Meg Rosoff
So lebe ich jetzt
Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit
FISCHER E-Books
Bevor sie anfing zu schreiben, arbeitete Meg Rosoff in vielen verschiedenen Jobs, unter anderem im Verlagswesen und in der Werbung. 1989 zog sie von New York nach London, wo sie heute mit ihrem Mann und ihrer Tochter lebt. Ihre Romane wurden mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis und dem Luchs des Jahres. In Großbritannien stand sie mit ›So lebe ich jetzt‹ lange auf der Bestsellerliste. Bei Fischer sind von Meg Rosoff außerdem erschienen: ›Davon, frei zu sein‹ und ›Oh. Mein. Gott‹.
Brigitte Jakobeit, Jahrgang 1955, lebt in Hamburg und übersetzt seit 1990 englischsprachige Literatur, darunter die Autobiographien von Miles Davis und Milos Forman sowie Bücher von John Boyne, Paula Fox, Alistair MacLeod, Audrey Niffenegger und Jonathan Safran Foer.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage, auch zu E-Book-Ausgaben, gibt es bei www.fischerverlage.de
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel ›How I live now‹ bei Penguin Books Ltd, London
Originalcopyright © 2004 by Meg Rosoff
Für diese Ausgabe
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
© der deutschen Übersetzung von Brigitte Jakobeit: Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2005
Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Designkonzept nach einer Idee von © Puffin Books 2012
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403089-0
Für Debby
Ich heiße Elizabeth, aber so bin ich nie genannt worden. Mein Vater hat nach meiner Geburt einen Blick auf mich geworfen und wahrscheinlich gedacht, ich hätte ein würdevolles und trauriges Gesicht, wie eine altmodische Königin oder eine Tote, dabei bin ich ganz gewöhnlich geworden, nichts Besonderes. Auch mein Leben war bisher ganz gewöhnlich. Ich war schon immer mehr Daisy als Elizabeth.
Aber alles änderte sich in dem Sommer, als ich nach Englind zu meinen Verwandten kam. Das lag teilweise am Krieg, der angeblich vieles verändert hat, aber an die Zeit vor dem Krieg kann ich mich sowieso kaum erinnern, deshalb zählt sie auch nicht in meinem Buch, nämlich diesem hier.
Fast alles hat sich wegen Edmond verändert.
Und das kam so.
Ich steige aus dem Flugzeug, warum erzähl ich später, und lande im Londoner Flughafen, wo ich nach einer nicht mehr ganz jungen Frau Ausschau halte, die ich von Bildern kenne und die meine Tante Penn ist. Die Fotos waren alt, aber sie sah aus wie eine, die dicke Halsketten und flache Schuhe tragen könnte, dazu vielleicht noch ein schmales Kleid in Schwarz oder Grau. Aber das ist bloß geraten, denn die Bilder zeigten immer nur ihr Gesicht.
Jedenfalls gucke ich mir die Augen aus dem Kopf und alle verschwinden und auf meinem Handy ist kein Empfang und ich denke Na klasse, jetzt sitze ich auch noch am Flughafen fest, womit es schon zwei Länder sind, die mich nicht wollen, und dann ist da nur noch ein Junge, der auf mich zukommt und sagt Du bist wahrscheinlich Daisy. Und als ich erleichtert aussehe, wirkt auch er erleichtert und sagt Ich bin Edmond.
Hallo Edmond, sage ich, freut mich sehr, und ich blicke ihm fest ins Gesicht, um herauszufinden, wie mein neues Leben bei den Verwandten wohl aussehen könnte.
Ich will ihn kurz beschreiben, bevor ich’s vergesse, weil er nicht unbedingt der typische Vierzehnjährige ist, von wegen der ZIGARETTE und seine Haare sehen aus, wie wenn er sie mitten in der Nacht mit einer Axt abgeschnitten hätte, aber sonst erinnert er eher an einen Köter, so einer, wie es sie im Tierheim gibt, die irgendwie zuversichtlich und lieb sind und dir ihre Schnauze in die Hand drücken, wenn sie dir mit einer gewissen Würde begegnen, und du weißt in dem Moment, dass du ihn mit nach Hause nimmst. Genau so ist er.
Nur nahm er mich mit nach Hause.
Ich trag deine Tasche, sagte er und obwohl er ungefähr einen Meter kleiner ist als ich und seine Arme ungefähr so dick sind wie ein Hundebein, greift er sich meine Tasche und ich greife sie mir zurück und sage Wo ist deine Mutter, wartet sie im Auto?
