IV – Was steht mir zu?
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Die Vorlage für eine Beschwerde gegen eine IV-Verfügung steht online zum Herunterladen bereit unter www.beobachter.ch/download (Code 0383).
Stand Gesetze und Rechtsprechung: Juni 2020
Beobachter-Edition
7., aktualisierte Auflage, 2020
© 2004 Ringier Axel Springer Schweiz AG, Zürich
Alle Rechte vorbehalten
www.beobachter.ch
Herausgeber: Der Schweizerische Beobachter, Zürich
Lektorat: Käthi Zeugin, Zürich; Martina Plüss, Zug
Umschlaggestaltung: Jacqueline Roth, Zürich
Umschlagfotos: iStock
Bilder im Inhalt: iStock
Reihenkonzept: buchundgrafik.ch
Satz: Bruno Bolliger, Gudo
e-Book: mbassador GmbH, Basel
ISBN 978-3-03875-291-2
eISBN 978-3-03875-372-8
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Inhalt
Vorwort
Soziale Sicherheit: So funktioniert das System
Das Netz der Sozialversicherungen
Wann ist eine Versicherung sozial?
Welche Sozialversicherungen decken das Invaliditätsrisiko?
Case Management: praktische Hilfe in einer komplexen Situation
Was ist Invalidität?
Arbeitsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit
Invalidität: erst ab einer gewissen Dauer
Wie misst man Invalidität?
Die Diskussion um Missbrauch und «Scheininvalide»
IV: die zentrale Versicherung bei Invalidität
Wer ist bei der IV versichert?
Mindestens drei Beitragsjahre sind für eine IV-Rente nötig
Wohnsitz und /oder Arbeit in der Schweiz
Die Beiträge an die IV
Die Beitragspflicht: Wer zahlt ab wann?
Wie hoch sind die IV-Beiträge?
Oberster Grundsatz: Eingliederung vor Rente
Revisionitis – wie weiter?
Früherfassung: den Kontakt herstellen
Erste Schritte: die Frühintervention
Integrationsmassnahmen: Stütze in prekären Situationen
Zu guter Letzt: die klassische berufliche Eingliederung
Taggeld: der Lebensunterhalt während der Eingliederung
Das Kleingedruckte: auch bei der Eingliederung zentral
Eingliederung: Wie weit ist sie möglich?
Invaliditätsgrad: der Massstab für die Rente
Am Anfang steht der Einkommensvergleich
Die ganze Rechnung an einem Beispiel
Wenn Hausfrauen invalid werden
Was gilt bei Teilzeitarbeit?
Wenn invaliditätsfremde Gründe ins Spiel kommen
Weiterarbeiten trotz IV-Rente?
Welche Renten kennt die IV?
Die Hauptrente
Kinderrenten: oft überlebenswichtig
Etwas Mathematik: Wie werden die Renten berechnet?
Warten auf die Rente
Hilflosenentschädigung und Hilfsmittel
Hilflosenentschädigung: auf Dritte angewiesen
Rollstuhl, Auto, Treppenlift: die Hilfsmittel der IV
Verfahren: Wer richtig vorgeht, kommt weiter
Ohne Anmeldung läuft nichts
Die IV klärt ab
Gutachten: Darauf sollten Sie achten
Verzugszinsen: wenn die IV zu langsam arbeitet
Die IV entscheidet
Nicht einverstanden mit dem Entscheid der IV
Hilfe im Verfahrensdschungel
Wenn die Umstände ändern
Meldepflichten nicht vergessen
Wenn Leistungen zurückgefordert werden
Die Unfall- und die Krankenversicherung
Besser gedeckt bei der Unfallversicherung
Wann ist man versichert?
Was gilt als Unfall?
Die Abklärungen nach einem Unfall
Die Leistungen der Unfallversicherung
Zuerst gibt es Taggelder
Die Renten
Integritätsentschädigung: Genugtuung für die Schmerzen
Das Zusammenspiel von IV und Unfallversicherung
Verunfallt und krank: Wer zahlt was?
Schlag auf die invalide Hand: die Überentschädigung
So kommen Sie zu Ihrem Recht
Wann kommt die Krankenversicherung zum Zug?
Die Leistungen der Grundversicherung
Die Krankenversicherung deckt nicht alle Kosten
Was bringen Zusatzversicherungen?
Vom Umgang mit der Krankenkasse
Krankentaggeld: der Lebensunterhalt für die erste Zeit
KVG und VVG: ein entscheidender Unterschied
Übertritt von der Kollektiv- in die Einzelversicherung
Krankentaggelder und IV-Rente
Was gilt bei teilweiser, was bei langer Arbeitsunfähigkeit?
Die Rolle der Pensionskassen
Berufliche Vorsorge: eher umständlich organisiert
Wer ist versichert?
Wie sind Teilinvalide versichert?
Die Leistungen der Pensionskasse
Berechnung der Invalidenrente: eine sehr technische Angelegenheit
Bindungswirkung: Die IV spurt vor
Was gilt bei Überentschädigung?
Welche Pensionskasse ist zuständig?
Kernfrage: Wann hat die Arbeitsunfähigkeit angefangen?
Der Gesundheitszustand verschlechtert sich
Das Verfahren bei der Pensionskasse
Nicht einverstanden? So gehen Sie vor
Die Ergänzungsleistungen
Wer hat Anspruch auf zusätzliche Zahlungen?
Die Voraussetzungen für den EL-Bezug
Wie werden Ergänzungsleistungen berechnet?
