Andrew Lane
Young Sherlock Holmes 2
Das Leben ist tödlich
Aus dem Englischen von Christian Dreller
FISCHER E-Books
Andrew Lane ist der Autor von mehr als zwanzig Büchern, unter anderem Romanen zu bekannten TV-Serien wie ›Doctor Who‹ und ›Torchwood‹. Einige davon hat er unter Pseudonym veröffentlicht. Andrew Lane lebt mit seiner Frau, seinem Sohn und einer riesigen Sammlung von Sherlock-Holmes-Büchern in Dorset. ›Young Sherlock Holmes – Das Leben ist tödlich‹ ist der zweite Band der Serie über die ersten Fälle des jungen Meisterdektivs.
Coverabbildung: bürosüd°, München
Deutsche Erstausgabe
Die englische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel ›Young Sherlock Holmes – Red Leech‹ bei Macmillan Children’s Books, London, England
Copyright © Andrew Lane 2010
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
ISBN 978-3-10-401354-1
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-401354-1
Gewidmet den drei Lehrern, die mich über die Jahre das Schreiben gelehrt haben – Sylvia Clark, Eve Wilson und Iris Cannon –, ebenso wie den vier Schriftstellern, deren Werke mir als leuchtendes Beispiel gedient haben – Stephen Hallagher, Tim Powers, Jonathan Carroll und David Morrel.
James Hillager glaubte, an Halluzinationen zu leiden, als er den Riesenblutegel zum ersten Mal sah.
Durch die heiße Dschungelhölle von Borneo zu marschieren war, als würde man in einem türkischen Dampfbad umherwandern. Seine Kleidung war triefend nass und die Luftfeuchtigkeit derartig hoch, dass der Schweiß nicht mal mehr von der Haut verdunstete. Stattdessen tropfte er ihm einfach von Nase und Fingern und lief in Rinnsalen den Körper hinab, um sich dort zu sammeln, wo seine Kleidung die Haut berührte. Seine Stiefel waren mittlerweile voller Wasser und gaben bei jedem Schritt ein glucksendes Geräusch von sich. Noch ein paar Wochen, und das Leder würde verrottet sein. Nie zuvor in seinem Leben hatte er sich so miserabel und elend gefühlt.
Die Hitze machte ihn ganz benommen, was ihn – zusätzlich zu der Tatsache, dass er vor Durst verging und schon tagelang nichts Ordentliches mehr gegessen hatte – zum Schluss kommen ließ, dass er womöglich halluzinierte. Er hatte schon einige Zeit lang Stimmen in den Bäumen um sich herum gehört: flüsternde Stimmen, die über ihn redeten und ihn auslachten. Sein Verstand sagte ihm, dass das nur der Klang des Windes sei, der durch die Blätter fuhr. Aber ein anderer Teil seines Bewussteins wollte die Stimmen wütend anbrüllen und ihnen befehlen, damit aufzuhören. Und sie dann vielleicht erschießen, falls sie nicht gehorchten.
Er hatte bis zu diesem Zeitpunkt bereits einige Tiere zu Gesicht bekommen, die all seine Vorstellungskraft überstiegen und deren Anblick ihm die Sprache verschlagen hatte. Vielleicht waren sie real; vielleicht aber waren es auch nur Ausgeburten seiner Wahnvorstellungen. Er hatte Affen mit riesigen Knollennasen gesehen; hellorangefarbene Frösche ebenso wie rote und blaue, die so groß waren wie sein Daumen; einen perfekt proportionierten, ausgewachsenen Elefanten, der ihm jedoch gerade mal bis zur Schulter reichte; und ein schweineartiges Tier mit dunklen Haaren und einer langen, spitzen, biegsamen Schnauze. Wie viele dieser Wesen mochten wohl real sein, und wie viele waren nur das Produkt seines fiebrigen Gehirns?
Da blieb Will Gimson neben ihm stehen. Er beugte sich vornüber und sog, die Hände auf den Knien, gierig große Mengen der heißen, dunstigen Luft ein. »Brauch mal ’ne Minute Pause«, stieß er keuchend hervor. »Mann, jeder einzelne Schritt fällt mir schwer.«
Hillager nutzte die Gelegenheit, um sich die Stirn mit einem Taschentuch abzuwischen, das vermutlich nasser war als sein Gesicht. Gut möglich, dass er Sinnestäuschungen unterlag, denn er brütete irgendein tropisches Fieber aus. Diese bornesischen Wälder steckten voller seltsamer Krankheiten. Er hatte von Männern gehört, die als verschollen gegolten hatten und dann nach ein paar Wochen plötzlich wieder aus dem Urwald aufgetaucht waren – die Gesichter von Pusteln übersät oder buchstäblich von den Schädelknochen gerutscht.
Nervös blickte er sich um. Selbst die Bäume schienen sich über ihn lustig zu machen. Ihre knorrigen Stämme schraubten sich in bizarren Windungen in die Höhe, und kleinere Pflanzen und Lianen wucherten wie Parasiten aus ihnen hervor. Das Dickicht der ineinander verschlungenen Pflanzen versperrte den Blick auf den Himmel und ließ nur ein diffuses grünliches Licht bis nach unten dringen.
Trotz der Hitze fröstelte es ihn. Wenn er seinen Auftraggeber nicht noch mehr gefürchtet hätte als diesen albtraumhaften Ort, wäre er niemals hergekommen.
»Lassen wir es für heute gut sein«, drängte er. Er hatte nicht die geringste Lust, auch nur eine einzige weitere Minute in diesem Dschungel zu verbringen. Er wollte einfach nur noch zurück zum Hafen, um dort die Tiere zu verladen, die sie gefangen und in Kisten gepfercht hatten, und wieder in die Zivilisation zurückkehren. »Hier sind keine. Außerdem haben wir schon genug Tiere zusammen, um ihn glücklich zu machen. Lassen wir das eine doch einfach. Er wird’s nicht mal merken.«
»O doch, das wird er«, entgegnete Gimson mit grimmiger Stimme. »Wenn wir auch nur eins von den gewünschten Viechern nicht dabeihaben, wird er ausgerechnet das sehen wollen, das wir nicht gefunden haben.«
Hillager wollte ihm gerade widersprechen, als Gimson plötzlich rief: »Warte! Ich glaub, ich seh einen!«
Hillager bewegte sich auf die Stelle zu, wo sein Kumpan immer noch vornübergebeugt dastand und auf den Fuß eines Baumstammes starrte.
»Guck mal«, sagte Gimson und zeigte auf etwas.
Hillagers Blick folgte Gimsons Finger. In einer Wasserlache zwischen zwei Baumwurzeln lag etwas, das aussah wie ein hellroter Blutklumpen. Es hatte etwa die Größe seiner Hand und glitzerte im trüben Sonnenlicht.
