Nina Schindler
Das Cape aus rotem Samt
Roman
Umschlagzeichnung von Doro Göbel
Fischer e-books
Nina Schindler war viele Jahre Lehrerin, Literaturkritikerin, Übersetzerin und arbeitete für Zeitschriften und Rundfunk, bevor sie begann, selbst erfolgreich Bücher zu schreiben. Sie lebt mit ihrer Familie in Bremen.
Covergestaltung: Buchholz/Hinsch/Hensinger
Illustration: Doro Göbel
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2009
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400270-5
Fischer Schatzinsel
www.fischerschatzinsel.de
Magere Flöhe beißen scharf!
Deutsches Sprichwort
Das ist also das Balg von deiner Schwester!«, knurrte die große, dürre Frau und musterte mich mit unfreundlichem Blick, woraufhin ich zu Boden sah. »Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!«, fuhr sie mich an.
Ich hob widerstrebend den Kopf.
Die Frau hatte ein rotes Gesicht mit einer langen Nase und kleine, dunkle Augen, die mich mit unverhüllter Abneigung anstarrten. Nach all dem Schrecken der letzten Zeit war das ein so unfreundlicher Empfang, dass es mir die Sprache verschlug. Ich holte zitternd Luft und wäre fast in Tränen ausgebrochen. Aber dann reckte ich trotzig den Kopf und wiederholte immer wieder in Gedanken: Nicht weinen! Nicht weinen! Nicht weinen!
»Tja, ganz die hochmütige, kleine Prinzessin, was? Aber wir sind jetzt gut genug, um dir ein Bett zu geben – nee, wie gütig von dir, dass du zu deiner armen Verwandtschaft gefunden hast! Bisher waren wir ja unserer noblen Schwägerin nicht fein genug!«
Endlich mischte sich Onkel Konrad ein.
»Lass schon gut sein, Agnes! Was kann denn die Kleine dafür? Und außerdem hat sie erst vor kurzem ihre Eltern verloren!« Er hob die beiden Koffer auf, die er während der gehässigen Begrüßung abgestellt hatte. »So, Marguerite, nun gib deiner Tante Agnes die Hand! Schließlich seid ihr ja verwandt.«
»Margueriiiite?«, wiederholte meine Tante mit schneidender Stimme. »Wie das klingt! So ein hochtrabender Name passt nicht hierher. Margueriiiite! Nein, nein – ab jetzt heißt du Gesche, verstanden?« Dann wandte sie sich an meinen Onkel. »Konrad, zeig ihr ihr Zimmer. Dann soll sie sich eine Schürze umbinden und in die Küche runterkommen. Ich kann immer ein bisschen Hilfe gebrauchen.« Sie kniff die Augen zusammen und schnaubte verächtlich. »Falls die da überhaupt zu was nutze ist.«
Damit drehte sie sich auf dem Absatz um und verschwand in der Küche.
Onkel Konrad seufzte und zeigte mit dem Kopf in Richtung Treppe. »Da lang.«
Ich folgte ihm die engen, steilen Stufen hinauf.
»Hier im ersten Stock sind die Gästezimmer«, sagte Onkel Konrad und stieg ächzend in das nächste Stockwerk. »Bei uns übernachten manchmal Schiffer oder Kaufleute oder andere Reisende. Hier oben schlafen deine Tante Agnes und ich. Und jetzt auch du.«
Mit einem Tritt öffnete er eine schmale Holztür, und ich blickte in ein enges Kämmerchen. In der Ecke standen ein Bett vor dem kleinen Fenster, das nur wenig Licht hereinließ, und daneben ein Nachtschränkchen. An der Wand hing ein leerer Kleiderrechen, und in der anderen Ecke stand ein Stuhl vor einem Tischchen mit Spindelbeinen, das aussah, als würde es sofort zusammenfallen, wenn man auch nur ein Blatt Papier darauflegte.
Mit einem Seufzer der Erleichterung stellte Onkel Konrad die beiden Koffer ab und kratzte sich am Hinterkopf.