Die anrechenbaren Einnahmen
Die anerkannten Ausgaben
Krankheits- und behinderungsbedingte Kosten
3. Säule und andere privat finanzierte Versicherungen
Risikodeckung über die Säule 3a
Was leisten Säule-3a-Versicherungen bei Invalidität?
Privat organisierter Invaliditätsschutz
Versicherungen, die von Nutzen sein können
Überentschädigung auch bei privat finanzierten Versicherungen?
Rat für verschiedene Lebenssituationen
Als Angestellte invalid
Wo bin ich versichert?
Zuerst arbeitsunfähig, dann invalid
Welche Leistungen kann ich erwarten?
Stelle verloren, was gilt?
Weiterarbeiten trotz Invalidität?
Als Teilerwerbstätiger invalid
Welche Versicherung muss was leisten?
Wenn ich gesund wäre, würde ich wieder voll arbeiten
Als Arbeitslose invalid
Problem Krankheit
Als Selbständigerwerbender invalid
Was gilt bei der IV?
Selber für Sicherheit sorgen
Mit ausländischem Pass invalid
Wie bin ich als Ausländer versichert?
Und wenn ich ins Heimatland zurückkehre?
Als Hausfrau oder Hausmann invalid
Wie bin ich versichert?
Wenn ich gesund wäre, wäre ich wieder berufstätig
Wenn Kinder invalid werden
Von Geburt auf krank
Kinderunfall und Kinderkrankheit
Wenn das Kind volljährig wird
Leben im Heim
Doch zu Hause bleiben?
Anhang
Glossar
Vorlage
Hilfsmittelliste der IV
Hilfreiche Adressen und Links
Nützliche Beobachter-Ratgeber
Stichwortverzeichnis
Vorwort
Invalidität bringt vieles mit sich und heisst fast immer, dass das ganze Leben umgekrempelt werden muss. Invalidität bedeutet aber nicht nur einen Schicksalsschlag für den Einzelnen und sein privates Umfeld, sondern ist auch immer wieder Thema politischer Auseinandersetzungen. Je knapper die finanziellen Ressourcen, desto heftiger und polemischer fällt die Diskussion aus.
Beim Thema Invalidität ist vieles im Gang: Das IV-Gesetz wird ständig revidiert, das Bundesgericht entscheidet grundsätzliche Fragen. Es ist nicht einfach, den Überblick zu behalten. Vorwürfe wie «Scheininvalide» und «Missbrauch des sozialen Systems» tragen nichts zur Entschärfung der Situation bei, verhärten aber die Fronten und erschweren sachgerechte Lösungen. Eine Zusammenarbeit sämtlicher Sozialpartner wäre deshalb wünschenswert. Der Invalidenversicherung kommt in unserem Sozialversicherungs-system eine zentrale Funktion zu, die sie auch weiterhin behalten muss.
Da das Risiko Invalidität in verschiedenen Sozialversicherungen und auch Privatversicherungen abgedeckt ist, ergibt sich ein komplexes Zusammenspiel, in welchem oftmals Fehler passieren: Die rechtzeitige An-meldung bei den Versicherungen geht vergessen, Leistungen werden falsch berechnet, ärztliche Berichte zuungunsten der Versicherten ausgewertet oder Gesuche über Monate hinweg nicht behandelt. Zusätzlich erschwert die umfangreiche Rechtsprechung, den Überblick zu behalten. Wir haben versucht, dieses komplexe System auf die relevanten Grundsätze zu reduzieren und aus der Sicht unserer alltäglichen Arbeit darzustellen.
Das Buch wendet sich in erster Linie an Betroffene und ihre Angehörigen. Es soll Hilfe bieten im Umgang mit Behörden, Abklärungsstellen und Versicherungen. Besonders soll es aber einen Einstieg bieten, sich im komplexen System zurechtzufinden und eine erste Beurteilung vorzunehmen, wie es um Ihren Versicherungsfall oder denjenigen von Ihren Angehörigen steht und ob Experten beigezogen werden müssen. Das grosse Ziel dieses Buches ist es, dass Sie alle Versicherungsleistungen erhalten, die Ihnen zustehen. Wir hoffen, hier einen ersten Beitrag geleistet zu haben.
Susanne Friedauer, Kaspar Gehring
im September 2020
Soziale Sicherheit: So funktioniert das System
Niemand rechnet mit einer Invalidität – und doch: Ungefähr jeder sechste Mann ist invalid, wenn er das Rentenalter erreicht; bei den Frauen liegt der Anteil etwas tiefer. Wer invalid ist, kämpft in aller Regel nicht nur mit gesundheit-lichen Problemen, sondern muss sich auch mit vielen Versicherungen herumschlagen. Deshalb als Erstes ein Überblick über das Netz der sozialen Sicherheit in der Schweiz.
Das Netz der Sozialversicherungen
Die wichtigsten Risiken des Lebens – Arbeitslosigkeit, Alter, Krankheit, Unfall, Invalidität, Tod – werden in der Schweiz von mehreren Sozialversicherungen abgedeckt. Insgesamt bietet dieses Auffangnetz einen recht guten Schutz; die Tabelle auf der nächsten Doppelseite zeigt, welcher Versicherungszweig für welche Risiken zuständig ist. In diesem Ratgeber werden die Ihnen zustehenden Versicherungs-leistungen bei gesundheitlichen Beeinträchtigungen dargestellt.
