Lothar Böhnisch

Die Verteidigung
des Sozialen

Ermutigungen für die Soziale Arbeit

Der Autor

Lothar Böhnisch, Dr. rer. soc. habil., bis 2009 Professor für Sozialpädagogik und Sozialisation der Lebensalter an der Technischen Universität Dresden, lehrt Soziologie an der Freien Universität Bozen/Bolzano.

Inhalt

Einleitung: Angewiesenheit und Anerkennung

Das Soziale im Spannungsverhältnis zur kapitalistischen Ökonomie

A1 Die kapitalistische Ökonomie ist zum Zwecke ihrer Modernisierung auf das Soziale angewiesen – Das sozialpolitische Prinzip

A2 Die Ökonomie braucht die soziale Reproduktion – Care als gesellschaftliche Kraft

A3 Gesellschaft und Ökonomie sind darauf angewiesen, dass sich ein sozialer Zusammenhalt in der Gesellschaft herausbildet – Das Prinzip der sozialen Integration

A4 Das Soziale ist Voraussetzung der Demokratie

A5 Die Gesellschaft braucht eine ökonomische Wachstumsformel, die eng mit dem Sozialen verknüpft ist

A6 Der Klimadiskurs muss auch sozial geführt werden

A7 Bildung braucht eine soziale Durchdringung

A8 Die Migrationsfrage ist auf die Integrationskraft des Sozialen angewiesen

A9 In der Dialektik von Globalem und Lokalem wird das Soziale zur Konfliktarena und mithin politisch

II Die Angewiesenheit der Gesellschaft auf die Soziale Arbeit

A10 Die Sozialpädagogik/Sozialarbeit ist die gesellschaftliche Reaktion auf die Bewältigungstatsache

A11 Eine klassische Begründung der Sozialen Arbeit, die wir auch heute noch verwenden können: „Die sozialpädagogische Verlegenheit der industriekapitalistischen Moderne“

A12 Soziale Integration ist auch der gesellschaftliche Kern der Sozialarbeit/Sozialpädagogik – Sekundäre Integration

A13 Die Soziale Arbeit leistet einen zentralen Beitrag zur Entwicklung einer sozialen Infrastruktur

A14 Die sozialstaatliche Gesellschaft braucht zu ihrer sozialökonomischen Erneuerung gemeinwohlorientierte Initiativen und dabei auch die Soziale Arbeit

A15 Die Soziale Arbeit kann einen Zugang zu sozialen und kulturellen Zwischenwelten eröffnen

A16 Die Angewiesenheit der Gesellschaft auf die Soziale Arbeit wird verdeckt durch deren geschlechtstypische Konnotation – Öffnende Perspektiven

A17 Die Soziale Arbeit kann einen Beitrag zur „Verbreiterung“ der Demokratie leisten

A18 Die Soziale Arbeit verfügt über geeignete Präventionsräume für die Eindämmung rechtsextremer Strömungen

A19 Die Soziale Arbeit ist ein Seismograph für verdeckte und verschwiegene soziale Probleme

A20 Die Soziale Arbeit verfügt über ein besonderes „Umgangswissen“ – Sozialpädagogik/Sozialarbeit als transdisziplinäre Sozialwissenschaft

A21 Die Soziale Arbeit kann Ergebnisse sozialer Bewegungen infrastrukturell transformieren

A22 Die Soziale Arbeit kann die soziale Verlegenheit der Schule praktisch thematisieren

A23 In der Sozialen Arbeit können sich besondere Formen sozialen Lernens entwickeln

Trumpfkarte Raum

Trumpfkarte Gruppe

Trumpfkarte Beziehung

Trumpfkarte Milieubildung

A24 Sich neu behaupten müssen – Die Soziale Arbeit hat dem humantechnologischen Gesundheitsdiskurs einiges entgegenzusetzen

A25 Dadurch, dass sie in der Lage ist, die Bruchstelle zwischen Toleranz und Respekt praktisch zu thematisieren, kann die Soziale Arbeit Leitpunkte im Migrationsdiskurs setzen

A26 Die Soziale Arbeit wird in der zukünftigen Arbeitsgesellschaft besonders gebraucht

A27 Der demografische Wandel und die damit einhergehende Aufwertung des Alters und der Kultur der Sorge kann die Soziale Arbeit als soziale Leitdisziplin ins Spiel bringen

A28 Die Soziale Arbeit hat ihre politische Geschichte und darin einen „roten Faden“ – Kapitalistische Verstrickung, Konflikt, Parteilichkeit und Emanzipation

A29 Wie Transnationalität zur reflexiven Kategorie der Sozialarbeit werden kann

A30 Die Soziale Arbeit kann sich in der Perspektive sozialpolitischer Wiedergewinnung und sozialer Nachhaltigkeit erneuern

Literatur

Inhalt

Einleitung: Angewiesenheit und Anerkennung

Der Kampf um gesellschaftliche und berufliche Anerkennung scheint für die Soziale Arbeit bis heute vergeblich zu sein. In einer wachstumsfixierten Gesellschaft gelten fast nur die marktökonomisch „produktiven“ Bereiche etwas, die reproduktive Sphäre, die Arbeit mit den Menschen, ist unterbewertet. Zudem ist dieser Bereich, im Schatten der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung, immer noch weiblich konnotiert und wird deshalb nicht selten wie die als selbstverständlich vorausgesetzte Familienarbeit behandelt. Dazu kommt, dass die Soziale Arbeit oft mit ihrer Klientel identifiziert wird und damit erst recht ein negatives Image erhält. Wenn Kommunen sich an Standortwettbewerben beteiligen, dann stellen sie ihre Verkehrsanbindung, ihr Schulsystem, ihre Kitaplätze, ihr Kulturangebot und ihre Freizeitmöglichkeiten in den Vordergrund. Dass sie eine gute Sozial- und Jugendarbeit machen, fügen sie in der Regel nicht hinzu. Das könnte ja auf soziale Probleme verweisen und in einer „Problemregion“ möchten sich Investoren vielleicht nicht ansiedeln. Man geniert sich geradezu, die Soziale Arbeit in das Attraktivitätsspektrum der Kommune einzubeziehen. Das findet man aber auch in der Bevölkerung, dass die Arbeit am Menschen – die Medizin ausgenommen – nicht als vollwertige Arbeit anerkannt wird. Nehmen wir zum Beispiel zwei zentrale Arbeitsprinzipien der Sozialen Arbeit, die Alltagsorganisation und die Sprache. Wir wissen, wie anspruchsvoll und komplex die Versuche und Anläufe sind, KlientInnen, die gleichsam aus dem Alltag herausgefallen sind und diesen nicht mehr für sich organisieren können, eine eigenständige Strukturierung ihres Alltags wieder zu ermöglichen. Wir wissen alle auch, welch komplexe methodischen Zugänge es braucht, dass KlientInnen in die Lage versetzt werden können, über ihre psychosozialen Probleme zu reden, sie auszusprechen. Bei vielen Menschen außerhalb der Sozialen Arbeit sind dies keine Fachkompetenzen, sondern Dinge, die alle doch einigermaßen können.