»Bist du sicher?«, fragte er.
»Duke hat gesagt, so ungefähr würde das Viech aussehen. Nein, es sieht sogar ganz genau so aus, wie Duke es beschrieben hat.«
»Also, was machen wir jetzt?«
Statt zu antworten, streckte Gimson die Hand aus, packte das Ding mit Zeigefinger und Daumen und nahm es auf. Schlaff hing der knochenlose Körper herab. Fasziniert betrachtete Hillager das Wesen.
»Jawoll«, sagte Gimson und drehte es, um es näher zu untersuchen. »Guck mal, da ist der Mund beziehungsweise das Saugmaul oder wie auch immer man es nennen will. Drei um den Maulinnenrand gruppierte Zähne. Und am anderen Ende sitzt noch mal so ein Saugmaul. Mit denen hält es sich fest – es krallt sich mit beiden Enden ins Fleisch.«
»Und saugt dein Blut«, sagte Hillager düster.
»Es saugt das Blut von allem, was langsam genug ist, dass es sich daran festkrallen kann«, erklärte Gimson. »Diese winzigen Elefanten zum Beispiel oder das Tapir-Ding mit der spitzen Schnauze, alles Mögliche eben.«
Während Hillager den Blutegel betrachtete, änderte dieser seine Gestalt und wurde dünner und länger. Als Gimson das Tier aufgenommen hatte, war es fast rund gewesen, doch jetzt sah es eher wie ein dicker Wurm aus. Gimsons Finger hielten das Ding unverdrossen in der Mitte zwischen den beiden Köpfen umklammert – wenn man denn die Enden mit den Mäulern tatsächlich so nennen wollte.
»Was will er nur damit?«, fragte Hillager. »Warum schickt er die Leute um den halben Erdball, nur um diese Viecher zu fangen?«
»Er behauptet, er kann hören, wie sie nach ihm rufen«, erwiderte Gimson. »Und was er mit ihnen macht, wenn er sie kriegt … Glaub mir, das willst du nicht wirklich wissen.« Er beugte sich vor und begutachtete aufmerksam die Kreatur. In blinden, wellenartigen Bewegungen versuchte der wurmartige Körper, sich ihm zu nähern. Offensichtlich spürte das Tier, dass warmes Blut in Reichweite war. »Dieses Viech hat lange nichts zu fressen gekriegt.«
»Woher weißt du das?«
»Es sucht etwas, woran es sich festkrallen kann.«
»Sollen wir es nicht lieber hierlassen?«, fragte Hillager. »Wir können doch morgen ein anderes suchen.« Er hoffte inständig, dass Gimson Ja sagen würde. Denn er hatte wirklich nicht die geringste Lust, auch nur noch eine einzige Sekunde länger in diesem verdammten Dschungel zu bleiben.
»Das ist das erste Exemplar, das wir in einer Woche zu Gesicht bekommen haben«, antwortete Gimson. »Und ein anderes zu finden könnte noch länger dauern. Nein, wir nehmen das hier. Wir müssen eins mitbringen.«
»Wird es die Reise denn überleben?«
Gimson zuckte die Achseln »Vermutlich … wenn wir es vorher füttern.«
»Okay.« Hillager blickte sich um. »Was schlägst du vor? Einen Affen? Oder eines von diesen Schweine-Kreaturen?«
Gimson antwortete nicht.
Hillager wandte den Blick wieder Gimson zu. Sein Kumpan starrte ihn mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. Zum Teil war darin Mitgefühl zu lesen, aber hauptsächlich war es Abscheu.
»Ich schlage vor«, sagte Gimson, »du krempelst deinen Ärmel hoch.«
»Bist du verrückt?«, flüsterte Hillager.
»Nein, ich bin Scout und Jäger«, erklärte Gimson. »Und was dich anbelangt … Was hast du denn gedacht, warum du bei dieser Expedition dabei bist? Jetzt krempel den Ärmel hoch. Dieser kleine Albtraum hier braucht Blut, und zwar schnell.«
Hillager konnte sich lebhaft vorstellen, wie Dukes Reaktion ausfallen würde, wenn er herausfand, dass er den Blutegel lieber hatte sterben lassen als zu füttern, und so entblößte er langsam seinen Arm.
»Hast du dir eigentlich jemals Gedanken über Ameisen gemacht?«, fragte Amyus Crowe.
Sherlock schüttelte den Kopf. »Abgesehen davon, dass sie bei Picknicks in Massen über meine Marmeladen-Sandwiches herzufallen pflegen, kann ich nicht behaupten, mir jemals groß den Kopf über sie zerbrochen zu haben.«
Sie unternahmen gerade einen Streifzug durch die Landschaft von Surrey. Die Sonnenhitze lastete wie ein Backstein auf Sherlocks Rücken, und ein fast überwältigender Duft nach Blüten und frisch gemähtem Heu lag in der Luft.
Er zuckte zusammen, als eine Biene an seinem Ohr vorbeisummte. Ameisen waren ihm relativ gleichgültig, aber Bienen beunruhigten ihn immer noch.
Crowe lachte. »Was habt ihr Briten nur immer mit euren Marmeladen-Sandwiches?«, brachte er zwischen dem Gelächter hervor. »Ich wette mit dir, dass in keinem anderen Land der Welt das Essen so viel mit der Nahrung von Kleinkindern gemeinsam hat wie in Großbritannien. Dampfpuddings, Marmeladen-Sandwiches – natürlich mit abgeschnittener Brotkruste – und Gemüse, das so lange gekocht wird, bis es eine einzige verwürzte Pampe ist. Essen, für das man keine Zähne braucht.«
Sherlock verspürte einen Anflug von Verärgerung. »Ach, und was ist an amerikanischem Essen so toll?«, fragte er und änderte seine Sitzhaltung auf der Steinmauer, auf der er sich niedergelassen hatte. Vor ihm fiel die Landschaft sanft zu einem Fluss in der Ferne ab.
»Steaks«, sagte Crowe nur. Er stand mit der Brust gegen die Mauer gelehnt, sein kantiges Kinn ruhte auf den verschränkten Armen und sein breitkrempiger Hut schirmte die Augen vor der Sonne ab. Wie gewöhnlich trug er seinen weißen Leinenanzug. »Riesensteaks, über der offenen Flamme gegrillt. Richtig gegrillt, so dass es an den Rändern knusprig ist. Und nicht nur über einer Kerzenflamme geschwenkt, wie es die Franzosen machen. Und auch nicht in irgend so einer Brandy-Sahne-Soße ertränkt, wie es ebenfalls die Franzosen machen. Ein Steak richtig zuzubereiten und zu servieren ist nun wirklich kein Hexenwerk. Warum zum Kuckuck bringt das außerhalb der Vereinigten Staaten niemand fertig?« Er seufzte. Seine energiegeladene Gutmütigkeit war plötzlich verflogen und hatte einer bedrückenden Niedergeschlagenheit Platz gemacht.
