott, zu meinem Vater, der mich unendlich lieb hat und für den kein Problem meines Lebens unlösbar ist.
Bei Kreuzfahrten kursiert zuweilen eine amüsante Liste mit den zehn meistgestellten Fragen. Zum Beispiel: Kommt das Fernsehen hier an Bord eigentlich über Satellit oder über Kabel? Oder: Schläft die Mannschaft eigentlich auch an Bord?
Eine Frage, die mir besonders gut gefällt, heißt: Warum haben die Griechen und Römer eigentlich so viele Ruinen gebaut?
Es ist ja auch wirklich so. Gerade wenn man durch den Mittelmeerraum fährt und historische Stätten besucht, wandert man Tag für Tag durch endlose Ruinenfelder. Man bekommt erklärt, was hier irgendwann einmal gestanden hat und wie das ausgesehen hat. Manchmal überkommen mich in solchen Momenten melancholische Gefühle. Und ich stelle mir vor, dass irgendwann einmal in 100 oder 1000 Jahren jemand durch meine Stadt geht und ein Reiseführer erklärt, was hier für Gebäude gestanden haben und was für Menschen hier gelebt haben. Dazu braucht man nicht einmal viel Fantasie. Denn alles, was Menschen bauen, was sie errichten, was sie zustande bringen, fällt irgendwann dem berühmten Zahn der Zeit zum Opfer. Das gilt für große Gebäude. Das gilt für die kleinen Schätze des Alltags. Das wunderschöne Auto, von dem ich ein paar Monate geträumt habe, wird in zehn oder spätestens zwanzig Jahren irgendwo zu einem handlichen Metallquader gepresst werden.
So ist das in dieser Welt. So ist das mit unserem Leben. Der Prediger, jener bedeutende Philosoph aus dem Alten Testament, mag Ähnliches gedacht haben. Immer wieder kommt in seinem kleinen Buch der Satz vor: »Alles ist eitel.« Will sagen: Alles ist vergänglich und ein Haschen nach Wind.
Aber dann wendet der Prediger seinen Blick auf den ewigen Gott und ruft plötzlich voller Erstaunen aus: »Alles, was Gott tut, das besteht für ewig; man kann nichts dazutun noch wegtun« (Prediger 3,14).
Also: Was wir Menschen tun, ist zeitlich, hat seine zeitliche Bedeutung, seinen zeitlichen Wert. Was Gott tut, ist ewig, hat seine ewige Bedeutung, seinen ewigen Wert. Der Prediger indes und all die anderen Autoren des Alten und Neuen Testaments gehen noch einen Schritt weiter. Sie sagen uns Menschen: »Macht euer vergängliches Leben beim ewigen Gott fest. Dann bekommt plötzlich auch euer Leben Ewigkeitsbedeutung.«
Flughafen Dallas. Spät am Abend. Vor drei Tagen haben wir unseren niedlichen Ford Festiva hier abgestellt, um zu Freunden von Freunden nach San Francisco zu fliegen. So macht man das in den USA. Jetzt stehen wir ratlos auf einem der vielen Parkplätze. Wo hat sich der kleine Kerl nur versteckt?!
Endlich haben wir ihn entdeckt, eingekeilt zwischen bulligen Pickups. Wie Gulliver bei den Riesen. Erleichtert setze ich mich hinters Steuer, stecke den Schlüssel ins Zündschloss, drehe und – erstarre. Nichts. Nicht mal der leiseste Versuch des Anlassers, das kleine Motörchen in Gang zu setzen. Und dann ein Blick auf den Lichtschalter. Der steht auf »On«. Nicht erst seit eben. Nein, seit drei Tagen! Batterie leer. Aber so was von leer! Was tun? Den amerikanischen ADAC anrufen. »Triple A« nennen sie ihn hier, weil er sich »AAA« abkürzt. Aber komm du mal mit texanischen Telefonen zurecht. Mit automatischen Frage-und-Antwort-Spielchen. No chance!