Das alles hinterlässt Spuren im beruflichen Selbstverständnis und Selbstbewusstsein vieler SozialarbeiterInnen. Viele sind es auch müde, immer wieder um Anerkennung zu heischen. Auch von der Fachdiskussion ist in letzter Zeit wenig in Sachen Anerkennung zu erwarten. Der sozialpädagogische Diskurs scheint mir geradezu gespalten. Auf der einen Seite eine kritische Diskussion, welche vor allem die restriktiven gesellschaftlichen und sozialpolitischen Bedingungen angreift, denen Soziale Arbeit im Zeitalter der Ökonomisierung ausgesetzt ist und die zunehmend in sie vermittelt sind, andererseits die Beschränkung auf die sozialpädagogischen Methoden und Verfahren, deren Verfeinerung und Differenzierung. Den einen erscheint Soziale Arbeit repressiv, die anderen sehen sie nur aus der funktionalen Binnenperspektive. Aus beiden polaren Positionen lässt sich keine praxisbegleitende gesellschaftliche Reflexivität für das Gros jener SozialarbeiterInnen ziehen, die in administrativen und verbandlichen Strukturen oder in selbstständigen Projekten arbeiten und erfahren, dass sie für diese Bedingungen haftbar gemacht oder als deren Opfer angesehen werden. Kein Wunder, dass sich viele dem kritischen Fachdiskurs verschließen, auch wenn sie mit einer nur funktionalen Ausrichtung ihrer Arbeit nicht zufrieden sind. Wenn man gerne mit KlientInnen arbeitet, kommen einem die repressiven Zuschreibungen nicht nur fremd, sondern geradezu arrogant vor. Sie sprechen einem ja die gesellschaftliche Sensibilität ab. Da die Soziale Arbeit ein Seismograf für soziale Probleme und Konflikte ist, gibt es kaum eine(n) Professionelle(n), der/die eine mehr oder minder ausgeprägte sozialkritische Sensibilität entwickelt. Diese aber in einer so polarisierten Fachdiskussion platzieren zu können, ist schwierig, denn man arbeitet gleichsam in einer Zwischenwelt. Deshalb braucht es ein Paradigma, das eher in diese professionelle Zwischenwelt passt, indem es Kritik und Bestätigung aufeinander beziehen kann. Ein Paradigma, in dem die SozialarbeiterInnen in ihrem Selbstverständnis nicht nur auf die unmittelbare Praxis festgelegt sind, sondern in dem sie sich im weiteren Sinne durchaus als social agents der sozialstaatlichen Gesellschaft verstehen können. Ein solches übergreifendes professionelles Selbstverständnis kann sich im Spannungsbogen zwischen Handlungs- und Strukturwissen entwickeln, der in diesem Buch aufgemacht werden soll.

Ich schlage deshalb vor, das berufliche Selbstbewusstsein mehr an der historisch-empirischen Tatsache zu orientieren, dass und wie die Gesellschaft auf das Soziale im Allgemeinen und die Soziale Arbeit im besonderen angewiesen ist. Diese Angewiesenheit ist in den bisherigen Diskursen zur Sozialen Arbeit wenig expliziert worden. Sich ihrer aber bewusst zu werden, könnte das Selbstbewusstsein und die Arbeitsidentifikation von Studierenden und Tätigen in der Sozialarbeit wesentlich heben und stärken. Das vorliegende Buch soll zeigen, dass und wie man sich diesen Zugang der Angewiesenheit erarbeiten kann. Man darf nicht nur einfach darauf bestehen, sondern muss diesen Zusammenhang explizieren und begründen können. Ich will dies in zwei dimensionalen Schritten tun: Zuerst will ich zeigen, wie Gesellschaft und Ökonomie in der Moderne auf das Soziale allgemein angewiesen sind. Vor diesem Hintergrund werde ich dann in einem zweiten Teil die Angewiesenheit der Gesellschaft auf die Soziale Arbeit erläutern und begründen.

Natürlich wird der Einwand kommen, eine solche Argumentation sei nicht kritisch genug, weil sie den Konflikt mit den Institutionen nicht explizit thematisiere, die doch oft die hier gesetzten Ansprüche blockieren oder verwässern. Dann ist mein Anliegen nicht verstanden. Denn ich möchte den Studierenden und PraktikerInnen der Sozialarbeit/Sozialpädagogik den Möglichkeitsraum vorstellen, in dem sie ihre Lern- und Arbeitsbedingungen kritisch thematisieren können. Die kritische Literatur zur Ökonomisierung des Sozialen ist ja inzwischen so breit und differenziert, dass man sie fast nur mit einem gewissen Fatalismus lesen kann. Die Gefahr, dass die Soziale Arbeit weiter zu Markte getragen wird, dass z. B. Wirkungskontrollen nur noch steuerungs- und finanzpolitischen Maximen folgen, dass pädagogisch notwendige Umwege verbaut und kommunikative Verfahren der Planung und Evaluation verpönt werden, ist längst nicht mehr von der Hand zu weisen. Über diesen Alarmdiskurs ist aber zunehmend in den Hintergrund getreten, welchen eigenen Fundus die Sozialarbeit hat und wie angewiesen das ökonomisch-gesellschaftliche System auf die Soziale Arbeit ist. Diese soziale Gegenwelt zur Ökonomisierung darf nicht abgeschrieben werden. Deshalb ist es so notwendig, sich um den Pfeiler der Angewiesenheit zu sammeln. Im Schlussteil dieses Buches werde ich für eine praktische Utopie plädieren, in der die „Wiedergewinnung“ des schon einmal Erreichten und nun im sozialtechnologischen Innovationshype Gefährdeten im Mittelpunkt steht. Dies soll der politische Impetus dieses kritisch-optimistischen Buches sein.