In diesem Kapitel erfahren Sie, was Sie versicherungsrechtlich zu erwarten haben, wenn das Invaliditätsrisiko eintritt. Sie werden sehen, was eigentlich eine «Invalidität» ist und weshalb die Fachleute sie von der Arbeitsunfähigkeit und von der Erwerbsunfähigkeit unterscheiden. Begriffe wie Hilflosigkeit, Umschulung, Hilfsmittel, Überentschädigung oder Rentenkürzung werden erläutert.
Im Zentrum des Ratgebers steht also die Invalidenversicherung. Daneben werden aber auch die anderen Sozialversicherungen besprochen, die bei einer Invalidität Leistungen erbringen. Dazu zählen die berufliche Vorsorge, das heisst Ihre Pensionskasse, die Unfallversicherung und die Krankenversicherung.
Wichtig können auch Privatversicherungen sein, vor allem im Rahmen der Säule 3a. Reichen die Leistungen dieser Versicherungen nicht aus, um den Lebensunterhalt zu finanzieren, werden zusätzlich sogenannte Ergänzungsleistungen ausgezahlt.
Wann ist eine Versicherung sozial?
Was als Versicherung gilt, kann hochtheoretisch oder umgangssprachlich umschrieben werden. Wichtig sind vor allem zwei Elemente:
Die Versicherung erbringt Leistungen, wenn das versicherte Risiko– etwa die Invalidität oder der Tod – eintritt.
Finanziert wird dies durch regelmässige Prämien oder Beiträge der Versicherten, die so bemessen sind, dass sie voraussichtlich die erwarteten Risiken sowie die Kosten des Versicherers, beispielsweise seine Verwaltungskosten, abdecken.
Ob das versicherte Risiko eintritt, ist immer ungewiss; Sie hoffen darauf, dass nichts passiert, doch wissen Sie, dass Sie im gegenteiligen Fall abgedeckt sind.
Typisch: Versicherungsobligatorium
In diesem Ratgeber werden hauptsächlich Sozialversicherungen besprochen. Sie werden fragen, ob eine Versicherung überhaupt «sozial» sein kann. Typisch für die Sozialversicherungen ist im Wesentlichen, dass sie die gesamte Bevölkerung oder doch weite Teile davon erfassen. Solange jemand die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt, kann ihm nicht gekündigt werden; auch «schlechte Risiken» dürfen nicht ausgeschlossen werden. Die Leistungen der Sozialversicherungen sind gesetzlich festgelegt und nur zum Teil von der Höhe der Prämienzahlungen abhängig; ein bestimmtes Minimum steht allen Versicherten zu. Hinzu kommt, dass Sozialversicherungen keinen Gewinn erzielen wollen. In aller Regel sind sie staatlich organisiert.
TIPP Die Tabelle auf der nächsten Doppelseite gibt Ihnen einen allgemeinen Überblick über das schweizerische Sozialversicherungssystem. Die Gesetze und Verordnungen zu den einzelnen Zweigen regeln viele weitere Einzelheiten. Wenn Sie konkrete Fragen haben, lohnt es sich, die gesetzliche Regelung genau anzusehen. Am einfachsten ist der Zugriff auf die Gesetze über das Internet:www.admin.ch (→ Bundesrecht → Systematische Rechtssammlung).
Welche Sozialversicherungen decken das Invaliditätsrisiko?
AHV für das Risiko Alter, Unfallversicherung für den Unfall, die Invalidenversicherung bei Invalidität – so einfach ist es leider nicht. Das Invaliditätsrisiko wird von ganz verschiedenen Sozialversicherungen erfasst. Es ist eine der grossen Schwierigkeiten des Schweizer Sozialversicherungssystems, dass ein einzelnes Risiko in verschiedenen Zweigen abgedeckt ist.
Der heutige recht gute Schutz bei Invalidität ist historisch gewachsen. Deshalb ist auch so schwierig abzuschätzen, welche Sozialversicherungen bei einer Invalidität Leistungen erbringen. Die Zusammenstellung auf Seite 18 zeigt diejenigen Zweige, in denen Sie gegen Invalidität versichert sind oder sein können. Denken Sie aber daran: Viele Einzelfragen passen nicht in dieses Schema.
Das Zusammenspiel an einem Beispiel
PIA K. IST VERKÄUFERIN. Bei einem Verkehrsunfall wird sie so schwer verletzt, dass sie nicht mehr weiterarbeiten kann. Von welchen Sozialversicherungen kann sie Leistungen beanspruchen?
Unfallversicherung: Als Angestellte ist Frau K. obligatorisch gegen Unfall versichert. Während der Heilungsphase bezahlt die Unfallversicherung Taggelder; später werden diese durch eine Rente abgelöst. Allenfalls ist auch eine Integritätsentschädigung geschuldet.
Invalidenversicherung: Die Invalidenversicherung prüft zunächst, ob Frau K. wieder ins Berufsleben eingegliedert werden kann, und übernimmt allenfalls die dafür nötige Umschulung. Ist dies nicht möglich, erhält Frau K. eine Rente.
Pensionskasse: Auch von der Pensionskasse kann Frau K. eine Invalidenrente verlangen. Sie muss aber damit rechnen, dass diese wegen Überentschädigung gekürzt wird.
Die versicherungsrechtliche Bewältigung einer Invalidität ist oft schwierig. Hinzu kommt, dass invalide Personen ja hauptsächlich mit ihrer Gesundheit zu kämpfen haben. Für viele ist es deshalb eine Überforderung, zugleich auch noch die versicherungsrechtliche Situation im Auge zu behalten. Doch vom richtigen Vorgehen kann einiges abhängen.