Und da lächelt er und zieht an seiner Zigarette, was ich fast ein bisschen cool finde, obwohl Rauchen der Gesundheit schadet und so weiter, ich weiß, aber vielleicht rauchen in England ja alle Kids. Ich sage lieber nichts, falls es eine allseits bekannte Tatsache ist, dass man in England ab zwölf rauchen darf, und wenn ich ein Wahnsinnsding daraus mache, stehe ich am Ende wie eine Idiotin da, kaum dass ich fünf Minuten hier bin. Jedenfalls sagt er Meine Mutter konnte nicht zum Flughafen kommen, weil sie arbeitet, und es empfiehlt sich nicht, sie dabei zu stören, und die anderen waren alle woanders, also bin ich allein gefahren.
Da schaute ich ihn komisch an.
Du bist allein gefahren? Du bist allein HIERHER GEFAHREN? Na klar doch, und ich bin die Privatsekretärin der Herzogin von Panama.
Er zuckte leicht mit den Schultern, legte seinen Kopf leicht schief wie ein Tierheimhund und zeigte auf einen klapprigen schwarzen Jeep, an dem er die Tür aufmachte, indem er durchs offene Fenster nach innen langte und den Griff hochzog und zerrte. Er warf meine Tasche nach hinten, das heißt er schob sie mehr weil sie ziemlich schwer war, und sagte dann Steig ein Cousine Daisy, und da mir sonst nichts Besseres einfiel, stieg ich ein.
Ich bin noch dabei, das alles zu verdauen, da steuert er das Auto auf die Böschung statt den Ausfahrt-Schildern zu folgen und dann fährt er auf ein Schild mit der Aufschrift Einfahrt verboten zu, das er natürlich auch ignoriert, und dann ruckelt er nach links über einen Graben und plötzlich sind wir auf der Landstraße.
Ist es zu fassen, dass sie dreizehn Pfund fünfzig verlangen, nur um dort eine Stunde zu parken?, fragt er mich.
Also ehrlich gesagt kann ich gar nichts davon fassen, wie ich da von diesem dünnen, zigarettepaffenden Jungen auf der falschen Straßenseite entlangkutschiert werde, und mal ehrlich, würde da nicht jeder denken, England ist ganz schön abgedreht?
Und dann mustert er mich wieder mit seinem komischen Hundeblick und sagt Du gewöhnst dich schon dran. Was auch komisch war, denn ich hatte ja gar nichts gesagt.
Im Jeep schlief ich ein weil es ein weiter Weg bis zu ihrem Haus war, und wenn ich nur die Straße vorbeirauschen sehe, schließe ich am liebsten immer die Augen. Als ich sie dann wieder öffnete, stand da ein Begrüßungskomitee und starrte mich durchs Fenster an, es waren vier Kinder und eine Ziege und zwei Hunde, die Jet und Gin hießen, wie ich später erfuhr, und im Hintergrund sah ich ein paar Katzen hinter einer Entenschar herjagen, die aus irgendeinem Grund auf dem Rasen rumhing.
Einen Augenblick lang war ich richtig froh, dass ich fünfzehn war und aus New York kam, denn ich hab vielleicht noch nicht alles erlebt, aber doch schon ziemlich viel, und in meiner Clique habe ich das beste So-was-kommt-bei-mir-nun-wirklich-andauernd-vor-Gesicht. Genau so ein Gesicht machte ich jetzt, obwohl mich alles ehrlich gesagt reichlich überraschte, aber sie sollten nicht denken, dass Kids aus New York nicht mindestens genauso cool sind wie englische Kids, die nur zufällig mit Ziegen und Hunden und was weiß ich allem in riesigen alten Häusern wohnen.
Von Tante Penn noch immer keine Spur, aber Edmond stellt mich dem Rest meiner Verwandten vor, die Isaac und Osbert und Piper heißen, wozu ich mich nicht mal ansatzweise äußern will. Isaac ist Edmonds Zwillingsbruder und sie sehen genau gleich aus, nur sind Isaacs Augen grün und die von Edmond haben dieselbe Farbe wie der Himmel, der im Augenblick grau ist. Anfangs mochte ich Piper am liebsten, weil sie mir einfach offen ins Gesicht sah und sagte Wir freuen uns sehr, dass du gekommen bist, Elizabeth.