»Nicht besonders vornehm«, brummte er. »Aber mehr können wir dir nicht bieten.«
»Schon gut«, flüsterte ich. »Danke.«
Alles in mir war wie betäubt, völlig gefühllos. Aber das war besser als die schwere Traurigkeit, die mir seit Tagen wie eine bleierne Decke auf der Seele lag, die mir immer wieder Tränen in die Augen trieb und oft unverhofft eine brennend heiße Welle der Verzweiflung aufbranden ließ, die mich überrollte, als wollte sie mich zerquetschen.
Onkel Konrad trat hinaus in den Flur und räusperte sich. »Mach fix, Deern. Du hast ja gehört, was deine Tante gesagt hat.«
Es dauerte einige Zeit, bis ich das Kofferschloss geöffnet hatte, denn meine Finger waren wie erstarrt und wollten mir nicht gehorchen. Zwischen den Kleidern und der Unterwäsche lagen meine Schürzen: aus feinem, weißem Batist, mit gerüschten Kanten und langen, bestickten Bändern. Das waren bestimmt keine Schürzen, wie sie Tante Agnes sich vorgestellt hatte!
Voller Vorahnung von zukünftigen Schimpftiraden und Verhöhnungen ließ ich den Kopf hängen und zog langsam den Mantel aus.
Aber was konnte ich tun?
Ich nahm eine der Schürzen heraus und zog sie über mein dunkelblaues Wollkleid mit der Samtschärpe an, das ich zu der Beerdigung getragen hatte. Dann holte ich tief Luft und lief die Treppen hinunter durch die große, leere Gaststube in die Küche.
»Na endlich!«, blaffte Tante Agnes, doch dann stieß sie ein meckerndes Gelächter aus. »Wie siehst du denn aus? Das soll eine Schürze sein?« Sie schnaubte wieder verächtlich. »Ich seh schon, wir werden dir auch noch ordentliche Kleider besorgen müssen.« Sie zeigte auf eine große Schüssel. »Da, schäl die Kartoffeln. Die Schalen kommen dort in den Eimer, die sind für die Schweine. Und wenn du damit fertig bist, kannst du den Kohlkopf kleinschneiden. Was stehst du denn da und glotzt? Los, los, spute dich!«
Ich hatte mich in dem düsteren Raum umgesehen. In so einer Küche war ich noch nie gewesen, und zu Hause hatte ich nur sehr selten in die Küche gedurft, weil die Köchin das als Störung angesehen hätte.
An der Rückwand neben der Hintertür stand ein großer, schwarzer Eisenherd, an der Wand neben mir ein wuchtiger Küchenschrank, daneben hing ein offenes Regal voller Geschirr. Von dem Deckenbalken hingen Pfannen und Stielpfannen herab. Ein großer, offener Schrank diente wohl als Vorratsschrank, denn darin türmten sich Säckchen, Blechdosen und Tüten und davor standen Körbe. In der hinteren Ecke war ein großer Spülstein, an dem eine junge Frau stand, die sich umdrehte und mich neugierig musterte. Von der Mitte der Zimmerdecke hing eine Petroleumlampe herunter und verbreitete gerade genug Licht, um sich einigermaßen zurechtzufinden.
Tante Agnes stand an dem langen Tisch in der Mitte des Raumes, knetete Teig und tat jetzt so, als gäbe es mich nicht.
Ich sah erst auf die Schüssel mit den Kartoffeln, und dann schaute ich mich suchend um.
Womit schälte man die? Noch nie in meinem Leben hatte ich Kartoffeln geschält.
»Was stehst du denn immer noch dumm herum?« Tante Agnes wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn. »Da in der Schublade sind die Messer.« Sie sah mein ratloses Gesicht und runzelte die Brauen. »Hast du etwa noch nie Kartoffeln geschält? Nicht zu glauben! Sieh her, feines Fräulein – so geht das!«
Sie hatte ein Küchenmesser ergriffen und schälte blitzschnell eine Kartoffel, so dass eine säuberliche Schalenschlange herunterfiel.