TIPP Brauchen Sie Hilfe? Im Anhang finden Sie die Adressen verschiedener Stellen, die Sie fachkundig beraten. Es lohnt sich, die versicherungsrechtliche Situation gründlich abzuklären.
Case Management: praktische Hilfe in einer komplexen Situation
In der Diskussion um die Invalidenversicherung ist in den vergangenen Jahren zunehmend ein Schlagwort aufgetaucht: Case Management. Eine genaue Definition dieses Begriffs ist nicht einfach; man versteht darunter, dass eine Person oder Stelle alle Bemühungen um die Rehabilitation von Menschen mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung koordiniert. Ziel ist es, einen raschen Wiedereinstieg ins Berufsleben zu ermöglichen und so eine Invalidität zu verhindern oder zu minimieren.
Die Case Managerin unterstützt die Versicherten, indem sie die Funktion einer Schaltstelle übernimmt zwischen Medizin (etwa Hausarzt), Beruf (Arbeitgeber, Berufsberaterin), Versicherungen (IV, Unfallversicherung) und der versicherten Person (persönliche Probleme, Familie, Freunde). Die Case Managerin tritt meist direkt in Kontakt mit der erkrankten oder verunfallten Person; es gibt also vielleicht Hausbesuche oder Besprechungen mit dem Arbeitgeber. Die Case Managerin hat auch die Aufgabe, sich mit den verschiedenen Versicherungen abzusprechen – kurz gesagt: Sie haben in ihr eine wichtige Begleitperson, wenn Sie verunfallt oder erkrankt sind.
Sorgfältiges Case Management ist eine verantwortungsvolle und oft schwierige Aufgabe. Die Berater und Betreuer müssen belastbar, ausdauernd, einfühlsam und vor allem auch neutral sein. Deshalb sollten sie eigentlich von den beteiligten Versicherungsgesellschaften unabhängig sein. Heute wird aber Case Management (noch) oft von den Versicherern betrieben. Dabei besteht die Gefahr, dass es dem Versicherer weniger um eine nachhaltige Rehabilitation geht als vielmehr darum, Kosten zu sparen. Zunehmend finden sich aber auch freiberufliche Case Managerinnen und Case Manager.
INFO Seit der 5. IV-Revision haben auch die IV-Stellen die Möglichkeit, Case Management zu betreiben. Dabei geht es um Früherfassung einer drohenden Invalidität, um frühzeitige Intervention und Integration (mehr dazu auf Seite 41).
Was ist Invalidität?
Invalid ist eigentlich ein schreckliches Wort, denn es bedeutet nichts anderes als «unwert». Doch in juristischer Hinsicht ist recht klar definiert, was damit gemeint ist. Die Schwierigkeit liegt darin, im konkreten Fall zu entscheiden, ob eine Invalidität eingetreten ist oder nicht. Zu Tausenden werden in der Schweiz jedes Jahr Gerichtsverfahren über diese heikle Frage geführt.
Arbeitsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit
Schon wieder zwei neue Begriffe für dieselbe Situation: Jemand kann wegen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung nicht arbeiten. Arbeitsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit werden sehr häufig vermischt und verwechselt. Doch es handelt sich um zwei Begriffe, die klar voneinander zu unterscheiden sind, weil sie zwei ganz verschiedene Sachverhalte meinen.
Arbeitsunfähigkeit: der Blick zurück
Die Arbeitsunfähigkeit umschreibt die Einbusse in der bisherigen Tätigkeit. Es wird also zurückgeblickt auf die Arbeit, die die betroffene Person vor dem Eintritt der Krankheit oder des Unfalls ausgeübt hat. Die Ärztin oder der Arzt muss genau umschreiben, ob und inwieweit sie diese Tätigkeit noch bewältigen kann. Es gibt also nicht etwa «die» Arbeitsunfähigkeit; für jeden Beruf ist eine unterschiedliche Bemessung nötig.
MARGOT L. IST NACH EINEM UNFALL querschnittgelähmt. Als Informatikerin, die hauptsächlich neue Software entwickelt und Programmierarbeiten ausführt, kann sie – mit den nötigen Anpassungen des Arbeitsplatzes – trotz Querschnittlähmung ihre bisherige Tätigkeit mehr oder weniger unverändert weiterführen. Also gilt sie als 100-prozentig arbeitsfähig. Ganz anders der Maurer Friedrich P.: Mit einer Querschnittlähmung ist er in seinem bisherigen Beruf natürlich zu 100 Prozent arbeitsunfähig.
Das Beispiel zeigt die Relativität des Begriffs der Arbeitsunfähigkeit. Wenn Sie deshalb in der Situation sind, dass ein Arzt Ihre Arbeitsunfähigkeit bestimmen muss, erzählen Sie genau, wo Sie bisher tätig waren. Für die Arbeitsunfähigkeit ist nur die Einschränkung in der bisherigen Tätigkeit massgebend.
Erwerbsunfähigkeit: der Blick nach vorn
Muss die Erwerbsunfähigkeit einer erkrankten oder verunfallten Person bestimmt werden, richtet sich der Blick nach vorn. Massgebend ist nicht mehr die Einschränkung im bisherigen Beruf oder in der bisherigen Tätigkeit, sondern es wird überprüft, wie sehr diese Person auf dem gesamten Arbeitsmarkt eingeschränkt ist. Das kann natürlich ein ganz anderes Resultat ergeben.
