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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »438 Days. A Fisherman’s True Survival at Sea« bei Atria Books, Simon & Schuster, Inc., New York.
Übersetzung aus dem Englischen von Martin Bayer, Karlheinz Dürr und Karsten Petersen
Mit 27 farbigen Abbildungen und sechs Karten
ISBN 978-3-492-97118-8
Dezember 2015
© Jonathan Franklin, 2015
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015
Redaktion: Matthias Teiting, Dresden
Karten: Paul Pugliese
Bildteilfotos: AFP (4, 15, 16, 18, 19), James Breeden (2), Ione DeBrum (8), Ola Fjeldstad (6, 9), Franklin House (12), Oscar Machón (1, 17, 20–27), Marshall Islands Journal (7), Privatarchiv Alvarenga (3), Matt Riding (5, 13, 14), US Embassy/Majuro (10, 11)
Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de
Covermotiv: Infinity/fotolia
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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Für meinen Vater Tom Franklin, der mir schon von klein auf
beigebracht hat, was ein wohlgesetztes Komma, ein gepflegter japanischer Garten sowie ein boshafter Sinn für Humor wert
sind, und der stets ein Vorbild für die Kraft des positiven
Denkens gewesen ist.
Er hieß Salvador. Er kam auf blutigen Füßen zu uns und sagte, er suche nach Arbeit – egal was, Hauptsache, ein Neuanfang –, aber für alle, die den Neuling sahen, wirkte er wie ein Mann auf der Flucht.
Salvador Alvarenga war sechs volle Tage lang auf steinigem Boden die mexikanische Küste entlanggewandert, bevor er das Dorf Costa Azul erreichte, das direkt am Strand lag. Sein Gepäck bestand aus nichts als einem kleinen Rucksack; seine Kleider waren abgetragen. Er spürte eine immense Erleichterung, als er Costa Azul im Herbst 2008 erreichte. Die Mangrovensümpfe, die Maisfelder der Umgebung, der donnernde Ozean, die geschützte Lagune – alles war wie zu Hause in El Salvador, bloß dass ihn hier niemand umbringen wollte. Nur wenige Hundert Einwohner zählte der kleine Küstenort, wobei er dicht bevölkert war von den Schwärmen der Zugvögel, die jedes Jahr fast viertausend Kilometer weit von Kalifornien in Richtung Süden bis hierher zogen. Tausende Meeresschildkröten schlüpften regelmäßig aus ihren im Sand vergrabenen Gelegen und machten sich auf die Wanderung – manche schwammen fast zwanzigtausend Kilometer weit über den Pazifik bis nach China. Der Ort war einerseits ein Paradies des Ökotourismus, andererseits gesetzlos wie der Wilde Westen – die ideale Zuflucht für einen Mann, der seiner Vergangenheit entkommen und ein neues Leben beginnen wollte.
Alvarenga, immer freundlich und hilfsbereit, hatte ein rundes Gesicht und helle Haut. Ein Einreisevisum oder eine Arbeitserlaubnis besaß er nicht, also behauptete er einfach, Mexikaner zu sein. Auf dieser Lüge bestand er hartnäckig, wenn jemand seine Geschichte anzweifelte. Einmal geriet er in eine Polizeikontrolle. Die Beamten sagten ihm auf den Kopf zu, er sei bestimmt Ausländer, woraufhin er spontan eine Strophe der mexikanischen Nationalhymne schmetterte.
Guerra, guerra sin tregua al que intente
de la Patria manchar los blasones
guerra, guerra, los patrios pendones
en las olas de sangre empapad
Krieg ohne Unterlass gegen jeden
Der des Vaterlandes Ehr beschmutzt!
Krieg, Krieg! Die Banner der Patrioten
Getränkt in Strömen von Blut.
Alvarenga versuchte seine mangelnde Begabung als Sänger durch ein Übermaß an Selbstvertrauen auszugleichen. Er sang entsetzlich schief, aber voller Nationalstolz. Die Polizisten ließen sich von seiner Gesangseinlage überzeugen und verfolgten ihren Verdacht nicht weiter.
Costa Azul liegt in einem versteckten Winkel von Chiapas, dem ärmsten Bundesstaat Mexikos. Wer auf der Suche nach einem besseren Leben ist, bleibt gewöhnlich nicht lange hier, sondern ist auf der Wanderung nach Norden in die USA. Nur wenigen Ankömmlingen erscheint die angeschlagene örtliche Ökonomie vielversprechend. Die Augen des dreißigjährigen Alvarenga waren allerdings nicht auf das Land gerichtet, sondern auf den Pazifik. Das war schon so, seit er mit elf Jahren von zu Hause ausgerissen war, um sich mit ein paar Freunden am Strand niederzulassen. Costa Azul sollte nicht seine neue Heimat werden, sondern sein Heimathafen. Er wollte sich auf tagelangen Ozeanfahrten zu den reichsten Fischgründen aufmachen, die es in dem ausgeplünderten Ökosystem entlang der mexikanischen Küste noch immer gibt.