»Sie vermissen Amerika?«, fragte Sherlock nur.
»Ich bin jetzt schon länger von zu Hause fort, als ein Mann sollte. Und ich weiß, dass Virginia ihre Heimat vermisst.«
Sherlock hatte plötzlich das Bild von Crowes Tochter Virginia vor Augen, wie sie auf ihrem Pferd Sandia ritt, während sich ihr kupferrotes Haar wie ein Flammenschweif hinter ihr herzog.
»Wann werden Sie zurückkehren?«, fragte er in der Hoffnung, dass es nicht allzu bald sein würde. Er hatte sich inzwischen sehr an Crowe und Virginia gewöhnt, die Teil seines Lebens geworden waren, seitdem man ihn zu Onkel Sherrinford und Tante Anna geschickt hatte.
»Wenn meine Arbeit hier erledigt ist.« Ein breites Grinsen durchzog Crowes faltiges, wettergegerbtes Gesicht, als sich seine Stimmung mit einem Mal wieder aufhellte. »Und wenn ich denke, dass meine Verantwortung gegenüber deinem Bruder erfüllt ist. Das heißt, wenn ich dir alles beigebracht habe, was ich weiß. Und jetzt lass uns über Ameisen reden.«
Seufzend fand Sherlock sich damit ab, in den Genuss einer weiteren von Crowes Spontan-Lektionen zu kommen. Ob sie sich nun in der freien Natur aufhielten, in der Stadt oder bei jemandem zu Hause, der große Amerikaner fand immer einen Anlass für eine Frage, eine Problemstellung oder ein Logikrätsel. Und sosehr Sherlock seinen Lehrer auch schätzte, so begann ihm diese Marotte doch allmählich etwas auf die Nerven zu gehen.
Crowe drehte sich um und ließ den Blick über das Gelände hinter ihnen schweifen. »Ich glaube, ich habe hier irgendwo ein paar von den kleinen Tierchen gesehen«, verkündete er und schlenderte zu einem Haufen trockener Erde, die sich wie ein kleiner Berg aus dem Gras erhob. Crowe konnte ihm nichts vormachen. Vermutlich hatte er die Ameisen bereits auf dem Weg hierher gesehen und sich augenblicklich als Unterrichtsmaterial für die nächste Lektion gemerkt.
Sherlock sprang von der Mauer und ging zu Amyus Crowe hinüber. »Ein Ameisenhügel«, sagte er ohne große Begeisterung. Winzige schwarze Pünktchen krabbelten scheinbar ziellos auf dem Erdhaufen herum.
»In der Tat. Das untrügliche Zeichen dafür, dass sich in der Erde darunter jede Menge Tunnel befinden, die die kleinen Krabbler geduldig gegraben haben. Irgendwo da unten sind Tausende winziger Eier versteckt. Alle von einer Königin gelegt, die ihr ganzes Leben unter der Erde verbringt und niemals das Sonnenlicht erblickt.«
Crowe beugte sich hinunter und winkte Sherlock zu sich heran. »Siehst du, wie die Ameisen sich bewegen?«, fragte er. »Was fällt dir daran auf?«
Sherlock beobachtete die Tiere einen Moment lang. Es gab keine zwei Ameisen, die in die gleiche Richtung liefen, und darüber hinaus wechselten sie auch noch ohne ersichtlichen Grund ständig die Richtung. »Sie bewegen sich völlig willkürlich«, antwortete Sherlock schließlich. »Oder sie reagieren auf etwas, das wir nicht wahrnehmen können.«
»Eher Ersteres«, erwiderte Crowe. »Man nennt es Zufallsbewegung, was in der Tat eine gute Methode ist, um ein Areal rasch flächendeckend abzugrasen, wenn du auf der Suche nach etwas bist. Die meisten Leute, die eine bestimmte Gegend absuchen, werden sich einfach in geraden Linien fortbewegen, sie im Zickzack durchkämmen oder das Gebiet in ein Gitterraster einteilen und sich jedes Quadrat separat vornehmen. Diese Methoden führen normalerweise irgendwann zum Erfolg. Aber die Chancen, etwas schnell aufzufinden, sind größer, wenn man sich dafür entscheidet, das Gelände nach dem Zufallsprinzip zu durchkämmen. Zufallsbewegungen ähneln dem Gang eines Menschen, der sich zu viel Whisky hinter die Binde gekippt hat. Seine Beine bewegen sich in verschiedene Richtungen und der Kopf wiederum in eine ganze andere.« Er langte in seine Jacketttasche und holte etwas hervor. »Aber zurück zu den Ameisen: Pass auf, wie sie sich verhalten, sobald sie auf etwas stoßen, das sie interessiert.«
Er zeigte Sherlock, was er in der Hand hielt. Es war ein kleiner Tonkrug. Die Öffnung war mit Wachspapier bedeckt, das mit einem Faden um den Gefäßrand festgebunden war. »Honig«, erklärte er, bevor Sherlock fragen konnte. »Hab ich auf dem Markt gekauft.« Er löste den Faden und nahm das Wachspapier ab. »Tut mir leid, wenn das böse Erinnerungen in dir wachruft.«
»Schon gut«, antwortete Sherlock und kniete sich neben Crowe nieder. »Aber darf ich fragen, warum Sie mit einem Honigkrug in der Gegend herumwandern?«
»Man kann nie wissen, was sich alles einmal als nützlich erweist«, sagte Crowe und sah ihn freundlich an. »Vielleicht habe ich all das auch im Voraus geplant. Du kannst es dir aussuchen.«
Sherlock lächelte nur und schüttelte den Kopf.
»Honig besteht neben einer Unmenge von anderen Stoffen zum größten Teil aus Zucker«, fuhr Crowe fort. »Ameisen lieben Zucker. Sie bringen ihn in ihr Nest, um damit die Königin und die kleinen Larven zu füttern, die aus den Eiern schlüpfen.«
Crowe tunkte einen Finger in den Honig, der in der Hitze eine dünnflüssige Konsistenz angenommen hatte, und fischte einen großen goldglänzenden Batzen heraus. Der Honig tropfte von seinem Finger und blieb an einem Grasbüschel hängen, bevor er in dünnen Fäden weiter auf den Boden hinabrann, wo er ein Muster aus glitzernden Linien bildete.