Daisy, verbesserte ich und sie nickte irgendwie ernsthaft, so dass ich wusste, sie würde es nicht vergessen.
Isaac wollte meine Tasche zum Haus schleppen, aber dann kam Osbert, der Älteste, und schnappte sie ihm überheblich weg und verschwand damit ins Haus.
Bevor ich erzähle, was dann passiert ist, muss ich noch das Haus beschreiben, obwohl das im Grunde unmöglich ist, wenn man bisher nur in Wohnungen in New York gelebt hat.
Erst mal sollte klar sein, dass das Haus eine alte Bruchbude ist, aber aus einem unerfindlichen Grund berührt das seine Schönheit irgendwie überhaupt nicht. Es ist aus großen gelblichen Steinen, hat ein steiles Dach und ist in L-Form um einen großen, mit dicken Kieseln gepflasterten Hof gebaut. Der kurze Teil des L hat einen breiten Torbogen und war früher der Stall, dient jetzt aber als Küche und ist riesig, mit Ziegelböden im Zickzackmuster und großen Fenstern an der Vorderfront und einer Stalltür, die immer offen bleibt. Außer wenn es wirklich schneit, sagt Edmond.
An der Hausfassade rankt sich eine riesige Kletterpflanze hoch, deren Stamm so dick ist, dass sie schon seit hundert Jahren da wachsen muss, aber es sind noch keine Blüten dran, weil es wahrscheinlich zu früh ist. Hinter dem Haus führen ein paar Treppenstufen zu einem quadratischen, von hohen Backsteinmauern umgebenen Garten, in dem tonnenweise Blumen wachsen, die alle schon in den verschiedensten Weißtönen blühen. In einer Ecke steht ein Steinengel von der ungefähren Größe eines Kindes, er ist sehr verwittert, hat gefaltete Flügel, und Piper erzählte mir, das wäre ein Kind, das vor Hunderten von Jahren im Haus lebte und nun im Garten begraben liegt.
Als ich mich später ein bisschen im Haus umsehen kann, stelle ich fest, dass es innen viel verwinkelter ist als außen, mit komischen Gängen, die anscheinend nirgendwo hinführen, und winzigen Schlafzimmern mit schrägen Decken, die oben an der Treppe versteckt liegen. Alle Treppenstufen knarren und an keinem der Fenster sind Vorhänge und die Zimmer unten sind riesig, jedenfalls für meine Verhältnisse, und voll mit klobigen alten gemütlichen Möbeln und Bildern und Büchern und riesigen Kaminen, außerdem posieren überall Tiere, durch die das Haus noch altehrwürdiger wirkt.
Auch die Badezimmer sind ziemlich altehrwürdig, um nicht zu sagen antiquiert, und sobald man was Intimes verrichten will, machen sie einen Höllenlärm.
Hinterm Haus ist jede Menge Ackerland, von dem ein Teil wie Wiese aussieht, ein anderer Teil ist mit Kartoffeln bebaut und der Rest fängt gerade in einem grellen Gelb zu blühen an und ist laut Edmond Raps wie in Rapsöl.
Ein Bauer kommt regelmäßig und erledigt die ganze Feldarbeit, weil Tante Penn immer an Wichtigen Sachen Für Den Friedensprozess sitzt und laut Edmond sowieso keine Ahnung von Landwirtschaft hat. Aber sie halten Schafe und Ziegen und Katzen und Hunde und Hühner, wenn auch Nur Zur Dekoration, wie Osbert auf eine leicht spöttische Art sagte, und so langsam ist er in meinen Augen der einzige Cousin, der mich an Leute erinnert, wie ich sie in New York kenne.
Schließlich gingen Edmond, Piper, Isaac und Osbert zusammen mit den Hunden Jet und Gin und ein paar Katzen vor mir in die Küche und setzten sich an oder unter einen Holztisch und irgendwer machte Tee und sie starrten mich alle an wie ein interessantes Wesen, das sie aus dem Zoo bestellt hatten, und stellten mir jede Menge Fragen auf eine viel freundlichere Art als es in New York möglich wäre, wo Kinder eher warten würden, bis ein Erwachsener falsch-freundlich hereinschneit und Kekse auf einen Teller legt und alle ihre Namen sagen müssen.
