Über die Autoren
Dr. Dietrich Arnold ist Diplom-Psychologe und war sieben Jahre lang Berater in der Begabungspsychologischen Beratungsstelle der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 2009 arbeitet er an der Caritas-Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche in Freising.
Professorin Dr. Franzis Preckel leitete von 2004 bis 2006 die Begabungspsychologische Beratungsstelle der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 2006 ist sie Leiterin der Abteilung Hochbegabtenforschung und -förderung im Fach Psychologie an der Universität Trier.
Impressum
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-85928-0)
Wichtiger Hinweis
Die im Buch veröffentlichten Ratschläge wurden mit größter Sorgfalt und nach bestem Wissen von den Autoren erarbeitet und geprüft. Eine Garantie kann jedoch weder vom Verlag noch von den Verfassern übernommen werden. Die Haftung der Autoren bzw. des Verlages und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- oder Vermögensschäden ist ausgeschlossen. Wenn Sie sich unsicher sind, sprechen Sie mit Ihrem Arzt oder Therapeuten.
Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52 a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in ein Netzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen.
www.beltz.de
© 2011 Beltz Verlag, Weinheim und Basel
Umschlaggestaltung: www.stefanielevers.de (Gestaltung),
www.stephanengelke.de (Beratung)
Umschlagabbildung: © Getty Images/Thomas J. Abercrombie (vorne);
© Fotolia.com/Marco Mayer (hinten)
Abbildungen Innenteil: BlütezeitDesign/Stefanie Rinkenbach
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-22515-3
Wir widmen dieses Buch allen Kindern, Mütter und Vätern, die uns an ihren Erfahrungen teilhaben ließen und ohne die wir den vorliegenden Text nicht hätten schreiben können, sowie Herrn Professor Dr. Dr. Eberhard Elbing, der als einer der Gründer und als ehemaliger Leiter der Begabungspsychologischen Beratungsstelle der Ludwig-Maximilians-Universität München entscheidend dazu beitrug, einen Rahmen für diesen Erfahrungsaustausch zu schaffen.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Teil 1
Was ist Hochbegabung und wie ist sie zu erkennen?
1 »Es ist gut, schlau zu sein«: Worum es in diesem Buch geht
Wertschätzung und Eindeutigkeit gegenüber Kindern
Reflexion
2 Was ist Hochbegabung?
Wer ist hier hochbegabt?
Hochbegabung: Worum geht es?
Hohe Intelligenz: Risiko oder Chance?
Reflexion
3 Die Entwicklung hochbegabter Kinder
Kognitive und Persönlichkeitsentwicklung
Hochbegabt und besonders sensibel?
Reflexion
4 Hochbegabung: Wie ist sie zu erkennen?
Beobachtung im Alltag
Einschätzung durch Checklisten
Intelligenztests
Vom Umgang mit der Diagnose »hochbegabt«
Reflexion
Teil 2
Unterstützung und Förderung (hoch)begabter Kinder
5 Underachievement: Wenn kluge Kinder schlechte Schulleistungen erzielen
Worum geht es?
Zur Häufigkeit von Underachievement bei Hochbegabten
Wie sind Underachiever zu erkennen?
Erfahrungen und Enttäuschungen
Interventionsmöglichkeiten
Reflexion
6 Motivation: Brücke zwischen Potenzial und Umsetzung
Was ist Motivation?
Hochbegabung und Motivation
Motivationsveränderung durch Einbindung und Selbstbestimmung
Leistungsmotivation
Reflexion
7 Stress bei Eltern und ihren hochbegabten Kindern
Worum geht es?
Wie Stresserleben entsteht
Stress bei Kindern
Stress und hohe Begabung: Gibt es einen Zusammenhang?
Methoden der Stressbewältigung
Reflexion
8 Familien mit hochbegabten Kindern: Irgendwie anders?
Aus der Forschung: Familien mit hochbegabten Kindern
Geschwister
Reflexion
9 Das Bild des Kindes von sich selbst
Selbstkonzept: Worum geht es?
Hochbegabung und Selbstkonzept
Möglichkeiten zur Unterstützung eines positiven Selbstbildes
Reflexion
10 Förderung
Eckpunkte gelingender Förderung
Expertise: Die Fähigkeit zu herausragenden Leistungen
Förderung in Institutionen: Ein Überblick
Förderung im (Familien-)Alltag
Teil 3
Praktische Ideen für den Familien- und Schulalltag
11 Der KLIKK®-Ansatz I: Kommunikation
Kommunikation: Worum geht es?
Kommunikation und hohe Begabung: Wo ist der Zusammenhang?
Wertschätzende Kommunikation
Wenn die Worte fehlen: über eigene Bedürfnisse und Gefühle reden
Wertschätzende Kommunikation in der Familie
12 Der KLIKK®-Ansatz II: Lösungsstrategien
Lösungsorientierung: Worum geht es?
Wo soll es hingehen? Die Entwicklung von Zielen
Wie erreichen wir das Ziel? Fortbewegungsarten
Vom Problem zur Lösung: Beispiele und Übungen
13 Wie kann KLIKK® aussehen? Beispiele für Motivation, Stressabbau und Schulerfolg
Unterstützung der Motivation des Kindes
Begleitung des Kindes bei der Stressbewältigung
»Lästiges Übel« Schule? Kooperation zwischen Schule und Elternhaus
KLIKK® im Familienalltag
Danksagung
Literatur
Über den Autor & die Autorin
Einleitung
Ganz zu Beginn eine Anmerkung, die uns wichtig ist – nicht zuletzt, um grundlegende Missverständnisse zu vermeiden. Auch wenn wir ein Buch schreiben, das sich vor allem an eine spezielle Zielgruppe wendet, vertreten wir nicht die Auffassung, dass Hochbegabung etwas Besonderes ist. Wie das?, werden sich manche vielleicht fragen.
Kinder unterscheiden sich in vielen verschiedenen Merkmalen und sind alleine dadurch – jedes für sich – ganz besonders. Diese Unterschiedlichkeit ist etwas Kostbares. Hochbegabung ist eine Facette der breiten Palette von »Normalität« – nicht weniger und auch nicht mehr. Ein Junge, den wir hier Michael nennen, meinte dazu: »Hochbegabte sind gar nicht so schlimm. Wenn sich Erwachsene auf uns einlassen, sind wir keine Monster, sondern meistens ganz nett. Ich glaube, wenn ich mich später entscheiden könnte, hätte ich auch gerne hochbegabte Kinder.« Wir denken, dass jedes Kind ein Anrecht darauf hat, in seiner Einzigartigkeit gesehen und wertgeschätzt zu werden. Dazu will dieses Buch einen Beitrag leisten.
Wir möchten anregen und ermuntern, zu entdecken, was den Kontakt mit hochbegabten Kindern auszeichnet und wie dieser positiv gestaltet werden kann. Als Autorenteam geht es uns nicht darum, dass Sie sich als Mutter oder Vater »grundlegend verändern« sollen. Unser Ansatz zielt vielmehr darauf ab, dass bestimmte, zumeist bereits vorhandene Seiten deutlicher sichtbar werden können, als dies möglicherweise bisher der Fall war.