Geschützt von einer anderthalb Kilometer langen Vorlandinsel und umgeben von unwegsamen Mangrovendickichten, in die noch kein Holzfäller vorgedrungen ist, bietet die Postkartenidylle dieser Lagune Tausenden Fischen Zuflucht. Ihren tödlichen Fehler entdecken die Tiere erst, wenn der messerscharfe Schnabel eines Blaureihers sie bei lebendigem Leib aufspießt oder sie im Rachen eines Krokodils landen. Von fern wirkte die Lagune wie ein sicherer Hafen. Während draußen auf dem Meer wütende Stürme tobten, manchmal wochenlang, lag das Dörfchen geborgen und geschützt im Mangrovendschungel. Wie das Auge eines Wirbelsturms verbarg Costa Azul auf unheimliche Weise die drohende Gefahr.
»Auf See hinauszufahren klingt so einfach, aber da stehst du einem Ungeheuer gegenüber«, erklärt El Hombre Lobo, der »Wolfmann«, ein Kollege Alvarengas. »Wenn du da rausgehst, musst du für alles bereit sein, was dir das Meer entgegenwirft, den ständigen Wind, einen Sturm oder etwas Großes, das dich auffrisst – alles sehr konkrete Gefahren. Viele Leute fahren ein bisschen aufs Meer hinaus, aber das ist nicht der Ozean. Der fängt erst an, wenn du hundertzwanzig Kilometer weit draußen bist. Hier am Ufer leben die Leute bequem, sie schlafen in ihren Betten, aber da draußen ist die Angst. Man spürt sie in der eigenen Brust. Dein Herzschlag verändert sich.«
Alvarenga hatte Costa Azul buchstäblich über Stock und Stein erreicht, über scharfkantiges Geröll und durch dichte Mangroven, aber normalerweise nimmt man die schmale und befestigte Straße, die vom Highway 200 entlang der mexikanischen Küste abzweigt. Die zehn Kilometer lange Nebenstrecke führt an ihrem Ende durch Costa Azul bis ans Meer und lässt einem zwei Möglichkeiten: Wer nach rechts abbiegt, gelangt in schicke Ökoferienanlagen, in denen eine entschärfte Version der mexikanischen Küche angeboten wird, Margaritas für zwölf Dollar sowie private Vogelbeobachtungsexkursionen für englische Touristen, die mit Leidenschaft ihre persönlichen Sichtungslisten abhaken. Weiße Sandstrände unter Palmen locken diese Touristen mit Zurückgezogenheit und unberührter Natur. Es gibt Kolibris, Rosa Löffler, Reiher und Dutzende anderer Vogelarten, die in Massen herumschwirren.
Die Kellner fragen sich vielleicht, ob es klug ist, wenn die Touristen ihre kleinen Kinder am Strand der Lagune spielen lassen, wo sich regelmäßig Krokodile von der Größe eines Pick-ups sehen lassen, aber sie wissen auch, dass sie besser den Mund halten, was ihre privaten Ansichten zu den örtlichen Gefahrenquellen angeht. Die meisten Wohnhäuser zwischen den Hotelanlagen gehören einheimischen Geschäftsleuten und Politikern, die hier auf das Entstehen einer touristischen Goldgrube hoffen, sobald es Mexiko irgendwann gelingt, seinen Ruf als Land der Bandenkriege und Drogenkartelle abzulegen, in dem immer mal wieder eine Bar angezündet und eine Kellnerin geköpft wird. Rechts befindet sich also die gute Seite der Straße.
