Vorwort
Es gibt nur wenige Sendungen im deutschen Radio, die selbst schon ein Stück Geschichte sind. Das ZeitZeichen gehört dazu. Seit 40 Jahren schreibt und beschreibt diese tägliche Reihe Geschichte – im WDR, NDR und SR. Dabei bedient sie sich der Kunst, Geschichte anhand von Geschichten zu erzählen.
Die Vielfalt der Themen und Formen hat das ZeitZeichen zu einer unverwechselbaren Marke des WDR werden lassen. Dabei haben die Autoren und Redakteure immer die Zeichen der Zeit erkannt. Die Sendung hat sich in den vergangenen vier Jahrzehnten stets weiterentwickelt, ohne der Grundidee untreu zu werden. Überraschungen und zuweilen Provokationen gehören dabei zum Konzept. Das scheint aufzugehen, denn das Publikum ist inzwischen so bunt wie die Machart. Dank des Internets kommen Hörerreaktionen immer häufiger auch aus dem Ausland. Dieser großen ZeitZeichen-Gemeinde versucht die Redaktion bei der Themenauswahl und bei der Umsetzung gerecht zu werden. Mit Erfolg, wie auch die sechsstelligen Podcast-Abrufe Monat für Monat beweisen. Die Ausstrahlung am Morgen bei WDR 5 und am Nachmittag bei WDR 3 sowie der etwas kleinere »Stichtag-Bruder« auf WDR 2 und verschiedene Übernahmen in der ARD sorgen bei der täglichen Dosis »gegen das Vergessen« für diese hohe Akzeptanz. Das unterstreichen auch zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Qualität und Quote müssen sich also in der heutigen Medienlandschaft nicht zwangsläufig ausschließen. Eben weil kein ZeitZeichen wie das andere ist, halten uns die Hörerinnen und Hörer die Treue. Denn selbst wenn Thema und Machart mal nicht Interesse und Geschmack treffen, besteht immer Hoffnung – auf den nächsten Tag und die nächste Sendung, die seit 40 Jahren bereits in der Absage angekündigt wird. Vorfreude als Stilmittel.
Ich freue mich auf viele frische, kraftvolle, nachdenkliche und unterhaltende ZeitZeichen, und da die Redaktion täglich die Qual der Wahl unter bis zu 30 Stichtag-Themen hat, werden die historischen Bodenschätze noch lange reichen – mindestens weitere 40 Jahre.
{Wolfgang Schmitz}
(WDR-Hörfunkdirektor)
Am Anfang standen ein Zettelkasten, ein Redakteur und die erste getrennte Abfallsammlung der Radiogeschichte. Ende der 1960er-Jahre war Wolf Dieter Ruppel (im Sommer 2011 verstorben) Leiter der WDR-Hörfunkredaktion »Heute-Morgen«. Der Mann konnte nichts wegwerfen. In einem prähistorischen Holzkasten sammelten sich Texte über Menschen und Ereignisse, daneben Tonbänder, Audio-Kassetten, Zeitungsausschnitte und allerlei anderer journalistischer Restmüll. Dann die Erleuchtung, bereits versehen mit einer Spur Nachhaltigkeit. »Wir machen daraus eine neue Sendung«, sagte Ruppel. Sein Hörfunkdirektor Dr. Fritz Brühl unterstützte die Idee, und am 04. April 1972 war das erste ZeitZeichen zu hören. Es hatte mit der heutigen Form nur die Länge von 15 Minuten gemein.
Die ersten Ausgaben waren eine Art Stoffsammlung zum jeweiligen Datum, mit bis zu neun verschiedenen Themen in einer Sendung. Unkommentiert nebeneinander standen im ersten ZeitZeichen unter anderem die Belagerung Leningrads 1942, eine gesellschaftspolitische Rede der FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher aus dem Jahr 1967 und ein Chemieunglück in Walsum am 04. April 1952. Autorin war Christine Lemmen, die am Anfang noch nicht selbst ans Mikrofon durfte. Das änderte sich, als die Redaktion nach wenigen Wochen den Charme einer monothematischen Sendung erkannte. Geblieben sind darüber hinaus zwei weitere Konstanten: Die Fünfjahressprünge bei der Auswahl der Stichtage und der Schweizer Autor Hans Conrad Zander. Wahrscheinlich hat der ehemalige Mönch einen guten Draht nach oben. Seit 1978 dabei ist Jutta Duhm-Heitzmann, die unvergleichbar fesselnd Geschichte(n) erzählen kann.
