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Titelseite

Für meine Eltern

Teil 1

DER FALL

1. Kapitel

Gregor hatte die Stirn so lange gegen das Fliegengitter gedrückt, dass er das Muster der winzigen Quadrate über den Augenbrauen spürte. Er strich mit den Fingern über die Unebenheiten und widerstand der Versuchung, den Höhlenmenschenschrei auszustoßen, der sich in seiner Brust angestaut hatte. Es war ein langes gutturales Heulen, das für echte Notfälle reserviert war – wenn man zum Beispiel ohne Keule einem Säbelzahntiger in die Arme lief oder wenn einem mitten in der Eiszeit das Feuer ausging. Gregor machte den Mund auf und atmete tief ein, aber dann schlug er wieder nur mit dem Kopf gegen das Fliegengitter und ließ leise einen Frustlaut heraus. »Umpf.«

Schreien würde ja sowieso nichts ändern. Rein gar nichts. Nichts an der Hitze, nichts an der Langeweile, nichts an dem endlosen Sommer, der vor ihm lag.

Er überlegte, ob er seine zweijährige Schwester Boots wecken sollte, nur um ein bisschen Ablenkung zu haben, aber er ließ sie schlafen. Sie hatte es wenigstens kühl in dem klimatisierten Schlafzimmer, das sie sich mit ihrer siebenjährigen Schwester Lizzie und der Großmutter teilte. Es war der einzige klimatisierte Raum in der Wohnung. In den ganz heißen Nächten legten sich Gregor und seine Mutter manchmal mit Steppdecken auf den Fußboden dazu, aber mit fünf Leuten in einem Zimmer war es nicht kühl, höchstens lauwarm.

Gregor nahm einen Eiswürfel aus dem Gefrierschrank und rieb sich damit übers Gesicht. Er starrte hinaus auf den Hof, wo ein streunender Hund an einer überquellenden Mülltonne schnüffelte. Der Hund stellte sich mit den Vorderpfoten auf den Rand der Mülltonne und warf sie um. Der Inhalt ergoss sich quer über den Gehweg. Gregor sah ein paar Schatten über die Wand huschen und verzog das Gesicht. Ratten. An die hatte er sich immer noch nicht richtig gewöhnt.

Ansonsten war der Hof verlassen. Normalerweise waren da lauter Kinder, die Ball spielten, Seil hüpften oder in den quietschenden Klettergerüsten hingen. Aber heute Morgen war der Bus zum Ferienlager abgefahren und hatte alle Kinder zwischen vier und vierzehn mitgenommen. Alle bis auf eins.

»Tut mir Leid, Schatz, du kannst nicht mit«, hatte seine Mutter ihm vor ein paar Wochen gesagt. Und er hatte ihr angesehen, dass es ihr wirklich Leid tat. »Einer muss auf Boots aufpassen, wenn ich arbeite, und du weißt ja, dass deine Großmutter das nicht mehr schafft.«

Natürlich wusste er das. Seit einem Jahr passierte es immer mal wieder, dass seine Großmutter aus der Wirklichkeit rutschte. Im einen Moment war sie glasklar und im nächsten Moment nannte sie ihn plötzlich Simon. Wer war Simon? Er hatte keine Ahnung.

Vor ein paar Jahren wäre alles anders gewesen. Damals hatte seine Mutter nur Teilzeit gearbeitet, und sein Vater, der an der Highschool Naturwissenschaften unterrichtete, hatte im Sommer frei. Er hätte sich um Boots gekümmert. Doch seit sein Vater eines Nachts verschwunden war, hatte sich Gregors Rolle in der Familie verändert. Er war der Älteste, also blieb vieles an ihm hängen – nicht zuletzt, sich um die beiden kleinen Schwestern zu kümmern.

Also hatte Gregor nur gesagt: »Ist schon gut, Mom. Ferienlager ist sowieso was für Babys.« Er zuckte die Schultern, um zu zeigen, dass er mit seinen elf Jahren über so etwas wie ein Ferienlager hinaus war. Aber da hatte seine Mutter nur noch trauriger ausgesehen.

»Soll Lizzie auch dableiben? Damit du ein bisschen Gesellschaft hast?«, fragte sie.

Lizzie sah entsetzt aus, als sie das hörte. Hätte Gregor das Angebot angenommen, wäre sie wahrscheinlich in Tränen ausgebrochen. »Nee, sie kann ruhig fahren. Ich komme mit Boots schon klar.«

Da stand er jetzt also. Und kam überhaupt nicht klar. Kam nicht klar damit, dass er den ganzen Sommer mit einer Zweijährigen und seiner Großmutter eingesperrt war, die dachte, er sei jemand namens …

»Simon!«, rief seine Großmutter aus dem Schlafzimmer. Gregor schüttelte den Kopf, ein wenig lächeln musste er trotzdem.