Die aufgeführten Ideen sind zudem nicht als »Normen« zu verstehen, sondern als Orientierungspunkte und Anregungen für die Begleitung Ihres Kindes. Manches wird mehr und manches weniger für Sie und Ihr Kind passen. Entscheidend ist für uns, dass Sie theoretische wie praktische Anregungen finden, um Ihr Familienleben so zu gestalten, dass sich alle Beteiligten darin wohlfühlen.
Teil 1
Was ist Hochbegabung und wie ist sie zu erkennen?
1 »Es ist gut, schlau zu sein«: Worum es in diesem Buch geht
Noch ein Ratgeber zum Thema Hochbegabung, nur anders verpackt? – Keine Sorge, das soll dieses Buch nicht sein, denn (gute) Ratgeber existieren bereits in ausreichender Zahl. Für manche Mütter und Väter hat das Angebot vielleicht sogar ein Ausmaß angenommen, das vor allem verwirrt und verunsichert. Insofern fiel uns die Entscheidung leicht, ein anderes Konzept zu wählen, indem wir vor allem den Expertenstatus von Eltern betonen und stärken möchten. Nach unserer Erfahrung kann dieser im Alltag von Eltern hochbegabter Kinder manchmal ganz schön leiden, beispielsweise durch die Vielzahl von Fragen der Kinder oder durch die Erfahrung, häufiger in der elterlichen Autorität infrage gestellt zu werden. Das tut beiden – Eltern wie Kindern – nicht gut. Umgekehrt profitieren beide Seiten, wenn sich Eltern als kompetent erleben können.
Die Steigerung der elterlichen Kompetenz sollte nicht als »Mittel zum Zweck« missverstanden werden (beispielsweise, um Kinder effektiver beeinflussen zu können). Dieses Buch will dazu anregen, das elterliche Vorgehen auf einen wesentlichen Punkt zu konzentrieren, nämlich die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, ohne dass diese gleich wieder einen Zweck erfüllen muss. Die Pflege dieses Verhältnisses bleibt eine tägliche Aufgabe, die mit den in diesem Buch vorgestellten Anregungen und Informationen indes zufriedenstellender verlaufen kann.
Eine ähnliche Sichtweise haben wir auch in Bezug auf die Begabungsförderung. Wir sind nicht der Auffassung, dass ein hohes intellektuelles Potenzial Kinder in besonderer Weise zu Leistung (oder in einem höheren Alter zur Übernahme von größerer gesellschaftlicher Verantwortung) verpflichtet (sosehr dies vielleicht auch aus beispielsweise wirtschaftlichen Überlegungen heraus wünschenswert wäre). Eine derart instrumentalisierte Sichtweise von Erziehung oder Begabungsförderung widerspricht unseren Wertvorstellungen und birgt verschiedene Gefahren in sich; unter anderem die, dass Eltern vor allem von der Angst getrieben werden, etwas falsch zu machen oder eine günstige Gelegenheit zur Förderung zu übersehen. Begegnung oder Beziehung kann so nicht entstehen.
Ein Beispiel soll verdeutlichen, worum es uns geht: Die Eltern eines Jungen meldeten sich ein halbes Jahr nach einem Beratungsgespräch noch einmal per Mail bei uns. Sie beschrieben verschiedene positive Veränderungen bei ihrem Sohn Marcus. Letztlich ließen sich diese in einer noch nicht lange zurückliegenden Aussage von Marcus zusammenfassen: »Es ist gut, schlau zu sein.« Wenn wir mit diesem Buch zu einer solchen Einschätzung beitragen können, hat es seinen Zweck erfüllt.
Was hat es eigentlich mit der Bezeichnung »Handbuch« auf sich? Wir sehen diese Form als eine Alternative zum herkömmlichen Ratgeber. Der Leitgedanke beim Schreiben bestand darin, einen möglichst großen Erfahrungsschatz zusammenzutragen, aus dem Sie als Leserinnen und Leser für sich die Ideen auswählen können, die für Sie passen bzw. die Sie Ihrer Situation und Ihren Bedürfnisse anpassen können. Unser Ziel ist es, Wissen und Anregungen zu vermitteln, ohne dabei den Anspruch zu erheben, wir wüssten besser als Sie, welche Methoden für Ihre Familie am besten geeignet sind. Dabei haben sich die praktischen Inhalte dieses Buches für die Begleitung hochbegabter Kinder im Alter von vier bis zwölf Jahren bewährt, manche eignen sich (mit leichten Variationen) auch für Jugendliche.
Wir haben uns bewusst für die Nennung – und wo nötig Erläuterung – auch fachlicher Begriffe und Konzepte entschieden, auch weil Eltern von Hochbegabten diesen in manchen Testungen und Beratungsgesprächen begegnen werden.
Vorab noch etwas zur Entstehung dieses Handbuches: Wenn in den vergangenen Jahren Familien zu uns in die Beratung kamen, haben wir oft erlebt, dass sich Mütter und Väter, nachdem ihre Kinder den Beratungsraum zur Testung verlassen hatten, in etwa folgendermaßen entschuldigten: »Wir glauben eigentlich nicht, dass unser Kind hochbegabt ist, aber wir wollten auch nichts versäumen. Momentan ist ja sehr viel Widersprüchliches zu lesen.« Wenn wir nachfragten, was denn gegen eine Hochbegabung des Kindes spreche, hörten wir häufiger Antworten wie: »Sie hat ganz normale Interessen«, oder: »Hochbegabte Kinder können in seinem Alter doch schon viel mehr als er.« Abgesehen davon, dass wir nicht den Anspruch hatten und haben, nur Familien mit hochbegabten Kindern zu beraten, war die nachvollziehbare Unsicherheit der Eltern in diesem Bereich ein wichtiger Anstoß, dieses Buch zu schreiben. Die Formulierung »wir« bezeichnet in diesem Buch das Autorenteam Dietrich Arnold und Franzis Preckel. Wo wir uns auf Studien oder Aussagen anderer Autorinnen und Autoren beziehen, ist das durch die Nennung ihrer Namen an der entsprechenden Stelle kenntlich gemacht.
Wenn Angebote speziell auf die Bedürfnisse der Zielgruppe abgestimmt sind, ist ihr Nutzen größer, als wenn sie eher unspezifisch sind. Dies gilt auch für die Förderung Hochbegabter und betrifft nicht nur den schulischen Bereich, sondern auch den familiären. Wir greifen den Wunsch nach spezifischen Angeboten für Familien mit (hoch)begabten Kindern in zweifacher Weise auf: Zum einen bieten wir seit rund sechs Jahren ein speziell für Eltern kluger Kinder entwickeltes Training an, dem wir den Namen KLIKK® (Kommunikations- und Lösungsstrategien für die Interaktion mit klugen Kindern) gegeben haben (die Website dazu finden Sie unter www.klikk-elterntraining.de). Zum anderen haben wir dieses Handbuch verfasst. Die Inhalte dieses Elternhandbuchs sind so konzipiert, dass die Leserinnen und Leser auch dann sinnvoll damit arbeiten können, wenn sie das Training nicht besucht haben. Gleichwohl fließen die Erfahrungen, die wir im Kontakt mit mittlerweile rund vierhundert KLIKK®-Teilnehmerinnen und -Teilnehmern gemacht haben, natürlich mit ein. Insofern war unser Kriterium bei der Auswahl der praktischen Inhalte dieses Buches, dass diese sich im Praxistest bewährt haben.