Andere große Namen des Radios kamen und gingen, wie Helga Märthesheimer, Marianne Lienau, Klaus-Jürgen Haller, Heinrich Vormweg, Walter Filz oder Karl-Heinz Wocker. Letzterer wäre 1984 beinahe über das »Bla-Bla« eines Theodor W. Adornos gestolpert. Denn dieses ZeitZeichen wurde heftig kritisiert, auch von der Frankfurter Rundschau, die die »Polemik in ihrer Wüstheit erschreckend« fand.
Damals war der Journalismus noch streitsüchtig und politisch. Allerdings nicht immer, denn das beliebteste ZeitZeichen aller Zeiten waren die ebenso humorvollen wie widerlichen Innenansichten von Ludwig XIV. Und das ist wörtlich gemeint, betrifft es doch im Wesentlichen die Mundhöhle des Sonnenkönigs und die vielen faulen Kompromisse, die seine Leibärzte bei allerlei Zahn- und Kieferbehandlungen machten. »Der König stinkt« von Hans Conrad Zander ist und bleibt ein Dauerbrenner und wurde nach der letzten Wiederholung im Jahr 2007 tausendfach heruntergeladen.
Bis zum Jahr 1997 lief das ZeitZeichen auf WDR 2. Dann wechselte es auf die Wellen 3 und 5. Denn zum 25. Geburtstag brachte die Sendung ein Kind zur Welt: den WDR 2 Stichtag. Das beste Erbgut von der Mama, aber wie bei Kindern nun mal üblich mit gut vier Minuten etwas kürzer geraten und etwas frecher. Kurz nach der »Einschulung« im Jahr 2004 gab es dann eine Familienzusammenführung der Formate in Dortmund. Seitdem werden beide Geschichtssendungen des WDR von einer Redaktion betreut. Mutter und Kind lernen voneinander, und das tut beiden gut.
Die Themenauswahl und die -komposition sind Monat für Monat eine Art Grundlagenforschung. Neben Vorschlägen von Hörern und Autoren greift die Redaktion überwiegend auf große Datenbänke zurück, wie die »ARD-Zeitlupe«, die über 250000 Einträge verfügt. Vor dem Hintergrund der Fünfjahressprünge (heute vor fünf oder zehn oder 25 oder 500 Jahren) kommen formal etwa 60 bis 80 Geburtstage, Todestage und Ereignisse pro Tag infrage.
Nach einer Vorauswahl auf rund 30 wird dann entschieden, ob sich das Thema für das Radio eignet. Der Politiker geht besser als der Pantomime, der Komponist besser als der Maler. Wurde das Thema schon mal behandelt? Passt das Thema zum Sendetag? Nationalsozialismus am Rosenmontag wird – wenn möglich – ebenso vermieden wie die Geschichte der Gummibärchen am Karfreitag. Am Ende ist es dann gerade die Mischung der historischen Ereignisse und Personen, die den Reiz von Stichtag und ZeitZeichen ausmacht. Heute Mittelalter, morgen Zeitgeschichte, übermorgen Antike. Heute die Pest, morgen der Fall der Mauer und übermorgen Cicero. Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport und Alltagsgeschichte.
Neben den ganz großen »Pflicht-Stichtagen« (z.B.: 450. Todestag Martin Luther, 250. Geburtstag Goethe, 20 Jahre Wiedervereinigung) nehmen wir auch gern die Geschichte hinter der Geschichte, spannende Biografien historischer Randfiguren oder weitgehend unbekannte Zufälle und kuriose Fußnoten der Geschichte mit auf.