»Ich komme, Oma!«, rief er und zerknirschte den restlichen Eiswürfel mit den Zähnen.

Das Zimmer war von einem goldenen Leuchten erfüllt, als die Nachmittagssonne versuchte sich durch die Jalousien zu zwängen. Seine Großmutter lag auf dem Bett unter einer Patchworkdecke aus dünner Baumwolle. Alle Flicken der Decke stammten von Kleidern, die sie sich im Laufe der Jahre geschneidert hatte. In ihren lichteren Momenten erzählte sie Gregor von der Decke. »Diesen Tüpfelmusselin habe ich mit elf zur Abschlussfeier meiner Cousine Lucy getragen, das zitronengelbe Stück war ein Sonntagskleid, und das Weiße ist ein Stück von meinem Brautkleid, so wahr ich hier liege.«

Jetzt war allerdings keiner ihrer lichteren Momente. »Simon«, sagte sie, und als sie ihn sah, spiegelte sich Erleichterung auf ihrem Gesicht. »Ich dachte schon, du hättest deinen Henkelmann vergessen. Pflügen macht hungrig.«

Seine Großmutter war auf einer Farm in Virginia aufgewachsen und nach New York gekommen, als sie seinen Großvater geheiratet hatte. Sie war hier nie richtig heimisch geworden. Manchmal war Gregor insgeheim froh darüber, dass sie in Gedanken zu ihrer Farm zurückkehren konnte. Und ein bisschen neidisch. Es war kein Spaß, die ganze Zeit in der Wohnung rumzuhängen. Um diese Zeit kam der Bus wahrscheinlich am Ferienlager an, und die anderen würden …

»Ge-go!«, jammerte ein Stimmchen. Ein Lockenkopf guckte aus dem Kinderbett heraus. »Ich raus!« Boots nahm das durchweichte Schwanzende eines Plüschhundes in den Mund und streckte beide Arme nach Gregor aus. Gregor hob seine Schwester hoch in die Luft und prustete laut auf ihren Bauch. Sie kicherte und der Hut fiel herunter. Gregor setzte sie ab, um ihn wieder aufzuheben.

»Vergiss deinen Hut nicht!«, sagte Oma, die immer noch irgendwo in Virginia war.

Gregor nahm ihre Hand, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Möchtest du was Kaltes trinken, Oma? Wie wär’s mit einer Cola?«

Sie lachte. »Cola? Hab ich etwa Geburtstag?«

Was sollte man darauf antworten?

Gregor drückte ihre Hand und hob Boots hoch. »Bin gleich wieder da«, sagte er laut.

Seine Großmutter lachte immer noch in sich hinein. »Eine Cola!«, sagte sie und wischte sich die Augen.

In der Küche goss Gregor eiskalte Cola in ein Glas und machte Boots ein Milchfläschchen.

»Kat«, sagte sie strahlend und drückte das Fläschchen ans Gesicht.

»Ja, schön kalt, Boots«, sagte Gregor.

Ein Klopfen an der Tür ließ ihn zusammenfahren. Der Spion funktionierte schon seit gut vierzig Jahren nicht mehr. »Wer ist da?«, rief er durch die Tür.

»Ich bin’s, Mrs Cormaci, Schatz. Ich hab deiner Mutter versprochen, ab vier auf deine Oma aufzupassen!«

Da fiel Gregor der Wäscheberg ein, um den er sich kümmern sollte. Immerhin würde er dadurch mal rauskommen.

Als er die Tür öffnete, sah er eine Mrs Cormaci, die von der Hitze völlig erschöpft war. »Hallo! Ist es nicht grauenhaft? Ich kann diese Hitze einfach nicht ausstehen!« Sie eilte in die Wohnung und tupfte sich das Gesicht mit einem alten Taschentuch ab. »Oh, du bist ein Schatz, ist die für mich?«, sagte sie, und ehe er etwas erwidern konnte, hatte sie die Cola schon hinuntergestürzt wie ein Verdurstender in der Wüste.

»Klar«, murmelte Gregor und ging in die Küche, um ein neues Glas einzugießen. Er hatte eigentlich nichts gegen Mrs Cormaci, und heute war er sogar fast erleichtert, sie zu sehen.

Na super, der erste Tag und ich freue mich schon auf einen Ausflug in den Wäschekeller, dachte Gregor. Im September führe ich wahrscheinlich einen Freudentanz auf, wenn die Telefonrechnung kommt.

