Ronald D. Gerste

Die
Heilung
der Welt

Das Goldene Zeitalter der Medizin
1840 – ​1914

Klett-Cotta

Impressum

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Klett-Cotta

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Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg
unter Verwendung eines Fotos von © Bridgeman, akg-images

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98409-5

E-Book: ISBN 978-3-608-11643-4

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

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Prolog

Hände waschen, Leben retten

Auf den ersten Blick sah es im Supermarkt aus wie immer. Die Obstabteilung zeigte eine üppige Vielfalt, die Fleisch- und Wursttheke war exzellent sortiert, und auf Freunde kleiner, süßer Sünden warteten mehrere Regalmeter von Pralinen und Schokoladen, von Vollmilch bis zu Tafeln mit knapp 90 Prozent Kakaoanteil und exotischen Beigaben wie Chilischoten oder Meersalz. Nur zwei Eigentümlichkeiten im Sortiment mochten dem aufmerksamen Kunden beim Bummel durch die Konsumwelt auffallen. Es gab kein Klopapier. Und es klaffte eine weitere Lücke: dort, wo bei den Produkten zu Sauberkeit und Hygiene normalerweise die Fläschchen unterschiedlicher Größe zu finden waren, die weltweit als Hand Sanitisers gelten; die deutsche Sprache hat dafür den etwas umständlichen Begriff Händedesinfektionsmittel(1).

Der Supermarkt lag in der Einkaufszone von Stuttgart oder Berlin, in einem Einkaufszentrum am Rande von Düsseldorf oder über der Elbe in Magdeburg, er war in Wien oder in Luzern. Und auch in anderen Ländern bot sich ein ähnliches Bild, als zunächst wenige, dann immer mehr und schließlich alle Menschen mit Gesichtsmaske(1) zum Einkaufen gingen, mit misstrauischen Blicken andere Kunden musterten und dann das Geschäft meist schnellstmöglich wieder verließen.

Es war ein Frühjahr im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts.

Auf den ersten Blick sah der Eingang zur Klinik aus wie immer. Die Ärzte und Medizinstudenten kamen mit dem gerade von Letzteren bekannten, überwiegend fröhlichen Geräuschpegel aus einem Komplex des großen, vom seligen Kaiser Joseph II. konzipierten Krankenhauses, der geradezu der Kontrapunkt zu der Abteilung bildete, die zu betreten die Gruppe im Begriff war. Sie kamen vom Tod und gingen zu neuem Leben. Hinter ihnen lagen die morgendlichen Sektionen, das Studium des menschlichen Körpers und der Ursachen des Ablebens – die Pathologie des Allgemeinen Krankenhauses(1) Wien war die größte und berühmteste in der zeitgenössischen Medizin. Und sie betraten die Erste Geburtshilfliche(1) Klinik, eine von zwei Abteilungen, deren Flure vom Schreien neugeborener Babys widerhallten.

Das Gelächter, die angeregte Konversation der jungen Mediziner verstummte, als sie – meist erst auf den zweiten Blick – bemerkten, was in dem Eingangsbereich an diesem Tag so anders war. Ein Waschgefäß stand dort auf einem Tisch, daneben ein Behältnis mit einer streng riechenden Flüssigkeit. Und eine Tafel, auf der unmissverständliche Worte geschrieben standen. Von heute an, so las man mit Erstaunen, teilweise auch mit Entrüstung, können die Herren Collegae den Kreißsaal und die Wöchnerinnenstation nur betreten, nachdem man sich die Hände ausgiebig mit einer Chlorkalklösung(1) gewaschen habe(2). Ohne Ausnahme. Die Studiosi empfanden es mehrheitlich als Zumutung – doch sie gehorchten. Manche Revolutionen fangen unscheinbar an; dies war eine: Ein Kind zur Welt zu bringen musste nicht länger ein Todesurteil für die Mutter bedeuten.

Es war ein Frühjahr um die Mitte des 19. Jahrhunderts.

Vieles, was uns selbstverständlich erscheint, hat irgendwo, irgendwann einen Anfang gehabt. Wer bei Google Suchbegriffe wie »Geschichte des Händewaschens« oder »History of Handwashing«(3) eingibt, wird Ergebnisse erhalten, in denen fast immer und oft schon im ersten Satz der Name des Ignaz Philipp Semmelweis(1) auftaucht. Manche dieser Beiträge erwecken gar den Eindruck, dass man vor dem Wirken dieses ungarischstämmigen Arztes in Wien, vor 1847, sich nicht oder kaum die Hände gewaschen hat. Sicherlich war die Neigung zu dieser uns heute grundlegend erscheinenden Körperhygiene über die Epochen von der Vorstellungswelt der Menschen und natürlich ihrer sozialen Stellung abhängig gewesen. Grob verallgemeinernd gesprochen verbinden wir mit unserem Bild von der griechischen, vor allem aber der römischen Antike mit ihren Bäderanlagen und Aquädukten – auch wenn diese vor modernen Hygienikern allein aufgrund der Wasserqualität wenig Gnade finden würden – eher einen Sinn der Menschen für körperliche Sauberkeit als mit manchen von Badezimmern und Toiletten freien Schlössern des europäischen Adels der Frühen Neuzeit. Wie dem auch sei – das Händewaschen(4) aus einem medizinischen Motiv, zur Prävention, in diesem Fall als einem Mittel gegen eine himmelschreiend hohe Müttersterblichkeit, geht in der Tat ganz überwiegend auf Ignaz Philipp Semmelweis zurück. Die auf ihn verweisenden Beiträge, auf die Google schnellstmöglich stößt, meist in Zeitungen, Zeitschriften und anderen Medien online publiziert, sind fast alle im gleichen Jahr erschienen. Im Jahr 2020.