In vielen Fällen (etwa 60 Prozent) sind die Themen eines Tages gleichermaßen für WDR 2, WDR 3 und WDR 5 interessant. Ist dies nicht möglich, oder bietet sich gerade ein spezielles Thema für WDR 2, WDR 3 oder WDR 5 an, bekommen Stichtag und ZeitZeichen unterschiedliche Themen mit unterschiedlichen Autoren. Dabei versucht die Redaktion auf die Philosophie und das Selbstverständnis der verschiedenen Wellen Rücksicht zu nehmen. Beispielsweise wird für WDR 3 gezielt nach Themen aus der Kultur – besonders aus der Musik – gesucht.
Regionale Themen haben nur selten eine Chance, da der Saarländische und der Norddeutsche Rundfunk das ZeitZeichen komplett, andere ARD-Anstalten den Stichtag punktuell übernehmen.
Ein überzeugender Plot soll die Themen transportieren, die Beiträge müssen also formal und inhaltlich auf hohem Niveau stehen. Sie sollen informieren, können bilden und dürfen unterhalten. Ansonsten ist erlaubt, was den Autoren gefällt und die Redaktion verantworten kann.
Neben dem aufwendigen »Gebauten Beitrag« sind alle Darstellungs- und Stilformen erlaubt, von der reinen O-Ton-Collage über die Reportage bis hin zum Mini-Hörspiel. Dabei werden häufig Schauspieler für Sprech- und Spielszenen eingesetzt.
Die Kunst des Gewichtens ohne zu verfälschen findet sich im Aufbau und im Text der Beiträge wieder. Die Autoren sollen erzählen statt dozieren, dokumentieren statt kommentieren und sortieren statt überladen. Eine einfache, je nach Thema auch witzige, hier und da provokante Sprache soll Spaß am Zuhören machen. Oft will und kann besonders der kürzere WDR 2 Stichtag nur Anstoß für die Hörer sein, sich weiter mit dem Thema zu beschäftigen.
Es bedarf deshalb radiofoner Formen, um die Inhalte hörbar, verstehbar und begreifbar zu machen. Die Autoren berücksichtigen immer den neuesten Stand der Geschichtsforschung und schlagen auch häufig den Bogen von der Vergangenheit zur Gegenwart. So wird aus dem Rückblick häufig ein Einblick; mal anregend, mal aufregend, mal klassisch, mal komisch.
Damit die älteste und bekannteste Geschichts-Reihe im deutschen Radio immer schön auf dem Teppich bleibt, gibt es eine »Überwachungskamera« des Publikums: die Veranstaltungsreihe »Geschichtszeit«, die die Redaktion Schulklassen, Universitäten, Lehrerfachseminaren und anderen interessierten Gruppen kostenlos anbietet.
Seit 2001 wird Geschichte in diesen zweistündigen Workshops lebendig. 40 Veranstaltungen jährlich beim WDR in Köln oder Dortmund, auf Wunsch aber auch in den Schulen und Hochschulen bringen vor allem junge Leute mit dem Langzeitgedächtnis des Radios in Kontakt. Beide Seiten profitieren davon, wenn nur die Hälfte eines Geschichte-Leistungskurses noch Willy Brandt kennt oder ein Grundschüler einen sachlichen Fehler im Stichtag über den ersten Gameboy findet.
Geht es bei den Schulklassen oft um die hör- und erlebbare Vor- oder Nachbereitung des gegenwärtigen Geschichtsunterrichts, möchten die Lehrer gern mehr über Didaktik und Machart der Stichtage und ZeitZeichen erfahren. Denn sehr häufig werden die im Netz stehenden Beiträge von Lehrern im Unterricht eingesetzt, weil die Stücke nicht dozieren und belehren, sondern zur Diskussion anregen.
Dabei müssen alle Fans einmal im Jahr ganz tapfer sein. Die Aprilscherze der Redaktion sind legendär und haben schon hohe Wetten ausgelöst und Ehen gefährdet. Dass Sächsisch einmal Pflichtfach an DDR-Schulen, Martin Luther der Urvater des Halloween-Festes oder Hannibal der Gründer von Bayern war, haben mehr Menschen geglaubt, als sie zugeben würden.