Mrs Cormaci hielt ihm das Glas hin, damit er ihr Cola nachschenken konnte. »Und wann darf ich dir die Tarotkarten legen, junger Mann?«, fragte sie. »Du weißt ja, dass ich die Gabe habe.« Mrs Cormaci klebte Zettel an Briefkästen mit dem Angebot, für zehn Dollar pro Sitzung Tarotkarten zu legen. »Für dich ist es umsonst«, sagte sie Gregor jedes Mal. Er hatte das Angebot noch nie angenommen, weil er befürchtete, dass Mrs Cormaci ihm am Ende viel mehr Fragen stellen würde als er ihr. Fragen, die er nicht beantworten konnte. Fragen über seinen Vater.

Er murmelte etwas von der Wäsche und flitzte davon, um sie zu holen. Wie er Mrs Cormaci kannte, hatte sie schon einen Satz Tarotkarten in der Tasche.

Im Wäschekeller sortierte Gregor die Wäsche, so gut er konnte, nach Farben. Weiße Wäsche, dunkle Wäsche, Buntwäsche … Was sollte er mit Boots’ schwarzweiß gestreiften Shorts machen? Er warf sie in die dunkle Wäsche und hatte das sichere Gefühl, die falsche Entscheidung getroffen zu haben. Die meisten Sachen waren sowieso irgendwie gräulich – nicht weil er sie falsch gewaschen hatte, sondern weil sie so alt waren. Gregors Shorts waren allesamt an den Knien abgeschnittene Winterhosen, und nur ein paar der T-Shirts vom letzten Jahr passten noch. Aber wenn er sowieso den ganzen Sommer in der Wohnung hocken musste, war das auch egal.

»Ball!«, rief Boots verzweifelt. »Ball!«

Gregor langte zwischen die Trockner und holte den alten Tennisball hervor, mit dem Boots gespielt hatte. Er zupfte die Fusseln vom Ball und warf ihn quer durch den Raum. Wie ein Hündchen rannte Boots hinterher.

Wie sie aussieht, dachte Gregor mit einem leisen Lachen. Wie ein kleines Ferkel! Auf Boots’ Gesicht und ihrem T-Shirt waren immer noch die Spuren vom Mittagessen zu erkennen, Eiersalat und Schokoladenpudding. Die Hände hatte sie mit wasserfestem lila Filzstift angemalt, den man höchstens mit einem Sandstrahler abbekommen würde, und die Windel hing ihr bis auf die Kniekehlen herab. Es war einfach zu heiß, um ihr Shorts anzuziehen.

Boots kam mit dem Ball wieder zu ihm gelaufen, die lockigen Haare voller Fusseln. Ihr verschwitztes Gesicht strahlte, als sie ihm den Ball hinhielt. »Worüber freust du dich denn so, Boots?«, fragte er.

»Ball!«, sagte sie, und dann stieß sie mit dem Kopf gegen seine Knie, um ihn anzutreiben. Gregor warf den Ball in den Gang zwischen den Waschmaschinen und den Trocknern. Boots rannte hinterher.

Während sie weiterspielten, überlegte Gregor, wann er zuletzt so glücklich gewesen war wie Boots jetzt mit ihrem Ball. Nicht alles in den letzten Jahren war schlecht gewesen. Die Schulband hatte einen Auftritt in der Carnegie Hall gehabt. Das war ziemlich cool. Er hatte sogar ein kleines Solo auf dem Saxophon gespielt. Wenn er Musik machte, war alles besser; die Töne schienen ihn in eine andere Welt zu entführen.

Laufen war auch gut. Den Körper immer weiter anzufeuern, bis alle Gedanken aus dem Kopf gehämmert waren.

Aber wenn er ganz ehrlich war, wusste Gregor, dass er seit Jahren nicht mehr richtig glücklich gewesen war. Seit genau zwei Jahren, sieben Monaten und dreizehn Tagen, dachte er. Er versuchte nicht zu zählen, aber die Zahlen addierten sich ganz von selbst in seinem Kopf. Er hatte einen eingebauten Rechner, der immer genau wusste, wie lange sein Vater schon weg war.

Boots konnte glücklich sein. Als es passierte, war sie noch nicht mal auf der Welt. Lizzie war gerade vier. Aber Gregor war acht und hatte alles mitbekommen, zum Beispiel die verzweifelten Anrufe bei der Polizei, die beinahe gelangweilt zur Kenntnis genommen hatte, dass sein Vater sich in Luft aufgelöst hatte. Sie dachten natürlich, er wäre abgehauen. Sie hatten sogar angedeutet, dass eine andere Frau im Spiel sein könnte.