Der sozialpädagogische Berufsstolz soll sich an diesem immer noch greifbaren Möglichkeitshorizont messen, das erschwerte berufliche Handeln darin kritisch justieren können. „Kritisch justieren“ meint, Rollendistanz einzuüben, indem man die Kommunikation mit KollegInnen auch außerhalb der organisatorischen Zwänge sucht. Die Arbeitskreise Kritischer SozialarbeiterInnen sind ein Beispiel dafür. In der folgenden Argumentationskette geht es um diesen Möglichkeitsraum Soziale Arbeit. Der Schlüssel zu seiner Begehbarkeit und zur Erreichbarkeit des Möglichen liegt in der Tatsache der Angewiesenheit der Gesellschaft auf das Soziale und die Soziale Arbeit. Diese selbstbewusste berufliche Haltung kann aber auch nach innen wirken. Niklas Luhmann (1995) hat von einer „brauchbaren Illegalität“ gesprochen, auf die Organisationen informell angewiesen sind, wenn sie funktionieren sollen. Diese zu nutzen setzt aber ein hohes berufliches Selbstbewusstsein und dieses wiederum jenes Wissen um Strukturen voraus, von dem oben die Rede war.

IDas Soziale im Spannungsverhältnis zur kapitalistischen Ökonomie

Das Grundprinzip des Sozialen besteht für mich darin, den Menschen in seiner Würde und Gemeinschaftlichkeit in ökonomisch-gesellschaftlichen Spannungsverhältnissen zur Geltung zu bringen. „Zur Geltung bringen“ bedeutet, dass der Mensch in seinen Freiheitsrechten, seinen individuellen Befähigungen und sozialen Handlungsmöglichkeiten sowie deren institutionelle Absicherungen in den Mittelpunkt gestellt werden. „In Spannung“ bedeutet, dass sich das Soziale immer in Konflikten herausbildet und sich historisch auch so herausgebildet hat. Eine Theorie des Sozialen muss deshalb konflikttheoretisch angelegt sein. Grundlegend ist dabei das Spannungsverhältnis zwischen Mensch und Ökonomie, also zwischen menschlicher Autonomie und Integrität und der wirtschaftlichen Definition des Menschen als Kosten- und Marktfaktor. Auch das Spannungsverhältnis zwischen Lebensweltbezug und administrativer Systemlogik gehört in diesen Zusammenhang. Schließlich stehen auch die zwischenmenschlichen Beziehungsstrukturen wie Gemeinschaft, Solidarität und Sorge im Konflikt mit Marktstrukturen wie Konkurrenz, Verdrängung und Kategorisierung. Solche Spannungsverhältnisse werden auch in der Argumentationskette (A) sichtbar, die ich im Folgenden aufbaue. Dabei geht es mir im ersten Teil um das gesellschaftliche Wissen um das Soziale, das meines Erachtens die Soziale Arbeit gleichsam als allgemeinen Legitimationsschirm braucht und unter dem diese ihre besondere professionelle Legitimation entfalten kann. Diese will ich im zweiten Teil dieses Buches in weiteren Argumentationsschritten entwickeln. Ich denke dabei Sozialarbeit und Sozialpädagogik immer zusammen, denn sozialarbeiterische Interventionen generieren immer auch soziale Lern- und Bildungsprozesse.

Wichtig ist also, dass das Soziale nicht für sich erscheint, sondern immer als relationales Konstrukt, das aus einem historisch-dialektischen Zusammenhang heraus entstanden ist. Erst in diesem Spannungsverhältnis erhält das Soziale seine gesellschaftliche Wirkkraft. Entsprechend renne ich in meiner vom Sozialen ausgehenden Kapitalismuskritik nicht einfach gegen den Kapitalismus an, sondern thematisiere das Soziale gegen den Kapitalismus im Kapitalismus. Dies ist meines Erachtens auch zukünftig der Schlüssel zur Öffnung des Sozialdiskurses im fortschreitenden Kapitalismus.

A1Die kapitalistische Ökonomie ist zum Zwecke ihrer Modernisierung auf das Soziale angewiesen – Das sozialpolitische Prinzip

Die These, dass die kapitalistische Ökonomie auf das Soziale angewiesen ist, stößt im heutigen neoliberalen Zeitalter eher auf Kopfschütteln, Stirnrunzeln oder wird einfach belächelt, als dass man sich ernsthaft mit ihr auseinandersetzt. Der Diskurs bewegt sich auf die andere Seite hin: Die ökonomischen Prinzipien hätten das Soziale längst durchdrungen, von der Ökonomisierung des Sozialen ist fast durchgängig die Rede. Der Mensch könne eben nicht mehr zur Geltung gebracht werden, die sozialen Einrichtungen stünden nicht nur unter ökonomischen Druck, sie erhielten auch wieder kontrollierenden ja repressiven Charakter. SozialarbeiterInnen stehen wieder in der Ecke. Die eigenen HauswissenschaftlerInnen aus der kritischen Sozialpädagogik/Sozialarbeit beklagen diese repressive Entwicklung manchmal in einer Weise, die den betroffenen Professionellen wenig Raum lässt, sich aus ihrer Praxis heraus damit auseinanderzusetzen. Man bekommt diese Kritik vorgesetzt, wird bemitleidet oder aufgefordert, dagegen zu kämpfen. Diese Aufforderung wird aber meist nicht in die Handlungsspielräume der PraktikerInnen übersetzt. Und schließlich wird oft nicht gefragt, ob sich PraktikerInnen, die zwar vor Ort viel unter solchen Ökonomisierungstendenzen leiden, überhaupt auf diese Ebene der Kapitalismuskritik begeben sollen oder nicht lieber in ihren verbliebenen Nischen das Beste aus der Situation machen sollten. Es gibt ja nicht wenige unter ihnen, die sagen, das rausche ihnen am Ohr vorbei, sie hätten im Alltag andere Sorgen. Wenn es dann heißt, diese Sorgen seien doch letztlich auf die Ökonomisierung des Sozialen zurückzuführen, dann kommt meist die Gegenfrage nach den Möglichkeiten, die man im Alltag habe, dies zu durchschauen. Das ökonomisch-gesellschaftliche Problem liege doch so weit weg. Man erlebe doch diese Ökonomisierung nicht als solche, sondern als Sachzwang und Frage der Effizienz, die sich in Hilfeplänen und Leistungsbewertungen ausdrücke. Und da sei doch der Zug längst abgefahren. Die Kritik, die sich die Wissenschaft leisten könne, sei dem Praktiker/der Praktikerin nicht verfügbar und bekäme dadurch nicht selten einen zynischen Charakter.