»Da!« Sie gab mir das Messer, und ein säuerliches Lächeln überzog ihr Gesicht. »So, Prinzessin – nun zeig mal, was du kannst!«
Es dauerte mehr als zehn Kartoffeln, bis ich den Dreh leidlich heraushatte. Doch Tante Agnes rümpfte die Nase, weil ihr die Schalen zu dick waren.
»Wir sind hier keine Millionäre«, sagte sie und schniefte. »Wir können es uns nicht leisten, Essen zu verschwenden. Marthe, los spül weiter, ich brauch die Schüsseln!«, fauchte sie das Küchenmädchen an, das neugierig zugehört hatte, wie Tante Agnes mich anraunzte. »Und dann gehst du in die Schankstube und hilfst beim Bedienen!«
Marthe holte sich warmes Wasser vom Herd, goss es in eine Emailschüssel im Spülstein und schrubbte die Schüsseln, danach verschwand sie in der Gaststube, aus der mittlerweile Lärm drang. Tante Agnes kümmerte sich um die Töpfe, die auf dem großen Herd simmerten und brodelten. Aus dem Backofen duftete es nach Braten.
Als ich die letzte geschälte Kartoffel in die Schüssel fallen ließ, sagte Tante Agnes über die Schulter: »Geh jetzt auch rein in die Gaststube und mach dich bei deinem Onkel nützlich. Von Küchenarbeit hast du ja keine Ahnung, aber das bring ich dir demnächst alles bei, darauf kannst du dich verlassen!«
Zögernd trat ich über die Schwelle der Schankstube. Der große, niedrige Raum mit den dunklen Deckenbalken war düster, denn die Petroleumlampen konnten ihn nur teilweise erhellen. Die Fenster zur Straße hin waren klein und ließen nur wenig vom Licht der Straßenlaterne herein, und dichter Tabaksqualm hing in der Luft. In der Ecke stand ein einfacher Kachelofen und verbreitete Wärme. An den blanken Holztischen saßen nur Männer. Sie rauchten Pfeife oder krumme Zigarren, vor ihnen standen volle und halbvolle Gläser, und sie grölten und lachten. Manche kauten auch genussvoll und spien ab und zu einen dunkelbraunen Strahl in den Spucknapf, der ihnen am nächsten stand.
Keine feine Gesellschaft, fuhr es mir durch den Kopf, und fast hätte ich gelacht.
Feine Gesellschaft!
Als ob das diese Leute bekümmert hätte.
»Noch eins!«, brüllte ein großer Schwarzhaariger und hielt sein Glas hoch.
»Kommt gleich, Klaas«, brummte Onkel Konrad und zapfte weiter.
Dann gab er mir das gefüllte Glas.
»Bring es dem Mann dort!«, sagte er und deutete auf den Schwarzhaarigen. Ich nahm das Glas und stellte es vor den Mann auf den Tisch.
»Ho, wen haben wir denn da?« Der Mann in dem speckigen Lederwams streckte den Arm aus und kniff mich in die Taille. Ich zuckte erschrocken zusammen.
»Das ist ja mal eine hübsche Neuerwerbung, Konrad!«, rief er.
»Finger weg«, blaffte mein Onkel. »Das ist meine Nichte, und die rührt keiner an, klar?«
»Is ja schon gut«, sagte der Schwarzbart besänftigend. »Reg dich man bloß nicht auf!«
Vor Schreck wie erstarrt sah ich entsetzt die Männerrunde um den Tisch an. Als der Mann mich losließ, trat ich rasch zurück und eilte wieder zum Tresen.
»Kannst du zapfen?«, fragte Onkel Konrad und gab sich gleich selbst die Antwort: »Nein, natürlich nicht. Aber der Platz hinterm Tresen ist fürs Erste besser für dich.« Er zeigte mir, wie der Zapfhahn betätigt wurde und wie man das Glas schief hielt, nachzapfte und dem Bier schließlich eine schöne Blume aus weißem Schaum aufsetzte. Schweigend hörte ich seinen Anweisungen zu und erwies mich hier geschickter als beim Kartoffelschälen. Onkel Konrad bediente derweil die Gäste, weil nun Tante Agnes aus der Küche die bestellten Gerichte hereinbrachte und knallend auf den Tresen stellte.