Der Umgang mit dem Thema Hochbegabung hat in unserem Land in den letzten Jahren einen grundlegenden Wandel erfahren: War dieses Thema früher eher tabuisiert und mit negativen Assoziationen verknüpft, so ist es mittlerweile aus seinem Nischendasein herausgetreten. Dieser Wandel begann Ende der 1970er-Jahre, beispielsweise mit der Gründung der Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte Kind im Jahr 1978. Die Zahl der Bücher über Hochbegabung ist sprunghaft angewachsen, Medien berichten regelmäßig über hochbegabte Kinder und deren Lebenssituation, und auch etliche Fachleute im pädagogisch-psychologischen und medizinischen Bereich haben sich dieses Themas angenommen.
So weit, so gut. Die Enttabuisierung hat zweifellos vor allem denjenigen geholfen, um die es in diesem Buch gehen soll: den Eltern hochbegabter Kinder und natürlich auch den Kindern selbst. Dennoch erschrecken nach wie vor viele Eltern, wenn sie sich damit konfrontiert sehen, dass ihre Kinder weit überdurchschnittlich intelligent sind beziehungsweise sein könnten. Manchmal sieht es von außen so aus, als ob nach dem Vorliegen eines hohen Intelligenztestergebnisses bei den Familien ein neues Mitglied eingezogen sei: die Hochbegabung (Götting, 2006). Und dieses Familienmitglied scheint zuweilen sehr anspruchsvoll zu sein, fordert Zeit, Energie und auch manche finanzielle Investition. Manchmal geht den Familien fast die Luft aus, wenn sie versuchen, all diesen Ansprüchen gerecht zu werden.
Grundlage unseres Buches ist eine optimistische Sichtweise von Hochbegabung: Wir denken, dass diese als Chance für ein positives Miteinander zu sehen ist, vor allem dann, wenn es gelingt, Ängste und Vorbehalte abzubauen. Zugleich wissen wir, dass Eltern aus ihrer Sicht gute Gründe für eine skeptischere Perspektive aufführen können. In Fernsehsendungen oder Zeitungsartikeln finden wir häufiger Darstellungen, in denen es so aussieht, als ob Probleme bei hochbegabten Kindern fast zwangsläufig aufträten und nur ein immenses Förderangebot (sei es in der Schule oder außerhalb) Erleichterung verschaffen könne. Dass dadurch Verunsicherung, Angst und Druck bei Eltern entstehen, ist nur allzu verständlich.
Diese medialen Darstellungen hochbegabter Kinder sind jedoch zumeist sehr verkürzt und entsprechen in vielen Aspekten nicht dem aktuellen Forschungsstand. Häufig werden Einzelfälle herangezogen, von denen auf die Gesamtheit der hochbegabten Kinder geschlossen wird, was wissenschaftlich nicht haltbar ist. Diese Klarstellung alleine mag Eltern nur wenig weiterhelfen: Sie erleben in ihrem Erziehungsalltag ganz konkrete Fragen und Probleme und benötigen hierfür passende Antworten. So machte ein Teil der Eltern, mit denen wir sprachen, die Erfahrung, dass sie mit manchen eigentlich bewährten Erziehungskonzepten bei ihren Kindern nicht mehr weiterkamen, ja teilweise sogar den Eindruck hatten, bestehende Probleme noch zu verschlimmern. Rat- und Hilflosigkeit waren die Folge.1
Die negativen Gefühle werden in einigen Fällen durch die Reaktion der Umwelt verstärkt, beispielsweise durch überzogene Kritik oder vermeintlich gute Ratschläge (»Sag ihr doch einfach, dass man Lesen erst in der Schule lernt«), die an der Situation der Eltern von hochbegabten Kindern vorbeigehen. Solche Erfahrungen führen zu dem Gefühl, nicht verstanden zu werden. Manchmal entsteht von außen der Eindruck, als gäbe es eine Rivalität, vor allem dann, wenn die Kinder in die Schule gehen: Welches Kind erhält angesichts knapper Ressourcen angemessene Förderung?
Die Förderung hochbegabter Kinder muss keinesfalls auf Kosten der anderen Schülerinnen und Schüler gehen.
Das hier herrschende Missverständnis besteht in der Annahme, eine Förderung hochbegabter Kinder gehe automatisch auf Kosten der anderen Schülerinnen und Schüler. Dies muss keineswegs der Fall sein, wie wir später in diesem Buch noch beschreiben werden. Die Polarisierung hat vielleicht auch mit der eingangs schon beschriebenen Entwicklung in Deutschland zu tun: In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik wurden hochbegabte Kinder weitgehend ignoriert, dann erhielten sie plötzlich immense Aufmerksamkeit. Wir hoffen, dass sich nun ein gelassenerer und zugleich aufgeschlossener Umgang einstellen wird.
Wertschätzung und Eindeutigkeit gegenüber Kindern
Gegenwärtig wird kontrovers diskutiert, ob Eltern wieder stärker disziplinierend auf ihre Kinder einwirken oder mehr Betonung auf Nähe und Wertschätzung legen sollen. Vor dem Hintergrund einer hohen Begabung eines Kindes verschärft sich diese Debatte teilweise noch, nach dem Motto: »Bei einem hochbegabten Kind muss man besonderen Wert auf eine richtige Erziehung legen.« Nach unserer Beobachtung können beide Positionen missverstanden werden und zu einer Verunsicherung bei Eltern führen. Eine starke Betonung der Disziplin kann dazu führen, dass das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern stark angespannt ist und Interaktionen sich häufig auf die Diskussion von Regeln beziehen. Auf der anderen Seite kann eine Überbetonung der Wertschätzung in ein sehr nachgiebiges Vorgehen gegenüber Kindern münden. Letztlich haben wir in beiden Fällen Frustration aufseiten der Eltern beobachtet, weil sie erlebten, dass sie entweder den Bedürfnissen ihrer Kinder oder aber ihren eigenen nicht gerecht werden konnten.
Diese Debatte geht insofern am wissenschaftlichen Erkenntnisstand vorbei, als Studien zur Auswirkung verschiedener Erziehungsstile vergleichsweise eindeutige Antworten erbracht haben. Verschiedene Dimensionen wurden identifiziert, anhand derer elterliche Vorgehensweisen beschrieben und unterschieden werden können. Wir greifen auf ein Modell zurück, das zwei Aspekte unterscheidet: das Ausmaß an Wertschätzung im Kontakt mit den Kindern sowie das Ausmaß an Klarheit und Eindeutigkeit der Eltern in Bezug auf Regeln. Insofern sind die Wünsche nach Wertschätzung und Disziplin (sofern darunter ein eindeutiger und verlässlicher Rahmen für Kinder verstanden wird) keine unvereinbaren Gegensätze, sondern zwei Aspekte, die sich sogar fruchtbar ergänzen können.