Es geht mir nun darum, diese oft pessimistische und resignierte Haltung in der sozialpädagogischen Praxis mit kritischen, aber darin pragmatischen – also handhabbaren – Argumenten zu öffnen. Zugunsten einer Haltung des Selbstbewusstseins und der Souveränität der Einschätzung der fachlichen und beruflichen Lage. Es geht mir um nicht mehr und nicht weniger als um den aufgeklärten Praktiker, die aufgeklärte Praktikerin. Darunter verstehe ich jemanden, der/die in der Lage ist, in zwei Welten zu denken und einschätzen zu können, ob und wie man sie aufeinander beziehen kann. Gegen die Welt des Kapitalismus komme ich freilich nicht an, spüre eher den Drang, sie zu verdrängen. Doch das wäre falsch. Die kapitalistische Welt, von der die Ökonomisierung des Sozialen und der Sozialen Arbeit ausgeht, ist die eine, die Welt der sozialpädagogischen Praxis die andere. Ihr Verhältnis zueinander ist asymmetrisch. In der Welt meiner sozialpädagogischen Praxis spüre ich die Auswirkungen der Ökonomie auf das Soziale, ich muss mich mit ihnen alltäglich auseinandersetzen können, muss – darauf werde ich später eingehen – in der Lage sein, sie abzumildern oder gar zu unterlaufen. Und hier kommen wir zu dem Begriff „aufgeklärt“, den ich der Praxis angehängt habe. Denn das Wissen um die Logik der kapitalistischen Entwicklung und ihr in dieser historischen Erfahrung spannungsreiches Verhältnis zum Sozialen kann mir eine andere Stellung zu meiner alltäglichen Praxiswelt ermöglichen. Ich stehe in der Praxis und gleichzeitig über ihr. Ich kann auf eine den Alltag übergreifende Zeit blicken und mir in dieser historischen Vergewisserung auch Formen der Praxis vorstellen, die so nicht unter Ökonomisierungsdruck standen, wie das heute der Fall ist. Damit dies keine nostalgische Veranstaltung wird, brauche ich ein übergreifendes, gleichsam epochales Konzept, um das Jetzt, das Früher und das Später einordnen zu können. Dieses Leit- und Bewegungskonzept der Entwicklung des Sozialen in der industriekapitalistischen Gesellschaft, in der wir uns ja heute und auf absehbare Zeit immer noch befinden, ist in diesem Buch mit dem Begriff des „Sozialpolitischen Prinzips“ umschrieben. Darin ist die Grundthese formuliert, dass die ökonomische, gesellschaftliche und demokratische Entwicklung in unserem Kulturkreis auf das Soziale angewiesen ist. Ich kann also daraus eine Haltung der Angewiesenheit beziehen, die mich auch die Dinge in der Praxis gelassener sehen lässt, als wenn ich nur unter dem Verdrängungs- und Abspaltungsdruck der von mir verlangten alltäglichen Routine über mich und mein berufliches Schicksal sinniere. Es ist eine Haltung, die eine Brücke von meinem Berufsstatus zu meinem Bürgerstatus bildet. Es ist gleichsam der sozialpolitische Horizont, vor dem ich arbeite.

Und nun – nach dieser zweiten Einstimmung – zur ersten übergreifenden Argumentation in der Linie des sozialpolitischen Prinzips mit seiner Grundthese der Angewiesenheit: Der Kapitalismus hat sich nicht linear entwickelt. Überraschende soziale Durchdringungen und Umstrukturierungen der modernen Industriegesellschaft haben in den letzten 150 Jahren historisch neue Qualitäten der Vergesellschaftung entstehen lassen. Ausdruck dieser sozialen Öffnung des Kapitalismus – der dabei sein antisoziales Wesen grundsätzlich nicht verändert hat – ist die moderne Sozialpolitik. Diese hat zwar im Sozialstaat westeuropäischer Prägung ihre institutionelle Form gefunden, ihre historische Substanz liegt aber im Spannungsfeld des Sozialpolitischen Prinzips. Das Sozialpolitische Prinzip ist die Verwirklichung der sozialen Idee im Kapitalismus gegen den Kapitalismus.

„In der Doppelstellung der Sozialpolitik als Fremdkörper und zugleich als Bestandteil im kapitalistischen System liegt ihre eigentümliche Bedeutung; darin ihre Dynamik, darin ihre dialektische Paradoxie und theoretische Problematik.“ (Heimann 1929/1980: 167)