Wer dagegen nach links abbiegt, kommt in eine Ansammlung ärmlicher Fischerhütten und zu einem Kai, an dem sich ein Dutzend schnittiger, etwa acht Meter langer Boote drängen, die mit ihren Yamaha-Außenbordern bis zu achtzig Stundenkilometer erreichen können. Das ist der Teil von Costa Azul, in dem Alvarenga haltmachte. Er hatte zehn Jahre Erfahrung als Hochseefischer und konnte also hoffen, dass ihm ein patrón seinen lebenslangen Traum erfüllen und ihm eines dieser Fischerboote als Kapitän anvertrauen würde. Zunächst allerdings musste er vorsichtig sein und es langsam angehen lassen. Fremde ernteten in diesem rauen Viertel unweigerlich neugierige und abweisende Blicke und mussten sich auf ein paar Fragen gefasst machen. Wer bist du? Was willst du hier? Es war ungefähr so, als geriete man in Irland in einen IRA-Pub oder in bestimmte italienische Restaurants im Bostoner North End. Die Leute von Costa Azul pflegen eine Stammesmentalität, die es Neuankömmlingen nicht gerade leicht macht, in die verschworene Gemeinschaft hineinzufinden. Man schlendert dort nicht einfach herum, um sich ein bisschen umzuschauen. Einer der einheimischen Fischer erklärt, warum man hier auf Fremde oftmals gereizt reagiert: »Wollen Sie wissen, was hier in Chiapas los ist? Dann gehen Sie mal nachts um zwei raus auf die Insel, da können Sie die Boote der Drogenkuriere sehen, wie sie vor der Küste nach Norden rasen. Jede Nacht wird hier Kokain für zwei Millionen Dollar transportiert. Die Polizisten in Oaxaca – dem sich nördlich anschließenden Bundesstaat – sind bis auf den letzten Mann gekauft.«
Alvarenga war kein Drogenhändler und hatte auch nicht vor, sich mit einem Ballen Kokain hin und wieder etwas dazuzuverdienen, obwohl das ein sehr lukrativer Nebenverdienst gewesen wäre. Er hatte auf See, vor der mexikanischen Küste, bereits gesehen, was mit Fischern passierte, die im Geschäft von »Los Kilos« mitmischen wollten und es sich mit den Drogenbossen verdarben. Einmal hatte er an einem halb gesunkenen Fischerboot angelegt, dessen Rumpf von Kugeln durchsiebt war. Er wollte es abschleppen, aber es sank dann doch. Keine Spur von der Mannschaft. Bei lebendigem Leibe von den Haien gefressen zu werden war wahrscheinlich noch die sanfteste Todesart unter diesen Umständen – die Haie folterten ihre Opfer wenigstens nicht.
Als er in Costa Azul ankam, sagte Alvarenga zunächst kaum ein Wort. Er ließ lieber Taten sprechen. Er nahm sich einen Besen und fing an, die Straßen zu fegen, las den Müll vom Kai auf und richtete sich unter einem Baum häuslich ein. Als er mit den Einheimischen langsam ins Gespräch kam, waren sie von Alvarengas Freundlichkeit, seiner Hilfsbereitschaft für die Fischer und dem Eifer, mit dem er das Touristenviertel sauber fegte, durchaus beeindruckt. »Man musste ihm nicht sagen, was er tun sollte. Er wusste, was anlag, war immer hilfsbereit. So macht man sich Freunde«, erinnert sich Jarocho, ein erfahrener Fischer, der in Costa Azul arbeitet. Alvarenga wirkte zu ordentlich und sauber für einen Landstreicher, schwieg aber über seine Vergangenheit. Dabei konnte er fesselnde Geschichten erzählen, wenn er wollte, und er hatte für seine Meeresabenteuer immer begeisterte Zuhörer.
Zunächst wurde der kräftige, muskulöse junge Mann in Naturalien bezahlt. Ein Koch gab ihm Lebensmittel gegen Arbeit. Dann steckte er ihm ein paar Fünfzig-Peso-Scheine zu – im Wert von jeweils vier US-Dollar –, und noch vor Monatsende fand Alvarenga reguläre Arbeit als Hilfskraft eines Fischers. »Es ist eine öde, langweilige Aufgabe, die Leinen zu reparieren, aber er war stolz darauf, wenn er sie in perfektem Zustand abliefern konnte«, erinnert sich Jarocho. »Er kam immer an: ›Chef, Chef, an der hier fehlen zwanzig Haken!‹ Und wenn die Netze nicht richtig zusammengelegt waren, breitete er sie aus und faltete sie auf die richtige Art wieder zusammen. Er sagte immer: ›Damit machen Sie doch Ihr Geld; ein Haken fehlt, und schon fangen Sie weniger.‹ Er achtete auf solche Kleinigkeiten.«
Alvarengas Ziel bestand darin, sich dem Clan der etwa einhundert Fischer von Costa Azul anzuschließen. Durch die geschützte Lagune entkamen sie der Wut der jahreszeitlich bedingten Stürme, die sich zwar im Atlantik und in der Karibik bilden, aber durch eine geografische Besonderheit auf der anderen Seite Mexikos, an der Pazifikküste, am härtesten zuschlagen. Die Stürme ziehen vom Golf von Mexiko nach Südwesten und dann durch einen Engpass der Sierra Madre, der ihre Geschwindigkeit verdoppelt und verdreifacht. Eine frische Brise aus der Karibik mit dreißig Stundenkilometern wird so zu einem »Jet«, wie die Meteorologen sagen, von bis zu neunzig Stundenkilometern.