Da wir Ihnen Anregungen dafür geben wollen, die hohe Begabung der Kinder als Grundlage für ein Miteinander nutzen zu können, bei dem es allen Familienmitgliedern gut geht, haben wir als Orientierungsrahmen – quasi als roten Faden – für dieses Buch auf den Ansatz der autoritativen Erziehung zurückgegriffen, der im Kontext der Erziehungsstilforschung identifiziert wurde. Walper (2006) beschreibt, dass dieser elterliche Erziehungsstil günstige Auswirkungen auf Kinder hat, zum Beispiel dahingehend, dass sie ein positiveres Selbstbild und weniger Problemverhalten zeigen. Für die Aufnahme in dieses Buch sprach die Annahme, dass ein autoritativer Erziehungsstil nicht nur bei Kindern, sondern auch bei ihren Eltern Positives bewirkt, und zwar insofern, als dieser zu Interaktionen führt, die das Kompetenzerleben auf beiden Seiten erhalten oder steigern (vgl. beispielsweise Schneewind & Böhmert, 2008, die hierfür die Formulierung »Freiheit in Grenzen« verwenden).
Der autoritative Erziehungsstil kann unabhängig vom Begabungsniveau der Kinder umgesetzt werden. Wir stellen in diesem Buch eine Anwendung vor, die auf (hoch)begabte Kinder ausgerichtet und insofern begabungsspezifisch ist; so haben wir darauf geachtet, spezifische Fähigkeiten und wichtige Aspekte des Selbstbildes der Kinder herauszuarbeiten und diese in den Anregungen zu berücksichtigen.
Die folgende Abbildung zeigt (in Anlehnung an Walper, 2006, S. 27) die vier unterschiedlichen Erziehungsstile, die sich durch hohe beziehungsweise niedrige Ausprägungen der zwei Dimensionen ergeben, und veranschaulicht sie anhand eines Beispiels.2 Um die Unterschiede zu verdeutlichen, haben wir die vier Ansätze etwas pointiert formuliert. In der Praxis sind nur selten so eindeutig abzugrenzende Kategorien vorzufinden; die Übergänge sind eher kontinuierlich.
Verdeutlichung unterschiedlicher Erziehungsstile am Beispiel »Das Kind möchte Süßigkeiten haben«.
Der autoritative Erziehungsstil ist sowohl wertschätzend als auch eindeutig.
Ein Erziehungsstil, der sowohl wertschätzend als auch eindeutig ist, wird als autoritativ bezeichnet. Im Gegensatz zum autoritativen Vorgehen ist ein autoritärer Erziehungsstil zwar sehr eindeutig, aber wenig wertschätzend. In gleicher Weise ist eine Abgrenzung zur antiautoritären beziehungsweise permissiven Erziehung erforderlich, die zwar eine große Wertschätzung der kindlichen Bedürfnisse, jedoch wenig Eindeutigkeit der Eltern aufweist. Bezogen auf die Entwicklung der Kinder erweist sich der autoritative Erziehungsstil den anderen Vorgehensweisen als überlegen. Der Forschungsstand belegt positive Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl sowie auf emotionale und soziale Kompetenzen (Baumrind, 1996), wohingegen ein autoritärer Erziehungsstil sich eher nachteilig beispielsweise auf das Selbstbewusstsein der Kinder auswirkt (Steinberg, 2001). Mit anderen Worten: Wenn es Eltern gelingt, sowohl wertschätzend als auch eindeutig gegenüber ihren Kindern zu agieren, ist dies offenbar in besonderer Weise geeignet, vorhandene Fähigkeiten des Kindes zur Entfaltung zu bringen und Kinder in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu bestärken, was wiederum (im Sinne einer positiven Wechselwirkung) das eigene Kompetenzerleben als Mutter oder Vater stärkt. Und um dieses soll es in diesem Buch in erster Linie gehen.
Damit die eben beschriebene positive Wirkung des autoritativen Vorgehens eintreten kann, ist eine Art der Umsetzung erforderlich, die zum Selbstbild hochbegabter Kinder passt. Es geht um eine Wertschätzung der Gefühle und Bedürfnisse des Kindes und um Klarheit in Bezug auf eigene Wünsche und Gefühle (oder aber die Bedürfnisse Dritter wie beispielsweise anderer Kinder oder von Lehrer/-innen). Die »Kunst« bei dieser Vorgehensweise besteht darin, Wertschätzung und Eindeutigkeit zu vereinen, das heißt, möglichst sowohl wertschätzend als auch eindeutig zu agieren. Andernfalls besteht die Gefahr, dass das Vorgehen als ein »Pendeln« zwischen den Polen wahrgenommen wird und dann eher verwirrend als hilfreich ist. Wie die Umsetzung konkret aussehen kann, stellen wir im elften bis dreizehnten Kapitel dieses Handbuches vor.
Das in obiger Abbildung aufgeführte Beispiel für den autoritativen Erziehungsstil soll auch dazu dienen, ein Missverständnis auszuräumen, das wir in der Durchführung des Elterntrainings KLIKK® in Bezug auf das Merkmal Wertschätzung der kindlichen Bedürfnisse des Öfteren erlebt haben: Viele Mütter und Väter äußerten an dieser Stelle die Befürchtung, entweder ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse zurückstellen und/oder sehr nachgiebig gegenüber ihren Kindern handeln zu müssen. Beides ist mit dem Konzept, das wir in diesem Buch vertreten, nicht gemeint. Wertschätzung kann im Gegenteil bedeuten, (eigene) Grenzen sehr klar zu verdeutlichen. Der Unterschied zu einem reinen »Pochen auf Disziplin« besteht darin, dass wir anregen, zugleich die Situation des Kindes im Blick zu haben (was die meisten Eltern tun) und dies gegenüber ihren Kindern auch deutlich zu machen (was im erzieherischen Alltag manchmal zu kurz kommt).