Das stimmte einfach nicht. Eins wusste Gregor ganz genau: dass sein Vater seine Mutter, ihn und Lizzie lieb hatte und dass er Boots lieb gehabt hätte.

Aber wieso war er dann ohne ein Wort gegangen?

Gregor konnte nicht glauben, dass sein Vater die Familie verlassen hatte, ohne zurückzuschauen. »Kapier es endlich«, flüsterte er sich zu. »Er ist tot.« Eine Welle von Schmerz überspülte ihn. Es stimmte nicht. Es konnte nicht wahr sein. Sein Vater würde wiederkommen, weil … weil … weil was? Weil Gregor es sich so sehr wünschte, dass es wahr werden musste? Weil sie ihn brauchten? Nein, dachte Gregor. Ich spüre es einfach. Ich weiß, dass er wiederkommt.

Die Waschmaschine schleuderte zu Ende, und Gregor verteilte die Wäsche auf mehrere Trockner. »Und wenn er zurückkommt, dann soll er mal zusehen, dass er eine gute Erklärung für sein Verschwinden hat!«, murmelte Gregor und knallte die Tür eines Trockners zu. »Zum Beispiel, dass er einen Schlag auf den Kopf gekriegt und vergessen hat, wer er ist. Oder dass er von Außerirdischen entführt worden ist.« Im Fernsehen wurden viele Leute von Außerirdischen entführt. Vielleicht gab es das wirklich.

Er spielte die verschiedenen Möglichkeiten oft in Gedanken durch, aber zu Hause sprachen sie kaum über seinen Vater. Die Nachbarn dachten, er hätte sich einfach aus dem Staub gemacht. Die Erwachsenen erwähnten ihn nie und die meisten Kinder auch nicht – praktisch jeder Zweite lebte sowieso nur mit einem Elternteil zusammen. Fremde fragten dann doch manchmal. Nachdem Gregor ein Jahr lang versucht hatte, es zu erklären, erzählte er jetzt, seine Eltern seien geschieden und sein Vater lebe in Kalifornien. Das war gelogen, aber die Leute glaubten es, während die Wahrheit niemand zu glauben schien – was auch immer die Wahrheit sein mochte.

»Und wenn er wieder zu Hause ist, gehe ich mit ihm …«, sagte Gregor laut und unterbrach sich dann selbst. Beinahe hätte er gegen die Regel verstoßen. Die Regel besagte, dass er keine Pläne für die Zeit schmieden durfte, wenn sein Vater wieder da wäre. Und da sein Vater jeden Moment wiederkommen konnte, hatte Gregor sich alle Gedanken an die Zukunft verboten. Wenn er sich konkrete Ereignisse vorstellen würde, zum Beispiel dass sein Vater Weihnachten wieder da wäre oder dass er helfen würde, das Laufteam zu trainieren, dann würden diese Ereignisse nie eintreten – das sagte ihm eine innere Stimme. Außerdem würden ihn solche Tagträume zwar sehr glücklich machen, aber umso schmerzlicher wäre es dann, auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren. Das war also die Regel. Gregor musste mit den Gedanken in der Gegenwart bleiben und die Zukunft Zukunft sein lassen. Ihm war klar, dass das nicht gerade ein großartiges Prinzip war, aber so ließen sich die Tage immer noch am besten überstehen.

Gregor fiel auf, dass Boots schon seit einer Weile verdächtig ruhig war. Er schaute sich um und erschrak, als er sie nicht sofort entdeckte. Dann sah er eine abgewetzte lila Sandale hinter dem letzten Trockner hervorragen. »Boots! Komm da raus!«, rief Gregor.

Wenn elektrische Geräte in der Nähe waren, musste man sie im Auge behalten. Sie liebte Steckdosen.

Als er durch den Wäscheraum lief, hörte er ein metallisches Dröhnen und dann ein Kichern von Boots. Na super, jetzt zerlegt sie den Trockner, dachte Gregor und lief noch schneller. Als er an der Wand angelangt war, bot sich ihm ein merkwürdiger Anblick.

In der Wand war ein Metallgitter, hinter dem ein alter Luftschacht lag. Jetzt stand das Gitter, das oben mit zwei rostigen Scharnieren befestigt war, sperrangelweit offen. Boots schielte in die etwa sechzig mal sechzig Zentimeter große Öffnung. Von dort, wo Gregor stand, war nur ein schwarzes Loch zu sehen. Dann ein Wölkchen … was war das? Dampf? Rauch? Weder noch, wie es schien. Ein eigenartiger Dunst kam aus dem Loch und kringelte sich um Boots. Neugierig streckte sie die Arme aus und beugte sich vor.