Das Leben, wie wir es kennen und unter normalen Umständen für selbstverständlich halten, beruht auf Erfahrungen und Fortschritten derer, die vor uns kamen – Fortschritte, die oft hart und unter Opfern erkämpft werden mussten, wie es uns die Vita von Semmelweis(2) zeigt. Bewusst werden wir uns der Linien, die das »moderne« Dasein mit der Vergangenheit verbinden, oft erst, wenn die Normalität bedroht ist, in Zeiten von Krisen und Ungewissheit. Auf die Frage nach den Wurzeln dieser uns vertrauten, aber letztlich doch fragilen Moderne wird ein jeder gemäß seiner eigenen Weltsicht eine individuelle Antwort geben. Man mag auf die Erfindung der Buchdruckerkunst um die Mitte des 15. Jahrhunderts verweisen, ohne welche die Vermehrung und Verbreitung von Wissen kaum denkbar wäre. Es können gesellschaftliche Fortschritte als Morgenröte der Gegenwart gelten, wie die Abschaffung der Sklaverei, die Einführung des Frauenwahlrechts oder die Etablierung der Demokratie als Staats- und Regierungsform. Technik- und Digitalfreaks werden möglicherweise auf eine erst rund 40 Jahre zurückliegende Wegscheide verweisen, als das Wort Computer nicht mehr allein in Zusammenhang mit Institutionen wie NASA und CIA verwendet wurde, sondern das Präfix Home bekam, als die ersten Ataris und Macintoshs in bürgerliche Wohn- und Arbeitszimmer Einzug hielten.

Nichts indes – weder die technische Ausrüstung oder das schönste Auto in der Garage noch die weitesten Reiseaktivitäten und selbst nicht die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen der eigenen Existenz – bestimmt so unmittelbar unser Leben, unsere Befindlichkeit wie der körperliche und auch der mentale Zustand. Gesundheit oder das Fehlen derselben, Krankheit, sind die elementarsten Faktoren, die das eigene Leben definieren, lenken und irgendwann – unausweichlich – beenden. Das Vorliegen einer Krankheit oder allein die Erwartung, dass eine solche uns treffen könnte, letztlich gar die Angst vor einem viele oder gar alle Menschen heimsuchenden pathologischen Geschehen sind in der Lage, alles scheinbar Vertraute, Sichere zu erschüttern und das Leben Einzelner oder Vieler in eine ganz andere Richtung zu lenken.

Wenn es um den Beginn der Moderne aus der Sicht unserer Körperlichkeit, unserer Gesundheit geht, fällt der Verweis auf eine Epoche unvergleichbaren Fortschritts leicht. Es ist die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der Entdeckungen und Erfindungen wie nie zuvor gemacht wurden, in der allmählich die weißen Flecken auf der Landkarte der medizinischen Möglichkeiten kleiner wurden. Dieses Buch soll in diese Zeit entführen, den Leser an den wichtigsten Ereignissen teilnehmen lassen, die unser heutiges Leben erst ermöglichen, und einige der Wegbereiter, der Pioniere dieser faszinierenden Ära lebendig werden lassen, ohne dass es einen Anspruch auf Vollständigkeit oder auf eine globale Perspektive erheben könnte; die Schauplätze unserer Handlung sind Europa und Nordamerika.

Es ist gleichwohl keine Medizingeschichte. Es soll eher ein Zeitgemälde einer auf so vielen Gebieten fortschrittsgläubigen Epoche sein, betrachtet aus primär medizinischer Sicht. Die Durchbrüche der Ärzte in ihrer Goldenen Zeit sind eingebettet in eine beispiellose Innovationsfreudigkeit dieser Jahre, für die unter anderem das Aufkommen von lebensechten Bildern (Daguerreotypien und Fotografien) steht, die gegen Ende des Jahrhunderts auch noch sich zu bewegen lernten, in denen sich der Siegeszug der Eisenbahn vollzieht und Echtzeitkommunikation dank auf dem Meeresboden verlegter Kabel möglich wird. Die Ärzte und Forscher setzen zu ihren Pioniertaten vor dem Hintergrund einer sich rasch wandelnden Demografie mit dem rasanten Wachstum von Städten und einer massiven Industrialisierung an – und sie tun dies in einem sich wandelnden politischen Umfeld. Immer stärker bestimmen in dieser Epoche Ideologien und Parteibildungen die Debatten, neue Nationalstaaten wie Deutschland und Italien entstehen. Nach wie vor ist Großbritannien die Weltmacht Nummer eins, doch auf diese Rolle bereiten sich zunehmend die Vereinigten Staaten nach einem blutigen, auch aus medizinischer Sichtweise epochalen Bürgerkrieg vor. Und so werden uns nicht nur Semmelweis und Robert Koch und Louis Pasteur und Sigmund Freud begegnen, sondern auch Baumeister und Eisenbahnpioniere und einige der Herrscher, welche die Epoche prägten – eine davon, wir werden sie als Handelnde und als Patientin sehen, gab gar dem Zeitalter seinen Namen.