Der Ansatz der autoritativen Erziehung kann einen Rahmen bereitstellen, in dem Förderung im Familienalltag geschehen kann, ohne diesen zu dominieren. In diesem Zusammenhang beschreiben wir auch, wie verschiedene Förderangebote aufeinander abgestimmt werden können (siehe Kapitel 10). Zum einen wollen wir damit erreichen, dass die Förderung mit den jeweiligen Entwicklungsbedürfnissen des Kindes in Einklang steht. Zum anderen möchten wir verhindern, dass ein Übermaß zu einer Überforderung bei den Eltern führt. Manche Förderkonzepte nach dem Motto »Viel hilft viel« können nach unserer Einschätzung diese Gefahr mit sich bringen. Dementsprechend gehen wir eher von »Weniger ist mehr« aus. Viele unserer Anregungen mögen auf den ersten Blick banal erscheinen. So beschreiben wir beispielsweise, dass Förderung, wo immer möglich, in ganz alltäglichen Situationen geschehen kann. Das Abzählen von Treppenstufen lässt Zahlen direkt erfahrbar werden. Das Abmessen von Milch oder Mehl beim Kochen oder Backen macht Mengen anschaulich. Ein alter Hut? – Vielleicht. Aber einer, der sich bewährt hat und auch für hochbegabte Kinder geeignet ist (der scheinbare Widerspruch zu den obigen Ausführungen bezüglich des Nutzens spezifischer Angebote löst sich dann auf, wenn wir auf die Umsetzung zu sprechen kommen, die bei hochbegabten Kindern beispielsweise in einem vergleichsweise früheren Alter erfolgen kann und häufig weniger Erklärungen bedarf). Der Sinn einer Förderung im Alltag im Kontakt mit nahen Bezugspersonen wird durch Erkenntnisse aus der Hirnforschung unterstützt, die belegen, dass eine gut entwickelte Beziehungsfähigkeit eines Kindes eine hohe Bedeutung für eine optimale Hirnentwicklung hat (Hüther, 2008). Mit anderen Worten: Für Kinder ist es vor allem wichtig, die Erfahrung sicherer und wertschätzender Beziehungen zu anderen Menschen machen zu können. Auf dieser Basis können sie ein positives Bild von sich und ihrer Umwelt entwickeln und ihre Erfahrungen und die Antworten auf die Vielzahl ihrer Fragen einordnen.
Zum Aufbau des Buches
Das vorliegende Elternhandbuch gliedert sich in drei Teile:
Als Erstes gehen wir der Frage nach, was Hochbegabung ist (Definition, Entwicklung Hochbegabter und Erkennungsmöglichkeiten). Damit befassen wir uns in den Kapiteln 2 bis 4.
In den Kapiteln 5 bis 10 greifen wir die häufigsten Fragestellungen auf, die uns in Beratungen und Trainings begegnet sind. Hier geht es um Möglichkeiten für Eltern, die Entwicklung ihrer hochbegabten Kinder zu unterstützen. Zugleich befassen wir uns mit Ansätzen, die helfen können, wenn diese Entwicklung sich schwierig gestaltet, beispielsweise bei Kindern, denen es nicht gelingt, ihr hohes (intellektuelles) Potenzial in entsprechende Schulnoten umzusetzen. Sowohl Prävention als auch Hilfe bei vorliegenden Problemen sind Inhalte dieser Kapitel. Zum Ende dieses zweiten großen Buchabschnittes beschreiben wir einen Aspekt, der für viele Eltern große Bedeutung hat, nämlich die Unterstützung ihres Kindes bei der Entwicklung eines »gesunden« Selbstbewusstseins. Das zehnte Kapitel, in dem es um das Thema Förderung geht, bildet eine Art Überleitung zum dritten Teil, in dem die konkreten Handlungsmöglichkeiten von Eltern noch stärker herausgearbeitet sind.
In den ersten beiden Abschnitten dieses Buches liegt der Schwerpunkt somit auf der Vermittlung grundlegender Informationen rund um das Thema Hochbegabung, die wir an passender Stelle durch Umsetzungsideen für den Familienalltag ergänzen.
In den Kapiteln 11 bis 13 vertiefen wir die Vermittlung praktischer Ideen. Wir greifen dabei auf zwei »Grundbausteine« des Elterntrainings KLIKK® zurück, nämlich den Aspekt der »wertschätzenden Kommunikation« (der im elften Kapitel beschrieben wird) sowie den Aspekt der »Lösungsorientierung« (dessen Grundzüge und Umsetzungsmöglichkeiten im zwölften Kapitel nachzulesen sind). Für das Zusammenspiel dieser beiden Grundbausteine verwenden wir die Bezeichnung »KLIKK®-Ansatz«. Im dreizehnten Kapitel beschreiben wir beispielhaft drei Anwendungsbereiche dieses Ansatzes (Motivation, Stress und Kooperation mit der Schule) und runden das Buch mit Anregungen und Erfahrungswerten zu ihrer Umsetzung ab.
Reflexion
Es wäre optimal, wenn dieses Buch für alle Leserinnen und Leser interaktiv geschrieben worden wäre, sodass wir jeweils individuell auf Ihre Fragen und Anliegen eingehen und antworten könnten. Da dies nicht möglich ist, haben wir eine Reihe von Müttern und Vätern aus unserer Zielgruppe befragt, um eine Idee zu bekommen, was wir auf jeden Fall aufnehmen sollten. Damit Sie für sich einen möglichst großen Nutzen aus dem Lesen ziehen können, bieten wir am Ende jedes Kapitels des ersten und zweiten Teils eine Reflexion an, in der Sie eine individuelle Bestandsaufnahme darüber vornehmen können, welche der behandelten Aspekte für Sie besonders wichtig sind. Im ersten Kapitel betrifft dies den Bereich Erziehung, wobei sich dieser nicht zwangsläufig nur auf Eltern, sondern auch auf weitere Erziehungsberechtigte beziehen kann. Wenn Sie dieses Buch als Erzieherin/Erzieher oder als Lehrerin/Lehrer lesen, können Sie die jeweiligen Reflexionen natürlich auch auf Ihr pädagogisches Handeln übertragen. Im dritten Teil des Buches haben wir auf Reflexionen verzichtet, weil wir davon ausgehen, dass es aussagekräftiger ist, wenn Sie die Anregungen »in echt«, das heißt im Familienalltag (oder beruflichen Kontext), erproben. Hier nun unsere ersten Reflexionsangebote:
-
Was sind für mich wichtige Erziehungsziele?
-
Wo ordne ich mein Vorgehen als Mutter/Vater in Bezug auf die vier Erziehungsstile (autoritativ, autoritär, permissiv, vernachlässigend) ein?
-
Wo sehe ich meine Stärken in meiner Rolle als Mutter/Vater?
-
In welchen Bereichen fühle ich mich unsicher und habe das Gefühl, neue oder andere Ideen und Anregungen zu benötigen?
-
Welche Bedeutung hat die Hochbegabung meines Kindes in meinem erzieherischen Handeln?
2 Was ist Hochbegabung?
Im ersten Kapitel erwähnten wir schon das »Familienmitglied« Hochbegabung. Wie ist dieses Phänomen beschaffen? Manche Eltern in unseren Beratungsgesprächen verwenden Beschreibungen, die an einen täglichen, heftigen Sturm erinnern, während andere von Sonnenschein und blauem Himmel sprechen. Für die jeweilige Familiensituation werden diese Bilder zweifellos zutreffen. Sie helfen uns allerdings nicht weiter, wenn wir eine übergreifende Definition entwickeln wollen. An dieser Stelle soll daher ein Überblick über das Themengebiet Hochbegabung erfolgen, damit die nachfolgenden praktischen Inhalte dieses Buches leichter eingeordnet werden können und somit verständlicher werden.