Nach einer Weile war ich ganz benebelt und dachte Mann, wär jetzt ein Glas eiskaltes Wasser gut, damit mein Kopf wieder klar wird, und als ich aufblickte, stand da Edmond und hielt mir ein Glas Wasser mit Eiswürfeln hin, und die ganze Zeit schaute er mich mit seinem beinahe lächelnden Ausdruck an, und obwohl ich mir in dem Moment keine großen Gedanken darüber machte, fiel mir auf, dass Isaac ihn komisch ansah.
Dann stand Osbert auf und verschwand, er ist sechzehn und der Älteste, falls ich das nicht schon gesagt habe, also ein Jahr älter als ich. Piper fragte, ob ich die Tiere sehen oder mich erst eine Weile hinlegen möchte, und ich sagte hinlegen, weil ich schon vor meiner Abreise aus New York nicht unbedingt viel geschlafen hatte. Sie sah enttäuscht aus, wenn auch nur ganz kurz, aber ich wollte wirklich lieber schlafen als höflich sein, es war mir also ziemlich egal.
Sie führte mich nach oben zu einem Zimmer am Ende eines Flurs, es war eine Art Kammer wie für einen Mönch – ziemlich klein und schlicht, mit dicken weißen Wänden, die nicht glatt und gerade waren wie neue Wände, und einem riesigen Fenster, das in viele gelbe und grüne Glasscheiben unterteilt war. Unterm Bett lag eine große gestreifte Katze und in einer alten Flasche standen Narzissen, und plötzlich kam es mir vor, als hätte ich mich noch nie irgendwo so geborgen gefühlt wie in diesem Zimmer, was nur beweist, wie sehr man sich irren kann, aber jetzt bin ich schon wieder voreilig.
Wir schoben meinen Koffer in eine Ecke, dann brachte mir Piper einen dicken Stapel alter Decken und sagte schüchtern, die wären vor langer Zeit aus der Schafwolle vom Bauernhof gewebt worden und die schwarzen kämen von den schwarzen Schafen.
Ich zog mir die schwarze Schafsdecke über den Kopf und schloss die Augen, und aus keinem besonderen Grund hatte ich das Gefühl, als würde ich schon seit Jahrhunderten zu diesem Haus gehören, doch das könnte auch Wunschdenken gewesen sein.
Und dann schlief ich ein.
Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, einen ganzen Tag und eine Nacht zu verschlafen, aber nun ja. Beim Aufwachen fand ich es komisch, Tausende von Meilen von zu Hause entfernt in einem fremden Bett zu liegen, umgeben von gräulichem Licht und so einer seltsamen Stille, wie man sie in New York nie hat, weil einen dort Tag und Nacht das ständige Rauschen des Verkehrs begleitet.
Als Erstes sah ich nach, ob Nachrichten auf meinem Handy waren, aber da stand bloß KEIN NETZ und ich dachte O Mann, so viel zur Zivilisation, dann wurde ich leicht panisch und musste an den Film denken, wo sie sagen Keiner Hört Dich Schreien. Aber dann ging ich ans Fenster und schaute raus, und da war ein ganz leichter rosa Schimmer auf der einen Seite, wo die Sonne vermutlich gerade aufgegangen war, und ein völlig stiller grauer Nebel hing über der Scheune und den Gärten und den Feldern, alles war vollkommen stumm und schön, und ich dachte schon, gleich kommt ein Reh oder vielleicht ein Einhorn, das nach einer langen Nacht nach Hause trottet, aber da war nichts außer ein paar Vögeln.
Nach einer Weile war mir kalt und ich kroch wieder unter die Decken.
Ich traute mich nicht aus meinem Zimmer, also blieb ich im Bett und dachte an mein altes Zuhause, was mich leider an Davina die Diabolische erinnerte, die meinem Vater die Seele aus seinem Ihr-wisst-schon gesaugt hat und sich dann mit dem Samen des Teufels hat schwängern lassen, den Leah und ich Damian nennen wollen, auch wenn es vielleicht ein Mädchen wird.
Meine beste Freundin Leah behauptet, D. die D. hätte mich gern langsam vergiftet, bis ich schwarz geworden wäre und aufgeschwemmt wie ein Schwein und qualvoll verendet, aber ich schätze der Plan ist gescheitert, als ich jegliches Essen verweigert habe und schließlich hat sie dafür gesorgt, dass ich fortgeschickt wurde, um Tausende von Meilen entfernt bei ein paar völlig unbekannten Verwandten zu wohnen, während sie und Dad zusammen mit dem Teufelssamen glücklich ihrer Wege ziehen. Wenn das ein schwacher Versuch war, den schlechten Ruf von Stiefmüttern zu entkräften, hat sie fette null Punkte verdient.