DIE IV ÜBERPRÜFT, ob Friedrich P., der querschnittgelähmte Maurer aus dem obigen Beispiel, in anderen Tätigkeitsbereichen arbeiten kann. Sie gelangt zum Ergebnis, dass er – nach einer Umschulung – im Bürobereich durchaus zu 70 Prozent tätig sein kann. Sein Einkommen reduziert sich also nicht von 100 auf 0 Prozent, sondern allenfalls von 100 auf 70 Prozent. Friedrich P. ist deshalb zwar zu 100 Prozent arbeitsunfähig, aber nur zu 30 Prozent erwerbsunfähig.
Wozu die Unterscheidung?
Sie werden wohl denken, dass es sich um eine Unterscheidung handelt, die im Alltag nicht allzu viel taugt. Doch für die Sozialversicherung ist die Abgrenzung zwischen Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit von allergrösster Bedeutung.
In der ersten Zeit nach einem Unfall oder einer Erkrankung richten die Sozialversicherungen üblicherweise Taggelder aus – beispielsweise die Unfallversicherung während der Heilungsphase oder die IV während einer Umschulung. In dieser Zeit wird auf die Arbeitsunfähigkeit – also auf die Einbusse in der bisherigen Tätigkeit – abgestellt. Erst später, wenn klar ist, dass eine Rente ausgezahlt werden muss, kommt die Erwerbsunfähigkeit – die Einbusse im gesamten Arbeitsmarkt – ins Spiel. Als Faustregel können Sie sich Folgendes merken:
Arbeitsunfähigkeit ist massgebend während der Taggeldphase.
Erwerbsunfähigkeit ist massgebend während der Rentenphase.
HEINZ K. IST LASTWAGENCHAUFFEUR. Beim Abladen stürzt er und zieht sich gravierende Rückenverletzungen zu. Es ist klar, dass er überhaupt nicht mehr als Lastwagenchauffeur tätig sein kann. Er erhält deshalb Taggelder auf der Basis einer 100-prozentigen Arbeits-unfähigkeit. Dann meldet sich Heinz K. bei der IV an. Diese ist der Auffassung, eine rückenschonende Tätigkeit könne er ohne Weiteres zu 100 Prozent ausüben, und schlägt ihm Tätigkeiten in einem automatisierten Magazin vor. Als Lastwagenchauffeur verdiente Herr K. monat-lich 5500 Franken. Die IV nimmt an, bei der vorgeschlagenen Tätigkeit im Magazin sei ein Einkommen von 4000 Franken möglich. Nach dieser Rechnung erleidet der ehemalige Lastwagenfahrer also eine Verdiensteinbusse von 1500 Franken oder von 27 Prozent. Er ist also auch nur zu 27 Prozent erwerbsunfähig, und das reicht nicht für eine Rente der IV.
Invalidität: erst ab einer gewissen Dauer
Bisher war von Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit die Rede; Invalidität ist nun noch etwas Drittes. Von Invalidität spricht man erst, wenn eine Erwerbsunfähigkeit längere Zeit andauert. Wer nur vorübergehend – vielleicht einen Monat lang – erwerbsunfähig ist, gilt noch nicht als invalid. Wenn Sie meinen, das sei eine schwierig zu ziehende Grenze, haben Sie ganz recht! Die Sache vereinfacht sich aber, weil in der Invalidenversicherung angenommen wird, wer länger als zwölf Monate arbeitsunfähig ist und in Zukunft erwerbsunfähig ist, sei invalid.
Renten richtet die Invalidenversicherung also erst aus, wenn jemand mindestens zwölf Monate arbeitsunfähig geblieben ist. Nehmen Sie beispielsweise einen Aussendienstmitarbeiter, der nach einem Herzinfarkt seine Tätigkeit nicht mehr ausüben kann. Er muss zunächst zwölf Monate warten, bis die IV – wenn diese gesundheitliche Einschränkung weiter andauert – eine Invalidität annimmt. Wie hoch diese Invalidität ist, bestimmt sich durch einen Einkommensvergleich (siehe Seite 53).
TIPP Die IV zahlt eine Invalidenrente frühestens sechsMonate, nachdem Sie sich bei der IV-Stelle angemeldet haben. Warten Sie also auf keinen Fall zu lange mit einer Anmeldung, wenn Ihre Arbeitsunfähigkeit längere Zeit dauert!
Der ganze Arbeitsmarkt wird einbezogen
URSULA H. IST BÄCKERIN und hat schon viele Jahre auf dem Beruf gearbeitet. Mit der Zeit entwickelt sie jedoch eine Mehlallergie, die ihr eine Weiterarbeit in der Bäckerei verunmöglicht. Sie liebt ihren Beruf sehr und kann sich nicht vorstellen, überhaupt etwas ande-res zu arbeiten. Ist sie nun invalid?
Die Antwort wird wohl sein: Nein! Die Sozialversicherung mutet einer in einem bestimmten Beruf arbeitsunfähigen Person durchaus zu, die Tätigkeit zu wechseln, auch wenn ihr dies weder behagt noch besonders liegt. Erst wenn feststeht, dass auch in anderen Berufszweigen eine Tätigkeit nicht mehr möglich ist, stellt sich die Frage einer Invalidität. Die Bäckerin aus dem Beispiel muss also akzeptieren, dass sie ihren Lebensunterhalt in Zukunft in einer anderen Branche zu verdienen hat. Vielleicht verfügt sie nicht über die nötigen Kenntnisse; dann bewilligt ihr die IV eine Umschulung (mehr dazu auf Seite 45).