Stichwort Zeitalter: Als zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts würde man gemeinhin die Jahre von 1850 bis 1900 bezeichnen. Die auf dem Titel dieses Buches zu findenden Jahreszahlen ziehen die Grenzen etwas großzügiger. Das liegt nicht nur daran, dass Historiker gern vom »langen 19. Jahrhundert« sprechen; sie meinen damit die Zeit bis 1914 und lassen es oft mit der Französischen Revolution ab 1789, manchmal aber auch mit Napoleons endgültiger Niederlage 1815 und dem Wiener Kongress beginnen (womit es ein versetztes, aber kein längeres Jahrhundert wäre). Es hat vielmehr damit zu tun, dass schon kurz vor der Jahrhundertmitte zahlreiche Weichen für die Zukunft gestellt wurden, unter anderem durch die Revolutionen der Jahre 1848/49. Vor allem aber damit, dass zwei der großartigsten medizinischen Entwicklungen – abermals muss unterstrichen werden: ohne die unser Leben heute nicht denkbar wäre – in den 1840er Jahren stattfanden.

Diese Saga mit dem Jahr 1914 zu beenden, ist auch notwendig, um deutlich zu machen, dass der Buchtitel eine Erwartung einer sich manchmal an sich selbst berauschenden Zeit wiedergibt und keine Realität. Die Welt kann nicht geheilt werden. Sie kann allenfalls verbessert, lebenswerter gemacht werden, und dafür stehen viele der Handelnden in diesem Buch. Das Jahr 1914 markiert das Scheitern vieler Hoffnungen, das grausame Erwachen aus dem Traum, dass es immer nur aufwärts gehen werde. Es waren keine Ärzte, welche die Katastrophe auslösten. Doch dass auch diese stets eines Scheiterns ihrer Bestrebungen gewärtig sein müssen, soll der Epilog symbolisieren. Er erzählt von einer Pandemie, die nicht in den Griff zu bekommen war.

Die Ärzte, die Wissenschaftler, die Erfinder der Epoche, der wir uns nähern wollen, waren meist – es gab Ausnahmen – von einem fast unerschütterlichen Zukunftsglauben erfüllt, von der Vorstellung eines stetig besseren Morgen. Ein bedeutender Chirurg, Ferdinand Sauerbruch(1), der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also mitten in unserer Saga, geboren wurde, schrieb später rückblickend auf seine Jugendjahre: »1875 kam ich in Barmen zur Welt. Der Zeit, in der ich geboren wurde und in der ich aufwuchs, wäre die Lebensangst der heutigen völlig unverständlich gewesen.« Er sei herangewachsen »inmitten einer Zeit des Wohlstandes und einer zuversichtlich vorwärtsblickenden Lebensauffassung«.[1]

Sie liegt wirklich lange zurück.

Scheinbar unendlich fern und doch so vertraut wirkend: Die 1840er Jahre waren eine Dekade enormen Fortschrittes und vielfach auch der Lebensfreude – wie auf diesem scheinbar zeitlosen Bild der Fotografiepioniere Hill und Adamson mit dem Titel ›Edinburgh Ale‹.

1.

Menschenbilder

Amerikaner lieben es, die Ersten zu sein (oder die Größten), und Robert Cornelius(1) war keine Ausnahme. Sein selbstgewisser Gesichtsausdruck im Moment seines Triumphes hat sich über Generationen bewahrt; die Zuversicht eines Angehörigen der noch jungen Nation jenseits des Atlantiks wirkt auch heute noch auf den Betrachter frisch und authentisch. Als es getan war, schrieb Robert Cornelius auf die Rückseite seines Werkes mit Stolz die Worte: »The first light picture ever taken. 1839.«[1]

Er irrte sich, was er aber nicht wissen konnte angesichts der Kommunikationsmöglichkeiten der Epoche, in der Nachrichten von der Alten in die Neue Welt mit der Geschwindigkeit (und in der »Mailbox«) eines Segel-, immer öfter aber auch eines Dampfschiffes transportiert wurden. Robert Cornelius(2) erfuhr daher mit Verzögerung, dass das erste »Lichtbild« kurz zuvor in Europa entstanden war, in Frankreich. Doch Cornelius, ein Tüftler und Erfinder aus Philadelphia, war dennoch ein Pionier und erwarb deshalb das in seiner Heimat so wertgeschätzte Prädikat First. Denn in den (wahrscheinlich) ersten Oktobertagen des Jahres 1839 schuf Cornelius das erste Selbstporträt in der Geschichte der Fotografie – das erste Selfie in heutigem Sprachgebrauch.

Was an diesem Foto auch mehr als 180 Jahre später fasziniert, ist die Lebendigkeit von Cornelius(3)’ Physiognomie, sein wahrscheinlich beabsichtigt zerzaustes Haar, sein scharfer Blick leicht am Betrachter vorbei. Es wirkt fast gespenstisch: Ungeachtet der Flecken und Schäden auf der Silberplatte beschleicht den modernen Betrachter der Eindruck, Cornelius könnte sich im nächsten Moment bewegen, zu uns sprechen. Viele später im 19. Jahrhundert entstandenen Fotos zeigen Menschen, die – oft durch ihren abweisenden Gesichtsausdruck oder durch die aus heutiger Sicht wenig attraktiven Frisuren in einem Zeitalter vor Erfindung des Shampoos – unnatürlich wirken, fest in einer anderen, vergangenen Welt verankert sind. Cornelius(4) indes ist auf seinem großen Werk einer von uns – nur vielleicht etwas forscher, etwas selbstgewisser.