Dieser natürliche Windkanal ist genau auf den Golf von Tehuantepec gerichtet, das Meeresgebiet direkt vor Costa Azul. Alvarenga hatte jahrelang weiter südlich gefischt, nahe der guatemaltekischen Grenze, aber er wusste, dass diese Stürme einen hohen Tribut an gesunkenen Booten und ertrunkenen Fischern forderten. Er kannte die Geschichten, wie sie spätnachts erzählt wurden, von Fischern, die in diese sogenannten Norteños geraten waren, die Nordwinde, die einen nicht mehr losließen. So häufig blies der Norteño, dass er in den Nachrichten der betroffenen Gebiete keine eigenen Namen mehr bekam wie atlantische Hurricanes in den USA – etwa Katrina oder Sandy –, sondern es hieß nur, Kaltfront Nr. 6 oder Nr. 26 sei im Anzug, und alle Fischerboote sollten im Hafen bleiben.
Der Windkanaleffekt ist so gefürchtet, dass er auf Seekarten eingezeichnet wird und Segler oft Hunderte Kilometer um ihn herum auf die offene See ausweichen. »In den Wintermonaten … muss man so gut wie täglich mit Stürmen rechnen … Windstärken von hundert bis hundertzwanzig Stundenkilometern sind nicht ungewöhnlich«, heißt es im angesehenen Internetreiseführer Roads Less Traveled. »Jahr für Jahr geraten große und kleine Schiffe in die Fänge des dreihundert Kilometer breiten Golfs von Tehuantepec. Auch große Fahrzeuge sind gegen die Sturmböen und die rasch zu enormem Wellengang aufgewühlte See machtlos. Es bleibt den Schiffen dann keine andere Wahl, als in den Wind zu drehen und sich drei- oder vierhundert Kilometer weit nach Süden treiben zu lassen, wo der Tehuantepec-Sturm dann gewöhnlich nachlässt.«
Wenn es ein Seegebiet gibt, auf das man sich in kleinen Booten, die noch dazu leicht kentern, lieber nicht hinauswagt, dann dieses. Aber in Chiapas gibt es nicht viele Jobs. Die Fischbestände an den Küsten Mittelamerikas und Mexikos sind durch Überfischung auf weiten Strecken dezimiert. Wertvolle Fischarten, sofern noch vorhanden, gibt es nur noch weiter draußen. Also fahren die Fischer genau dorthin. Um ihre Kühlboxen zu füllen, pendeln sie inzwischen von der Chiapas-Küste aus achtzig, hundertzwanzig oder auch hundertfünfzig Kilometer weit auf den Ozean hinaus. Erst wenn sie fünf Stunden lang durch gefährliche Wellen manövriert sind, können sie den Motor abstellen, ihre drei Kilometer lange, mit bis zu siebenhundert Haken besetzte Fangleine ausbringen und abwarten, ob die Thunfische, Mahimahis, Marlins und Haie beißen. Haie sind ihnen am liebsten. In vielen Ländern werden vom Hai nur die Flossen gegessen, aber in Mexiko ist Haifischsteak eines der üblichen Angebote auf den Speisekarten der Restaurants. Trotz aller Bemühungen vonseiten der Tierschützer und ungeachtet aller Anzeichen, dass der Bestand zusammenbricht, werden jährlich Tausende Tonnen Hai aus den gefährlichen Gewässern des Golfs von Tehuantepec geholt.