Wie misst man Invalidität?
Bisher haben Sie immer von Invalidität an sich gelesen. Doch natürlich sind nicht alle Menschen mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung gleich zu 100 Prozent invalid. Die Einschränkung kann auch bloss 5 oder 10 Prozent betragen. Es muss also eine Methode geben, um das genaue Ausmass der Invalidität oder – mit dem Fachausdruck – den Invaliditätsgrad zu bestimmen. Dieser Invaliditätsgrad ist für die Betroffenen zentral, denn alle Sozialversicherungen richten ihre Leistungen danach aus. Die IV etwa gewährt bei einem Invaliditätsgrad von 40 Prozent eine Viertelsrente, ab einem Invaliditätsgrad von 50 Prozent eine halbe, ab 60 Prozent eine Dreiviertels- und ab 70 Prozent eine ganze Rente. Andere Sozial-versicherungen haben ein feiner abgestuftes System: Die Unfallversicherung setzt bereits bei einem Invaliditätsgrad von 10 Prozent ein und richtet die Renten «prozentgenau» aus. Jede Erhöhung um einen einzigen Prozentpunkt bringt also bei der Unfallversicherung leicht bessere Leistungen mit sich.
Der Invaliditätsgrad steuert alle Rentenleistungen der Sozialversicherungen. Dabei gilt häufig der Spruch: «Einmal schief – immer schief.»
DORA F. LEIDET AN NIERENZYSTEN und kann deshalb ihre bisherige Arbeit als Kellnerin nicht mehr uneingeschränkt wei-terführen. Hinzu kommt, dass sie zunehmend in Depressionen verfällt. Die IV ermittelt einen Invaliditätsgrad von 48 Prozent und spricht ihr deshalb eine Rente zu. Weil der Invaliditätsgrad unter 50 Prozent liegt, erhält Frau F. nur eine Viertelsrente, die maximal 593 Franken (Stand 2020) pro Monat beträgt. Sie hat zwar den Eindruck, dass ihr Invaliditätsgrad viel höher sein sollte, weil sie wegen ihrer Depres-sion eigentlich überhaupt nicht mehr arbeiten kann. Sie fühlt sich aber mit den versicherungsrechtlichen Fragen überfordert und lässt die ganze Sache liegen.
Später wendet sich Frau F. an die Pensionskasse und beantragt auch dort eine Rente. Eigentlich möchte sie hier eine ganze Rente er-halten, weil sie nicht mehr arbeiten kann. Die Pensionskasse beruft sich aber darauf, dass die IV nur einen Invaliditätsgrad von 48 Prozent berechnet hat. Sie erhält auch von der beruflichen Vorsorge nur eine Viertelsrente.
Schwierige Lage! Wenn es Frau F. nicht gelingt, eine Verschlechterung ihres Gesundheitszustands zu beweisen, wird sie sich mit den kargen Viertelsrenten der IV und der Pensionskasse begnügen müssen. Sie hätte schon beim IV-Entscheid richtig reagieren und den Invaliditätsgrad überprüfen lassen müssen. Bereits eine Erhöhung auf 51 Prozent hätte gereicht, um später auch eine halbe Rente der Pensionskasse zu erhalten. Ein nur 3 Pro-zent höherer Invaliditätsgrad würde die Leistungen der Versicherungen also verdoppeln.
Festgelegt wird der Invaliditätsgrad von der IV; Beispiele für die Berechnung finden Sie ab Seite 52. Da dieser Entscheid auch für die Leistungen aller anderen Sozialversicherungen so grosse Bedeutung hat, sollten Sie sich unbedingt wehren, wenn Sie den Eindruck haben, es sei der IV-Stelle ein Fehler unterlaufen.
TIPP Reagieren Sie bei einem Fehlentscheid der IV nicht, besteht eine grosse Wahrscheinlichkeit, dass Sie auch bei den anderen Sozialversicherungen keine Korrektur mehr werden errei-chen können. Lassen Sie sich wenn nötig beraten; Adressen fachkun-diger Stellen finden Sie im Anhang.
Kann eine Hausfrau invalid sein?
Ist Ihnen auch aufgefallen, dass sich alle bisherigen Beispiele auf erwerbstätige Personen bezogen? Fast könnte der Eindruck entstehen, dass Hausfrauen und Hausmänner nicht invalid sein können. Das ist natürlich falsch; die Schwierigkeit liegt aber darin, dass im Haushalt Tätige nicht ein eigentliches Einkommen erzielen. Wie soll man dann bestimmen, ob eine Invalidität eingetreten ist?
Bei Hausfrauen und Hausmännern werden nicht Einbussen im Einkommen ermittelt, sondern massgebend ist, wie weit die Einschränkung in der Haushaltsführung geht. Die IV klärt also ab, in welchem Ausmass das Kochen, Putzen, Einkaufen oder die Gartenpflege noch möglich sind. Dieser sogenannte Betätigungsvergleich verlangt von den Begutachtenden viel Lebenserfahrung und Einfühlungsvermögen (mehr dazu auf Seite 58).
TIPP Auch wenn Sie als Hausfrau oder Studierende kein Einkommen erzielen, können und sollen Sie sich bei derIV anmelden, wenn Sie unter erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen leiden.