Um die theoretischen Informationen dieses Kapitels zu veranschaulichen, stellen wir zunächst sieben Kinder im Alter zwischen vier und zwölf Jahren3 vor, die mit ihren Eltern zu einem Beratungstermin kamen, weil die Vermutung bestand, dass sie sehr intelligent sein könnten. Bevor wir dann die Frage beantworten, wer von diesen sieben tatsächlich als »hochbegabt« einzustufen ist, beschreiben wir die häufigsten Definitionen und daraus abgeleitete Kriterien für eine solche Einschätzung. Anschließend stellen wir dar, welches Bild von Hochbegabung und hochbegabten Kindern bei der Konzeption des Buches leitend war, und greifen die Frage auf, inwiefern die hohe Intelligenz eines Kindes sich in der Regel eher förderlich oder hinderlich für dessen Entwicklung auswirkt. Zum Abschluss haben Sie wieder die Möglichkeit, Ihre eigene Sichtweise zu reflektieren.
Wer ist hier hochbegabt?
→ 1: Torben – Ist die Welt grenzenlos?
Torben ist acht Jahre alt und geht in die zweite Klasse. Er wurde mit knapp sieben Jahren eingeschult, weil der Kindergarten ihm fehlende soziale Reife attestierte (»Er kann sich an keine Regel halten«) und seine Eltern, Frau und Herr K., ihm »noch ein Jahr Kindheit« ermöglichen wollten. Als er in die Schule kam, konnte er die meisten Buchstaben und beherrschte den Zahlenraum bis zwanzig sicher. Nach kurzer Zeit begann er sich zu langweilen und störte den Unterricht durch Hereinrufen, Plaudern mit dem Nachbarn sowie Stuhlkippeln. Komplexere Zusatzaufgaben lehnte er meist mit der Begründung ab, diese seien »öde«, wobei die Lehrkraft durchaus bemerkt hatte, dass er in manchen Bereichen viel wusste. So durfte er bereits kurze Referate über seine Lieblingsthemen Dinosaurier und Ritter halten, die ihm nach eigenen Angaben Spaß machten und von der Klasse sehr positiv aufgenommen wurden.
Dem Wunsch der Lehrerin, gemeinsam an Strategien zu arbeiten, damit Torben ein angemesseneres Sozialverhalten entwickeln konnte (aufgrund seiner Weigerung, nur dann etwas zu sagen, wenn er aufgerufen worden war, geriet er immer mehr in eine Außenseiterrolle), standen seine Eltern skeptisch gegenüber. Er sei eben sehr intelligent, und diese Kinder zeichneten sich oft auch durch solche Besonderheiten aus. Es sei zunächst Aufgabe der Schule, auf seine Bedürfnisse einzugehen und ihm durch eine intellektuelle Förderung ein anderes Sozialverhalten zu ermöglichen. Zudem sei es ihnen durchaus sympathisch, wenn ein Kind Autoritäten infrage stelle; da müsse man sich als Erwachsener eben »als Trainingspartner zur Verfügung stellen«. Mit dieser Forderung bissen sie allerdings beim Trainer des örtlichen Fußballvereins auf Granit: »Wer bei mir in der ersten Mannschaft spielen will, der muss beim Training nach meinen Vorgaben mitziehen, ansonsten bekommt er einen bequemen Platz auf der Ersatzbank.« Nachdem Torben acht Wochen lang diese Erfahrung gemacht hatte, meldete ihn sein Vater im Verein wieder ab.
Torben hat mehrere gleichaltrige Freunde, einen davon seit der »Sandkastenzeit«. Mit seinem Bruder Ole, der drei Jahre älter ist als er, würde er gerne mehr spielen; Ole lehnt jedoch häufig mit der Begründung ab, sein jüngerer Bruder sei ihm »echt zu kindisch«. Die Situation in der Schule verschärfte sich seit Mitte der zweiten Klasse, als sich bei Torben eine immer stärkere Verweigerungshaltung zeigte. Frau und Herr K., die sich mittlerweile einer Elterninitiative angeschlossen hatten, äußerten daraufhin den Wunsch, ihr Sohn solle eine Klasse überspringen. Dieses Ansinnen lehnte die Schule mit dem Hinweis auf fehlende soziale und emotionale Kompetenzen ab (wenn er eine Aufgabe nicht auf Anhieb lösen konnte, wurde er entweder sehr wütend oder brach in Tränen aus). Die Eltern planen nun den Wechsel auf eine Privatschule, die kleinere Klassen und eine individuelle Förderung verspricht.
→ 2: Ann-Marie – Es muss ja keiner wissen, was ich kann
Herr P. wendet sich an eine Beratungsstelle. Er beschreibt eine massive Veränderung seiner Tochter Ann-Marie, die ihn und seine Frau mittlerweile sehr beunruhige, und bittet dringend um eine Intelligenztestung und ein Beratungsgespräch. Fast am Ende der E-Mail weist er darauf hin, dass es ihm nicht um ein hohes Ergebnis gehe, eher im Gegenteil (»Wir wären froh, wenn Ann-Marie ganz normal wäre«). Seine Frau und er wünschten sich »einfach Klarheit«.
Zum Beratungstermin drei Wochen später erscheinen beide Eltern und ihre siebenjährige Tochter. Während Ann-Marie in der Kindergartenzeit noch fließend gelesen habe, sei sie nach ihrer Einschulung »scheinbar verblödet«, so die deutlichen Worte der Eltern, als ihre Tochter den Raum verlassen hatte. Die Eltern wünschen sich eine aktuelle Einschätzung der intellektuellen Fähigkeiten ihrer Tochter und vor allem Anregungen, wie sie beide mit dem für sie neuen Verhalten von Ann-Marie umgehen sollen.
Ann-Marie besuche zurzeit die erste Klasse der Grundschule und zeige »eigenartige Verhaltensweisen«, die sie von ihrer Tochter bislang nicht kannten. So lese Ann-Marie nicht mehr, obwohl sie das im Kindergarten schon flüssig konnte. Stattdessen baue sie die Wörter wieder Buchstabe für Buchstabe wie eine Leseanfängerin auf. Darüber hinaus verfalle sie öfter zu Hause in eine Art »Babysprache«, wenn sie etwas gefragt werde. Wenn Mutter oder Vater sie deswegen zurechtwiesen, wirke Ann-Marie verstört und hilflos. Rechnungen, die sie bereits im Kindergarten im 20er-Raum mit dem Legen von Plättchen ausführte, verstehe sie in der Schule und bei den Hausaufgaben erst nach ein bis zwei zusätzlichen Erklärungen. Sie warte mit dem Beginn einer Aufgabe meist auf eine Aufforderung, obwohl sie sonst immer eine der Ersten gewesen sei, die etwas Neues ausprobieren wollte. Nur wenn sie mit ihren Freundinnen ohne Erwachsene draußen spiele, sei sie noch »ganz die Alte«.