Der Lohn der Fischer für ihre gefährliche Arbeit ist dabei miserabel. Sie stehen ganz am Ende der Verwertungskette einer Wirtschaftsordnung, in der ein halbes Pfund Thunfisch in einem Restaurant von Costa Azul zwar fünfundzwanzig US-Dollar kostet, der Fischer, der den Fisch erlegt hat, aber nur vierzig Cent davon bekommt. Andererseits kann eine Sechzig-Stunden-Schicht durchaus 250 Dollar bar auf die Hand einbringen, wenn die Schwärme ziehen, und dann herrscht auf der linken Seite von Costa Azul ausgelassene Feierstimmung. Die Fischer sind eine Bande von Ausgestoßenen und Außenseitern der Gesellschaft, zusammengeschweißt vom Bewusstsein ihres gemeinsamen Schicksals und dem Killerinstinkt von Berufsjägern. Der Wolfmann erklärt diese Philosophie in einfachen Worten: »Armut treibt einen zu komischen Sachen. Wer arm ist, muss tun, was er kann, um an Essen zu kommen. Wenn die einzige Arbeit, die man kriegen kann, Hochseefischerei ist, welche Wahl hat man dann?«
Wie alle dörflichen Fischergemeinschaften sehen auch die Mannschaften, die von Costa Azul ausfahren, einer düsteren Zukunft entgegen; entweder geben sie die Fischerei auf, oder sie passen sich alle paar Jahre der Realität der Überfischung an und fahren noch weiter auf See hinaus. Alvarenga entschied sich für Letzteres. Er hielt das nicht einmal für gefährlich. Er war am liebsten draußen auf dem Meer. Gefährlich vorgekommen war ihm in seinen ersten dreißig Lebensjahren eher das Land – einmal hatte es ihn fast das Leben gekostet, wie zwei tiefe Narben an Kopf und Armen deutlich zeigen.
Die Kneipenschlägerei war teilweise auch seine Schuld gewesen – Alvarenga hatte getrunken und war streitlustig geworden in jener Nacht in einer Bar in Salvador –, aber vier Mann gegen einen? Oder waren es sechs gegen zwei? Alvarenga hatte jedenfalls keine Chance. Die Schläger ließen nicht ab, nachdem er zu Boden gegangen war, sondern schleppten ihn nach draußen, stachen auf ihn ein und ließen ihn auf der Straße zurück. Wahrscheinlich hielten sie ihn für tot; als seine Mutter kam, um ihren Sohn zu holen, fing sie an zu beten und rief einen Geistlichen – ihr Sohn hatte nicht mehr lange zu leben, das schien allzu offensichtlich. Aber Alvarenga gab nicht auf. Er blieb die ganze Zeit über bei Bewusstsein, tröstete seine Mutter und beschwor sie, bei ihm zu bleiben, es sei für ihn noch nicht Zeit zu gehen.
Alvarenga hatte elf Messerstiche davongetragen, drei gebrochene Rippen und eine Gehirnerschütterung. Deshalb erinnert er sich nicht mehr sehr gut an diesen Wendepunkt in seinem Leben. Er erwachte am nächsten Tag in einem Krankenhaus, am ganzen Körper bandagiert. Die Ärzte zeigten sich beeindruckt, dass er noch lebte. Als er drei Wochen später nach Hause zurückkam, in das Fischerdörfchen Garita Palmera, wartete ein neuer Schock auf ihn. Während Alvarenga im Krankenhaus gelegen hatte, war einem seiner Angreifer die Kehle durchgeschnitten worden. Das hatte eine Blutfehde ausgelöst, und Alvarenga, so hieß es, stand als Nächster auf der Liste. In El Salvador gibt es pro Einwohner mehr Morde als in Bagdad oder Kabul. Es gibt ein spanisches Sprichwort, das Alvarenga nur zu gut kannte: Pueblo chico, infierno grande. »Kleines Dorf, große Hölle.« Er hatte Angst, noch vor Jahresende ebenfalls umgebracht zu werden. Seine Freunde flehten ihn an, sich sofort abzusetzen; jeder Tag, den er bleibe, könne sein Ende sein. Alvarenga wollte durchhalten, aber er lebte ständig unter dem Schatten der Gewalt, und schließlich floh er doch – nicht nur aus dem Ort, sondern gleich aus dem Land. Er machte Station in Guatemala, wo er eine Weile unter falschem Namen lebte, und wanderte dann nach Mexiko weiter. Er ließ sein altes Leben vollständig zurück – seine Freundin, seine Eltern und Fatima, seine einjährige Tochter.
Zuflucht fand der Ausgestoßene an Bord von Fischerbooten. An Land fühlte sich Alvarenga nie sicher, als ob der feste Boden auf einem Planeten, der sich ständig dreht, sowieso nur eine Illusion wäre. Sein Zuhause war ein schwankendes Boot, weit draußen auf See, das gar nicht erst vorgab, festen Halt zu bieten. Auf See fühlte er sich frei.
In den folgenden vier Jahren arbeitete sich Alvarenga bei den Fischern von Costa Azul langsam nach oben, wechselte hin und wieder den Chef, hielt sich aus allem Ärger weitgehend heraus und suchte eine Stelle, die ihm sowohl Unabhängigkeit als auch gute Bezahlung und annehmbare Arbeitsbedingungen bot. »Ich sage Ihnen was. Ich schirme meine Familie normalerweise ziemlich ab, aber Alvarenga habe ich zu uns zum Essen eingeladen«, sagt Jarocho. »Warum? Er sah anständig aus und benahm sich anständig. Er durfte bei uns zu Hause übernachten, ich habe ihm eine Hängematte gegeben.« Schließlich erhielt Alvarenga sogar ein Vorrecht, das für jemanden in seiner Stellung selten ist: eine Hütte für sich allein.