Als plötzlich eine Stimme hinter mir fragt: »Do you need help?« O ja! Und wie! Aber was heißt »Starthilfekabel« auf Englisch? Oder gar auf Texanisch? Genau. »Jumper cables«, weil’s ja streng genommen zwei sind. »Ah, you need a jump! Where’s your car?« Und dann holt er seinen gewaltigen Pick-up, stellt ihn vor unseren Kleinen und öffnet die Motorhaube. Unser Auto muss einen gewaltigen Schreck bekommen haben. So ähnlich wie Jona vor dem riesigen Fischmaul. Aber auch hier bedeutet der geöffnete Schlund Rettung. Kabel anschließen, anlassen – und der Kleine schnurrt so wohlig, als hätte ihm nie auch nur irgendetwas gefehlt.
Ach, was sind die Texaner doch nett!
»Thank you so much!«
»You’re welcome!«
Ohne Probleme kommen wir in unser Domizil. Weil ein Großer einem Kleinen einen Jump gegeben hat.
Manchmal denke ich: Dafür gibt’s Freunde. Dafür gibt’s eine Familie. Dafür gibt es Gemeinde. Dass einer einem anderen einen Jump gibt, wenn die Batterie leer ist. Texas ist auch in Hückeswagen.
Übrigens war ich in Texas, weil’s mir über Monate und Jahre nicht sehr viel anders gegangen war als dem kleinen Ford Festiva. Zu lange geleuchtet, zu lange gestrahlt – bis die Batterie leer war. Burnout nennt man das. Ausgebrannt. Texas hat geholfen. Die Menschen in Texas haben geholfen. Gott in Texas hat geholfen.
Wenn nichts mehr geht, musst du mal weg. Abstand schaffen. Das Alte zurücklassen. Neues sehen. Neues denken. Durchatmen. Aufatmen.
Was ich seitdem immer wieder mal mache. Wenn ich mich selbst immer häufiger stöhnen höre: »Ich kann nicht mehr, und ich will nicht mehr!« ist Texaszeit. Das kann auch ein stilles Kloster an der Weser sein. Oder eine Hütte im Wald. Oder ein Strandkorb an der Nordsee. Man muss sich regelmäßig einen Urlaub für die Seele genehmigen. Und für den Körper. Wer die Stille sucht, findet sich selbst. Und Gott. Und kriegt vielleicht einen Jump.
Siehst du den Ort dort drüben? Da, wo gerade die Sonne untergeht? Das ist Bethlehem! Friedlich liegt die kleine Stadt auf den Hügeln Judäas. Doch der Schein trügt. Er hat meist getrogen. Die Idylle war hier selten zu Haus. Nein, auch dort unten nicht, wo Schafe und Ziegen blökend über dürre Weiden ziehen. Die Wüste ist nah. Ganz nah. Und das Elend. Und der Krieg. Und die Verzweiflung.
Wie vor 2000 Jahren. Bethlehem ist eine besetzte Stadt in einem besetzten Land. Römische Soldaten überall. Anschläge und Vergeltung. Ohnmächtiger Zorn. Und wenig Hoffnung auf Veränderung.
Stell dir vor, wir sind Hirten, hier vor den Toren Bethlehems. Vor den Toren der besseren Gesellschaft. Ein Leben zwischen Widerstand und Ergebung. Ohne Erwartungen ans Leben, an Gott.
Als plötzlich der Himmel aufreißt. Und eine Lichtgestalt erscheint, ein Engel: »Ich habe eine gute Nachricht für euch, ein Evangelium! Gott ist zur Welt gekommen! Der Heiland ist geboren! Für euch! Er kann alles zurechtbringen! Euer Leben und die Welt! Geht ihn suchen! Er ist – ein Baby!«
Und der Himmel hängt auf einmal nicht nur voller Geigen. Er ist Musik pur. Und Licht und Leben. Und Farbe und Fröhlichkeit. Und wir beide, du und ich, wir denken: Wir träumen. Und machen uns doch auf den Weg. Und finden ihn, den Heiland, den Erlöser. Gott. In einem Futtertrog. Ein Baby! Wirklich und wahrhaftig ein Baby!