Die Erfindung der Fotografie zeigt geradezu exemplarisch auf, wie schnell Neues, Faszinierendes sich zu Beginn jener Epoche, die eine Blütezeit für Innovationen, gerade auch medizinischer Natur, wurde, sich ausbreitete, begeistert aufgegriffen wurde – und dass manchmal verschiedene Individuen, oft Tausende von Kilometern getrennt, gleichzeitig kurz vor einem Durchbruch standen oder diesen auch erzielen konnten. Über Jahrhunderte war das Ansinnen, das Bildnis eines Menschen zu erschaffen, auf Angehörige bestimmter sozialer Schichten begrenzt. Ein Porträt oder die Darstellung einer Gruppe von Menschen erforderte die Anwesenheit und die Fähigkeiten eines Malers sowie die Mittel, diesen zu bezahlen. Manchmal tat es indes auch ein Zeichenstift in der Hand eines begabten Freundes oder Familienmitgliedes. Einige solcher Zeichnungen sind berühmt – weil Objekt und manchmal auch Zeichner berühmt waren oder es später wurden wie im Fall der von Franz Theodor Kugler(1) zehn Jahre vor Erfindung der Fotografie angefertigten Zeichnung des noch jungen Heinrich Heine(1).

Mussten ein Landesherr oder vielleicht seine Konkubine noch tagelang Modell sitzen (oder vielleicht auch stehen oder liegen), wenn sie sich von einem Hofmaler porträtieren lassen wollten, so bedurfte es für das Objekt der von Robert Cornelius(5) angewandten Methode nur noch eines Zeitaufwandes von 15 oder 20 Sekunden. Dies und die weitgehend problemlose Verfügbarkeit der Platten und der notwendigen Chemikalien (ein gewisses Budget vorausgesetzt) führte in kürzester Zeit zu einer Demokratisierung des Porträts. Und zu einer Allgegenwart von Bildnissen von Menschen ab etwa 1840: Berühmten und Unbekannten, Jungen und Alten, aber auch Gesunden wie Kranken. Der Mann, der Robert Cornelius um einige Wochen oder gar Monate geschlagen hatte beim Bestreben, das erste light picture zu schaffen, war Louis-Jacques-Mandé Daguerre(1), der sein wahrscheinlich bereits im Jahr 1838 entstandenes Foto am 19. August des folgenden Jahres in Paris vorstellte; dieser Tag wird in Werken zur Fotografiegeschichte meist als die Geburtsstunde der Technik und auch der Fotografie als Kunstform bezeichnet. Daguerre war indirekt auch an einem Ur-Prototyp beteiligt gewesen, der primär Joseph Nicéphore Niépce(1) zugeschrieben wird. Er entstand 1826 oder 1827 und war aus Niépces Arbeitszimmer in Saint-Loup-de-Varennes aufgenommen. Die mit lichtempfindlichem Asphalt beschichtete Platte bedurfte einer Belichtungszeit von acht Stunden. Dieser Umstand und das Resultat, eine recht undeutliche Anordnung von Gebäuden, sprachen gegen eine weite Verbreitung der von Niépce als Heliographie bezeichneten Methode – ein Begriff, der angesichts der benötigten hohen und langzeitigen Intensität von Sonnenlicht durchaus angemessen war.

Daguerres(2) Methode, die auf der Lichtexposition von Silberplatten (bald aus Kostengründen durch silberbeschichtete Platten aus anderen Materialien wie Kupfer ersetzt) beruhte, war praktikabler. Zunächst jedenfalls, bis einige Jahre später andere Verfahren wie die Kollodium-Nassplatte und das erste Positiv-Negativ-Verfahren des Briten Henry Fox Talbot(1) aufkamen. Als Daguerreotypie war die Methode indes bis weit nach der Jahrhundertmitte vor allem in Amerika populär. Daguerres heute weltberühmte Aufnahme, die Ansicht des Boulevard du Temple in Paris, zeigt die beiden ersten fotografisch dokumentierten Menschen. Ihre Namen sind nicht überliefert; es sind ein Schuhputzer und sein Kunde im linken Vordergrund. Ihnen muss Daguerre eingeschärft haben, sich über die gesamte Belichtungszeit nicht zu bewegen, bevor er wieder in sein Zimmer im dritten Stock stürmte, an dessen Fenster er seine Kamera aufgestellt hatte. Die anderen zu diesem Zeitpunkt sicherlich auf dem Boulevard anwesenden Flaneure wurden aufgrund dieser recht langen Zeitspanne nicht erfasst; sie hinterließen nicht einmal einen Schatten auf diesem einzigartigen historischen Dokument.