»Nein!«, rief Gregor und versuchte sie zu packen, aber Boots’ winziger Körper wurde förmlich in den Luftschacht gesogen. Ohne nachzudenken zwängte Gregor sich mit Kopf und Schultern durch das Loch. Das Metallgitter schlug ihm in den Rücken. Und dann fiel er tiefer, tiefer und immer tiefer in eine dunkle Leere hinein.

2. Kapitel

Während Gregor durch die Luft sauste, versuchte er sich so zu drehen, dass er beim Aufprall auf dem Kellerfußboden nicht auf Boots landen würde. Aber es kam kein Aufprall. Da fiel ihm ein, dass der Wäscheraum ja im Keller lag. Wo waren sie dann hineingefallen?

Die Dunstwölkchen hatten sich zu einem Nebel verdichtet, der das Licht fahl erscheinen ließ. Gregor konnte in alle Richtungen nur ein paar Meter weit sehen. Er fasste mit den Fingern verzweifelt durch den weißen Nebel, doch er fand keinen Halt. Er stürzte so schnell in die Tiefe, dass seine Kleider sich blähten.

»Boots!«, schrie er, und seine Stimme gab ein unheimliches Echo. Das Ding muss Wände haben, dachte er. Wieder rief er: »Boots!«

Irgendwo unter sich hörte er ein fröhliches Kichern. »Ge-go wuuusch!«, rief Boots.

Sie denkt, sie wär auf einer riesigen Rutsche oder so, dachte Gregor. Wenigstens hat sie keine Angst. Dafür hatte er Angst genug für zwei. Dieses komische Loch, in das sie gefallen waren, musste einen Boden haben. Es gab nur eine Möglichkeit, wie diese Wirbelfahrt durch den leeren Raum enden konnte.

Er fiel und fiel. Gregor wusste nicht genau, wie lange, aber auf jeden Fall so lange, dass es eigentlich nicht sein konnte. Es gab doch eine Grenze für die mögliche Tiefe eines Lochs. Irgendwann musste man im Wasser landen oder auf einem Felsen oder auf den Erdplatten oder so.

Es war wie der Albtraum, den er manchmal hatte. In dem Traum war er immer hoch oben, irgendwo, wo er nicht sein sollte, zum Beispiel auf dem Dach seiner Schule. Er ging am Rand entlang, und plötzlich gab der feste Boden unter seinen Füßen nach und er segelte nach unten. Alles löste sich auf, nur das Gefühl des Fallens blieb, der näher kommende Boden, der Schrecken. Genau im Moment des Aufpralls wachte er jedes Mal schweißgebadet und mit wildem Herzklopfen auf.

Es ist ein Traum! Ich bin im Wäschekeller eingeschlafen, und das ist der verrückte Traum, den ich immer habe!, dachte Gregor. Natürlich! Was soll es sonst sein?

Das Bewusstsein, dass er nur schlief, beruhigte ihn, und er begann die Zeit zu messen. Eine Armbanduhr hatte er nicht, aber Sekunden zählen konnte jedes Kind.

»Einundzwanzig … zweiundzwanzig … dreiundzwanzig …« Bei einundneunzig gab er auf und bekam allmählich wieder Panik. Selbst in einem Traum musste man irgendwann landen, oder?

In diesem Moment bemerkte Gregor, dass sich der Nebel ein wenig lichtete. Er konnte eine glatte runde Wand erkennen. Offenbar fiel er durch ein riesiges dunkles Rohr. Von unten her spürte er einen Wind aufsteigen. Die letzten Dunstwolken verzogen sich und Gregor fiel langsamer. Seine Kleider legten sich wieder an seinen Körper.

Unter sich hörte er einen leisen Schlag und dann das Trippeln von Boots’ Sandalen. Kurz darauf hatte er selbst wieder festen Boden unter den Füßen. Er versuchte sich zu orientieren, wagte sich jedoch nicht zu bewegen. Völlige Finsternis umgab ihn. Während seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, bemerkte er einen schwachen Lichtstrahl zu seiner Linken.

Dahinter ertönte ein fröhliches Kieksen. »Käfer! Goßer Käfer!«

Gregor lief auf das Licht zu, das durch einen schmalen Spalt zwischen zwei glatten Felswänden drang. Er schaffte es so gerade, sich durch die Öffnung zu quetschen, stieß dann mit dem Turnschuh gegen etwas und verlor das Gleichgewicht. Er stolperte zwischen den Felswänden hervor und landete auf Händen und Knien.

Als Gregor den Kopf hob, schaute er in das Gesicht des größten Kakerlaks, den er je gesehen hatte.