Der Urheber dieser epochalen Hypothese war der Frankfurter Sozialökonom Eduard Heimann mit seinem 1929 erschienenen Klassiker „Soziale Theorie des Kapitalismus“. Dass das Ökonomische und das Soziale trotz ihrer unüberbrückbaren Widersprüchlichkeit historisch so zusammenspielen konnten und mussten, liegt nach seinem dialektischen Verständnis von Sozialpolitik vor allem darin begründet, dass der Kapitalismus auf den Einbau des Sozialen angewiesen war, wollte er historisch überleben, sein immanentes Ziel der Wachstums- und Profitsteigerung weiterverfolgen und sich zu diesem Zwecke modernisieren. Und umgekehrt konnte sich das Soziale über die Produktiv- und Wachstumskräfte des Kapitalismus bis in die gesellschaftliche Gegenwart – ohne Vertröstung auf eine radikale Utopie – entfalten und zum gesellschaftlichen Strukturprinzip werden. Wenn wir von diesem Modell auf die historische Wirklichkeit der Industrialisierung und Entwicklung des Kapitalismus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Deutschland rekurrieren – darauf bezieht sich ja Heimanns Modell –, können wir unschwer die Linienführung dieser Dialektik erkennen. Zentral an Heimanns Modell ist, dass er die Modernisierung des Kapitalismus hin zum sozial gezähmten Kapitalismus als strukturelle Gleichzeitigkeit von ökonomischer Notwendigkeit und sozialem Gestaltungswillen des Menschen erkannt hat. Die Modernisierung des Kapitalismus – so die heimannsche These – ist also nur als soziale Erweiterung möglich: Es sind die Menschen und nicht nur ihre abrufbaren funktionalen Fähigkeiten, die sich ausbilden und erweitern müssen, um in die neuen technologischen Produktionsanforderungen hineinzuwachsen. D.h. sie entwickeln in diesem Prozess soziale und politische Interessen, die über das von der Ökonomie Abverlangte hinausgehen. So kommt das Humane über die soziale Idee notwendig in den Kapitalismus hinein und entfaltet – auch abseits der reinen ökonomischen Funktion – seine soziale und politische Eigenkraft im Resultat der gesellschaftlichen und politischen Institutionalisierung des Sozialen. Man kann diesen historischen Prozess in den Begriff der Dialektik der Erweiterung fassen.

Der Prozess der Globalisierung hat dieses vormals nationalstaatlich gebundene Modell der Sozialpolitik entgrenzt. Das Kapital hat sich dem System der gegenseitigen Abhängigkeit, aus der sich die Dialektik des Sozialpolitischen Prinzips begründet, entzogen, ist gleichsam in eine eigene zweite Welt abgewandert. Sowohl die multiple Verfügbarkeit als ‚wanderndes‘, überall einsetzbares Investitionskapital als auch eine eigene Zirkulations- und Spekulationslogik machen die Eigenständigkeit dieser zweiten Welt des internationalen Geldmarktes aus. Wertschöpfung und Gewinnmaximierung sind nicht mehr nur auf die realen Produktionsvorgänge, sondern genauso und zunehmend auf Anlage- und Renditespekulationen ausgerichtet. Diese entziehen sich nicht nur den Handlungsmöglichkeiten, sondern auch den Vorstellungswelten der Menschen. Der ökonomisch-soziale Konflikt scheint nicht mehr greifbar, scheint abstrakt geworden zu sein. Dennoch lassen sich Strukturen des Angewiesenseins erkennen. Spätestens bei den internationalen Finanzkrisen der 2000er Jahre, in denen sich die nationalen Sozialstaaten als Barrieren erwiesen haben, wurde deutlich, wie sehr auch der globalisierte Kapitalismus auf sozialstaatliche Strukturen angewiesen ist.

Man könnte heute die Soziale Theorie des Kapitalismus auch „umdrehen“. Nicht mehr fragen, inwieweit der Kapitalismus zu seiner Modernisierung und damit Erweiterung auf das Soziale angewiesen ist, sondern überlegen, ob der gegenwärtige Kapitalismus zu seiner Begrenzung – um damit der Selbstzerstörung durch Grenzenlosigkeit zu entgehen – das Soziale dringender denn je braucht. Dann könnte es wieder ein sozial gebundener Kapitalismus werden. Dies ist die Perspektive der neuen sozialen Bewegungen. Natürlich bleibt der Grundkonflikt zwischen Mensch und kapitalistischer Ökonomie, aber die Akteure sind nun andere geworden. Hier der neue Kapitalismus, der das Soziale nach seiner Art umdefinieren und damit aufsaugen will, dort die neuen sozialen Bewegungen, die das Soziale über seine traditionelle Bindung an die Arbeit hinaus in Richtung der Sicherung der Existenzgrundlagen des Menschen neu aufbauen und erweitern wollen. Die neuen sozialen Bewegungen haben in diesem Zusammenhang eine Bewegungskultur geschaffen, die auch auf die Soziale Arbeit ausstrahlt (vgl. A21).

A2Die Ökonomie braucht die soziale Reproduktion – Care als gesellschaftliche Kraft

Heimann bezog sich nur auf die damalige Welt der Erwerbsarbeit und damit auf den männlichen Erwerbsarbeiter. Die Reproduktionsarbeit – Hausarbeit, Beziehungs- und Familienarbeit –, die damals ganz den Frauen zugeschrieben war und auch heute noch in der Tendenz weiblich konnotiert ist, war übergangen. Sie ist bis heute als selbstverständlich vorausgesetzt, bleibt unsichtbar, obwohl sie zwingende Voraussetzung für die Reproduktion der Arbeitskraft ist. Sowohl das Kapital als auch die (Erwerbs-)Arbeit sind auf diese Reproduktionssphäre angewiesen. Mit dieser doppelten Angewiesenheit erweitert sich die in A1 entwickelte sozialpolitische Hypothese.

In der Zeit der dritten Generation der deutschen Frauenbewegung in den 1920er Jahren wurde das Prinzip der weiblichen Sorge als gleichsam antikapitalistisches Prinzip formuliert, nach dem „die Frauen das Menschenleben hoch anschlagen, dass ihnen Menschen wichtiger als Sachgüter sind, das Leben heiliger als der Apparat ist, der ihm dient“ (Salomon 1931: 312). Die Kraft der Sorge sollte aus der weiblich-familialen Privatwelt heraustreten, die kapitalistische Wirtschaft durchdringen und so die Humanisierung von Wirtschaft und Gesellschaft vorantreiben. Diese antikapitalistische Interpretation von Sorge hat die Frauenbewegung und Frauenforschung der 1990er Jahre erneut aufgegriffen. Dem kapitalistischen System wird unterstellt, dass es die Reproduktionsarbeit, die es für seine Erhaltung alltäglich braucht, negiert, abspaltet:

„Die Warenform als solche weist eine geschlechtliche Besetzung auf: Alles, was an sinnlicher Welt des Menschen in dieser Form nicht aufgehen kann, wird als weiblicher Lebenszusammenhang von der Form und den Prozessen abstrakter Ökonomisierung der Welt abgespalten, wodurch sich die Warenform gleichzeitig als männlich besetzt erweist.“ (Brensell/Habermann 2001: 256)