Ein anderes Phänomen der Sendereihe ist die Suche nach dem besonderen Ansatz: Aus einer Not wurde eine Tugend gemacht. Während andere Medien einen Gedenktag gern weit vor dem eigentlichen Datum feiern, muss eine Sendung mit dem Untertitel »Stichtag heute« sich und dem Datum treu bleiben. Um nicht einen fahlen Aufguss gegenüber Zeitungen und Fernsehen zu liefern, suchen wir den möglichst unbekannten Randaspekt eines großen Themas oder entscheiden uns im Zweifel für einen anderen Stichtag. Das irritiert manchmal, überzeugt aber immer häufiger.
»Der Titel der Sendung hat mich erst gar nicht angemacht, dann bin ich aber drangeblieben und habe es nicht bereut«, schreibt uns fast jede Woche unsere ebenso treue wie kritische Kundschaft.
Genau diese Redaktionsphilosophie liegt der Auswahl der 21 Kapitel aus 21 Jahrhunderten zugrunde, mit Schwerpunkt auf dem zweiten Jahrtausend. Alle Themen waren mindestens am Rande Gegenstand eines Stichtags und ZeitZeichens, viele haben eines gemeinsam: Sie behandeln oft unbekannte Personen wie Theodor aus Pungelscheid oder den Hofmohr Soliman, Besonderheiten wie den Freistaat Flaschenhals oder Calmeyers Listen. Daneben geht es um weniger bekannte Details aus dem Leben historischer Personen wie Sissis »Schattenfrau« Katharina Schratt oder den Juwelenfimmel Augusts des Starken. Eine Reportage versucht, die letzten Geheimnisse um den Tod des Malers Vincent van Gogh zu lüften, eine andere begibt sich auf die Spuren von Dracula in Rumänien. Im letzten Kapitel sind wir unserer Zeit sogar schon ein wenig voraus.
Die Lektüre der in sich abgeschlossenen Geschichten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Sport – mal ernst, mal heiter, mal schaurig, mal skurril – dauert etwa so lang wie die Sendung selbst. Eine Viertelstunde: So viel Zeit (-Zeichen) muss sein.
Viele historische Aha-Erlebnisse und viel Vergnügen beim Lesen wünscht Ihnen
{Ronald Feisel}
(Leiter der Redaktion »Stichtag/ZeitZeichen«)
1.
Caligula nur bedingt schuldfähig
Ein Sadist soll er gewesen sein, der römische Kaiser Caligula, ein Ungeheuer, ein Henker. Krank im Kopf, richtig pervers. Praktisch ein Irrer! Frauen hat er geschändet, Senatoren verstümmelt, und als sein Volk hungerte, verschloss er die Getreidespeicher. Die Staatsfinanzen wollte er mithilfe eines Bordells sanieren, das er in seinem Palast eröffnete. Wahllos schlachtete er den Adel ab und zwang die Väter dazu, der Hinrichtung ihrer Söhne beizuwohnen. Als einer sich wegen Krankheit entschuldigen ließ, schickte Caligula ihm eigens eine Sänfte.
Er hat eine breite blutige Spur im Römischen Reich hinterlassen, obwohl er nur vier Jahre regierte, von 37 bis 41 nach Christus. 2000 Jahre lang haben ihn die Historiker verurteilt. Denn wer, bitte schön, würde auf die absurde Idee kommen, sein Pferd zum Konsul zu ernennen? Caligula. Ein Name, bis in alle Ewigkeit beschmutzt und entehrt.
Doch plötzlich meldet sich jemand zu Wort und behauptet, man müsse Caligulas Handlungen völlig neu interpretieren. Sich ernsthaft in seine Lage versetzen und die Quellen anders als bisher befragen. Dann könne man gar nicht anders, als zu verstehen, was den Kaiser wirklich umgetrieben habe. Ich frage mich, ob Caligula ein Recht darauf hat? Hat er sich denn in seine Opfer hineinversetzt? Hat er die Tränen gesehen, die Schreie des Leidens gehört? Aber gut, lassen wir uns auf ein Wiederaufnahmeverfahren ein.