Ihr scharfer Blick hatte sofort registriert, dass ich hinter statt vor dem Tresen war, doch Onkel Konrad flüsterte ihr etwas zu, und danach enthielt sie sich der abfälligen Bemerkung, die ihr gewiss schon auf der Zunge gelegen hatte.
Mittlerweile wurden weitere Bestellungen aufgegeben, und ich hatte unablässig zu tun, während Tante und Onkel die hoch beladenen Teller aus der Küche in den Schankraum brachten und Marthe die Teller auf die Tische vor die Gäste stellte. Schweinebraten mit Kartoffeln und Kohl gab es heute, und wem das nicht schmeckte, für den hatte die Wirtin noch Hering mit Bratkartoffeln.
Sehnsüchtig dachte ich an unser Speisezimmer zu Hause mit dem schön gedeckten Esstisch, dem funkelnden Kristall und dem glitzernden Tafelsilber. Unser Stubenmädchen Elise hatte ihren ganzen Stolz in perfekt arrangierte Gedecke gelegt, und Mama hatte immer darauf geachtet, dass eine Vase mit frischen Blumen auf der schneeweißen Damasttischdecke stand …
Ich kniff die Augen zu und rief mich zur Ordnung. Das alles war Vergangenheit, und Jammern brachte nichts von den vergangenen Herrlichkeiten zurück.
Während unablässig die Gläser geleert und die Teller in die Küche getragen wurden, steigerte sich der Lärm in der Schenke.
Am langen Tisch neben der Tür fing jemand zu singen an, an dem runden in der Mitte des Raums wurde Karten gespielt, und an dem Tisch vor dem Tresen klapperten die Würfel. Wie eine mechanische Puppe zapfte ich ein Glas Bier nach dem anderen, schenkte Schnaps in kleine Gläser ein, wusch die von Onkel Konrad zurückgebrachten Gläser in einer hölzernen Bütte kurz aus und rieb sie mit einem groben Tuch trocken.
Allmählich gewöhnte ich mich an diese fremde Umgebung und geriet nicht mehr bei jedem lauten Ruf oder Gelächter in Panik.
Ich konnte mich sogar auf meine eigenen Bedürfnisse besinnen.
»Wo ist denn hier die Toilette?«, fragte ich meinen Onkel flüsternd.
»Hä?«
Ich genierte mich entsetzlich, aber von den Gästen schien niemand meine Frage gehört zu haben, und so wiederholte ich sie.
Onkel Konrad grinste und zeigte mit dem Daumen über die Schulter nach hinten. »Durch die Küche, hinten im Hof. Übrigens heißt das hier einfach Abtritt.«
Durch die Hintertür betrat man einen kleinen, von Schuppen umbauten Hof. Nur wenig Licht drang aus der Küche hinaus, und ich tastete mich unsicher über das Katzenkopfpflaster bis zur Rückseite des Hofes, als plötzlich lautes Hundegebell ertönte.
Erschreckt fuhr ich zusammen – denn die Hundehütte lag im Schatten, und so hatte ich sie übersehen. Doch der schwarze Hund war angekettet und konnte nur bellen, nicht beißen.
»Sei still!«, rief ich, und zu meinem Erstaunen hörte das Bellen auf, und stattdessen begann ein jämmerliches Fiepen. Der arme Hund!
Bestimmt hatte er Hunger!
»Morgen bring ich dir was!«, versprach ich ihm und trat auf ihn zu, doch ich traute mich nicht, ihn zu streicheln. Er legte den Kopf auf die Vorderpfoten und sah mit traurigem Blick zu mir hoch.
Wenigstens hast du mich nicht gebissen, dachte ich.