Die Diskussion um Missbrauch und «Scheininvalide»
Immer wieder wird in politischen Diskussionen gepoltert mit dem Vorwurf «scheininvalid». Besonders weit kommt man damit allerdings nicht. Die Bestimmung des Invaliditätsgrads ist ein so heikler Vorgang, dass von aussen gesehen der Eindruck entstehen mag, manche Betroffene seien gar nicht invalid. Dieser Eindruck täuscht.
Die Bestimmung der Invalidität setzt das Zusammenwirken verschiedenster Personen voraus: Ärztinnen müssen Stellung beziehen; Berufsberater prüfen eine Umschulung; IV-Sachbearbeiterinnen klären die Einkommensmöglichkeiten ab; Rechtsdienste von IV-Stellen werden aktiv. Wo so viele verschiedene Personen zusammenwirken, ist es praktisch ausgeschlossen, dass jemand zu Unrecht eine Rente zugesprochen erhält. Zwar sind oft Ermessensentscheide zu treffen; das allein bedeutet aber noch nicht, dass Drückeberger als Invalide anerkannt werden. Viel eher beinhaltet das Schlagwort der Scheininvalidität den Versuch, bestimmte Menschen – Verunfallte und Kranke – aus der Gesellschaft auszugrenzen.
Es kann auch nicht wegdiskutiert werden, dass in der heutigen schwierigen Arbeitsmarktlage die Invalidenversicherung viele Probleme auszubaden hat, die gar nicht von ihr zu lösen sind. Unternehmen werden fusioniert und Arbeitsplätze abgebaut im Interesse von Kapitalrenditen und Topsalären für Manager und Berater. Zu oft wurden Menschen bei diesen Prozessen in die Invalidenversicherung abgeschoben, obwohl viele von ihnen am liebsten weitergearbeitet hätten. Weil die Wirtschaft aber keine für sie geeigneten Arbeitsplätze zur Verfügung stellte, blieb ihnen kein anderer Weg als derjenige zur Invalidenversicherung – was zu einer starken Erhöhung der Rentenzahlen und schlussendlich auch zur derzeit schwierigen Finanzlage der Invalidenversicherung geführt hat. Nachdem heute vor dem Hintergrund der «Sanierung der Invalidenversicherung» viel strengere Massstäbe gelten (siehe dazu sogleich), wirkt das Wort «Scheininvalidität» höchst problematisch. Im Rahmen der 6. IV-Revision, mit welcher Rentner hätten wiedereingegliedert werden sollen, hat sich abgezeichnet, dass die Integration kranker oder invalider Menschen in den Arbeitsmarkt schwierig, wenn nicht gar illusorisch ist, solange die Arbeitgeberschaft nicht gezwungen wird, entsprechende Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen.
Quelle: IVStatistik Mai 2020, Bundesamt für Sozialversicherungen
Es ist schwieriger geworden
Das Misstrauen gegenüber allfälligen «Scheininvaliden» und die schlechte Finanzlage der IV haben in den vergangenen Jahren zu einer Praxisverschärfung geführt. Noch restriktiver als bisher werden die Bestimmungen ausgelegt, noch akribischer wird geprüft, bevor jemand eine Rente erhält. Seit 2003 hat die Anzahl neu zugesprochener Renten drastisch abgenommen, wie die Zahlen der IV zeigen: 2003 lag der Anteil der Neurentner an der Bevölkerung bei 0,6 Prozent, 2011 betrug er noch rund die Hälfte oder 0,31 Prozent, und bis 2015 ging er noch einmal leicht zurück.
Nachdem die Zahlen der Neurenten nach Einführung der 5. IVG-Revision auf tiefem Niveau stabilisiert werden konnten, wurden mit der 6. IV-Revision die laufenden Renten überprüft. Es wurden neue Integrationsmöglichkeiten geschaffen. Das Ziel war, 17 000 Rentenbezügerinnen und -bezüger einzugliedern. Die neusten Zahlen fallen jedoch ernüchternd aus: Eingliederungen konnten kaum realisiert werden – anstelle erfolg-reicher Eingliederungen ist es vielmehr zu ersatzlosen Rentenaufhebungen gekommen. Nachdem die 6. IV-Revision in zwei Teile unterteilt werden musste (6a und 6b) und die Revision 6b gescheitert ist, hat der Bundesrat im Februar 2017 die Botschaft zur Weiterentwicklung der IV ans Parlament überwiesen. Im Zentrum stehen eine intensivere Begleitung und Regelung bei Geburtsgebrechen, die gezielte Unterstützung bei Jugendlichen beim Übergang ins Erwerbsleben sowie der Ausbau der Beratung und der Begleitung von Menschen mit psychischen Gesundheitsstörungen. Ebenso wird in der Vorlage vorgesehen, das heute vierstufige Rentenmodell (Viertelsrente, halbe Rente, Dreiviertelsrente, ganze Rente) durch ein stufenloses System zu ersetzen. Im Rahmen der Debatten in den Räten sind wichtige Punkte bezüglich der Transparenz im Gutachterwesen sowie Tonaufnahmen von Gutachten hinzugekommen. Die letzten Differenzen wurden in der Debatte im Nationalrat am 4. März 2020 bereinigt. Es geht nun noch um die Umsetzung und Inkraftsetzung dieser Revision.