Vielsagend ist der schnelle Gang der Ereignisse: Im August 1839 berichtet Daguerre(3) einer breiteren Öffentlichkeit über die Innovation, einige Wochen später fertigt Cornelius(6) sein Selbstporträt an – und bereits wenige Monate darauf eröffnet am Broadway in New York das erste kommerzielle Fotostudio, das angesichts des Zustroms von Kunden umgehend ein Erfolg wird. Robert Cornelius steigt ebenfalls in das Geschäft ein und eröffnet Studios in Philadelphia und Washington. Die Begeisterung der Zeitgenossen für diese neue Technologie spiegelt ein sich zunehmend zumindest im Bürgertum ausbreitendes Lebensgefühl wider: eine fast grenzenlose Offenheit für technischen und wissenschaftlichen Fortschritt, sei es für die durch die Eisenbahn möglich gewordene individuelle Mobilität, sei es für die in der Fotografie Ausdruck findende Freude am eigenen Bildnis oder dem der Familie, sei es am medizinischen Fortschritt, den dieses dynamische Jahrzehnt, die 1840er Jahre, in so ungewöhnlich nachhaltigem Maße erleben wird.[2]

Fast könnte man es einen Fingerzeig nennen: Die beiden Inhaber des Daguerreian Parlor in Manhattan sind bis zu dessen Eröffnung am 4. März 1840 in einer Branche tätig gewesen, die wir heute als Medizintechnik bezeichnen würden. Alexander Wolcott(1) und John Johnson(1) fertigten bis dahin Geräte für Dentisten an. Und die Medizin ihrerseits machte sich die Fotografie umgehend zunutze. Der französische Arzt Alfred François Donné(1) war einer der führenden Mikroskopiker(1) der Epoche und hatte sich unter anderem durch die Erforschung der Absonderungen aus dem Urogenitaltrakt von Syphilis(1)- und Gonorrhoe(1)-Patienten einen Namen in der Fachwelt gemacht. Das war freilich eine Thematik, über die in einer breiten Öffentlichkeit nicht oder nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wurde. Im Zuge dieser Subspezialisierung entdeckte Donné 1836 das Protozoon Trichomonas vaginalis (das immerhin noch im Jahr 2016 von einer deutschen Fachgesellschaft zum »Einzeller des Jahres« gewählt wurde), den Erreger der Trichomoniasis(1), einer sexuell übertragbaren Erkrankung. Donné war so begeistert von den Welten, die das Mikroskop(2) – das um 1840 bei weitem noch nicht so leistungsfähig war wie die später von Robert Koch und Louis Pasteur benutzten Modelle – offenbarte, dass er aus eigener Tasche 20 Mikroskope kaufte, sie in einem Hörsaal der Universität in Paris aufstellte und damit relativ große Gruppen von Studenten unterrichten konnte.

Die Dokumentation dessen, was Donné(2) und seine Studenten unter dem Mikroskop(3) sahen, war indes oft unbefriedigend; die Befunde – ob menschliches Gewebe, ob Einzeller oder die Trichomonaden – konnten allenfalls per Zeichnung festgehalten und so für den Unterricht oder zur Publikation von Erkenntnissen genutzt werden. Dementsprechend war Donné elektrisiert, als er von Daguerres(4) Erfindung, bekannt gegeben nur einige Straßenzüge entfernt in Paris, hörte. Donné war ebenso wie Daguerre und wie praktisch alle an der Fotografie interessierten Zeitgenossen davon überzeugt, dass es endlich eine »objektive« Bildgebung gab, eine Methode, die Dinge zeigte, wie sie sind, neutral und unbestechlich. Man würde bald mit einer gewissen Enttäuschung lernen, dass Bilder verändert werden können, dass die Fotografie lange vor Photoshop ein Medium war, das sich prächtig zur Manipulation eignet. Manchmal aus ästhetischen Gründen, manchmal zu politischen und Geschäftsinteressen dienenden Zwecken. In erstere Kategorie gehört die in den 1850er Jahren entstandene und von Queen Victoria(1)s Gatten, Prinz Albert(1), sehr geschätzte Komposition Fading Away des britischen Fotografen Henry Peach Robinson(1), die das Sterben einer blassen jungen Frau – das Antlitz und auch der Titel deuten auf die »Schwindsucht(1)«, die Tuberkulose – im Kreise der Familie zeigt. Es entsprach voll dem Zeitgeschmack mit seiner Betonung der Werte des (groß-)bürgerlichen Familienlebens einerseits und einem Todeskult andererseits. Allerdings setzte Robinson die Szene und die Figurengruppe aus nicht weniger als fünf Negativen zusammen.

Donné(3) indes war an der authentischen Wiedergabe der mikroskopischen(4) Befunde interessiert und sicherte sich kompetente Unterstützung. Er begann mit einem jungen Mann namens Léon Foucault(1) zusammenzuarbeiten. Dieser hatte ein Medizinstudium begonnen, dies indes abgebrochen, da er sich nicht zur Arbeit an einer menschlichen Leiche und damit der üblichen Lernmethode im Fach Anatomie(1) überwinden konnte. Er würde seinen Weg in der Wissenschaft dennoch und ohne universitären Abschluss gehen und einer der berühmtesten Physiker des 19. Jahrhunderts werden. Sein Experiment im Pantheon von Paris 1851 mit einem Pendel, das als Foucaultsches Pendel in die Geschichte einging und mit dem er die Erdrotation nachwies, war eine der Glanzstunden der Wissenschaft.