Geboren wurde er am 31. August im Jahr 12 nach Christus. Sein Vater war der siegreiche Feldherr Germanicus, seine Mutter hieß Agrippina die Ältere. Caligulas richtiger Name lautete Gaius Iulius Caesar. Klingt eigentlich ganz hübsch, aber bleiben wir bei Caligula, was so viel heißt wie »Soldatenstiefelchen«, auch wenn er diesen Spitznamen erst nach seinem Tod erhielt.
Seine Kindheit muss ein einziges Fest gewesen sein. Jubel, wo immer die Familie auftauchte. Begeisterte Gesichter, Hochrufe, Festgelage und wertvolle Geschenke. Darunter für den kleinen Kerl die allerliebsten kleinen Soldatenstiefel. Es war eine glückliche Zeit, aber sie endete auf grausame Weise: Sein Vater wurde vergiftet. Da war Caligula erst sieben Jahre alt. Ein Schock war das schon, das ist sicher. Doch bringt das schon mildernde Umstände?
Von diesem Moment an veränderte sich Caligulas Leben. Jetzt hieß es aufpassen und überleben. Rom war ein fauliger Sumpf, in dem man rasch untergehen konnte. Intrigen und Verschwörungen an jeder Ecke.
Kaiser Tiberius hatte sich auf Capri verschanzt, weil er das Leben in Rom hasste. Zu viele warteten nur auf seinen Tod, und wer hätte das besser gewusst als Caligula, denn er selbst war einer von denen, die warteten. Es konnte gar nicht anders sein, denn Tiberius hatte Caligulas Mutter und die Brüder in die Verbannung geschickt. Plötzlich war er ganz auf sich gestellt, nur die Schwestern waren ihm geblieben. Eine von ihnen, Drusilla, hatte der junge Caligula besonders lieb. Die Historiker sprechen von Inzest, und damit beginnt die lange Liste der Klagen. Caligulas neuer Verteidiger jedoch behauptet, die Geschichte vom Inzest sei eine gezielte Fehlinformation. Und er erklärt es so:
Sueton war der Erste, der den Inzest erwähnte, doch er verfasste seine Biografie erst 100 Jahre nach Caligulas Tod, kannte ihn also gar nicht aus eigenem Erleben. Seneca und Philo hingegen waren Zeitgenossen Caligulas, beide bestens über alle seine Taten informiert, und sie ließen auch kein gutes Haar an ihm. Eine Skandalgeschichte wie Geschwisterliebe hätten sie sich niemals entgehen lassen, doch bei ihnen lesen wir kein einziges Wort davon.
So betrachtet, klingt die Geschichte vom Inzest tatsächlich unglaubwürdig. Seltsam, dass das bisher noch niemandem aufgefallen ist. Wer hat sich da überhaupt zu Caligulas Verteidigung aufgeschwungen? Ein Althistoriker aus Berlin, Professor Aloys Winterling. Akribisch hat er alle Quellen zusammengetragen, neu bewertet und ein Buch darüber geschrieben. Jetzt will er ins Wanken bringen, was seit Jahrhunderten felsenfest als Wahrheit gilt. Und zuerst müssen wir wohl den Inzest von der Liste streichen.
Sueton warf Caligula noch viele andere Dinge vor, zum Beispiel die Lust an sexuellen Ausschweifungen und Folterungen. Dieselben Vorwürfe machte er allerdings fast wortwörtlich auch anderen Kaisern, was seine Behauptungen fragwürdig erscheinen lässt. Außerdem, so fügt Professor Winterling hinzu, ließ Sueton – der ja die Hauptquelle für Caligulas Bösartigkeit ist – konsequent jedes Entlastungsmaterial weg, was sein Verhalten der Nachwelt hätte erklären können. Stattdessen wollte er den Kaiser als wirren, perversen Geist schildern. Suetons Ausführungen sollten demnach mit großer Vorsicht genossen werden.