»Jetzt wollen wir doch mal sehen, was die kleinen Krabbler so machen.«
Sherlock beobachtete, wie die Ameisen sich weiter willkürlich auf der Erde hin- und herbewegten. Einige kletterten Grashalme empor und dann kopfüber wieder hinunter, während andere zwischen Erdkrumen nach Essbarem suchten. Nach einer Weile stieß die Erste auf einen Honigfaden und blieb mitten in der klebrigen Masse stehen. Einen Moment lang dachte Sherlock, sie würde festkleben. Doch schließlich wanderte sie weiter, drehte dann noch einmal um und senkte ihren Kopf, als ob sie trinken würde.
»Sie nimmt so viel auf, wie sie transportieren kann«, sagte Crowe im Plauderton. »Und jetzt kehrt sie gleich zum Nest zurück.« Und tatsächlich schien die Ameise ihre Schritte zurückzuverfolgen. Anstatt irgendwann direkt auf das Nest zuzusteuern, krabbelte sie weiterhin im Zickzack hin und her. Sie brauchte für den Rückweg mehrere Minuten, und Sherlock verlor sie ein paar Mal aus den Augen, als sie anderen Ameisen begegnete. Doch schließlich hatte sie den trockenen Erdhügel erreicht und verschwand durch ein Loch in der Seite.
»Und was jetzt?«, fragte Sherlock.
»Achte auf den Honig«, antwortete Crowe.
Zehn, vielleicht fünfzehn Ameisen hatten mittlerweile den Honig entdeckt und waren dabei, ebenfalls Proben aufzunehmen. Unablässig gesellten sich weitere Ameisen hinzu, während andere sich schon wieder auf den Rückweg machten und die grobe Richtung zum Nest einschlugen.
»Was fällt dir auf?«, fragte Crowe.
Sherlock beugte den Kopf tiefer, um die Szene näher zu betrachten. »Die Ameisen brauchen anscheinend immer weniger Zeit, um zurück zum Nest zu kommen«, stellte er erstaunt fest.
Nach wenigen Minuten hatten sich zwei parallele Linien von Ameisen gebildet, die zwischen Honig und Nest hin- und hereilten. Das zufällige Durcheinanderlaufen war einer zielgerichteten Bewegung gewichen.
»Gut«, sagte Crowe anerkennend. »Jetzt lass uns ein kleines Experiment versuchen.«
Er langte in seine Tasche und holte ein Stückchen Papier hervor, das etwa die Größe seines Handtellers hatte. Auf halber Strecke zwischen Nest und Honig legte er es auf den Boden. Die Ameisen überquerten einfach das Papier, als hätten sie es nicht einmal bemerkt.
»Wie kommunizieren sie miteinander?«, wollte Sherlock wissen. »Wie erzählen die Ameisen den anderen im Nest, wo sie den Honig gefunden haben?«
»Das tun sie nicht«, erwiderte Crowe. »Allein die Tatsache, dass sie mit Honig zurückkehren, ist ein Signal, dass es draußen Nahrung gibt. Aber sie können weder miteinander reden noch Gedanken lesen oder mit ihren winzigen Beinchen die Richtung anzeigen. Nein, da geht etwas sehr viel Clevereres vor sich. Lass es mich dir zeigen.«
Crowe drehte das Papier rasch um neunzig Grad im Kreis. Die Ameisen, die sich bereits darauf befanden, krabbelten über den Rand und schienen dann orientierungslos auf der Erde umherzuirren. Aber Sherlocks Interesse wurde von etwas anderem gefesselt. Fasziniert beobachtete er, wie die Ameisen, die nun das Papier erreichten, unbeirrt ihren Weg bis zur Mitte fortsetzten. Dort jedoch vollführten sie eine Richtungsänderung von neunzig Grad und marschierten auf ihrem alten Pfad weiter, bis sie den Rand erreichten. Aber kaum hatten sie das Papier verlassen, irrten sie wie die anderen zunächst ziellos umher.
»Sie folgen einem Pfad«, flüsterte Sherlock. »Einem Pfad, den wir nicht sehen können. Die ersten Ameisen haben ihn irgendwie angelegt, und die anderen folgen ihnen darauf. Und als Sie das Papier umgedreht haben, sind sie dem Pfad einfach weiter gefolgt, ohne zu wissen, dass er nun woandershin führt.«
»Das ist richtig«, sagte Crowe anerkennend. »Meiner Einschätzung nach handelt es sich um einen chemischen Stoff. Wenn Ameisen Nahrung transportieren, lassen sie eine Spur dieses Stoffes hinter sich zurück. Stell dir das Ganze wie einen Lappen vor, den man mit einer stark riechenden Substanz, wie zum Beispiel Anis, getränkt und an einem ihrer Füße befestigt hat. Die anderen folgen der Anis-Spur, wie Hunde, die die Witterung aufgenommen haben. Die erste Ameise wird zunächst nach dem Zufallsbewegungsprinzip in der Umgebung umherirren, bevor sie zum Nest zurückfindet. Wenn nun mehr und mehr Ameisen Honig finden, werden einige von ihnen längere Wege zum Nest zurücklegen und andere kürzere. Und folgen dann noch mehr Ameisen, werden die kürzeren Wege intensiver mit dem chemischen Stoff markiert, weil die Ameisen auf ihnen schneller zurückkommen, wohingegen der Markierungsduft auf den längeren Zickzackpfaden langsam verschwindet, weil diese immer seltener benutzt werden. Im Endeffekt entsteht so eine fast geradlinige Straße. Was ich durch das Experiment mit dem Papier bewiesen habe. Die Ameisen folgen weiterhin dem markierten Pfad, obwohl dieser sie jetzt nicht mehr zum Nest, sondern davon fortführt. Allerdings nur so lange, bis sie ihre Laufrichtung wieder korrigiert haben.«
»Unglaublich«, sagte Sherlock leise. »Das war mir bisher gar nicht klar. Es hat überhaupt nichts mit, nun ja … Intelligenz zu tun. Die Ameisen handeln instinktiv und kommunizieren gar nicht miteinander. Aber es sieht wie intelligentes Handeln aus.«
»Manchmal«, erklärte Crowe, »weist eine Gruppe weniger Intelligenz auf als ein Individuum. Nimm zum Beispiel mal uns Menschen: Die Einzelnen für sich genommen können durchaus clever sein. Doch lass sie alle in einer Menge zusammenkommen, und schon kann ein Tumult entstehen. Vor allem, wenn sie von etwas angestachelt werden. In anderen Fällen kann eine Gruppe eine größere Intelligenz an den Tag legen als ein Individuum, so wie die Ameisen hier oder auch ein Bienenschwarm.«
Crowe richtete sich auf und klopfte sich den Sand und das Gras von der Leinenhose ab. »Mein Instinkt sagt mir«, fuhr er fort, »dass es bald Zeit zum Mittagessen ist. Meinst du, deine Tante und dein Onkel finden für einen umherstreunenden Amerikaner noch ein Plätzchen an ihrem Tisch?«
»Was die beiden anbelangt, bin ich sicher, dass sie das tun«, erwiderte Sherlock. »Bei unserer Hauswirtschafterin, Mrs Eglantine, allerdings nicht.«
»Die überlass ruhig mir. Ich verfüge über unerschöpfliche Charmereserven, die ich jederzeit abrufen kann.«
Auf ihrem Rückweg schlenderten sie über Felder und durchquerten kleinere Wäldchen. Dabei machte Crowe Sherlock auf essbare und giftige Pilze aufmerksam, um die Lektion von ein paar Wochen zuvor zu vertiefen. Und mittlerweile war sich Sherlock auch ziemlich sicher, in der Wildnis überleben zu können, ohne sich zu vergiften.