Donné(4) und Foucault(2) arbeiteten an einer Methode, die Lichtstärke und damit die Bildqualität des Mikroskops(5) zu verbessern, und setzten dabei auch die Kraft der – ansonsten noch nicht wirklich zur Beleuchtung genutzten – Elektrizität in einem Photo-électrique-Mikroskop ein. Mit Daguerres(5) Technik und dank hoher Lichtintensität konnten sie Bilder mit einer für damalige Verhältnisse sehr kurzen Belichtungszeit zwischen 4 und 20 Sekunden anfertigen. Donné mikrofotografierte(1) alle denkbaren Körperflüssigkeiten von Blut über Speichel bis hin zu schambesetzteren Ausscheidungen, dazu Zellen oder Zellbestandteile aus unterschiedlichen menschlichen und tierischen Organen. Auch die elementaren Ingredienzen der menschlichen Fortpflanzung wurden bilddokumentiert, die Eizellen der Frau ebenso wie Spermien. Und selbstverständlich fotografierte Donné seine Entdeckung, die Trichomonaden. Die Bildsammlung erschien schließlich 1844 in einem Atlas unter dem Titel Cours de Microscopie(6) – der Vorläufer von Generationen derartiger Lehrbücher, die jeder Medizinstudent in seinem Grundstudium verinnerlichen muss.[3]

Von der Fotografie einzelner Gewebe des menschlichen Körpers bis zur Dokumentation eines, wie die Mediziner sagen, makroskopischen Befundes, der Fixierung des Erscheinungsbildes eines kranken Menschen zur Betrachtung durch Ärzte und Studenten – und im Laufe der Jahre immer häufiger durch eine an Bizarrem und Gruseligem interessierte Laienöffentlichkeit – war es nur ein kleiner Schritt. In Edinburgh gründeten David Octavius Hill(1) und Robert Adamson(1) 1843 ein Fotostudio, das im Verlauf von nur wenigen Jahren eine wahre Schatzkiste von Fotografien produzierte, die zurecht als früher Ausdruck einer neuen Kunstform gelten (und heute in den National Galleries of Scotland zu sehen sind). Hill war ein bereits etablierter Maler mit einem wachen Sinn für lohnende Motive und, so es sich um Personen handelte, deren geschicktes Arrangement. Die beiden schufen Landschaftsaufnahmen und Stadtansichten; jene von Edinburgh gewähren einen Blick in eine ferne Epoche, mit weitgehend freien Straßen, auf denen nur vereinzelt eine Kutsche zu sehen ist. Vor allem aber brachten sie die Porträtdarstellung, gerade vier oder fünf Jahre nach Erfindung der Fotografie, auf ein später nur von wenigen erreichtes Niveau. Neben teilweise experimentellen Einzelporträts wie einer rätselhaften, der Kamera den Rücken zukehrenden Frau – eine höchst ungewöhnliche Komposition, da wohl jeder andere Fotograf weltweit auf Gesichter fokussierte – und einer halb im Schatten liegenden Nude Study eines jungen Mannes sind es vor allem die mit Akribie geplanten Gruppenporträts, welche die Menschen aus einer fernen, längst untergegangenen Welt so lebendig erscheinen lassen: So lacht uns Hill zusammen mit zwei Freunden in Edinburgh Ale bei gefüllten Biergläsern fast schelmisch an, als wolle er unterstreichen, dass auch in den 1840er Jahren der Slogan »Life is good!« gelten konnte. In einem anderen Werk von Hill(2) und Adamson(2) mit dem langen Titel Miss Ellen Milne, Miss Mary Watson, Miss Watson, Miss Agnes Milne and Sarah Wilson sind fünf junge Frauen vor der Kamera gruppiert. Die direkten Blicke, die sie dem Betrachter zuwerfen, ernst aber keineswegs abweisend, wollen wenig zu späteren Klischees dieser Epoche von ritualisierter, keuscher Sittsamkeit passen.[4]

Ganz anders war die persönliche Situation einer Frau, die Hills(3) und Adamsons(3) waches Gespür für ein den Rahmen des Normalen, Konventionellen sprengendes Motiv sofort angesprochen haben dürfte. Wahrscheinlich hat es die beiden einiges an Überredungskunst gekostet, die Dame dazu zu bringen, sich für die Kamera in Position zu stellen. Denn sie war schwer und angesichts der Möglichkeiten der zeitgenössischen Medizin unheilbar krank. Das Bildnis Woman with a goiter zeigt eine Frau mittleren Alters mit dem unübersehbaren Symptom einer schweren Schilddrüsenerkrankung, einem mehr als kindskopfgroßen Kropf(1). Es ist das erste bekannte Foto eines an einer spezifischen Krankheit leidenden Menschen. Trotz des den damaligen wie den heutigen Betrachter schockierenden Befundes dürfte die Frau mit dem Kropfleiden den jungen Fotografen Robert Adamson(4) noch überlebt haben. Als von schwächlicher Gesundheit beschrieben – oft ein Hinweis auf eine Tuberkulose(2) –, starb Hills Partner 1847 im Alter von nur 26 Jahren.