Ann-Marie sei altersgemäß eingeschult worden, da sie im Kindergarten eine sehr gute Förderung erhalten habe und gerne dort hingegangen sei. Auch die Schule besuche sie mit großer Freude: »Sie ist sehr beliebt bei ihren Klassenkameraden«, so ihre Mutter. Die Lehrerin sehe keine Probleme, berichte im Gegenteil davon, dass Ann-Marie Arbeitsanweisungen schnell verstehe, bereitwillig an allem mitarbeite und meist eine Antwort habe, wenn sie etwas gefragt werde. Langeweile oder Unterforderung könne sie bei ihr nicht beobachten. Die Lehrerin könne sich allerdings vorstellen, dass sich Ann-Marie noch etwas mehr von sich aus aktiv am Unterricht beteiligt, sei aber über ihr »ruhiges und besonnenes Wesen sehr froh«.
→ 3: Katrin – Alles kein Problem
Katrin ist sechs Jahre alt und seit vier Monaten in der Schule. Seit dem vierten Lebensjahr kann sie lesen. Mittlerweile liest sie beim Zubettgehen ihren Eltern aus ihrem Lieblingsbuch vor. Sie spielt gerne mit gleichaltrigen und älteren Freunden sowie mit ihrem jüngeren Bruder. Sozial ist sie in verschiedenen Umgebungen durchweg gut integriert. Katrin sprach mit 24 Monaten gleich in kurzen Sätzen und mit nur wenigen Fehlern. Im Alter von fünf Jahren war sie für ein halbes Jahr in logopädischer Behandlung, weil sie lispelte. Auf eine frühere Einschulung, die vom Kinderarzt angeregt worden war (»Dieses Kind gehört in die Schule«) verzichteten ihre Eltern, da die Familie erst kurz vorher umgezogen war. Seit einem Dreivierteljahr spielt Katrin im örtlichen Verein regelmäßig Schach und kann auch mit Kindern, die zwei oder drei Jahre älter sind, gut mithalten. Zudem interessiert sie sich für Astronomie. Seitdem Katrin fünf ist, beschäftigt sie sich mit der Frage, was Menschen nach dem Tod erwartet, sowie mit Fragen nach Recht und Gerechtigkeit. Zuweilen sei sie dann sehr bedrückt, weil sie der Meinung sei, dass vieles auf der Welt sehr ungerecht zugehe. Wenn ihre Eltern diese Gefühle ihrer Tochter aufgreifen und mit ihr besprechen, kläre sich Katrins Stimmung schnell wieder auf: »Es ist sehr selten, dass sie mal einen ganzen Tag schlecht drauf ist«, so ihre Mutter.
Die Klassenlehrerin beschreibt Katrin als aufgeschlossene und freundliche Schülerin, die sich mit dem Lernen sehr leicht tue und in der Klasse gut integriert sei. Wenn sie mit den Aufgaben, die alle Kinder bearbeiten, fertig ist, darf sie in mitgebrachten Büchern lesen. Zuweilen setzt die Klassenlehrerin Katrin als »Hilfslehrerin« ein, was diese aber eher ungern macht, weil sie sich in solchen Situationen meistens »total blöd« vorkommt, so ihre Aussage. Nur, wenn es keiner mitbekommt, erklärt sie ihrer Tischnachbarin, die mit ihrer Familie erst vor einem Jahr nach Deutschland gezogen ist, geduldig die Aufgaben.
→ 4: Richard – Ein gelungener Neuanfang
Richard ist knapp fünf und besucht seinen neuen Kindergarten seit einem guten halben Jahr. In der Einrichtung, die er vorher besuchte, kam er nicht zurecht; die Situation eskalierte zum Ende hin immer mehr. Richard fiel es schwer, sich an die Regeln zu halten, »weil er sie nicht erkennen konnte«, so seine Mutter rückblickend. Die Erzieherinnen beschrieben ihn demgegenüber als ein Kind, »das permanent die Grenzen austeste«. Der eher großzügige Rahmen schien ihn zu überfordern, was sich in einer großen motorischen Unruhe und einer häufig gereizten Stimmung äußerte. Richards Eltern, Frau und Herr G., waren nach dieser Erfahrung sehr verunsichert. Einerseits war es ihnen immer wichtig, ihr Kind möglichst frei zu erziehen, andererseits sahen sie nach den vehementen Rückmeldungen auch die Notwendigkeit, ihr Erziehungskonzept zu überdenken. Nach einem weiteren Gespräch mit dem bisherigen Kindergarten, das beide Eltern als »sehr konstruktiv« erlebten, entschieden sie, nach einem anderen Kindergartenplatz zu suchen, den sie mit einer großen Portion Glück bereits nach vier Wochen fanden.
Nach der Eingewöhnung in den neuen Kindergarten hat sich die Situation deutlich entspannt, Nachdem er am Anfang wiederum sehr häufig Regeln und Grenzen austestete, ist Richard in seinem Verhalten viel ruhiger geworden. Seine Eltern waren sich in dieser Phase nicht sicher, ob die klaren Gruppenstrukturen etwas für ihren »freiheitsliebenden Sohn« seien. In der Wechselzeit war er nachts ein paarmal durch Albträume aufgewacht und nässte gelegentlich auch wieder ein, doch jetzt erleben die Eltern Richard ausgeglichen und fröhlich »wie schon lange nicht mehr«. Als hilfreich empfanden es beide, dass Herr G. in dieser Zeit an einem Vormittag in der Gruppe hospitieren durfte und seinen Sohn als gut gefördert und zufrieden erlebte (»Der hat ganz vergessen, dass ich da war«). Zusammen mit zwei anderen Kindern zeichnete Richard anderthalb Stunden lang an der Konstruktion einer »Gemüseschälmaschine«. Auch im sozialen Bereich hat sich die Situation deutlich entspannt: Richard hat mehrere neue Freunde gefunden und war im letzten halben Jahr zu fünf Kindergeburtstagen eingeladen.
→ 5: Svenja – Schwer ist leicht
Svenja besuchte bis vor zwei Monaten die zweite Klasse der Grundschule in ihrem Wohnviertel und fiel seit einem halben Jahr immer stärker dadurch auf, dass sie im Unterricht träumte und auch bei einfachen Aufgaben zunehmend Fehler machte. Selbst Fertigkeiten, die sie schon sicher beherrscht hatte, wie das Rechnen im Zahlenraum bis 100, gelangen ihr immer weniger. Parallel zu den Leistungsproblemen zeigte sich bei ihr ein wachsender Widerwille, in die Schule zu gehen, der sich an manchen Tagen in körperlichen Symptomen äußerte. Zugleich war sie selbst immer unsicherer in Bezug auf ihre eigene Leistungsfähigkeit.
Nach eingehenden Gesprächen zwischen dem aufgeschlossenen Lehrerkollegium, einer engagierten Schulpsychologin, den Eltern und Svenja wurde gemeinsam beschlossen, dass Svenja für zunächst zwei Wochen probeweise in der dritten Klasse hospitieren durfte. Nachdem der Start deutlich besser verlief als erwartet, wurde die Hospitation um weitere zwei Wochen verlängert, bis Svenja zum Halbjahreswechsel schließlich fest in die neue Klasse wechselte. Dabei wurde sie sowohl von ihrer neuen Klassenlehrerin als auch den Mitschülerinnen und Mitschülern einfühlsam unterstützt.