Eine halbe Stunde später näherten sie sich Holmes Manor, einem riesigen, ziemlich abweisend wirkenden Gebäude, das inmitten ein paar Morgen freien Landes stand. Oben im Dachgeschoss konnte Sherlock das Fenster seines Zimmers erkennen. Der kleine verwinkelte Raum mit Dachschräge war alles andere als komfortabel, so dass Sherlock abends nie auch nur die geringste Lust verspürte, ins Bett zu gehen.
Vor der Treppe zur Eingangstür stand eine Kutsche. Während sich das Pferd Heu aus einem Futtersack schmecken ließ, den man ihm um den Kopf gebunden hatte, ließ der Kutscher hin und wieder gelangweilt die Peitsche schnalzen.
»Besuch?«, fragte Crowe.
»Onkel Sherrinford und Tante Anna haben nichts davon erwähnt, dass heute jemand zum Lunch kommt«, sagte Sherlock und fragte sich, wer wohl mit der Kutsche gekommen sein mochte.
»Nun, in ein paar Minuten werden wir es wissen«, stellte Crowe fest. »Über Fragen zu spekulieren, deren Antworten einem jeden Augenblick auf dem Silbertablett serviert werden, ist reine Verschwendung geistiger Energie.«
Als sie an der Treppe angekommen waren, rannte Sherlock zur halb geöffneten Tür hinauf, während Crowe ihm mit bedächtigem Schritt folgte.
Die Eingangshalle lag zum großen Teil im Dunkeln. Die spärlich durch ein paar wenige Fenster dringende Sonne warf Lichtsäulen aus schwebenden Staubteilchen auf den Boden. Die Ölgemälde an den Wänden waren in der Finsternis kaum auszumachen. Fast physisch lastete die sommerliche Hitze auf dem Raum.
»Ich werde Bescheid geben, dass Sie da sind«, sagte Sherlock zu Crowe.
»Nicht nötig«, murmelte Crowe. »Wie es aussieht, ist man bereits informiert.« Mit einem Nicken wies er in die Dunkelheit unterhalb der Treppenflucht.
Aus den Schatten trat eine Gestalt hervor, von deren schwarzem Kleid und schwarzen Haaren sich die kalkweiße Haut in krassem Gegensatz abhob.
»Mr Crowe«, sagte die Hauswirtschafterin. »Ich gehe doch recht in der Annahme, dass wir Sie heute erwartet haben?«
»Weit und breit sprechen die Leute über die Gastfreundschaft von Holmes Manor«, erwiderte Crowe mit unbekümmerter Großspurigkeit. »Und über die großzügige Beköstigung, mit der vorbeikommende Reisende bedacht werden. Und außerdem, wie könnte ich die Gelegenheit ungenutzt lassen, Sie wiederzusehen, Mrs Eglantine?«
Sie schnaubte verächtlich, und unter ihrer scharf gebogenen, dünnen Nase kräuselten sich die Lippen. »Ich bin sicher, dass viele Frauen ihrem Kolonistencharme erliegen, Mr Crowe«, antwortete sie. »Aber ich gehöre nicht dazu.«
»Mr Crowe wird zum Lunch bleiben«, sagte Sherlock mit fester Stimme. Doch das Herz stockte ihm, als Mrs Eglantines Blick zu ihm wanderte.
»Das haben Mr und Mrs Holmes zu entscheiden«, entgegnete sie. »Nicht Sie.«
»Dann werde ich es ihnen eben sagen«, verkündete Sherlock. »Nicht Sie.« Er wandte sich wieder Crowe zu. »Warten Sie hier, während ich das kläre«, sagte er. Als er wenig später, ohne seinen Onkel oder seine Tante gefunden zu haben, zurückkehrte, war Mrs Eglantine wieder verschwunden.
»Irgendetwas an dieser Frau kommt mir seltsam vor«, murmelte Crowe. »Sie verhält sich überhaupt nicht wie eine Hausangestellte. Eher so, als wäre sie ein Mitglied der Familie. Als hätte sie hier das Sagen.«
»Ich weiß auch nicht, wieso Tante Anna und Onkel Sherrinford ihr das durchgehen lassen«, wunderte sich Sherlock. »Ich würde das jedenfalls nicht.«
Er ging zum Speisezimmer hinüber und warf einen Blick hinein. Die Dienstmädchen machten sich emsig am langen Büfetttisch zu schaffen und richteten Platten mit kaltem Fleisch, Fisch, Käse, Reis, eingelegtem Gemüse und diversen Brotsorten her, von denen sich die Familie bedienen konnte. Denn das war die übliche Art, wie das Mittagessen auf Holmes Manor eingenommen wurde. Aber Sherlocks Tante und Onkel waren nirgends zu entdecken. Sherlock ging wieder zurück in die Halle und blieb einen Augenblick lang unschlüssig stehen. Dann steuerte er auf die Tür zur Bibliothek zu und klopfte an.
»Ja?«, erklang von drinnen eine Stimme. Eine Stimme, die es gewohnt war, die religiösen Predigten und Ansprachen, die zu schreiben ihr Besitzer einen Großteil seines Lebens widmete, zunächst selbst zu deklamieren. »Herein!«, ertönte nochmals die Stimme von Sherlocks Onkel Sherrinford Holmes.