Der alte Kaiser Tiberius befahl eines Tages, Caligula solle bei ihm auf Capri leben. Das brachte den 18-Jährigen in die Klemme, er war gefährdet und bedroht wie nie zuvor. Nichts als Gewalt und Angst erfuhr Caligula auf Capri. In seiner Umgebung wurden täglich Adlige in Majestätsprozessen angeklagt und hingerichtet. Auch Caligulas Mutter und seine Brüder zwang man zum Selbstmord oder tötete sie. Tacitus berichtete, Caligula habe sich aber keine Trauer oder Angst anmerken lassen: »Seinen grausamen Charakter verbarg er hinter einer heuchlerischen Bescheidenheit und gab nicht bei der Verurteilung der Mutter, nicht beim Sturz der Brüder einen Ton von sich.« War das nicht schon Beweis für Caligulas Schlechtigkeit? Wieder mischt sich der Berliner Biograf ein: Caligula habe überleben wollen, gibt er zu bedenken. Kritik an Tiberius hätte jedoch den sicheren Tod bedeutet, und darum habe er geschwiegen.
Nachdem Tiberius gestorben war, kehrte Caligula zurück nach Rom und wurde sein Nachfolger. Mit 24 Jahren war er der jüngste Kaiser, der bis dahin jemals den Thron bestiegen hatte. Die Römer hofften auf eine glückliche Zeit unter seiner Regierung. Und Caligula? Worauf hat er gehofft? Er wusste doch, wie gefährlich und verlogen das Leben in Rom war, dass ein Kaiser keine Moral, sondern List brauchte, um an der Macht zu bleiben und zu überleben. Caligula war nach Augustus und Tiberius erst der dritte römische Kaiser, aber das System war schon marode, bevor er an die Regierung kam, das muss man ihm zugestehen.
Anfangs sah alles noch ganz gut aus. Er ließ die Gefangenen frei und befahl die öffentliche Verbrennung von alten Prozessakten. Zog einen Schlussstrich unter die Jahre der Gewalt und Verfolgung. Verschenkte Geld und erhöhte den Sold für Legionäre und Leibwächter. Das Volk atmete auf, genoss Feste und Zirkusspiele, und niemand hatte mehr Spaß daran als der Kaiser selbst. Gleichzeitig blieb er bescheiden, wollte nicht, dass Statuen mit seinem Abbild aufgestellt würden. Als neuer Augustus war er zu Beginn seiner Regierungszeit eigentlich perfekt.
Dann wurde er krank und schwebte zwischen Leben und Tod. Woran genau er litt, weiß bis heute niemand. Beunruhigt strömte das Volk zum Palast und betete tagelang für seinen geliebten Herrscher.
Caligulas Ratgeber Macro und Silanus begannen schon damit, die Zeit nach seinem Tod zu organisieren. Sie riefen den Vetter Tiberius Gemellus zu sich und bereiteten ihn für das Amt des Kaisers vor. Als Caligula davon erfuhr, raste er vor Wut. Noch war er ja am Leben. Und er glaubte fest daran, gesund zu werden und einen leiblichen Sohn zeugen zu können. Doch was wäre das Leben seines Kindes wert gewesen, wenn es schon einen designierten Nachfolger gegeben hätte? Man kann Caligulas Wut verstehen, niemand möchte dabei zuschauen, wie die Zeit nach dem eigenen Tod geplant wird. Vom Krankenbett aus bestimmte er seine Schwester Drusilla zur Erbin. Und kaum konnte er wieder aufstehen und die Dinge selbst in die Hand nehmen, da vernichtete er die Konkurrenten: Tiberius Gemellus wurde auf Caligulas Befehl in den Tod getrieben und seine beiden untreuen Ratgeber gleich mit. »Selbsterhaltung ist das, nicht Mord«, kommentierten sogar die dem Kaiser nicht wohlgesinnten Zeitgenossen diesen Rachezug. Nur einer konnte überleben, Caligula oder sein Gegner. Dagegen lässt sich wohl nichts sagen.