Bevor ich mich in einen ausgewachsenen Anfall reinsteigern konnte, hörte ich ein winziges Geräusch an der Tür und Piper spitzte herein, und als sie sah, dass ich wach war, machte sie einen kleinen Kiekser wie eine glückliche Maus und fragte Magst du einen Tee?
Okay, sagte ich und dann Danke, denn ich wollte ja höflich sein und lächelte ihr zu, weil ich sie noch von gestern mochte. Und schon schwebte sie davon wie Nebel auf kleinen Katzenpfoten.
Ich ging wieder ans Fenster und sah, dass der Nebel sich aufgelöst hatte und alles ganz grün war, und dann zog ich mir was an und nachdem ich aus Versehen ein paar ziemlich erstaunliche Zimmer entdeckt hatte, fand ich schließlich die Küche, in der Isaac und Edmond Orangenmarmelade auf Toast aßen und Piper gerade meinen Tee machte und irgendwie bekümmert war, dass ich aufstehen und ihn mir holen musste. In New York machen Neunjährige so was gewöhnlich nicht, sie würden warten, bis ein Erwachsener das für sie erledigt, deshalb war ich beeindruckt von ihrer Unerschrockenheit, fragte mich aber auch langsam, ob die gute alte Tante Penn gestorben war und niemand wusste, wie man es mir schonend beibringen sollte.
Mum hat die ganze Nacht gearbeitet, sagte Edmond, deswegen schläft sie jetzt, aber zum Mittagessen steht sie auf und dann siehst du sie.
Damit wäre das also beantwortet, vielen Dank Edmond.
Während ich meinen Tee trank, merkte ich, wie Piper herumdruckste, um mir was zu sagen, und ständig schaute sie zu Edmond und Isaac, die nur zurückschauten, und schließlich sagte sie Bitte komm mal mit in die Scheune, Daisy. Das Bitte war eher Befehl als Wunsch, und dann warf sie ihren Brüdern einen Blick zu, als wollte sie sagen Ich konnte nicht anders! Und als ich aufstand, um mit ihr zu gehen, machte sie was ganz Nettes, sie nahm mich nämlich an der Hand, und da hätte ich sie gerne umarmt, besonders weil in letzter Zeit niemand ein Lieblingshobby hatte, das Nettsein Zu Daisy hieß.
In der Scheune, in der es nach Tieren roch, aber gut, zeigte sie mir einen kleinen schwarzweißen Ziegenbock mit eckigen Augen und winzigen Stummelhörnern und einer Glocke an einem roten Band um den Hals, und sie sagte, er hieße Ding und gehöre ihr, aber ich könnte ihn haben, wenn ich will, und da umarmte ich Piper wirklich, weil sie und die süße Babyziege beide gleich nett waren.
Dann zeigte sie mir ein paar Schafe mit langem zotteligem Fell und Hühner, die blaue Eier legten, und sie entdeckte eins im Stroh, das noch ganz warm war und schenkte es mir, und obwohl ich nicht wusste, was ich mit einem Ei anfangen sollte, das frisch aus einem Hühnerhintern kam, fand ich das nett von ihr.
Ich kann es kaum erwarten, Leah von allem hier zu erzählen.
Nach einer Weile war mir ziemlich fröstelig und ich sagte zu Piper, dass ich mich eine Weile hinlegen müsste, und da schaute sie mich stirnrunzelnd an und sagte Du musst was essen, du bist zu dünn, und ich sagte Mein Gott, Piper, fang bloß nicht damit an, das ist nur der Jetlag, und da sah sie verletzt aus, aber mein Gott, diese alte Platte muss ich mir wirklich nicht von Leuten anhören, die ich kaum kenne.
Als ich wieder aufstand, gab’s in der Küche Suppe und Käse und einen riesigen Laib Brot, außerdem war Tante Penn da, und als sie mich sah, kam sie gleich her und nahm mich in die Arme, und dann trat sie einen Schritt zurück, musterte mein Gesicht und sagte bloß Elizabeth, als wäre es das Ende von einem Satz, und dann nach einer Weile Du siehst genau aus wie deine Mutter, was maßlos übertrieben ist, weil meine Mutter schön war und ich nicht. Tante Penn hat die gleichen Augen wie Piper, sehr ernst und sie beobachten einen die ganze Zeit, und als wir uns zum Essen hinsetzten, tat sie mir keine Suppe oder so auf, sondern sagte bloß Bitte Daisy, nimm dir, was du möchtest.