Sherlock öffnete die Tür. »Mr Crowe ist hier«, sagte er, als die Tür aufschwang und den Blick auf seinen Onkel freigab, der an einem riesigen Schreibtisch saß. Sherrinford Holmes trug einen schwarzen, altmodisch geschnittenen Anzug. Der eindrucksvolle biblische Bart fiel über seine Brust bis auf die Schreibunterlage vor ihm herab. »Und da habe ich mich gefragt«, fuhr Sherlock fort, »ob es möglich wäre, wenn er zum Lunch bleibt.«
»Ich heiße die Gelegenheit, mich mit Mr Crowe zu unterhalten, sehr willkommen«, erwiderte Sherrinford Holmes. Aber Sherlocks Aufmerksamkeit wurde von jemandem abgelenkt, der weiter drüben an den offenen Flügeltüren zur Terrasse stand. Die Silhouette eines langen Gehrocks mit hohem Kragen zeichnete sich vor dem einfallenden Sonnenlicht ab.
»Mycroft!«
Sherlocks Bruder bedachte ihn mit einem ernsten Nicken. Doch trotz seines gesetzten Auftretens konnte er ein leichtes Augenzwinkern nicht unterdrücken. »Sherlock«, begrüßte er ihn. »Du siehst gut aus. Offensichtlich bekommt dir das Landleben.«
»Wann bist du angekommen?«
»Vor etwa einer Stunde. Ich habe den Zug von Waterloo Station genommen und bin dann hier am Bahnhof in eine Kutsche gestiegen.«
»Wie lange bleibst du?«
Mycroft zuckte die Achseln. Eine leichte Bewegung, die angesichts seiner massigen Gestalt kaum wahrzunehmen war. »Ich werde leider nicht über Nacht bleiben können, aber ich wollte mir ein Bild von deinen Fortschritten verschaffen. Und ich habe auch gehofft, Mr Crowe zu treffen. Ich bin froh, dass er hier ist.«
»Dein Bruder und ich haben noch etwas Geschäftliches zu bereden«, sagte Sherrinford. »Wir sehen uns dann im Speisezimmer.«
Das war eine eindeutige Aufforderung zu gehen, also schloss Sherlock die Tür hinter sich. Unwillkürlich machte sich ein Lächeln auf seinem Gesicht breit. Mycroft war hier! Plötzlich kam ihm der Tag sogar noch heller und sonniger vor, als er ohnehin schon war.
»Habe ich da etwa die Stimme deines Bruders gehört?«, ließ sich Amyus Crowes polternde Stimme vom anderen Ende der Halle vernehmen.
»Ja, das ist seine Kutsche da draußen. Er hat gesagt, dass er mit Ihnen sprechen will.«
Crowe nickte bedächtig. »Ich frage mich, warum«, sagte er leise.
»Onkel Sherrinford hat gesagt, dass Sie zum Lunch bleiben können. Er meinte, sie würden uns dann im Speisezimmer treffen.«
»Das klingt doch mal nach einem anständigen Plan«, verkündete Crowe wieder mit lauterer Stimme. Doch die nachdenkliche Falte auf seiner Stirn strafte die scheinbar unbekümmerte Leichtigkeit seiner Worte Lügen.
Sherlock ging voran ins Speisezimmer. Zu seiner Überraschung war Mrs Eglantine bereits da. Sie stand an der Wand im Schatten zwischen zwei großen Fenstern. Sherlock hatte gar nicht bemerkt, dass sie in der Halle an ihm vorbeigegangen war, und er fragte sich, ob sie in Wirklichkeit vielleicht ein Geist war, der durch Mauern wandeln konnte. Aber er verwarf das rasch als dumme Idee, denn schließlich glaubte er nicht an so etwas wie Geister.
Er ignorierte Mrs Eglantine und steuerte auf den Büfetttisch zu. Dort schnappte er sich einen Teller und machte sich daran, ihn mit Fleisch und Räucherlachsstücken zu füllen. Crowe folgte ihm und begann sich vom anderen Ende des Tisches aus zu bedienen.
Sherlock schwirrte immer noch der Kopf, nachdem sein älterer Bruder so unvermittelt aufgetaucht war. Mycroft lebte und arbeitete in London, der Hauptstadt des Britischen Empires. Er war Regierungsbeamter, und obwohl er seine Bedeutung und Position häufig herunterspielte, indem er zum Beispiel von sich behauptete, er sei nur ein einfacher Aktenhengst, war Sherlock schon eine ganze Weile der festen Überzeugung, dass Mycroft weitaus wichtiger war, als er es nach außen hin darstellte. Als Sherlock die Ferien noch bei seinen Eltern zu Hause verbracht hatte – also bevor man ihn weggeschickt hatte, um bei Onkel und Tante zu wohnen –, war Mycroft zuweilen aus London gekommen, um ein paar Tage bei der Familie zu verbringen. Bei diesen Gelegenheiten war Sherlock aufgefallen, dass jeden Tag ein Mann in einer Kutsche vorgefahren war, der eine rote Box dabeihatte, die er Mycroft nur persönlich aushändigte. Im Gegenzug hatte Mycroft dem Boten einen Umschlag übergeben, der Sherlocks Vermutung nach Briefe und Aktennotizen enthielt, die sein Bruder auf Basis des Boxinhaltes vom Vortag verfasst hatte. Was auch immer Mycroft für eine Position bekleiden mochte, die Regierung jedenfalls hielt es für nötig, täglich mit ihm in Verbindung zu bleiben.
Als Sherlock bereits mit vollen Backen kaute, hörte er, wie sich die Tür zur Bibliothek öffnete. Einen Augenblick später tauchte die hochgewachsene und leicht gebeugte Gestalt Sherrinford Holmes’ im Speisezimmer auf. »Ah, brōma theōn«, proklamierte er auf Griechisch und starrte auf den Büfetttisch.
Dann blickte er Sherlock an und sagte: »Für das Wiedersehen mit deinem Bruder steht dir meine Bibliothek, mein psychēs iatreion, zur Verfügung.« An Crowe gewandt fügte er hinzu: »Und er hat ausdrücklich darum gebeten, dass Sie sich dazugesellen.«
Sherlock stellte seinen Teller ab, um sich rasch in die Bibliothek zu begeben. Crowe folgte ihm in seinem typischen, behäbig wirkenden Gang, der dank seiner langen Beine tatsächlich jedoch alles andere als langsam war.
Mycroft stand immer noch an der gleichen Stelle vor den Terrassentüren. Er bedachte Sherlock mit einem Lächeln, kam auf ihn zu und wuschelte ihm durchs Haar. Das Lächeln schwand aus seinem Gesicht, als er sich an Crowe wandte und dem Amerikaner die Hand schüttelte.