Dann schnell zum nächsten Vorwurf: Wie unerhört hat Caligula den Adel vor den Kopf gestoßen! Ihn gedemütigt und lächerlich gemacht! Schon lange standen die Aristokraten in einem absurden Luxuswettstreit miteinander. Wer lädt zum prächtigsten Gelage ein, wessen Frau trägt den teuersten Schmuck? Und was tat Caligula? Baute die größten Paläste, kaufte Schiffe mit ganzen Obstwiesen und Weinbergen darauf und behängte seine Frau Lollia mit Juwelen im Wert von Millionen Sesterzen! Begriff der Kaiser denn nicht, dass er den Adligen dadurch den ganzen Spaß verdarb? Genau das war sein Ziel, sagt der Verteidiger.
Aber dann, wie unpassend war doch sein Verhalten in der Öffentlichkeit: Im Zirkus fieberte er mit den Kämpfenden, trainierte mit den Gladiatoren. Im Theater klatschte, jubelte, sang und schimpfte er. Und selbst sein Verteidiger aus Berlin muss zugeben, dass es vor Caligula noch nie so einen jungen, verschwenderischen, zirkusbegeisterten Kaiser in Rom gegeben hatte.
Im Juni 38 starb Drusilla, die Lieblingsschwester. Seneca hatte recht, als er sagte: So, wie Caligula sich nicht kaiserlich freuen konnte, so war er auch zu einer kaiserlich würdevollen Trauer nicht fähig. Rasierte sich nicht mehr, weinte, ließ sich untröstlich durchs Land fahren und erklärte Drusilla in seinem Schmerz zur Göttin. Manche Historiker glauben, Caligula habe durch ihren Tod einen seelischen Knacks erlitten. Das klingt so unwahrscheinlich nicht. Doch es scheint da noch eine andere Deutungsmöglichkeit zu geben:
Musste Caligula Drusilla vielleicht deshalb zur Göttin erhöhen, weil er sie zuvor zu seiner Erbin erklärt hatte? War das die Logik des Kaisers? Mag sein, doch Caligulas Logik ist 2000 Jahre später nicht mehr so leicht nachzuvollziehen.
»In den ersten beiden Jahren führte Caligula die Regierungsgeschäfte äußerst hochherzig und erwarb sich durch seine Mäßigung großes Wohlwollen seitens der Römer und der Untertanen«, schreibt der Geschichtsschreiber Flavius Josephus, der 15 Jahre jünger war als Caligula. Aber was passierte dann? Was war es, das zu seinem Sturz führte?
»Die Stunde der Wahrheit« war der Anfang vom Ende. Caligula hielt eine Rede im Senat und sprach als Erster Dinge aus, die nie zuvor an diesem Ort laut gesagt worden waren. Stück für Stück entlarvte Caligula das Verhalten der Senatoren als Heuchelei, Verstellung und Lüge. Er deckte auf, wie sie sich unter Tiberius gegenseitig denunziert hatten, um andere in den Tod zu treiben und selbst Nutzen daraus zu ziehen. Das Ungeheuerliche aber, so sein Anwalt Professor Winterling, steckte nicht in dem, was Caligula sagte, sondern darin, dass er es sagte. Das verzieh die Aristokratie ihm ebenso wenig wie den Luxus, mit dem er sie gedemütigt hatte. Fortan gab es keinen Tag mehr, an dem ihm nicht jemand nach dem Leben getrachtet hätte. Dreimal verschworen sie sich gegen den Kaiser. Er hatte keine Freunde, keine Vertrauten, keine Unterstützer. Die Senatoren wollten ihn loswerden und spannten dazu die Geschichtsschreiber vor ihren Karren. Kein Verdacht war ihnen zu abscheulich, die schrecklichsten Dinge wurden ihm unterstellt. Doch halt, da ist noch die Geschichte mit dem Pferd. Auch sie nur eine Erfindung?