Die Zuversicht, das bürgerliche Selbstbewusstsein, das zahlreiche der von Fotografen wie Hill und Adamson porträtierten Personen ausstrahlen, wie zum Beispiel der junge Chirurg James Young Simpson(1), speiste sich aus der Überzeugung, in einer Zeit fast unbegrenzten Fortschrittes zu leben, der oft mit atemberaubender Geschwindigkeit daherkam. Diesen Zukunftsglauben verkörperte zwar vor allem die Eisenbahn, er wurde aber auch noch von einer anderen Erfindung genährt, die neue Dimensionen im Verständnis von Zeit und Kommunikation eröffnete. Die Übermittlung von Zeichen und letztlich von Informationen über größere Distanzen erlebte ihren Durchbruch. Nachdem 1809 der Anatom Samuel Thomas von Soemmering(1) mit einem elektrischen Telegrafen experimentiert hatte, gelang in den 1830er Jahren mehreren Erfindern die Übertragung elektrischer Zeichen. Der berühmte Mathematiker Carl Friedrich Gauß(1) konnte 1833 zusammen mit dem Physiker Wilhelm Eduard Weber(1) eine solche Verbindung zwischen der Sternwarte in Göttingen und dem Zentrum der Universitätsstadt einrichten. Wirklich anwenderfreundlich wurde die Telegrafie durch die Innovationen des Amerikaners Samuel Morse(1), der nicht nur einen Schreibtelegrafen entwickelte, sondern auch eine Abfolge elektrisch über Leitungen übertragener Zeichen einführte, die in ihrer Reihung für jeweils einen bestimmten Buchstaben standen: das sogenannte Morse-Alphabet. Als Geburtsstunde dieser sich bald über die ganze Welt ausbreitenden Nachrichtentechnologie gilt die Übertragung eines kurzen Bibelzitats – What hath God wrought? – über eine rund 60 Kilometer lange Telegrafenleitung von Washington nach Baltimore am 24. Mai 1844.

Die Leitungen des Telegrafen durchzogen schnell die Länder Europas und verliefen häufig direkt neben den frisch verlegten Eisenbahnschienen, im Miteinander des Personen- und Güterverkehrs und des Datenflusses. Es war eine Revolution in der zwischenmenschlichen und schnell auch zwischenstaatlichen Verständigung. Informationen, im spezifischeren Sinn Nachrichten, konnten jetzt in Echtzeit und über größere Distanzen verschickt werden; sie ließen den Brief, die herkömmliche Depesche hinter sich. Eine Mitteilung des österreichischen Staatskanzlers Metternich in Wien an seinen preußischen Amtskollegen in Berlin, direkt oder in diplomatischer Manier über die österreichische Botschaft, konnte Letzteren binnen Minuten erreichen, nachdem der Bewahrer der postnapoleonischen Restauration auf dem europäischen Kontinent diese in der Hofburg aufgegeben hatte. Die Schnelligkeit der Informationsübermittlung kam indes vor allem der Allgemeinheit, oder – vorsichtiger ausgedrückt – ihrer gebildeten und politisch interessierten Schicht zugute. Es war ein »Lesezeitalter«, in dem nicht nur Buchhändler gediehen und Bibliotheken wohlbesucht waren, sondern vor allem in Kaffeehäusern und vergleichbaren Lokalitäten sich Einzelne oder ganze Lesegesellschaften über Gazetten und Journale beugten. Wer zum Beispiel im klassischen Kaffeehaus Leipzigs, dem Arabischen Coffe Baum, eine Tageszeitung aufschlug, fand bislang Neuigkeiten aus Paris, Wien oder London (oder auch aus Dresden) mit einer Datierung, die mehrere Wochen zurücklag. Mit der Ausbreitung des Telegrafen kam ein neuer Begriff auf: Aktualität. In den Zeitungsredaktionen, die mancherorts mehrere Ausgaben pro Tag herausgaben, konnten nun Nachrichten ins Blatt gesetzt werden, die erst am gleichen Tag aus einer fernen Stadt, einer weit entlegenen Region eingegangen waren; die geschilderten Ereignisse mochten sich erst Stunden vor der Drucklegung zugetragen haben. Das Publikum war nun zeitnah bei Ereignissen jenseits, oft weit jenseits des Horizonts dabei.

In diesem neuen Informationszeitalter, in einer Epoche, in der sich nach mehr als 30 Jahren konservativer Restauration und Repression, nach oft von der Obrigkeit forcierter biedermeierlicher Zurückgezogenheit ins Private enormer sozialer und politischer Sprengstoff angesammelt hatte, konnten die über den Telegrafen eintreffenden und dann mit zeitlicher Verzögerung im normalen Postverkehr präzisierten und mit Hintergrundinformationen gestützten Neuigkeiten aus Paris wie der sprichwörtliche Funke im Pulverfass wirken. Dort war es im Februar 1848 abermals zu einer Revolution gekommen. In einer weit weniger gewalttätigen Erhebung, als es die große Französische Revolution gewesen war, hatten die Franzosen dennoch einen König aus dem Land gejagt (seinen Kopf konnte Louis Philippe(1) im Gegensatz zu seinem Vorfahren Ludwig XVI. behalten). Bald war das Revolutionsfeuer in vielen europäischen Haupt- und Residenzstädten entfacht.

Bis zur Verlegung eines Unterseekabels, das Europa mit Nordamerika verband, dauerte es noch bis ins nächste Jahrzehnt. Deshalb kam die Kunde von einer Revolution, die viel nachhaltiger und segensreicher war als alle Aufstände des Schicksalsjahres 1848 und die den Beginn der Moderne für die Medizin bedeutete, ein gutes Jahr zuvor noch mit der Geschwindigkeit eines Dampfschiffes nach Europa. Sie kam aus der Neuen Welt und überall, in Europa und allen anderen Kontinenten, hatten die Menschen und ihre Ärzte seit Urzeiten auf eine solche Nachricht gewartet.