»Das Wichtigste zuerst«, begann er. »Auch nach intensiven Ermittlungen der Polizei haben wir keine Spur von Baron Maupertuis gefunden. Wir glauben, dass er wieder nach Frankreich geflohen ist. Die gute Nachricht ist, dass weder unter britischen Soldaten noch unter Zivilisten Todesfälle infolge von Bienenstichen zu beklagen waren.«
»Es lässt sich darüber streiten, ob Maupertuis’ Plan nun funktioniert hätte oder nicht«, meinte Crowe ernst. »Ich persönlich hege die Vermutung, dass er nicht ganz bei Verstand war. Aber es war sicherlich besser, kein Risiko einzugehen.«
»Und die Regierung ist auch gebührend dankbar«, erwiderte Mycroft.
»Was ist mit Vater, Mycroft?«, platzte es aus Sherlock heraus.
Mycroft nickte. »Sein Schiff wird sich mittlerweile der indischen Küste nähern. Ich vermute, dass er mit seinem Regiment noch in dieser Woche an Land geht, aber wahrscheinlich werden wir ein, zwei Monate lang nichts von ihm hören. Die Kommunikation mit diesem weit entfernten Kontinent dauert nun einmal sehr lange. Wenn ich etwas erfahre, werde ich es dir augenblicklich mitteilen.«
»Und … Mutter?«
»Wie du weißt, ist es um ihre Gesundheit nicht gerade gut bestellt. Im Moment ist ihr Zustand stabil, aber sie braucht Ruhe. Ihr Arzt sagt, sie schläft sechzehn, siebzehn Stunden am Tag.« Er seufzte. »Sie braucht Zeit, Sherlock. Und sie muss jede Art von geistiger und körperlicher Anstrengung vermeiden.«
»Ich verstehe.« Sherlock hielt kurz inne, weil ihm die Stimme zu stocken drohte. »Dann soll ich also für den Rest der Schulferien hier auf Holmes Manor bleiben?«, fuhr er schließlich fort.
»Ich weiß ehrlich gesagt nicht«, erwiderte Mycroft, »ob die Deepdene-Knabenschule so gut für dich ist.«
»Mein Latein hat sich verbessert«, antwortete Sherlock rasch und verfluchte sich im gleichen Augenblick innerlich dafür. Er sollte seinem Bruder zustimmen und nicht widersprechen.
»Kein Zweifel«, antwortete Mycroft trocken. »Aber es gibt noch andere Dinge als Latein, die ein Junge lernen sollte.«
»Griechisch?«, konnte sich Sherlock nicht verkneifen zu fragen.
Mycroft musste unfreiwillig schmunzeln. »Ich sehe, dass der Aufenthalt hier deinem trockenen Humor nichts hat anhaben können. Nein, ungeachtet der offensichtlichen Bedeutung, die Latein und Griechisch für unsere immer komplizierter werdende Welt haben, denke ich, dass du auf eine individuellere und persönlichere Art des Unterrichts besser ansprechen würdest. Ich ziehe es in Erwägung, dich von der Deepdene-Schule zu nehmen und dich hier unterrichten zu lassen, auf Holmes Manor.«
»Ich soll nicht zurück in die Schule?« Sherlock forschte in seinem Inneren nach irgendwelchen Anzeichen von Betroffenheit. Aber da war nichts. Er hatte keine Freunde in Deepdene, und selbst seine besten Erinnerungen waren eher mit dem Gefühl von Langeweile verknüpft als mit dem von Glück und Zufriedenheit.
»Wir müssen bereits an dein Universitätsstudium denken«, fuhr Mycroft fort. »Cambridge, natürlich. Oder Oxford. Ich denke, dass du dort bessere Chancen hast, wenn wir uns etwas mehr auf deinen Lernprozess konzentrieren, als es auf der Deepdene-Schule möglich ist.« Wieder lächelte er. »Du bist ein Junge mit ganz besonderen Begabungen und solltest entsprechend behandelt werden. Ich kann dir nichts versprechen, aber ich werde dich noch vor Ende der Ferien wissen lassen, welche Arrangements ich für dich getroffen habe.«
»Wäre es vermessen zu fragen, ob ich einen kleinen Anteil zum Unterricht des Jungen beisteuern werde?«, ließ Crowe seine knurrige Stimme vernehmen.
»Aber ja doch«, versicherte Mycroft, dessen Lippen sich belustigt kräuselten. »Es ist ja nicht zu leugnen, dass Sie bisher zuverlässig dafür gesorgt haben, dass er auf dem rechten Weg bleibt.«
»Er ist ein Holmes!«, betonte Crowe. »Man kann ihn anleiten, aber zu nichts zwingen. Sie waren genauso.«
»Ja«, meinte Mycroft nur. »Das war ich wohl, nicht wahr?«
Bevor Sherlock über die plötzliche Erkenntnis nachdenken konnte, dass Crowe auch Mycrofts Lehrer gewesen war, sagte sein Bruder: »Wärst du so gut, uns zu entschuldigen, Sherlock? Mr Crowe und ich haben ein paar vertrauliche Geschäftsangelegenheiten zu besprechen.«
»Sehe ich dich noch … bevor du fährst?«
»Natürlich. Ich reise nicht vor heute Abend ab. Du kannst mich später durchs Haus führen, wenn du magst.«
»Wir könnten spazieren gehen«, schlug Sherlock vor.
Mycroft schauderte. »Ich denke nicht«, sagte er. »Ich glaube kaum, dass ich für eine Wanderung passend gekleidet bin.«
»Wir gehen doch nur ein bisschen ums Haus herum!«, protestierte Sherlock. »Und nicht in den Wald!«
»Wenn ich kein Dach über meinem Kopf sehe und keine Holzdielen oder Pflastersteine unter den Füßen spüre, ist das für mich gleichbedeutend mit einer Wanderung«, sagte Mycroft entschieden. »Und nun zum Geschäftlichen, Mr Crowe.«
Widerstrebend verließ Sherlock die Bibliothek und schloss die Tür hinter sich. Den Stimmen nach zu urteilen, die aus dem Speisezimmer drangen, leistete seine Tante Onkel Sherrinford mittlerweile beim Mittagessen Gesellschaft. Da ihm ganz und gar nicht danach zumute war, sich dem nie versiegenden Redefluss von Tante Anna auszusetzen, begab er sich nach draußen. Die Hände in den Taschen vergraben, schlenderte er ums Haus herum und kickte hin und wieder einen Stein fort. Die Sonne stand fast direkt über ihm, und Sherlock spürte, wie sich auf seiner Stirn und zwischen den Schulterblättern ein dünner Schweißfilm bildete.
Da erblickte er vor sich die Terrassentür vom Bibliothekszimmer. Die offene Terrassentür.
Er konnte seinen Bruder und Crowe miteinander reden hören.
Eine Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass dies eine vertrauliche Unterhaltung war, von der man ihn ausdrücklich ausgeschlossen hatte. Doch eine andere, sehr viel verführerischere Stimme sagte, dass Mycroft und Amyus Crowe da drinnen gerade über ihn sprachen.