Der Abtritt war eine wacklige kleine Holzbude neben einem größeren Schuppen. Die Tür ließ sich von innen nur mit einem Haken verschließen. Während ich über der Öffnung auf dem Sitzbrett hockte und betete, dass ich nicht hineinfallen möge, hatte ich gleichzeitig fürchterliche Angst, dass einer der Gäste die Tür aufreißen und mich so dasitzen sehen könnte. So rasch es ging, erledigte ich mein Geschäft und fand auch Klopapier: zerschnittene und zerrissene Zeitungsseiten, die auf einen gekrümmten Draht an der Innenseite der Tür gespießt waren.
Auf dem Rückweg schlug der Hund diesmal nur kurz an, offensichtlich sah er keinen Einbrecher mehr in mir.
Erleichtert flitzte ich durch die Küche zurück in den Schankraum, wo Onkel Konrad mich anwies, mit dem Zapfen weiterzumachen.
»Übrigens musst du nachts nicht über den Hof«, sagte er, während er ein neues Fass aufstellte. »Unter deinem Bett steht ein Pisspott.«
Meine Augen brannten mittlerweile vom Tabaksqualm, die Füße taten mir weh von dem langen Stehen, und die Haut an meinen Händen war von dem ungewohnten Abwaschen rot und schrumplig geworden. Ich hätte nicht sagen können, ob ich aus Angst vor Tante Agnes oder vor lauter Müdigkeit immer weiterarbeitete, aber ich war auch zu stolz, um meine Erschöpfung zu zeigen.
Endlich schrie Onkel Konrad: »Schluss für heute! Geht nach Hause, ihr Leute!«, und räumte ein letztes Mal Gläser und Aschenbecher ab. »Die Spucknäpfe leert ihr morgen«, sagte er zu Marthe und mir.
Fast taumelnd vor Müdigkeit stapfte ich die zwei Treppen zu meiner Kammer hoch, schaffte es noch, die vielen kleinen Knöpfchen an meinem Kleid zu öffnen, und kroch in der Unterwäsche ins Bett.
Erst jetzt wurde ich gewahr, dass die Matratze kaum mehr als ein Strohsack war und dass die Bettwäsche aus rauem, grobem Stoff unangenehm kratzte. Ungewaschen und todmüde verzichtete ich auf das Abendgebet und fiel in ein bodenloses schwarzes Loch: Ich schlief sofort ein.
Sei klug und wachsam wie ein Hund,
beiß dich durch und bleib gesund!
Alter Stammbuchvers
Mitten in der Nacht schreckte ich hoch. Wo war ich?
Das war nicht mein Bett mit der blütenweißen Leinenwäsche, dort an der Wand stand nicht mein großer Kleiderschrank mit den vielen schönen Kleidern, Unterröcken, Jacken, Blusen und Mänteln. Und es gab auch keine weiße Schleiflackkommode, in der meine Unterwäsche und Strümpfe fein säuberlich zusammengefaltet lagen, und kein Regal mit Porzellanpuppen und kein Puppenhaus, kein Puppenwagen und kein Tisch und Stuhl, wo ich nachmittags meine Schulaufgaben machte.
Nackte weiße Wände schlossen mich ein, nahmen mir die Luft zum Atmen, schienen mich zu erdrücken!
Ich saß aufrecht im Bett und versuchte, trotz der Dunkelheit etwas zu erkennen, während das Elend der vergangenen Tage und Wochen mir einmal mehr die Kehle zuschnürte.
So viel war geschehen, so viel Schreckliches, Undenkbares war mir widerfahren! Und das Allerschlimmste war erst wenige Tage her!
Vor ein paar Wochen hatte Papa eines Morgens beim Frühstück besorgt von der Zeitungslektüre aufgesehen und die Befürchtung geäußert, dass in Bremen vor dem Ausbruch einer Diphtherieepidemie gewarnt wurde, weil fremde Matrosen die Krankheit in die Stadt eingeschleppt hatten. Wenige Tage später hatte er über Schmerzen und Übelkeit geklagt, und Mama hatte ihn überredet, sich ins Bett zu legen. Der herbeigerufene Arzt hatte ein ernstes Gesicht gemacht und verfügt, dass Papa in das St. Josephstift eingeliefert wurde. Kurz darauf war Mama dann auch von der tückischen Krankheit ergriffen worden und musste ebenfalls ins Krankenhaus auf die Quarantänestation, wo die Diphtheriekranken lagen.