Auch wenn sich die kapitalistische Ökonomie auf die (äußere) Produktionslogik zurückführt, wird sie doch immer wieder durch die (innere) Reproduktionstätigkeit, die in der Regel den Frauen zugewiesen ist, mit hergestellt. Der Aspekt der Herstellung wird dabei betont, denn dieser beinhaltet seinem Sinn nach mehr als nur die Vorstellung, der Industriekapitalismus ‚funktioniere‘ nur, weil diese Reproduktionstätigkeit selbstverständlich und alltäglich ausgeführt werde. Zum Reproduktionsbereich wird die biologische Reproduktion, die alltägliche Reproduktion der Arbeitskraft und die Versorgungs- und Fürsorgetätigkeit gerechnet (vgl. Young 2007). Dieser reproduktive Bereich vornehmlich weiblich konnotierter Haus-, Erziehungs- und Beziehungsarbeit bleibt also verdeckt, weil er in der industriegesellschaftlichen Logik entlang der Trennlinie öffentlich-privat vorausgesetzt ist. Dieser Verdeckungszusammenhang ist ein geschlechtshierarchischer: Die weibliche Reproduktionsarbeit wird nicht nur minder bewertet gegenüber der Produktionsarbeit, selbst in der Erwerbssphäre wird die Arbeit von Frauen aufgrund dieses Sekundärstatus (nach der industriekapitalistischen Tradition ist das Produktionsprinzip männlich – dem entspricht die Tradition der männlichen Ernährer-Rolle in der Familie) niedriger eingestuft.

Wenn wir vor diesem Hintergrund das Sozialpolitische Prinzip in dieser neuen Dualität systematisch und darin weiter auch in der heimannschen Dialektik und ihrer Sprache fassen, so können wir wie folgt formulieren: Das Soziale in der institutionellen Form der Sozialpolitik ist der Einbau eines doppelten Gegenprinzips in das System des Kapitalismus – sowohl des allgemeinen Prinzips der Humanisierung der Wirtschafts- und Arbeitsgesellschaft (die Wirtschaft soll dem Menschen dienen) als auch des besonderen Prinzips ihrer reproduktiven Durchdringung (Sorge/Care als gesellschaftliches Gestaltungsprinzip). Von diesen beiden ‚Achsen‘ des Sozialpolitischen Prinzips gehen unterschiedliche, aufeinander beziehbare und einander ergänzende Impulse aus. Zum einen und weiter der arbeitsgesellschaftlich-sozialstaatliche Impuls, der angesichts der globalen Entgrenzungstendenzen neu gesetzt werden muss. Zum anderen die reproduktiven Impulse, die sich vor allem in der Perspektive der Sorge bündeln. Sie wirkt als Gegenkraft und ist gerade in der Sozialen Arbeit institutionalisiert. Sie ist ein wichtiger sozialer Kitt der Gesellschaft, deren soziale Risse ohne sie längst größer wären.

A3Gesellschaft und Ökonomie sind darauf angewiesen, dass sich ein sozialer Zusammenhalt in der Gesellschaft herausbildet – Das Prinzip der sozialen Integration

Soziale Integration wird vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Paradoxons freigesetzt: Die fortschreitende industrielle Arbeitsteilung individualisiert die Subjekte, treibt sie auseinander, gleichzeitig sind sie umso mehr aufeinander angewiesen. Aus diesem seit Emile Durkheim (1893) bekannten Paradox der industriellen Vergesellschaftung wird die Problematik der sozialen Integration, des gesellschaftlichen Zusammenhalts also, freigesetzt. Institutionalisiert ist sie im Sozialstaat. „Moderne Gesellschaften westeuropäischen Typs können ihre Krisen heute kaum noch durch Ausgrenzung bearbeiten. Sie sind gezwungen, soziale Probleme durch Institutionen und Praktiken der Integration zu bearbeiten“ (Land 2004: 1).

Wenn heute große Investoren sich ihre Standorte aussuchen, sind sie vor allem auch daran interessiert, dass die vorgesehene Region nicht nur technisch-ökonomisch anschlussfähig und kulturell attraktiv ist, sondern vor allem auch daran, dass sie sozial stabil ist, dass die soziale Integration stimmt. Soziale Integration bedeutet vor allem Bindung der Menschen an und Teilhabe in der Gesellschaft. Wo diese Integration brüchig ist, spricht man von Tendenzen sozialer Desintegration. Die Bindung der Menschen an die Gesellschaft geht verloren, die Gesellschaft wird als sozial regellos und unübersichtlich – als „anomisch“ – empfunden. Anomie meint „nicht vorrangig Regel- oder Normlosigkeit. Denn Regeln und Normen bestehen in anomischen Verhältnissen durchaus weiter. Entscheidend ist die fehlende Bindung von Menschen an sie“ (Dollinger/Raithel 2006: 102).

Ansatzpunkte für eine Reformulierung der Anomietheorie gab es in der sozialwissenschaftlichen Diskussion immer wieder. Bohle u. a. (1997: 63) haben in einer entsprechenden soziologischen Bestandsaufnahme den bleibenden Wert des Konzepts für sozialstrukturelle Analysen herausgearbeitet:

„Gesellschaftliche Modernisierungsprozesse werfen immer wieder neu die Frage nach der Integrationsfähigkeit moderner Gesellschaften auf damit werden auch die Problematik der Anomie und ihr ambivalenter Kern zu einem Dauerthema, das sich aufgrund des Zusammenwirkens verschiedener Entwicklungen wie unter anderem Zunahme der Rasanz, Abnahme der Steuerungsfähigkeit, Ausbreitung von Ratlosigkeit über die Entwicklungsrichtung zu radikalisieren scheint, während die Chancen bisher wirksamer gegensteuernder intermediärer Instanzen knapper zu werden scheinen, weil diese selbst zur Debatte stehen.“

Mit der anomietheoretisch inspirierten Frage „Was treibt diese Gesellschaft auseinander?“ hat auch Heitmeyer (1997) einen neuen Anomiediskurs unter den Bedingungen der Postmoderne angestoßen. In diese Reihe gehört auch die wissenschaftssoziologische Interpretation Dörners (1973: 11), der die Anomietheorie im „Krisenerlebnis“ des ausgehenden 19. Jahrhunderts entstanden sieht. Dörner verweist auf die Zeit, in der Durkheim seine Anomietheorie in „Der Selbstmord“ („La Suicide“, 1897) publizierte, und das „Krisenbewusstsein, das das Werk von der ersten bis zur letzten Seite buchstäblich durchzieht“. Dieses epochale Krisenbewusstsein war typisch für den Zustand der westeuropäischen Industriegesellschaften im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Die sich überschlagende Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft mit ihren wechselnden Krisen und Prosperitäten, Verwerfungen und Umstürzen bisher gewohnter Werte und Sozialformen, nährte die Zweifel an der Beherrschbarkeit des industriellen Fortschritts und damit die Angst vor sozialer Kälte und sozialem Chaos. Ein Bild, das uns auch heute irgendwie vertraut ist.