In ihrem Wohnblock gab es einige beeindruckende Exemplare. Mrs Cormaci behauptete, aus ihrem Badewannenabfluss sei einmal ein Vieh so groß wie ihre Hand gekrochen, und das hatte auch niemand bezweifelt. Aber das Krabbeltier, dem Gregor jetzt gegenüberstand, ragte mindestens einen Meter zwanzig in die Höhe. Zugegeben, es saß aufrecht auf den Hinterbeinen, eine für einen Kakerlak sehr unnatürliche Haltung, aber trotzdem …

»Goßer Käfer!«, rief Boots wieder, und Gregor schaffte es, den Mund zuzuklappen. Er setzte sich auf, aber er musste immer noch den Kopf heben, um den Kakerlak zu sehen, der so etwas wie eine Fackel in der Hand hielt. Boots trippelte zu Gregor herüber und zupfte am Ausschnitt seines T-Shirts. »Gooooßer Käfer!«, sagte sie wieder.

»Ja, das sehe ich auch, Boots. Ein großer Käfer!«, sagte Gregor gedämpft und nahm sie fest in die Arme. »Ein … sehr … großer … Käfer.«

Er überlegte fieberhaft, was Kakerlaken fraßen. Müll, verdorbenes Essen … Menschen? Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie Menschen fraßen. Jedenfalls nicht die kleinen. Vielleicht würden sie gern Menschen fressen, wenn man sie nicht vorher tottrampeln würde. Wie dem auch sei, jetzt war nicht der richtige Moment, um es herauszufinden.

Vorsichtig schlich Gregor zurück zu der Felsspalte und versuchte dabei, möglichst lässig zu wirken. »Also dann, Herr Kakerlak, wir müssen weiter, tut mir Leid, wenn wir Sie gekäfert, ich meine geärgert haben, ich meine …«

»Riecht was so gut, riecht was?«, zischelte eine Stimme, und es dauerte bestimmt eine Minute, bis Gregor begriff, dass es die Stimme des Kakerlaks war. Er war zu verdattert, um den Sinn der merkwürdigen Worte zu erfassen.

»Öh … wie bitte?«, brachte er hervor.

»Riecht was so gut, riecht was?«, zischelte die Stimme wieder. Es klang nicht drohend, eher neugierig und ein wenig aufgeregt. »Ist kleines Mensch, ist?«

Na gut, wir haben es hier mit einem Riesenkakerlak zu tun, dachte Gregor. Bleib schön ruhig und freundlich und antworte ihm. Er will wissen »Riecht was so gut, riecht was?«. Also, sag’s ihm. Gregor zwang sich, einmal tief durch die Nase zu atmen. Er bereute es sofort. Es gab nur eins, was so roch.

»Ich Kacka!«, rief Boots, als hätte sie nur auf ihren Einsatz gewartet. »Ich Kacka, Ge-go!«

»Meine Schwester braucht eine frische Windel«, sagte Gregor, dem die Sache etwas peinlich war.

Wenn Gregor den Kakerlak richtig verstand, zeigte er sich beeindruckt. »Ahhh. Näher kommen können wir, näher kommen?«, fragte er und scharrte sacht mit einem Vorderbein.

»Wir?«, sagte Gregor. Dann sah er die anderen Gestalten, die sich um sie herum aus der Dunkelheit erhoben. Die glatten schwarzen Hügel, die er für Felsen gehalten hatte, waren in Wirklichkeit die Hinterteile von rund einem Dutzend Kakerlaken. Begierig scharten sie sich um Boots, streckten ihre Fühler aus und bebten verzückt.

Boots, die für ihr Leben gern Komplimente bekam, merkte sofort, dass sie bewundert wurde. Sie streckte ihre speckigen Ärmchen zu den Rieseninsekten aus. »Ich Kacka«, sagte sie huldvoll, und die Kakerlaken zischelten beifällig.

»Ist sie Prinzessin, Überländer, ist sie? Ist sie Königin, ist sie?«, fragte der Anführer und senkte unterwürfig den Kopf.

»Boots? Königin?«, fragte Gregor. Auf einmal musste er lachen.

Das Geräusch schien die Kakerlaken zu verwirren, und sie wichen steif zurück. »Lacht warum, Überländer, lacht warum?«, zischelte einer, und Gregor begriff, dass er sie beleidigt hatte.

»Weil wir, na ja, wir sind arm und sie ist ziemlich verdreckt und … warum nennt ihr mich Überländer?«, fragte er schließlich lahm.