Mit einem Schlag schien in unserem Haus die Zeit stillzustehen: Mama und Papa – beide krank, so furchtbar krank!
Trotz allen Bettelns und Bittens hatte ich nicht zu ihnen gedurft, aus Angst, ich könne mich auch anstecken. Stundenlang, tagelang war ich in meinem Zimmer hin- und hergelaufen, hatte abwechselnd gebetet und geweint, und nicht einmal Mademoiselle hatte mich in meinem unendlichen Kummer trösten können.
Dann war zuerst Papa gestorben und drei Tage später Mama. Als sie mich endlich zu ihnen ließen, lagen sie bereits in ihren verschlossenen Särgen, und ich hatte sie nicht einmal mehr sehen können.
Mademoiselle hatte mich keinen Augenblick alleingelassen, sondern sich um mich gekümmert, wie in der Zeit von Mamas und Papas Krankheit.
Mademoiselle! Wo war Mademoiselle?
Meine Gouvernante war nach meinen Eltern seit drei Jahren der wichtigste Mensch in meinem Leben. Sie unterrichtete mich nicht nur, sie sorgte für mich wie eine liebevolle ältere Schwester, denn meine Eltern hatten wenig Zeit für mich gehabt – Papa war oft bis abends spät in seinem Kontor, und Mama hatte viele gesellschaftliche Verpflichtungen.
Wo war Mademoiselle?
Und wo war ich?
Es dauerte geraume Zeit, bis ich wieder wusste, wo ich war. Bei Tante Agnes und Onkel Konrad in dieser schrecklichen Schenke!
Aber wieso?
Und mit der Wucht eines Schmiedehammers fiel mir alles wieder ein: der Trauergottesdienst, die Beerdigung, die Testamentsverlesung von Notar Papenbrink, einem mageren älteren Herrn, der einer großen Krähe glich. Der Notar hatte mich in die Bibliothek bitten lassen, wo ich zu meinem Erstaunen nicht nur Mademoiselle, sondern noch andere Männer vorfand, unter ihnen auch Konsul Poggenpohl, den Vater meiner besten Freundin Marliese.
Notar Papenbrink war sichtlich verwirrt, er hüstelte und setzte den Kneifer auf, nahm ihn blinzelnd ab und klemmte ihn dann wieder auf die gekrümmte Nase, die an einen Vogelschnabel erinnerte. Er ordnete die Papiere auf dem Tisch, als suche er etwas – schaute in und unter Aktenordnern nach und schüttelte den Kopf, als verstehe er etwas nicht.