Denn wir befinden wir uns heute, anfangs des 21. Jahrhunderts, immer noch in jener Epoche der Moderne, die ausgangs des 19. Jahrhunderts ihren ersten krisenhaften Kulminationspunkt erreichte. Auch wenn wir die Gegenwart als „Spät-“ oder „Postmoderne“ bezeichnen, so meinen wir damit nicht ein Ende der Moderne, sondern eine „andere“ (Zweite) Moderne, in der nicht mehr ein Entwicklungs- und Fortschrittsprinzip herrscht, sondern plurale und auch einander widerstreitende Entwicklungsvorstellungen von Moderne existieren, die sich in der gesellschaftlichen Diskussion widerspiegeln. Wenn wir uns also – epochal gesehen – auch hundert Jahre später immer noch in der Moderne befinden und bedenken, dass die heutige „Postmoderne“ ebenfalls wieder durch einen enorm beschleunigten und von Menschen kaum überschaubaren Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft, durch eine sich in immer neuen Rationalisierungsprozessen überschlagende Weiterentwicklung der industriellen Arbeitsteilung gekennzeichnet ist, dann begreifen wir, warum das Konzept der Anomie gerade heute wieder an Attraktivität gewonnen hat. Die epochale Grundfigur einer sozialen und kulturellen Krise der arbeitsteiligen Moderne tritt auf der neuen Entwicklungsstufe der Globalisierung wieder hervor. Mit der nun um sich greifenden Rationalisierung und Internationalisierung der Arbeitsorganisation ist neben dem Effekt der Entwertung der menschlichen Arbeitskraft die Gefahr der sozialen Entbettung als neue Dimension der Anomie hinzugekommen.

Ein spektakuläres Beispiel dafür war die „Pegida-Bewegung“ in Deutschland in den 2010er Jahren. Eine deutliche Minderheit der Bevölkerung, vor allem in Ostdeutschland, fühlte sich ausgegrenzt, hielt das Band zur Gesellschaft und ihren politischen Repräsentanten für zerrissen. Diese anomische Verstörung entwickelte sich vor dem Hintergrund der Globalisierung mit ihren Folgen der internationalen Arbeitsplatzverlagerung und – vor allem in Deutschland – erhöhter Einwanderung aus anderen Kulturen. Diese Verstörung wurde durch eine populistische Gruppenhysterie weiter verstärkt und löste eine Abspaltungsdynamik in Richtung Ausländerfeindlichkeit aus, die sich nicht nur bis hin zum Ausländerhass, sondern auch zum Hass auf das „System“ steigerte.

Die Menschen in modernen Industriegesellschaften müssen zugleich offen für den gesellschaftlichen Strukturwandel sein und über ein stabiles Selbst verfügen können. Dieses kann aber nur in eine Balance kommen, wenn gesellschaftliche Systementwicklungen auch lebensweltlich vermittelt und lebensweltliche Strukturen aufnahmefähig für gesellschaftliche Anforderungen sind; sonst treten anomisch-desintegrative Tendenzen auf. Desintegration bedeutet nicht nur, dass die Menschen die Gesellschaft nicht mehr verstehen, sondern auch, dass die Gesellschaft in einem heute vorwiegend technologisch definierten Modernisierungsprogramm keinen Begriff vom Menschen mehr hat. Heutige ökonomisch-liberalistische Gesellschaften erscheinen in diesem Sinne geradezu als „notorisch anomisch“ (Baier 2005: 384). Die Soziale Arbeit trifft auf anomisch gestörte Menschen. Die Arbeit mit solchen KlientInnen kann man dementsprechend auch als Integrationsarbeit bezeichnen.

A4Das Soziale ist Voraussetzung der Demokratie

Dass bürgerliche Freiheitsrechte und politische Teilhaberechte als Grundpfeiler der Demokratie nur wirksam werden können, wenn sie mit sozialen Rechten verbunden, sozial gestützt sind, hat der britische Soziologe Thomas Marshall (1992) in seinem Klassiker „Bürgerrechte und soziale Klassen“ begründet. Wenn ich nur um das nackte Überleben kämpfen muss, habe ich keinen Spielraum für ein bürgergesellschaftliches und darin politisches Engagement. Das Soziale ist damit Konstitutionsbedingung einer Demokratie, beide verbinden sich im Wohlfahrtsstaat west- und nordeuropäischer Prägung.

Nun gibt es in unserer Gesellschaft zwei demokratische Sphären, in denen das Soziale wirkt und sich entfalten kann. Dies ist zum einen der Sozialstaat, in dem das Sozialpolitische Prinzip (s. o.) institutionalisiert ist und dessen soziale Gestaltungsspielräume immer in Relation zur ökonomischen Verfassung und Entwicklung der Gesellschaft stehen. Im Zeitalter der Globalisierung und der neoliberalen Wirtschaftsverfassung sind diese Spielräume wesentlich enger geworden. Die Soziale Arbeit ist operativer Teil dieses Sozialstaates und ihre institutionellen Möglichkeiten sind wesentlich von den sozialstaatlichen Möglichkeiten beeinflusst. Aber: „Bei einer Theorie des Sozialen geht es aber um mehr als um eine Theorie des Sozialstaats. […] Soziale Demokratie hat auch Strukturen gesellschaftlicher Demokratisierung außerhalb der Systeme sozialer Sicherung zum Thema“ (Meyer 2010: 12). Diese zweite Sphäre, in der das Soziale zum Tragen kommt, ist die der Zivil- oder Bürgergesellschaft. In ihren Netzwerken nimmt das Soziale vielerlei Gestalt an, hat auch die Soziale Arbeit mancherlei Projekte, aus denen die Reformimpulse kommen können, die vom Sozialstaat selbst zur zeit nicht zu erwarten sind. In der sozialstaatlichen Sphäre erscheint der Mensch als sozial integrierter, aber auch abhängiger Adressat von Ansprüchen und Zumutungen, in der intermediären zivilgesellschaftlichen Sphäre vor allem als tendenziell selbsttätiger Bürger.