Mit der Zeit versuchten die patrones der Fischerboote dann, Alvarenga abzuwerben und dem Bootseigner abspenstig zu machen, für den er gerade arbeitete. Immer wieder boten sie ihm ein neues Boot, neue Fangleinen, bessere Ausrüstung, wenn er nur zu ihrer Mannschaft in einen anderen Hafen wechseln würde. Alvarenga war aber zufrieden, wo er war – er verdiente jetzt genug, um seine bescheidenen Träume zu verwirklichen. Anders als in seinem heimatlichen El Salvador konzentrierten sich die Gewalttaten in Mexiko auf den Drogenhandel, und solange er dem fernblieb, konnte er das einfache, anonyme Leben in Costa Azul uneingeschränkt genießen.
Alvarenga konnte sich jetzt selbst aussuchen, wie viel, wie hart und wann er arbeiten wollte, sodass die Fischerei seinem Hang zum ausgelassenen Feiern nicht in die Quere kam. Während seiner vier Jahre in Costa Azul geriet er dabei nur selten in eine Schlägerei oder andere unangenehme Vorfälle. Sein Kollege Ray, mit dem er oft zusammen gefischt hat, erklärt: »Ich habe ihn überhaupt nie in einer Prügelei erlebt, außer dem einen Mal, als ein paar Typen die Möbel bei Doña Mina kaputt geschlagen haben. Es gab einen üblen Kampf mit Fahrradketten, und man sah, dass Alvarenga sich mit so was auskannte. Aber ansonsten war er immer sehr fröhlich, bei jeder Feier stand er im Mittelpunkt.«
Alvarenga hatte im Laufe der Jahre gelernt, dass Trinken und Feiern mit ein paar vertrauenswürdigen Kumpels viel sicherer war, als sich in die Gelage zu stürzen, die in den tequilagetränkten Cantinas stattfanden, wo sich seine Kollegen regelmäßig volllaufen ließen und dabei nicht selten im Gefängnis landeten. Alvarenga gefiel das Leben, das er nun führte. Viertägige Besäufnisse im Freundeskreis wechselten mit zehn Tagen ununterbrochener Schufterei draußen auf offener See. Manchmal waren es auch vier Tage Schufterei und zehn Tage Saufen. Der Kater am nächsten Morgen war Alvarenga in dieser Lebensphase schlicht egal – entweder bekämpfte er ihn mit Alkohol, oder er fastete zwei Tage lang und schwitzte die Promille einfach aus. Trotz brutaler Dreißig- oder auch Sechzig-Stunden-Schichten beklagte er sich nie. Optimismus war geradezu sein Markenzeichen. »Selbst wenn er nur einen oder zwei Fische fing, was für andere eine große Enttäuschung gewesen wäre, kam er immer fröhlich zurück«, erzählt Bellarmino Rodriguez Beyz, sein direkter Vorgesetzter im Hafen, ein ehemaliger Kollege und enger Freund. »Sogar wenn er ganz ohne Fang zurückkam, rief er beim Anlegen immer noch: ›Ich hab’s geschafft, ich hab’s wirklich geschafft.‹« Alvarenga nahm die Mühsal des Lebens entweder nicht zur Kenntnis oder war immun dagegen. Er lebte mit sich und der Welt in Frieden – jemand, der in einem Bus anfing zu schnarchen, der im Kino den Kopf auf die Schulter eines völlig unbekannten Sitznachbarn sinken ließ oder unter einem Baum im Park seinen Träumen nachhing.