»Ich habe dich, mein Kind, hierher gebeten, weil ich dir eine sehr traurige Mitteilung machen muss.« Er unterbrach sich, räusperte sich und suchte wieder zwischen seinen Papieren, aber offensichtlich fand er das Gesuchte nicht, denn er seufzte resigniert und murmelte: »Ich bin mir ganz sicher, dass es ein Testament gab. Es ist mir unerklärlich, dass es nicht im Tresor war – unerklärlich. Rätselhaft. Hm. Ich habe es doch selber mit deinem Vater aufgesetzt.« Er blätterte wieder in den Papieren und schüttelte von neuem den Kopf. »Dafür diese Schuldscheine, unerklärlich, einfach unerklärlich.« Er räusperte sich, straffte die Schultern, klemmte den Kneifer fest und fuhr fort: »Mir ist nun die unangenehme Aufgabe zugefallen, dir mitzuteilen, dass die finanziellen Verhältnisse deines Vaters sich in einem – äh – höchst bedauerlichen Zustand befinden. Äh, ja. Was nämlich dein Erbe betrifft, äh, nun ja«, er wischte sich mit einem Taschentuch übers Gesicht und putzte dann damit die Gläser seines Kneifers, während er kurzsichtig in die Runde blinzelte, bevor er ihn wieder aufsetzte, »so gibt es keins. Kein Vermögen, meine ich. Ganz im Gegenteil – dein sehr verehrter Vater hat dir leider nur einen Berg Schulden hinterlassen. Äh, ja. Bedauerlicherweise.« Er schüttelte den kleinen Vogelkopf, wobei der Kneifer ins Rutschen geriet und er ihn wieder festklemmen musste. »Es verhält sich nämlich so, dass dein Vater sich von dem Herrn Konsul eine beträchtliche Geldsumme geliehen hat – was ich, ehrlich gesagt, überhaupt nicht begreife«, er schüttelte abermals ratlos den Kopf, »doch Konsul Poggenpohl verfügt über eindeutige Beweise, dass diese Summe nie zurückgezahlt wurde, und nun fordert er das Vermögen deines Vaters ein. Äh, ja.« Der Notar nahm seinen Kneifer ab und blinzelte mich kurzsichtig an, während er ratlos die Schultern hob und sinken ließ. »Da sich nach dem Tod deines Vaters kein Barvermögen, keine Wertpapiere und auch sonst nichts von Wert finden ließ, erhebt der Konsul Anspruch auf die Villa und alle übrigen Liegenschaften, äh, ja.«
Nach dieser unfassbaren Mitteilung folgte die Wiederholung der Tatsache, dass ich jetzt bettelarm war und aus unserer schönen Villa an der Schwachhauser Chaussee ausziehen musste, weil sie nun Konsul Poggenpohl gehörte.
Ich hatte nicht verstanden, warum mein Vater so plötzlich sein ganzes Vermögen verloren hatte, und niemand erklärte es mir – offensichtlich überstieg das nach Ansicht der Erwachsenen das Begriffsvermögen einer Dreizehnjährigen! Ich ließ meinen Blick über die umstehenden Männer gleiten – da stand Konsul Poggenpohl mit der protzigen goldenen Uhrkette über dem dicken Bauch, die anderen kannte ich nicht, mit Ausnahme des gelbgesichtigen dünnen Mannes mit fliehendem Kinn, der meinem Blick auswich. Das war Buchhalter Ellerjan, der bei meinem Vater im Kontor gearbeitet hatte. Was tat der hier? Wollte der sich auch an der Hinterlassenschaft meines Vaters bereichern?
Aber noch schlimmer als der Verlust des Hauses war die Trennung von Mademoiselle!
Wie hatte ich mich an Mademoiselle Garaudet geklammert und sie angefleht, mich nicht alleinzulassen! Doch Mademoiselle konnte sich meiner nicht annehmen, denn durch den Tod meiner Eltern und meine plötzliche Armut hatte sie ihre Stelle verloren und war gezwungen, sich eine neue zu suchen. Doch noch während ich mich an ihren Rock festkrallte, hatte Konsul Poggenpohl ihr die Stelle als Gouvernante bei seiner Tochter Marliese angeboten, und Mademoiselle hatte sie annehmen müssen, wenn sie nicht auf der Straße stehen wollte.
»Ich habe dir von Marliese einen Brief auszuhändigen«, verkündete der Konsul dann und reichte mir ein hellrosa Kuvert. Mein Herz klopfte vor Freude – wenigstens Marliese hatte mich nicht im Stich gelassen!
Notar Papenbrink hatte dann auf den dünnen, kleinen Mann gezeigt, der ganz hinten im Raum stand und sich offensichtlich sehr unwohl fühlte.
»Das ist dein Onkel Konrad, Marguerite. Er ist der Bruder deiner lieben, seligen Mutter und von jetzt an dein Vormund. Von nun an wirst du bei ihm und seiner Frau wohnen, die dir deine Eltern ersetzen werden – so gut das möglich ist. Sei deinem Onkel dankbar, Kind, denn wäre er nicht gewesen, hätten wir dich ins Waisenhaus schicken müssen.«
Fassungslos hatte ich den kleinen Mann angeschaut. Onkel Konrad!