Nein, ich bin kein orientalischer Märchenerzähler! Genau so ist es passiert. Vor 2000 Jahren.
Aber so ist er nun einmal, der Gott, an den wir glauben, der Schöpfer des Universums, der Herr der Welt: immer anders, immer überraschend! Klein macht er sich, ganz klein. Kommt herunter. Lässt sich herab. Verzichtet auf Glanz und Gloria, auf Pomp und Pracht. Wird einer wie wir. Ja, weniger als wir. Damit niemand mehr sagen kann: Du bist mir zu groß! Du bist zu weit weg! Du verstehst mich nicht! Wie solltest du mich lieben!
Er will nicht länger der Gott der Macht sein. Er ist der Gott der Liebe! Ein Gott für Menschen. Für mich und – für dich!
Du sagst nichts mehr? Da kann man auch nichts mehr sagen. Da kann man nur staunen. Und beten.
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EINFACH
LESENS
WERTH
2 GESUNGEN UND GEPFIFFEN
GEDANKEN IN DUR UND MOLL
Es war eine Zugabe zu meiner Konfirmation, ein Baustein mehr für meine damals noch sehr dünn bestückte Plattensammlung.
Da stehe ich in meinem Zimmer und lege das Werk auf. Singles kosteten 4 Mark damals. Der, der sie mir feierlich überreicht hat, steht hinter mir. Ich bin gespannt, was er sagt. Er verzieht keine Miene. Doch dann sagt er, worauf ich gehofft habe: »Schön.«
Heute weiß ich: Er kann dieses Lied nicht schön gefunden haben, er mochte Märsche und Volksmusik. Doch er wollte mich nicht enttäuschen. Er hatte mich gern. Ich war sein Enkel. Ich hatte ihn auch gern. Er war mein Opa. 1965 war das.
»Schön«, sagte Opa noch einmal und ging zurück ins Wohnzimmer zu den anderen Konfirmationsgästen. Ich habe die Platte an diesem Tag noch ein paar Mal gehört und hörte zwischen den Takten immer wieder mal Opas »Schön«. Er war zufrieden, weil mir die Platte gefiel. Ich war zufrieden, weil er zufrieden war. Ich wusste, die 4 Mark hatte er von seinem eher spärlichen Taschengeld abgezweigt.
Ganz andere Lieder enthielt das »eigentliche« Geschenk meiner Großeltern. Ein kleines in Leder gebundenes Gesangbuch mit Goldschnitt. Mit eingeklebtem Namenszug. »Was fürs Leben«, sagte meine Oma.
Was hat länger gehalten? Die Platte wanderte irgendwann völlig verkratzt in die Mülltonne. Das Gesangbuch machte einer neuen Ausgabe Platz. Doch beides ist noch da, in meinen Gedanken und in meinen Gefühlen. Das Gesangbuch vor allem »fürs Leben«. Es ist viel mehr als sentimentale Erinnerung an den Tag der Konfirmation. Manches Lied aus diesem Buch hat mir über manche Durststrecke hinweggeholfen. Zum Beispiel dieses: »Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt, der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt. Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.« Ich entdecke es immer wieder neu als Fundgrube tiefsinniger Gedanken und als Inspirationsquelle für den Glauben.
Die Sonntagnachmittage waren das Schlimmste. Die »Small Faces« sangen mir aus dem Herzen: »Lazy Sunday Afternoon« – fauler Sonntagnachmittag. Die Sonntagnachmittage rochen nach sauberer Küche, nach Kaffee und Kuchen im Wohnzimmer, nach Spaziergang durch die Parkstraße, in Sonntagskleidung, und das hieß in der Regel: mit einer Hose, die kratzte. Sonntagnachmittage waren langweilig und unbequem. Damals, als ich 15 war.