Die Fischerei in Costa Azul war primitiv und gefährlich, und wer dazu bereit war, konnte große Risiken eingehen. Zwar schickte kein patrón seine Leute hinaus, wenn ein plötzlicher Norteño vorhergesagt war, aber es gab hier, anders als in größeren Handelshäfen an der mexikanischen Küste, auch keinen lästigen Hafenmeister, der einen vom Auslaufen abhielt, wenn es draußen gefährlich wurde. Jeder Fischer konnte selbst einschätzen, was es ihn kosten und was es ihm bringen würde, wenn er ausfuhr oder wenn er im Hafen blieb – Fehleinschätzungen inklusive. Alvarenga, ein einfacher, aber großherziger Mann, der kaum lesen und gerade eben seinen Namen schreiben konnte, genoss diese Art der Seefahrt alter Schule. Er erkannte die Schönheit in der Einfachheit. Eine lange Fangleine mit siebenhundert Haken, ein kleines Fischerboot, ein Maat. Dazu nur noch die Requisiten seines Lebens, verstreut auf dem Bootsdeck: ein ungeordneter Haufen Messer, Eimer und blutiger Utensilien. Das war alles. Der Mensch gegen die Elemente. Genau Alvarengas Stil. »Wenn du ein echter Fischer bist, dann liebst du die See«, sagt er. »Es gibt Fischer, die immer nur jeden zweiten Tag rausfahren. Ich nicht. Ich bin jeden Tag gefahren, so früh und sooft ich nur konnte, außer wenn der Chef mir gesagt hat, ich solle nicht auslaufen. Es ist deshalb die wahre Liebe, weil die See dir Essen gibt, sie gibt dir Geld, und sie wird zur Sucht. Wenn du die See liebst, dann liebst du das Adrenalin, die Energie. Du kämpfst mit der See. Sie ist dein Gegner. Ihr kämpft einen gemeinsamen Kampf. Vielleicht wird sie dich umbringen, aber du lachst dem Tod ins Gesicht.«
Jedes Mal, wenn Alvarenga die Warnungen ignorierte und trotzdem auslief, um noch einen zusätzlichen Fang einzufahren, riskierte er sein Leben. Er vertraute auf sein Geschick, darauf, dass er die Wellen würde ausmanövrieren können. Seine große Kühlbox war regelmäßig zum Bersten gefüllt, wenn er zurückkam, eine halbe Tonne frischer Fisch als Zeugnis seiner Gewandtheit und seines Muts. Wenn es einen Kollegen erwischte und sein Boot kenterte, sank oder vermisst wurde, meldete sich Alvarenga freiwillig für die Suche, jedes Mal eine lebensgefährliche Angelegenheit. Dieser Mut machte ihn auch für die Frauen im Ort attraktiv. Alvarenga lacht, als er den Aufruhr schildert, wenn sich seine Freundinnen zufällig vor seiner Strandhütte begegneten. »Mino, mein Boss, funkte mich immer vom Hafen aus an: ›Achtung, Achtung! Gefährliche Mädelsanhäufung vor deiner palapa!‹ Dann blieb ich lieber noch ein bisschen auf See.«
Am Abend des 15. November 2012, einem Donnerstag, gab es Anlass zum Feiern. In zwei Lastwagen lagen 4000 Pfund frischer Fisch aus der Tiefsee: Thunfisch, Marlin, Mahimahi, Hammerhai und Fuchshai. Hundertfünfzig Kilometer vor der Küste – wohin sich nur die mutigsten Fischer wagten –, bissen die Fische wie verrückt. Bei einem Marktpreis von zwanzig mexikanischen Peso pro Kilo – etwa siebzig US-Cent pro Pfund – blieben abzüglich des fünfzigprozentigen Anteils für den patrón und der enormen Benzinkosten für jeden Mann durchschnittlich noch hundertfünfzig Dollar. Das war ein Vermögen in einem Ort, wo ein Essen für zwei Personen vier Dollar und ein Hotelzimmer mit Meerblick sieben Dollar kostete.
Die compañeros zogen zusammen los; eine Strandparty kam in Gang. Aber anstatt eines dreitägigen Gelages war es nur eine Feier mit halber Kraft – eben weil die Fische so gut bissen. Die meisten Männer wollten nur bis zwei Uhr morgens trinken, dann ein paar Stunden schlafen und nach dem Frühstück wieder ausfahren. Vorhergesagt war ein Sturm aus nördlicher Richtung. Das hieß trockene Böen, schätzungsweise in Orkanstärke. Wahrscheinlich würden sie nach dem Unwetter tagelang im Hafen bleiben müssen – und dann konnten sie immer noch heftig feiern, während sie abwarteten, bis die Kaltfront durchgezogen war.
Alvarenga und seine Freunde schaukelten in den Hängematten, die in der Strandhütte aufgespannt waren. Draußen lag alles voller leerer Corona-Bierdosen, Tequilaflaschen und kleiner Plastikflaschen, in denen Quetzal, ein billiger Korn, verkauft wurde. Aus einem einsamen Mobiltelefon plärrte Reggaetonmusik, während die Männer darüber jammerten, wie wenige alleinstehende Frauen es doch gebe. Sie hatten sich so viel Sierra-Madre-Marihuana besorgt, dass sie damit das gesamte 61. Bataillon der mexikanischen Armee hätten zudröhnen können, das wegen eines gerade ausgebrochenen Kokainkriegs in der Nähe stationiert war. Dicke Joints, die aussahen wie Requisiten aus einem Reggaefilm mit Jimmy Cliff, gingen in der Hütte herum. Zwei nackte Glühbirnen pendelten in der nächtlichen Brise. Leguane liefen polternd über das Dach. Ziegenmelker und Eulen waren auf der Jagd; große Fledermäuse flatterten unter den Palmen dahin. Um Mitternacht würde Loony, das große Krokodil, wie immer die Lagune überqueren, und seine Augen würde leuchtend rot das Licht des Kais reflektieren.