Nein, diese Anekdote ist verbürgt. Was hat er sich bloß dabei gedacht, anzukündigen, er würde sein Lieblingspferd Incitatus zum Konsul ernennen? Warum hat er dem Gaul noch Haus und Personal geschenkt, damit in seinem Namen Gäste bewirtet werden konnten? Was, um Himmels willen, ist in den Kaiser gefahren?
Wie denn, ein Witz sollte das sein? Er wollte die Konsuln lächerlich machen, ihnen seine Macht beweisen, weil er jeden zum Konsul machen konnte, selbst ein Pferd? Doch nicht jeder in Rom wusste diesen Witz zu schätzen. Der ging nach hinten los. Statt sich dem Kaiser zu unterwerfen, beschimpften sie ihn als wahnsinnig. Auch wenn inzwischen klar sein dürfte, dass Caligula nicht wahnsinnig war. Der Senat hätte ja einen geisteskranken Kaiser beseitigen und aus dem Amt entfernen müssen. Aber es hielt ihn damals eben niemand wirklich für wahnsinnig. Man wollte nur, dass es so aussah. Klingt glaubwürdig.
Zur dritten großen Verschwörung kam es im Jahr 39. Diesmal waren sogar die Schwestern an den Plänen für die Ermordung Caligulas beteiligt. Er musste sich wehren, die Schuldigen rasch und ohne Skrupel töten, das erscheint jetzt klar. Aber die antiken Historiker, die sein Verhalten verurteilten, haben die Verschwörung verschwiegen. So erschienen alle seine Gegenmaßnahmen sinnlos, brutal und unmotiviert.
Und wie war das jetzt eigentlich mit dem Bordell in seinem Palast, von dem Sueton berichtet? Aus Geldmangel soll Caligula auf dem Palatin ein neues Gebäude errichtet haben, darin luxuriöse Gemächer, in denen vornehme römische Damen und Knaben zur Prostitution gezwungen wurden. Auch hier erhebt sein Verteidiger Einspruch. Es handelte sich um eine Art Kidnapping, sagt er. Die vornehmen Römer beteuerten, sie wären überaus gerne in Caligulas Nähe und wünschten sich nichts sehnlicher als seine Freundschaft. Das war gelogen, wie jeder wusste. Also erteilte der Kaiser den edelsten Senatoren die Erlaubnis, mit ihren Frauen und Kindern auf dem Palatin zu wohnen. Sie hätten sich dafür sogar durch Geldgeschenke dankbar zeigen »dürfen«. Damit hat Caligula die Familienmitglieder der führenden Senatorenschicht faktisch als Geiseln auf dem Palatin unter die Bewachung der Prätorianergarde, seiner Leibwache, gestellt und sie zur Zahlung von Gold und Silber gezwungen. Das war seine Art der Notwehr gegen den dritten Mordversuch.
Für die Senatoren muss es schockierend gewesen sein, dass ein Kaiser ihre Schmeicheleien wörtlich nahm, um sie vorzuführen wie die Tanzbären und ein böses Spiel mit ihnen zu treiben. Einem Schmeichler, der Caligula sagte, er wolle sein Leben gerne hingeben für ihn, hat er töten lassen. Das macht ihn nicht sympathisch, ganz gewiss nicht. Aber es verändert das Bild von Caligula. Aus dem Monster wird bei näherer Betrachtung ein verzweifelter Zyniker, der keine Freundschaft, keine Nähe und kein Vertrauen mehr fand. Und sicher war er nicht überrascht, als er am 24. Januar 41 auf dem Weg ins Theater plötzlich den Meuchelmördern gegenüberstand. Es waren Mitglieder der Prätorianergarde, seine ganz persönlichen Leibwächter, von Adligen bestochen. Er kannte sie alle.
Genug. Wer will Caligula jetzt noch in die Hölle schicken? Ich nicht. In der Hölle war er bereits. Knapp vier Jahre lang als römischer Kaiser. Meinetwegen kann er ruhen. Frieden wird er ohnehin nicht finden – mit einem Freispruch zweiter Klasse.
{Maren Gottschalk}