Zwei Samstage hintereinander, dagegen hätte ich nichts einzuwenden gehabt. Die Läden geöffnet, die Freunde frei. Am Nachmittag im Radio Fußball, am Abend im Fernsehen Frankenfeld.
Heute, einige Jahrzehnte später, liebe ich den Sonntag. Beine hoch und ein bisschen Musik hören, Kaffee und Kuchen, spazieren gehen, sich mit lieben Freunden treffen. Werde ich langsam alt?
Oder liegt’s schlicht daran, dass ich im Laufe der Jahre kapiert habe, warum es überhaupt einen Sonntag gibt? Und weil ich den Erfinder des Sonntags entdeckt habe: niemand Geringeren als Gott selbst. »Gott ruhte am siebten Tag von allen seinen Werken, die er gemacht hatte«, notiert der Schöpfungsbericht (1. Mose 2,2).
Ruhe am siebten Tag, die will Gott auch seiner Schöpfung gönnen. Warum? Romano Guardini hat das schön formuliert: »Weil er der Tag der Ruhe ist, ohne den der Mensch unmenschlich wird«, schreibt er. »Und weil sich der Mensch an diesem Tag seiner Würde ganz neu bewusst werden soll. Er ist Gottes Geschöpf und Gottes Ebenbild. Und er wird von ihm gehalten. Und weil der Mensch an diesem Tag besonders an Gott denken soll. An den anderen Tagen kommt er nämlich viel zu selten dazu.«
Auf die Sonnenseite des Lebens hat’s ihn nun gerade nicht verschlagen. Tevje, der Milchmann, lebt mehr schlecht als recht im kleinen russischen Ort Anatevka. Doch er ist keine Ausnahme. Den anderen geht es nicht wesentlich besser.
Anatevka ist ein Stetl, ein jüdischer Ort mitten in russischer Umgebung. Ab und zu fegt ein Pogrom durch ihre Straßen, kühlen betrunkene Russen ihr Mütchen an schreienden und auseinanderstiebenden Juden. Doch damit, würde Tevje vielleicht sagen, damit kann man leben. Schlimmer ist, dass der Herr ihm fünf Töchter geschenkt hat. Töchter und keinen Sohn. Töchter kosten Geld. Wenn man ihnen eine anständige Partie verschaffen will, muss man ihnen eine ebenso anständige Mitgift in die Aussteuer packen. Solche anständigen Partien werden vermittelt. So war’s schon immer. Tradition!
Mehrmals scheint Tevje den Richtigen gefunden zu haben. Doch die Töchter pfeifen auf Partie und Mitgift. Sie suchen sich ihre Männer selbst aus. Ganz schön modern, die Mädels! So muss sich Tevje, der Milchmann, von seinen Blütenträumen verabschieden. Am Ende sogar von seinem geliebten Anatevka: Die Juden werden vollständig und endgültig vertrieben. Tevjes Familie zieht zu einem Verwandten nach Amerika. Doch der Zuschauer dieses Musicals ahnt schon, dass es auch dort wohl kaum so sein wird, wie es sich Tevje erträumt.
Ein fröhlich-trauriges Stück Theater. Vielleicht eines der bewegendsten Musicals aller Zeiten. Was bleibt, wenn alles anders kommt? Was bleibt, wenn alles schiefgeht?
Ich würde Tevje gern an einen alten Psalmvers erinnern:
»Selbst wenn alle meine Kräfte schwinden und ich umkomme, so bist du doch, Gott, allezeit meine Stärke. – Ja du bist alles, was ich habe« (HFA) – Vers 26 aus Psalm 73, den Hunderttausende von Juden gebetet haben – und Christen. Einen Psalmvers, der Mut zum