Ich erzählte ihnen alles von Dad und Davina der Diabolischen und Damian dem Teufelsspross, und da lachten sie, aber man merkte auch, dass ich ihnen irgendwie leidtat, und Tante Penn sagte Nun ja, des einen Schaden ist des anderen Gewinn, was ich lieb fand, auch wenn sie nur höflich sein wollte.
Ich versuchte sie zu beobachten, ohne dass es zu sehr auffiel, weil ich mir von ihrem Äußeren und ihrem Verhalten irgendeinen Hinweis auf die Mutter erhoffte, die ich kaum kennen lernen konnte. Sie legte Wert darauf mir viele Fragen über mein Leben zu stellen und hörte den Antworten sehr aufmerksam zu, als ob sie was über mich herausfinden wollte, aber nicht wie die meisten Erwachsenen, die so tun als würden sie zuhören, während sie an was ganz anderes denken.
Sie fragte, wie es meinem Vater ginge, und sagte, sie hätte ihn seit vielen Jahren nicht mehr gesehen, und ich antwortete ihr, es ginge ihm gut, bis auf seinen Geschmack bei Freundinnen, der wäre absolut ungut, aber wahrscheinlich fühlte er sich jetzt schon viel besser, nachdem ich weg war und ihn nicht mehr Tag und Nacht daran erinnern konnte.
Da lächelte sie ganz komisch, als müsste sie sich das Lachen oder vielleicht auch das Weinen verkneifen, und als ich ihr in die Augen blickte, sah ich gleich, sie war auf meiner Seite, was mal eine nette Abwechslung war und vermutlich damit zu tun hatte, dass meine Mutter ihre verstorbene jüngere Schwester war.
Beim Essen wurde ziemlich viel gestritten und geredet, aber bis auf die Unterhaltung mit mir hielt Tante Penn sich meistens zurück, sie beobachtete eher, und mein vorläufiger Eindruck von ihr war, dass sie leicht zerstreut wirkte, was wahrscheinlich von ihrer Arbeit kam.
Als die andern etwas später alle redeten, legte sie mir die Hand auf den Arm und sagte ganz leise nur zu mir, sie wünschte, meine Mutter wäre hier und könnte sehen, was für ein lebhaftes Mädchen ich geworden bin, und ich dachte Lebhaft? Ein ziemlich seltsames Wort, das sie da benutzte, und ich fragte mich, ob sie nicht eigentlich Verkorkst gemeint hatte. Andererseits vielleicht auch nicht, denn sie wirkte nicht wie eine, die rumsitzt und möglichst zickig sein will, im Gegensatz zu einigen anderen mir bekannten Leuten.
Nachdem sie mich noch eine Weile gemustert hatte, hob sie ganz sachte die Hand und strich mir die Haare aus dem Gesicht, und zwar auf eine Weise, die mich irgendwie unglaublich traurig machte, und dann sagte sie in einem bedauernden und ernsten Ton, es würde ihr leidtun, aber sie müsste am Wochenende in Oslo einen Vortrag über die Drohende Kriegsgefahr halten und hätte noch zu arbeiten, ob ich sie also bitte entschuldigte? Sie wäre nur ein paar Tage in Oslo, und bei den Kindern wäre ich gut aufgehoben. Da dachte ich mir, schon wieder dieser alte Krieg, nimmt das denn nie ein Ende?
Ich grübelte nicht besonders oft über den Krieg nach, weil es mich langweilte, dass schon seit fast fünf Jahren alle darüber diskutierten, Ob Es Einen Geben Würde Oder Nicht, und zufällig weiß ich, dass wir sowieso nichts daran ändern könnten, also warum das Thema überhaupt anschneiden?
Während mir solche Sachen durch den Kopf gingen, fiel mir auf, dass Edmond mich manchmal auf eine seltsam abwartende Art ansah, und manchmal erwiderte ich seinen Blick mit der gleichen Miene, nur um zu sehen, wie er reagieren würde. Aber meistens lächelte er nur, schloss die Augen halb und sah mehr denn je wie ein kluger Hund aus, und ich dachte insgeheim Wenn sich herausstellen sollte, dass dieser Junge fünfunddreißig ist, wäre ich kein bisschen überrascht.