»Bist du nicht Überländermensch, bist du? Nicht Unterländer du«, sagte der Kakerlak mit der Fackel, während er ihn scharf ansah. »Siehst sehr so aus, aber riechst nicht so.«

Jetzt schien dem Anführer etwas zu dämmern. »Ratte schlecht.« Er drehte sich zu seinen Kameraden um. »Lassen wir Überländer hier, lassen wir?« Die Kakerlaken scharten sich zusammen, um zu beratschlagen. Alle redeten durcheinander.

Gregor schnappte ein paar Gesprächsfetzen auf, aus denen er jedoch nicht schlau wurde. Die Kakerlaken waren so in die Diskussion vertieft, dass er wieder an Flucht dachte. Er schaute sich um. Im schwachen Schein der Fackel sah es so aus, als befänden sie sich in einem langen, niedrigen Tunnel. Wir müssen wieder rauf, dachte Gregor, nicht links oder rechts lang. Niemals würde er mit Boots auf dem Arm die Wände des Lochs hochklettern können, durch das er gefallen war.

Die Kakerlaken waren sich einig. »Kommt ihr, Überländer. Bringen zu Menschen«, sagte der Anführer.

»Menschen?«, sagte Gregor erleichtert. »Hier unten gibt’s andere Menschen?«

»Reitest du, reitest du? Rennst du, rennst du?«, fragte der Kakerlak, und Gregor begriff, dass das ein Angebot war, ihn mitzunehmen. Der Kakerlak sah nicht kräftig genug aus, um ihn zu tragen, aber Gregor wusste, dass manche Insekten, zum Beispiel Ameisen, das Vielfache ihres eigenen Gewichts tragen konnten. Trotzdem hatte er die ekelhafte Vorstellung, den Kakerlak beim Versuch, sich auf ihn zu setzen, zu zerquetschen.

»Ich glaub, ich gehe – ich meine, ich renne«, sagte Gregor.

»Reitet Prinzessin, reitet sie?«, fragte der Kakerlak hoffnungsvoll, wackelte schmeichlerisch mit den Fühlern und legte sich vor Boots flach auf den Bauch. Gregor wollte nein sagen, doch da kletterte Boots schon auf den Rücken des Kakerlaks. Das hätte Gregor sich denken können. Im Zoo im Central Park saß sie wahnsinnig gern auf den Riesenschildkröten aus Metall.

»Na gut, aber nur, wenn ich sie an der Hand halte«, sagte Gregor, und Boots fasste gehorsam seinen Finger.

Der Kakerlak lief sofort los, und Gregor musste joggen, um mit ihm Schritt zu halten. Er wusste, dass Kakerlaken schnell waren; er hatte sie oft genug weglaufen sehen, wenn seine Mutter nach ihnen schlug. Diese Riesenkakerlaken waren kein bisschen langsamer als die kleinen. Zum Glück war der Boden des Tunnels eben, und Gregor hatte bis vor ein paar Wochen regelmäßig trainiert. Er passte seinen Schritt dem der Kakerlaken an und fand schon bald einen angenehmen Rhythmus.

Der Tunnel war voller Kurven und Windungen. Die Kakerlaken bogen in Seitengänge ein, und hin und wieder machten sie kehrt, um die Route zu ändern. Gregor hatte im Nu die Orientierung verloren, und die Zeichnung, die er im Geist von dem Weg machte, den sie bisher zurückgelegt hatten, erinnerte an eins von Boots’ Kritzelbildern. Er gab es auf, sich den Weg merken zu wollen, und konzentrierte sich darauf, mit den Insekten Schritt zu halten. Mann, dachte er, die Viecher haben echt ein Tempo drauf!

Gregor fing an zu keuchen, während die Kakerlaken keinerlei Anzeichen von Erschöpfung erkennen ließen. Er hatte keine Ahnung, wie weit es noch war. Ihr Ziel konnte hundert Kilometer entfernt sein. Wer wusste, wie lange diese Viecher laufen konnten?

Gerade als Gregor ihnen sagen wollte, dass er mal verschnaufen musste, hörte er ein vertrautes Gebrüll. Erst dachte er, er hätte sich verhört, aber als sie näher kamen, war er sich sicher. Es war eine Menschenmenge, dem Lärm nach zu urteilen sogar eine ziemlich große. Aber wo sollte man in diesen Tunnels eine Menschenmenge unterbringen?

Es ging jetzt steil nach unten, und Gregor musste abbremsen, um dem Anführer nicht auf die Füße zu treten. Etwas Weiches, Fedriges streifte sein Gesicht und seine Arme. Stoff? Flügel? Er ging hindurch, und dann war es plötzlich so hell, dass es ihn fast blendete. Instinktiv hielt er sich eine Hand vor die Augen, bis er sich an das Licht gewöhnt hatte.