Es war eine Sternstunde der Menschheit: Am 16. Oktober 1846 wurde in Boston unter Äthernarkose operiert und der alte Traum vom Sieg über den Schmerz wahr. Das Gemälde von Robert Cutler Hinckley entstand 1882, als die Anästhesie längst Routine war und der Chirurgie dadurch ungeahnte Möglichkeiten eröffnet wurden.

2.

Stille in Boston

Keiner der Zuschauer, die an diesem Morgen in großer Zahl die Reihen des Hörsaales füllten, erwartete ernsthaft, Zeuge eines historischen Augenblicks zu werden und der Uraufführung einer der segensreichsten Erfindungen beizuwohnen. Die Herren – es waren ausschließlich Männer, denn für Frauen gab es nach herrschendem Verständnis keinen Platz in der Welt der Medizin – trugen lange Gehröcke über ihren von Westen bedeckten weißen Hemden mit den modernen steifen Kragen, hatten Spazierstöcke zum Zeichen ihrer Würde in der Hand und auf den Köpfen hohe Zylinderhüte, die sie nach Betreten des Auditoriums abnahmen, auch um dem Hintermann nicht die Sicht auf das Spektakel zu versperren.

Die Ärzte Bostons und die Medizinstudenten der nahe gelegenen Harvard University(1) hatten sich an diesem Freitagmorgen wieder einmal eingefunden, um der großen Persönlichkeit der amerikanischen Chirurgie, dem 68-jährigen John Collins Warren(1), bei einer seiner für die Fachwelt öffentlichen Operationen zum Zwecke der Fortbildung, vielleicht auch des voyeuristischen Grusels, beizuwohnen. Wenn der als Hörsaal dienende Operationsraum des Massachusetts General Hospital(1) an diesem Tag bis auf die letzte Sitzreihe gefüllt war, so lag dies auch daran, dass man ein besonderes Amüsement erwartete, hatte doch das Gerücht die Runde gemacht, es werde möglicherweise operiert, ohne dass der Patient Schmerzen verspüre. Doch die Hoffnungen, einem der unzähligen Wundermittel und Wunderliches verheißenden Gaukler, an denen die Medizin so überreich war, bei seiner Blamage zuzuschauen, sollten in der nächsten Stunde aufs Angenehmste, aufs Sensationellste enttäuscht werden.

In den Briefen, Erinnerungen und Tagebüchern, die viele der Beobachter hinterließen, spiegeln sich stattdessen Fassungslosigkeit und Bewegung wider angesichts des Schauspiels, das ihrer nun harrte, und Dankbarkeit, es miterlebt zu haben. Denn dort, wo seit Menschengedenken Agonie und Pein, Qual und Verzweiflung geherrscht hatten, traten plötzlich Stille und Hoffnung ein. Es war Freitag, der 16. Oktober 1846. Im Verhältnis des Menschen zu seinen körperlichen Leiden würde nach dem Tag von Boston nichts mehr so sein, wie es einst war.

Gegen zehn Uhr betrat Warren(2) den Hörsaal. Selbstsicher bis zur Blasiertheit, kalt bis zum Zynismus, kündigte der berühmte Chirurg mit emotionsloser Stimme an, dass in der Tat ein Gentleman an ihn herangetreten sei »mit dem erstaunlichen Anspruch, einen zur Operation anstehenden Patienten schmerzfrei zu machen«. Schmerzfrei – welch eine Vermessenheit! Wie manch einer der Zuschauer so ließ auch Henry J. Bigelow(1), ein begabter, junger Bostoner Arzt, der die Ereignisse dieses Vormittags ausführlich beschrieben hat, die Gedanken zurückschweifen durch die Geschichte der Heilkunst der letzten 3000, 4000 Jahre. Bigelow, Spross einer Medizinerfamilie, war sich bewusst, dass sich eigentlich nicht viel verändert hatte, seit die ersten Heilkundigen (wenn sie denn diese Bezeichnung verdienten) im Zweistromland, in Afrika oder im präkolumbianischen Amerika ein Skalpell angesetzt hatten. Jeder operative Eingriff bedeutete unvorstellbare Schmerzen für die Unglücklichen, die sich ihm unterziehen mussten.

Die Mediziner hatten seit der Antike nach Abhilfe gesucht, Kräuterextrakte und alkoholgetränkte Schlafschwämme ebenso probiert wie Opium(1) und die von dem deutschen Arzt Franz Anton Mesmer(1) entwickelte Methode der »Magnetisierung«, die einen hypnoseähnlichen Zustand erzeugte, eine Art von Suggestion – alles war vergebens gewesen. Sobald der Chirurg den ersten Schnitt führte, der Dentist die Zange ansetzte, hallten Lazarette und Hospitäler wider von den Schreien der Gequälten. Der Schmerz schien der schicksalhafte Begleiter der operativen Medizin zu sein.

Bigelow(2) wusste, dass der Schmerz nicht nur eine unvorstellbare Qual für den Patienten war, er stellte andererseits auch die Medizin vor sehr enge Grenzen. Nur einige wenige Krankheiten konnten überhaupt operiert werden, an Eingriffe im Brust- oder Bauchraum konnte bei schreienden, sich auf dem Tisch trotz der starken Arme der »Krankenwärter« windenden Menschen gar nicht gedacht werden. Selbst in einem großen Krankenhaus wie dem Massachusetts General Hospital(2)(1)(1)(1)