Schmerzen, Schleudertrauma und ähnliche Beeinträchtigungen
2004 hat das Bundesgericht entschieden, bei der Diagnose «somatoforme Schmerzstörung» sei in der Regel keine Arbeitsunfähigkeit anzuerkennen beziehungsweise diese Diagnose könne keine Invalidität begründen (BGE 130 V 352). Diese Rechtsprechung wurde in den Folgejahren auf weitere Krankheiten und Verletzungen ausgeweitet:
Fibromyalgiesyndrom (Weichteilrheuma)
Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen
HWS-Distorsion (Schleudertrauma) ohne nachweisbare organische Funktionsausfälle
Nicht organische Hypersomnie (Schlafsucht)
Neurasthenie
Chronic Fatigue Syndrom (chronisches Müdigkeitssyndrom, CFS) mit Ausnahme bei Krebserkrankungen
Bei diesen Erkrankungen wurde vermutet, dass die Versicherten mit gutem Willen (in juristischer Sprache «mit zumutbarer Willensanstrengung») arbeiten könnten. Ausnahmen wurden nur selten anerkannt. Eine heikle Vermutung!
Das Bundesgericht hat diese Theorie der Überwindbarkeit in einem Entscheid aus dem Jahr 2015 schliesslich aufgegeben und das frühere «Regel/Ausnahme»-Modell durch ein neues Prüfungsraster ersetzt (BGE 141 V 281): In diesem – als strukturiertes Beweisverfahren bezeichneten – Raster wird vorab geprüft, wie schwerwiegend die gesundheitlichen Einschränkungen sind. Dabei wird einerseits auf die medizinische Diagnose abgestellt, andererseits werden auch die persönlichen Ressourcen und das soziale Umfeld berücksichtigt. In einem zweiten Schritt wird überprüft, ob das Verhalten und die Aussagen der Versicherten in sich konsistent sind in dem Sinne, dass sich die Einschränkungen auf alle Lebensbereiche (z. B. Arbeit und Freizeit) auswirken.
Diese neue Rechtsprechung wurde vorerst nur bei den vorgenannten Diagnosen angewendet. Nach und nach hat sich der Anwendungsbereich jedoch erweitert. Ende 2017 wurde die Rechtsprechung vorerst zusätzlich auf leichte bis mittelgradige Depressionen und später dann grundsätzlich auf sämtliche psychischen Erkrankungen ausgeweitet. Ausgenommen sind ganz klare schwere psychiatrische Fälle. Kurz zusammengefasst kann man sagen, dass diese Indikatorenprüfung bei ganz klaren somatischen Gesundheitsschäden oder ganz schweren psychischen Erkrankungen nicht zur Anwendung kommt, sonst aber mehr oder weniger flächendeckend angewendet wird. Zuletzt hat das Bundesgericht entschieden, dass auch Suchterkrankungen – welche früher äusserst restriktiv beurteilt wurden – unter diese neue Rechtsprechung fallen.
Die Rechtsänderung hat die Gesamtlage insoweit etwas verbessert, als bei den erwähnten Krankheitsbildern nicht per se von der «Überwindbarkeit» ausgegangen wird und sich die Gerichte in aller Regel auch intensiver mit der Indikatorenprüfung auseinandersetzen als das früher bei der Überwindbarkeitsrechtsprechung der Fall war. Immer noch etwas unklar bleibt die Aufgabenteilung zwischen den medizinischen Gutachtern und den Versicherungen/Gerichten. Klar ist, dass durch medizinische Gutachten umfassende Grundlagen für den Ent-scheid bei den Versicherungen und Gerichten geschaffen werden müssen. Dabei sollen sich die Gutachter zu den folgenden Themenkomplexen äussern:
A. Kategorie «funktioneller Schweregrad»
a. |
Komplex «Gesundheitsschädigung» |
i. |
Ausprägung der diagnoserelevanten Befunde |
ii. |
Behandlungserfolg oder -resistenz |
iii. |
Eingliederungserfolg oder -resistenz |
iv. |
Komorbiditäten |
b. |
Komplex «Persönlichkeit» (Persönlichkeitsdiagnostik, persönliche Ressourcen) |
c. |
Komplex «Sozialer Kontext» |
B. Kategorie «Konsistenz» (Gesichtspunkte des Verhaltens)
a. |
Gleichmässige Einschränkung des Aktivitätenniveaus in allen vergleichbaren Lebensbereichen |
b. |
Behandlungs- und eingliederungsanamnestisch ausgewiesener Leidensdruck |
Die Würdigung dieser einzelnen Faktoren obliegt dann jedoch den Gerichten. Wie Sie sehen, ist die Sache immer noch schwer durchschaubar. Immerhin ist das Prüfungsverfahren gegenüber der Schmerzrechtsprechung jedoch heute transparenter und die Urteile sind nachvollziehbarer.
IV: die zentrale Versicherung bei Invalidität
Wer invalid wird, hat es in erster Linie mit der Invaliden-versicherung – kurz IV – zu tun. Wer bei der IV versichert ist, welche Leistungen die Versicherung vorsieht und wie Siezu diesen Leistungen kommen, erfahren Sie auf den folgenden Seiten.
Wer ist bei der IV versichert?
Die IV ist wie die AHV, mit der sie eng zusammengehört, eine ob-ligatorische Versicherung; es gibt also kein Auswahlverfahren, man muss mitmachen, kann aber auch nicht «hinausgeworfen» werden. Obligatorisch versichert sind alle Personen, die in der Schweiz Wohnsitz haben oder hier erwerbstätig sind. Es genügt, wenn eines der beiden Kriterien erfüllt ist. Auch spielt es keine Rolle, ob Sie Ausländerin oder Schweizer sind – die Kriterien sind für beide Personengruppen dieselben. Insofern ist die IV eine sehr soziale Versicherung.