Das war so ziemlich alles, was an meinem ersten wachen Tag in England passiert ist, und bis jetzt fand ich Das Leben Bei Meinen Verwandten mehr als okay und eine Riesenverbesserung gegenüber meinem sogenannten Leben zu Hause in der 86. Straße.
Spätnachts hörte ich irgendwo im Haus das Telefon klingeln und überlegte, ob vielleicht mein Vater anrief, um zu sagen He, es war ein Fehler, meine einzige Tochter wegen der rücksichtslosen Launen einer intriganten Hexe in ein fremdes Land zu schicken, aber da war ich schon zu müde und packte es nicht, aufzustehen und ein Schlüsselloch zu suchen, an dem ich lauschen konnte. Wie man also sieht, hat die gute Landluft schon große Wirkung gezeigt.
Früh am nächsten Morgen bummelte ich wie immer durch mein unangenehm besiedeltes Unterbewusstsein, als ich Edmonds Stimme ganz nah an meinem Ohr sagen hörte Daisy, Wach Auf! Sein Gesicht war ganz dicht an meinem und in der Hand hielt er eine brennende Zigarette und an den Füßen trug er irgendwelche gestreiften türkischen Pantoffeln, und er sagte Komm schon, wir gehen angeln.
Ich vergaß ganz zu sagen, dass ich Angeln nicht ausstehen kann, und wo wir schon dabei sind, Fisch mag ich auch nicht, aber ich kroch unter meinen Decken hervor und zog mich an ohne mich zu waschen oder was, und im nächsten Moment saßen Edmond und Isaac und Piper und ich im Jeep und holperten eine holprige alte Straße entlang, und die Sonne schien durch die Fenster und das Leben war viel schöner als sonst, auch wenn dafür bald ein paar Fische sterben mussten.
Während Edmond fuhr, saß der Rest von uns zusammengequetscht auf dem Vordersitz und war nicht angeschnallt, denn es gab keine Sicherheitsgurte, und Piper sang ein Lied, das ich nicht kannte, es hatte eine lustige schräge Melodie und ihre Stimme klang so rein wie von einem Engel.
Wir kamen zu einer Stelle am Fluss und parkten den Jeep und stiegen aus, Isaac trug den ganzen Angelkram und Edmond nahm das Essen und eine Decke zum Drauflegen, und obwohl es kein sehr warmer Tag war, baute ich mir ein Nest, indem ich einen kleinen Fleck im hohen Gras niedertrampelte und die Decke ausbreitete und dann lag ich ganz still, und als die Sonne am Himmel höher stieg, wurde mir noch wärmer und ich hörte nur, wie Edmond in einem stetigen leisen Plauderton mit den Fischen redete und Piper ihr komisches Lied sang und dazwischen den plätschernden Fluss oder einen Vogel, der in unserer Nähe in die Luft flog und sich das Herz aus dem Leib zwitscherte.
Ich dachte fast an gar nichts außer an diesen Vogel und plötzlich war Edmond an meinem Ohr und flüsterte Feldlerche, worauf ich nur nickte, weil es sinnlos war zu fragen, woher er die Antworten auf Fragen kannte, die man noch nicht mal gestellt hatte. Dann reichte er mir eine Tasse heißen Tee aus der Thermoskanne und verschwand wieder zu den Fischen.
Niemand fing besonders viel, nur Piper erwischte eine Forelle und warf sie wieder ins Wasser (Piper wirft Fische immer zurück, sagte Edmond, und Isaac sagte wie immer überhaupt nichts). Es hätte nicht schöner sein können, solange ich mich nicht aufsetzte, denn es wehte ein ziemlich kalter Wind, also lag ich ganz verträumt da und dachte an Tante Penn und mein bisheriges Leben und bekam eine kleine Ahnung davon, was es heißt glücklich zu sein.
In solchen Momenten, wenn ich meine Deckung nur eine halbe Nanosekunde lang aufgab, pflegte sich Mom in meine Gedanken zu drängen. Obwohl sie tot war, was die meisten Leute dazu veranlasste, ein widerlich frommes Gesicht aufzusetzen und zu sagen Oh, das tut mir aber WIRKLICH LEID