Ich hatte gewusst, dass Mama einen Bruder hatte, aber er war nie bei uns zu Besuch gewesen und wir nicht bei ihm, und so hatte ich ihn nicht kennengelernt. Alles, was ich über ihn wusste, hatte ich dem Dienstbotenklatsch entnommen: dass er im Leben des Öfteren Schiffbruch erlitten hatte und nun mit seiner Frau Agnes im Hafenviertel ein Gasthaus betrieb.
Onkel Konrad hatte gewartet, bis der Notar mit seinen schrecklichen Enthüllungen fertig war, dann hatte er mich nach oben in mein Zimmer begleitet, wo ich mit Mademoiselles Hilfe zwei Koffer und die Reisetasche meiner Mutter gepackt hatte. Danach hatte er mein Gepäck auf ein kleines Fuhrwerk gehoben, hatte mir auf den Kutschbock geholfen und war mit mir zunächst durch die breite vornehme Allee Schwachhausens und dann durch die engeren Straßen der Innenstadt bis schließlich in die schmalen Gässchen nicht weit von der Weser gefahren.
Noch nie war ich im Hafenviertel gewesen, das hätte sich für ein Mädchen meines Standes nicht geschickt. Die Häuser hier waren klein, krumm und schief, manche Straßen ungepflastert und ohne Gehsteige, so dass man bei Regen von vorbeirollenden Kutschen und Lastkarren vollgespritzt wurde. Nach viel Geholper und Gerumpel hatte Onkel Konrad schließlich »Ho, Lotte!« gerufen, und die alte Mähre war stehen geblieben. Neugierig hatte ich mich umgeschaut. Wir standen vor einem niedrigen Gebäude mit einer großen Holztür, über der ein Wirtshausschild im Winde knarrend hin- und herschwang. »Zum Schwarzen Klabautermann« stand darauf.
Wir waren bei meinem neuen Zuhause angelangt.
In der Dunkelheit meiner kleinen Kammer barg ich nun mein Gesicht in den Händen. Mademoiselle war jetzt Gouvernante bei Marliese. Bei Marliese – die einmal meine beste Freundin gewesen war, bis …
Bis all das Unfassbare geschehen war.
Fast von einem Tag auf den anderen hatte ich meine gütigen Eltern, mein Zuhause, meine geliebte Gouvernante und jetzt auch noch meine beste Freundin verloren, denn Marlieses Eltern hatten ihrer Tochter den Umgang mit der Tochter eines Bankrotteurs verboten. Während der Gaul Onkel Konrad und mich langsam durch Bremen zog, hatte ich den Brief geöffnet und mich auf den Trost meiner Freundin gefreut. Doch wer beschreibt mein Entsetzen, als ich das kurze Briefchen las!
In wenigen Zeilen auf hellrosa Briefpapier hatte Marliese mir den Entschluss ihrer Eltern mitgeteilt:
Liebe Marguerite,
meine Eltern haben mir den Umgang mit Dir von heute an untersagt. Wir dürfen uns nicht mehr beschen und auch nicht mehr schreiben. Ab heute soll ich Dich nicht mehr kennen, weil Dein Vater ein Betrüger war. Ich finde das traurig, aber ich muss meinem Vater und meiner Mutter gehorchen. Ich wünsche Dir auf Deinem weiteren Lebensweg alles Gute.
Deine Marliese
Konsul Poggenpohl und seine Gattin verboten ihrer Tochter jedweden Kontakt zu mir, weil ich die Tochter eines Betrügers wäre?
Ich konnte das nicht begreifen. Zwar hatte ich verstanden, dass mein Vater hochverschuldet war – und zwar ausgerechnet bei Marlieses Vater, weil der entsprechende Schuldscheine vorweisen konnte.
Immer wieder durchlebte ich im Geist die schreckliche Szene in der Bibliothek.