Er hörte, wie eine Menschenmenge den Atem anhielt. Er hatte sich also nicht getäuscht. Dann wurde es ungewöhnlich still, und er hatte das Gefühl, von vielen Leuten angestarrt zu werden.

Allmählich nahm Gregor die Umgebung wahr. So furchtbar hell war es gar nicht – in Wirklichkeit war es wie Abendlicht –, aber nach der langen Zeit in völliger Dunkelheit kam es ihm so vor. Als Erstes sah er den Boden, der mit dunkelgrünem Moos bedeckt zu sein schien. Allerdings war er nicht uneben wie Moos, sondern glatt wie Asphalt. Gregor spürte, wie der Boden unter seinen Füßen nachgab. Es ist ein Spielfeld, dachte er. Deshalb ist hier eine Menschenmenge. Ich bin in einem Stadion.

Langsam konnte er mehr erkennen. Eine glänzende Wand umschloss eine große ovale, etwa fünfzehn Meter hohe Höhle. Ganz oben war das Oval von Zuschauertribünen umgeben. Gregors Blick schweifte über die fernen Ränge mit Zuschauern, als er die Decke suchte. Statt der Decke sah er die Sportler.

Dort oben kreiste ein Dutzend Fledermäuse langsam um die Arena. Ihre Farben reichten von Hellgelb bis Schwarz. Gregor schätzte, dass die kleinste eine Flügelspannweite von knapp fünf Metern hatte. Offenbar hatten die Leute auf der Tribüne ihnen zugeschaut, als er hereingekommen war, denn auf dem Spielfeld war niemand. Vielleicht geht es hier zu wie im alten Rom, und man wirft Menschen den Fledermäusen zum Fraß vor. Vielleicht haben die Kakerlaken uns deshalb hierher gebracht, dachte Gregor.

Eine der Fledermäuse ließ etwas fallen. Es kam mitten im Stadion auf und sprang dann fünfzehn Meter hoch in die Luft. Er dachte: Ach, es ist nur ein …

»Ball!«, rief Boots, und bevor er sie aufhalten konnte, war sie schon von ihrem Kakerlak gerutscht, zwängte sich zwischen den anderen Kakerlaken hindurch und lief mit ihren kleinen Plattfüßen übers Moos.

»Sehr anmutig, die Prinzessin«, zischelte ein Kakerlak verträumt, als Gregor hinter ihr herlief. Während die Kakerlaken Boots bereitwillig Platz gemacht hatten, stellten sie für ihn den reinsten Hindernisparcours dar. Entweder versuchten sie ihn absichtlich aufzuhalten, oder sie waren so gebannt von Boots’ Schönheit, dass sie ihn einfach übersahen.

Der Ball kam ein zweites Mal auf und flog wieder in die Luft. Boots lief ihm mit hoch erhobenen Armen hinterher.

Als Gregor an den Kakerlaken vorbei war und seiner Schwester hinterherrannte, glitt ein Schatten über ihn hinweg. Er schaute hoch und sah zu seinem Entsetzen eine goldene Fledermaus, die im Sturzflug auf Boots zukam. Er würde auf keinen Fall rechtzeitig bei ihr sein. »Boots!«, schrie er und spürte, wie sich sein Magen zusammenzog.

Sie drehte sich zu ihm um, und erst jetzt sah sie die Fledermaus. Ihr Gesicht fing an zu leuchten wie ein Weihnachtsbaum. »Federmaus!«, rief sie und zeigte auf das monströse Tier über sich.

Das gibt’s doch nicht, dachte Gregor. Hat sie denn vor gar nichts Angst?

Die Fledermaus glitt über Boots hinweg und streifte dabei mit dem Bauchfell leicht ihre Finger. Dann erhob sie sich mit einem Looping wieder in die Lüfte. Erst auf dem höchsten Punkt des Bogens, als die Fledermaus auf dem Rücken lag, sah Gregor, dass jemand auf ihr saß. Der Pilot hatte die Beine um den Hals der Fledermaus geschlungen. Gregor sah, dass es ein Mädchen war.

Das umgedrehte Mädchen löste die Beine und ließ sich von der Fledermaus fallen. Sie vollführte einen makellosen doppelten Salto rückwärts, drehte sich in letzter Sekunde zu Gregor herum und landete leichtfüßig wie eine Katze vor Boots’ Füßen. Sie streckte eine Hand aus, und der Ball fiel hinein, was entweder bemerkenswertes Timing oder unwahrscheinliches Glück war.

Gregor schaute das Mädchen an und sah an ihrem arroganten Gesichtsausdruck, dass hier ganz sicher kein Glück im Spiel gewesen war.