Über zivilgesellschaftliche Netzwerke soll eine demokratische Rekonstruktion des Sozialen erreicht werden. Solche Netzwerke werden hier als Räume begriffen, in denen soziale Auseinandersetzungen stattfinden, Konflikte freigesetzt und ausgetragen werden, sich neue Gemeinsamkeiten entwickeln können. Natürlich beziehen die Netzwerkakteure ihren Einmischungs- und Gestaltungsoptimismus daraus, dass sie davon ausgehen, dass das politisch-administrative System angesichts der sozial desintegrativen Dynamik des neuen Kapitalismus und der beschränkten Regulationsmacht des Sozialstaates nicht mehr allein über die Medien Macht und Recht gesellschaftlich steuern kann und deshalb auf Netzwerkstrukturen angewiesen ist. In dieser Perspektive „von unten“ können Netzwerke zu zentralen Bezugspunkten eines demokratieorientierten Sozialdiskurses werden.

Gleichzeitig aber ist das Netzwerkkonzept das Schlüsselkonzept von New Governance-Programmen. In Netzwerken soll die Rückbindung der Politik an das Soziale und die politische Transformation des Sozialen Gestalt gewinnen. Diese Verbindung von Steuerung und Beteiligung wird in der politikwissenschaftlichen Netzwerkdiskussion immer wieder herausgestellt. Entsprechend steht das jeweils unterlegte praktische Funktionsverständnis von Netzwerken zur Debatte. Wenn sie lediglich als Figurationen verstanden werden, in die die Bürger in die Regierungszonen „eingebunden“ werden, dann handelt es sich weniger um eine neue Partizipationsform, sondern um eine Reduktion auf Verfahren, durch die „in einer Umwelt, die sich schnell verändert und die sachlich und sozial nicht linear vernetzt ist, Steuerungsprobleme durch Selbstorganisation gelöst“ werden sollen (Raithelhuber 2005: 33). Aus der Sicht der Sozialen Arbeit interessieren Netzwerke aber nicht als Programm des New Governance, sondern als Medien der sozialen Bindung der Demokratie.

Wie gefährdet diese soziale Bindung der Demokratie ist, kann man am Diskurs zur Internetdemokratie aufzeigen. Die Welt der virtuellen Bilder verdrängt hier die Welt der Sprache. Im Internet haben sich scheinbar grenzenlose Parallelwelten der Meinungen aufgetan. Die einen feiern dies alles als Ermöglichung demokratischer Gegenwelten zu den institutionellen Politik-Öffentlichkeiten. Die anderen wiederum sehen dies als digitale Aushebelung der sozial gebundenen demokratischen Strukturen, denn das Internet ist schrankenlos. Verantwortung und Verantwortungslosigkeit stehen beliebig nebeneinander. Es bringt dauernd neue Links hervor. Schamgrenzen fallen. Wer sich in der sozialen Wirklichkeit von Körper und Raum nicht artikulieren und darstellen kann, tut es hier ohne Hemmung. Die mediale Distanz, der parasoziale Schirm lässt die eigene Welt öffentlich werden und doch bleibt sie im privat Verborgenen. Man kann radikal sein ohne für diese Radikalität einstehen zu müssen: die Internetplattform als eigenverfügte Öffentlichkeit, das World Wide Web der Community der beliebig Vielen. Eine Massengesellschaft, die sich selbst dynamisiert, formiert sich täglich neu. Parallelwelten ziehen in der zweiten Wirklichkeit des Parasozialen auf.

Zum einen ist das World Wide Web zu einer Plattform geworden, in der territorial voneinander getrennte Initiativen und soziale Bewegungen sich aufeinander beziehen und neue Formen der Netzwerkkommunikation wie der Meinungsmobilisierung entwickeln können. Dadurch werden ihre sonst sozial und territorial begrenzten Interessen in ein globales mediales Netzwerk eingebunden, das dann an verschiedenen sozialen Orten der Welt aktiviert werden kann. Kennzeichnend bleibt aber, dass ein Zusammenhang zwischen sozial eingebundener und Internetkommunikation bestehen bleibt. Anders verhält es sich dagegen bei den flottierenden medialen Bewegungen, die sich im Internet zu Massenphänomenen verdichten können, aber an keine entsprechenden sozialen Orte rückgebunden sind. Es sind Massenerscheinungen, die direkt Einzelne beeinflussen, und es hängt wiederum davon ab, wie die Einzelnen – sozial eingebunden oder sozial isoliert – diesen Massendynamiken ausgesetzt sind. William Kornhauser (1959), der Klassiker der Theorie der Massengesellschaft, vermutete in diesem Zusammenhang, dass sich in einer Massengesellschaft – in kritischen Situationen – leicht Teile aus der Masse herauslösen und im ungerichteten Protest durch die Gesellschaft treiben können.

Des Weiteren ist es die Frage des Konflikts, an der sich der Diskurs Demokratie und digitale Medien (ent)scheidet. Die moderne Demokratietheorie sieht im sozialen Konflikt das zentrale Medium demokratischer Integration und demokratischen Wandels. Die Link-Kultur des Internets dagegen ist im Prinzip konfliktindifferent strukturiert, Widersprüchliches kann beliebig nebeneinander gestellt und miteinander vermischt werden. Der konkrete Sozialraum, in dem Interessen erst aufeinander stoßen, fehlt. Dazu kommt die digitale Eigendynamik des Mediums: Es generiert eine Überfülle von Informationen, die im Wettbewerb um das Neueste, Außergewöhnliche und Einmalige stehen und in dieser Beschleunigung nachhaltige Erkenntnisgewinne und damit kritische Reflexivität nahezu verunmöglichen.

vorausgesetztDialektik der Erweiterung , sozialstaatliche Dialektik der Erweiterung BeteiligungMithaltens