Insgesamt hat sich die Situation in der Schule und auch zu Hause seitdem deutlich entspannt. Svenja folgt dem Unterricht mittlerweile wieder viel aufmerksamer und hat wieder deutlich mehr Zutrauen in ihre Leistungsfähigkeit als vor dem Überspringen. Die bestehenden Wissenslücken konnte sie vergleichsweise schnell schließen, wobei es für sie zunächst ungewohnt war, Aufgaben ein zweites Mal durchlesen zu müssen, um sie lösen zu können. Manchmal vermisst sie ihre besten Freundinnen, die sie seit dem Kindergarten kennt.
→ 6: Christian – Warum müsst ihr bloß immer so laut schreien?
Christian ist fünf und besucht seit zwei Jahren die Spielgruppe einer Elterninitiative. Zwei der insgesamt vierzehn anderen Kinder kannte er schon vorab, mit den anderen kommt er zumeist gut zurecht. Schwierig sind für ihn die Tobephasen, in denen alle Kinder laut schreien und schnell rennen dürfen. Dann hält Christian sich meist die Ohren zu und stellt sich an den Rand, »damit ich nicht umgerannt werde«. Auch beim Vorlesen mancher Geschichten hat Christian mit seinen Gefühlen zu kämpfen, beispielsweise dann, wenn es um Abschied oder Verlust geht. Die beiden Erzieherinnen der Gruppe wissen um diese Besonderheit und achten darauf, dass sie ihm nach dem Hören der Geschichte Zeit und Raum geben, seine Gefühle und Gedanken auszusprechen, was ihm bei der Verarbeitung sehr hilft. Christian blüht auf, wenn er von den Besuchen im Deutschen Museum erzählen kann, die er am liebsten mit seinem Großvater unternimmt, der Physiker ist.
Auch wenn Christians Eltern mit der Situation in der Elterninitiative sehr zufrieden sind, machen sie sich manchmal Sorgen, wie es ihrem Sohn in der Schule ergehen wird. Von verschiedenen Seiten werden sie immer wieder angesprochen, warum sie Christian nicht bereits jetzt einschulen: Dies lehnen sie mit Blick auf seine emotionale Entwicklung für sich sehr eindeutig ab, auch wenn sie vom Wissensdurst und der Kombinationsfähigkeit ihres Sohnes immer wieder beeindruckt sind.
→ 7: Maximilian – Wenn ich wollte, wie ich könnte, könnte ich zeigen, was ich kann!
»… Muss ich aber nicht«, fügt der Zwölfjährige dann oft noch an und schaut neugierig und etwas herausfordernd, wie sein Gegenüber reagiert. Maximilian besucht die sechste Klasse eines Gymnasiums, ist vielseitig interessiert und aufgeschlossen. Zudem kann er viele Leute durch seine charmante und wortgewandte Art spontan für sich gewinnen. Maximilians Problem besteht jedoch darin, dass er akut versetzungsgefährdet ist, nachdem er die fünfte Klasse (»mit etwas Wohlwollen meiner Lehrer,…«, wie er freimütig zugibt) gerade noch geschafft hat (»… der Fünfer in Englisch wurde zu einer Vier minus auf Bewährung«). Maximilians Leistungen wurden im neuen Schuljahr jedoch nicht besser, sondern schlechter.
Maximilian konnte bereits lesen und schreiben, als er eingeschult wurde. In der ersten Klasse war er oft so gelangweilt, dass er ganze Schulstunden aus dem Fenster schaute. Seine Lehrerinnen wiesen ihn selten zurecht, da sie seinen Wissensvorsprung erkannt hatten. Eine Möglichkeit, Maximilian innerhalb des Unterrichts andere Angebote zu machen, sahen die Lehrkräfte damals nicht: »Die Klassen sind dafür zu groß, und der Leistungsstand der einzelnen Kinder ist zu unterschiedlich«.
Das Angebot des Überspringens durch die Schule lehnten Maximilians Eltern ab, weil sie die Befürchtung hatten, dass ihr Sohn dadurch später Leistungsprobleme haben würde (»Heute machen wir uns deswegen Vorwürfe«, so Maximilians Vater).
Während der Grundschulzeit erzielte Maximilian tatsächlich durchgehend gute bis sehr gute Leistungen, ohne dafür mehr als ein Minimum tun zu müssen. Mit dem Beginn der fünften Klasse änderte sich dies abrupt, als er plötzlich regelmäßig Vokabeln und andere Inhalte lernen sollte und keine Idee hatte, wie er das bewerkstelligen sollte. Auf viele Lehrer und Mitschüler wirkt sein Verhalten oft arrogant (»Er hat den Text nur oberflächlich gelesen, will mit mir aber über falsche Grundannahmen des Autors diskutieren«). Nur wenigen guten Freunden zeigt Maximilian die Verzweiflung, die in ihm aufkommt, wenn er sich vorstellt, dass er das Schuljahr tatsächlich wiederholen muss.
Nach dem Lesen der sieben Fallbeschreibungen stellt sich Ihnen vielleicht die Frage, welches der beschriebenen Kinder hochbegabt ist. Bevor wir diese Frage beantworten, wollen wir nachfolgend in einem Überblick klären, was wissenschaftlich unter Hochbegabung verstanden wird.
Hochbegabung: Worum geht es?
Begabung bezeichnet allgemein das leistungsbezogene Potenzial eines Menschen. Damit bezieht sich dieser Begriff auf Potenziale oder Entwicklungsmöglichkeiten und ist daher nicht mit Leistung gleichzusetzen. Das leistungsbezogene Potenzial eines Menschen kann sich unter günstigen Umweltbedingungen zu außergewöhnlicher Leistung entwickeln. Entsprechend stellt Hochbegabung ein extrem hoch ausgeprägtes Entwicklungspotenzial dar. Ein solches Potenzial kann nun in ganz unterschiedlichen Bereichen liegen wie zum Beispiel dem intellektuell-akademischen, künstlerisch-musischen, sozialen oder dem sportlichen Bereich. Es gibt also unterschiedliche Arten von Begabung beziehungsweise Hochbegabung.
Es gibt unterschiedliche Arten von Begabung beziehungsweise Hochbegabung.
Das vorliegende Buch konzentriert sich auf den Bereich der intellektuellen Hochbegabung. Eine allgemein verbindliche Definition hierzu gibt es nicht. Das liegt unter anderem daran, dass intellektuelle Hochbegabung ein Konstrukt ist, also ein theoretisches Erklärungsmodell für beobachtbare Verhaltensweisen (beispielsweise einen sehr kompetenten Umgang mit Sprache), deren Grundlagen (z. B. die Fähigkeit, Informationen schnell zu verarbeiten) wir nur indirekt erschließen können.