Das Gespräch der Männer war eine Abfolge von Slangausdrücken, Flüchen und Insiderwitzen. Alvarenga hieß hier Chancha – etwa »Schweinchen« –, weil er so viel und so gern aß. Mino, sein Vorgesetzter, schildert ihn als jemanden, der praktisch alles verschlang, was in die Nähe eines Bratrosts kam. »Wir hatten gerade einen Thunfisch gebraten, und er hatte schon einen ganzen Mahimahi filetiert und fertig zum Grillen … Er konnte ununterbrochen essen, nahm aber nie zu. Ich sagte ihm noch: ›Chancha, du hast garantiert einen Bandwurm.‹« Ein anderer Kollege glaubt, Alvarenga verdanke den Spitznamen seiner ungewöhnlich hellen Hautfarbe. Die meisten Fischer hier waren kaffeebraun, aber Alvarengas Haut war fast rosa, wie bei einem Ferkelchen.
Als die Fischer ihr mehrgängiges, üppiges Mahl in sich hineingeschlungen hatten, waren sie noch immer heißhungrig – eine Folge des Marihuanas. Gierig, aber mit ausgelassenem Humor drängten sie Willy, den patrón, er solle noch Nachschub besorgen. Willy, ein ruhiger Mann mit Schnurrbart, beaufsichtigte seine Fischerbande wie ein erfahrener Erzieher, der jugendliche Straftäter betreut. An jenem Abend ließ er sich breitschlagen und schickte einen Teenager los, um noch Lebensmittel zu kaufen.
Während die Männer auf ihre Brathühnchen und eisgekühlten Coronas warteten, öffnete Alvarenga einen Fiberglas-Kühlbehälter, in dem die Köder für die Ausfahrt am nächsten Tag lagerten. Sie wollten insgesamt 2800 Haken ausbringen, also waren die Kühlboxen voll mit mehreren hundert Pfund Sardinen, um die großen Fische anzulocken. Aber Chancha hatte Hunger, und er wollte sofort essen. »Es dauert doch noch ewig, bis der Typ mit dem Essen zurückkommt«, jammerte er und griff sich eine Sardine, die so lang wie seine Hand war. Ihre Augen starrten glasig, das in Stickstoff schockgefrorene Fleisch war eiskalt. Alvarenga wickelte den Fisch kurzerhand in eine Tortilla vom Stapel in der Mitte des gemeinsamen Esstischs und biss vor den Augen seines staunenden Publikums den Schwanz ab. Mit einem breiten Grinsen im runden Gesicht arbeitete er sich Bissen für Bissen durch die rohe, halb gefrorene Sardine.
»Du holst dir noch eine Fischvergiftung«, ächzte Willy entsetzt.
»Die Magensäfte werden die Sardine schon ordentlich durchkochen«, lachte Alvarenga und machte sich eine zweite Tortilla fertig.
Als die Brathühnchen endlich kamen, langten die Männer mit Genuss zu, kippten ein Bier nach dem anderen und warfen die leeren Dosen in die Lagune. Alkohol am Steuer war für sie kein Problem – kaum jemand besaß ein Auto. Fahrzeuge mit Rädern nutzten ihnen nichts – ihre Welt war das Meer, diese Jungs waren Hochseefischer, sie warfen den Motor an und fuhren immer weiter aufs offene Meer, weit über die Linie hinaus, wo man noch Land am Horizont sah. Sie nannten sich selbst los tiburoneros – die Haifischjäger. Oft fingen sie mehr Thunfisch oder Mahimahi als Hai, aber das machte nichts; sie waren stolz darauf, sich nach dem gefährlichsten Raubtier des Meeres zu benennen. In der Rangordnung der Fischer an dieser Küste galten die Haifischjäger als die Elite, außerdem als verrückt. Sie konnten tiefe Narben und fehlende Finger vorzeigen, die von der Brutalität eines Berufs erzählten, in dem man tagtäglich von winzigen Booten aus in der Tiefsee fischte. Haifischjäger verdienten besser als andere Fischer – und sie starben früher.