Vorsichtig pirschte er sich entlang der Steinloggia, zu der sich die Terrassentür öffnete, näher heran.
»Und Sie sind sich absolut sicher?«, hörte er Crowe sagen.
»Sie haben früher für die Pinkertons gearbeitet«, erwiderte Mycroft. »Sie wissen, dass deren Informationsquellen normalerweise sehr verlässlich sind. Selbst so weit von den Vereinigten Staaten entfernt.«
»Aber trotzdem, warum soll er ausgerechnet hierher geflohen sein …«
»Ich vermute mal, dass es ihm in Amerika zu gefährlich geworden ist.«
»Es ist ein großes Land«, gab Crowe zu bedenken.
»Und in weiten Teilen noch unberührt von jeglicher Zivilisation«, konterte Mycroft.
Crowe war nicht überzeugt. »Ich hätte eher vermutet, dass er über die mexikanische Grenze flieht.«
»Aber offensichtlich hat er das nicht getan.« Mycrofts Stimme klang bestimmt. »Betrachten Sie es doch mal von der Seite: Sie sind nach England geschickt worden, um ehemalige Soldaten und aktive Sympathisanten der Südstaaten aufzuspüren, auf die ein Kopfgeld ausgesetzt ist. Und genau wegen dieser Gesinnungsgenossen wird er auch hier sein.«
»Klingt logisch«, räumte Crowe ein. »Vermuten Sie eine Verschwörung dahinter?«
Mycroft zögerte einen Moment mit der Antwort. »›Verschwörung‹ ist wohl vorläufig noch etwas zu drastisch formuliert. Ich vermute, dass dieses Land eine gewisse Anziehung auf sie ausübt, weil es zivilisiert ist, die Leute die gleiche Sprache sprechen und weil sie sich hier sicher fühlen können. Aber lassen Sie ihnen nur ein wenig Zeit, dann könnte es durchaus zu einer Verschwörung kommen. So viele gefährliche Männer zusammen auf einem Fleck. Männer, die nichts anderes zu tun haben, als miteinander zu diskutieren … Wir müssen diese Gefahr schon im Keim ersticken.«
Sherlock schwirrte der Kopf. Wovon zum Teufel redeten sie eigentlich? Er war anscheinend um Haaresbreite zu spät gekommen, um sich einen Reim auf die Unterhaltung machen zu können.
»Oh, Sherlock«, rief sein Bruder plötzlich von drinnen. »Du kannst dich genauso gut zu uns gesellen. In Anbetracht der Tatsache, dass du sowieso mithörst.«
Mit gesenktem Kopf betrat Sherlock die Bibliothek durch die offene Terrassentür. Vor Verlegenheit war er knallrot. Doch merkwürdigerweise war er auch verärgert – wenngleich er nicht einmal sicher war, ob nun über Mycroft, weil der ihn erwischt hatte, oder über sich selbst, weil er sich hatte erwischen lassen.
»Woher hast du gewusst, dass ich draußen war?«, fragte er.
»Erstens«, begann Mycroft nüchtern zu erklären, »habe ich erwartet, dass du dort sein würdest. Du bist ein junger Mann mit einem überaus ausgeprägten Hang zur Neugier, und die Ereignisse der letzten Wochen haben gezeigt, dass du nicht sehr viel darauf gibst, dich gemäß den allgemein anerkannten gesellschaftlichen Regeln zu verhalten. Und zweitens wehte die ganze Zeit eine leichte Brise durch die leicht geöffneten Flügeltüren herein. Als du draußen standest, waren zwar weder du noch dein Schatten zu sehen, aber dein Körper hat den Luftzug unterbrochen. Und als die Brise auch nach ein paar Sekunden nicht wieder einsetzte, vermutete ich, dass etwas sie blockiert hatte. Und die wahrscheinlichste Erklärung dafür warst du.«
»Bist du mir böse?«, fragte Sherlock.
»Nicht im Geringsten«, erwiderte Mycroft.
»Dein Bruder hätte es schlimmer gefunden«, sagte Crowe mit heiterer Stimme, »wenn du so unachtsam gewesen wärest, nicht auf deinen Schatten zu achten.«
»Das«, stimmte Mycroft zu, »hätte einen bedauerlichen Kenntnismangel bezüglich einfacher geometrischer Gesetzmäßigkeiten bewiesen. Ebenso wie das Unvermögen, die unbeabsichtigten Folgen des eigenen Handelns vorherzusehen.«
»Du machst dich über mich lustig«, beschwerte sich Sherlock.
»Nur ein wenig«, gestand Mycroft. »Und nur in bester Absicht.« Er schwieg. »Was hast du von unserer Unterhaltung mitbekommen?«
Sherlock zuckte die Achseln. »Es ging um irgendeinen Mann, der von Amerika nach England gekommen ist und den ihr für eine Bedrohung haltet. Oh, und um eine Familie namens Pinkerton.«
Mycroft blickte zu Crowe hinüber und hob eine Augenbraue. Crowe konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Die Pinkertons sind keine Familie«, erklärte er, »obwohl es einem manchmal so vorkommen kann. Nein, die Pinkerton National Detective Agency ist eine Detektiv- und Leibwächter-Agentur. Sie wurde vor etwa zwölf Jahren von Allan Pinkerton in Chicago gegründet. Pinkerton hatte nämlich erkannt, dass die Eisenbahngesellschaften in den Vereinigten Staaten, deren Zahl immer noch stetig steigt, über keinen effektiven Schutz vor Raubüberfällen, Sabotageakten und Streiks verfügten. Seitdem vermietet Allan seine Leute als so eine Art Superpolizei.«
»Die völlig unabhängig von staatlichen Vorschriften und Gesetzen handelt«, murmelte Mycroft. »Für ein Land, das sich seiner demokratischen Gründungsprinzipien rühmt, werden dort ganz schön viele Organisationen hervorgebracht, die sich der öffentlichen Kontrolle entziehen.«
»Sie haben ihn Allan genannt«, bemerkte Sherlock. »Kennen Sie ihn etwa?«
»Al Pinkerton und ich kennen uns schon ziemlich lange«, bestätigte Crowe. »Vor sieben Jahren haben wir Abraham Lincoln auf dem Weg zu seiner Amtseinführung zusammen durch Baltimore geschmuggelt. Damals gab es eine von den Südstaaten initiierte Verschwörung. Lincoln sollte in der Stadt umgebracht werden, aber die Pinkertons wurden engagiert, um ihn zu beschützen, und wir haben ihn lebend hindurchbekommen. Seitdem hat mich Al hin und wieder angeheuert. Hab nie ein reguläres Gehalt bezogen. Stattdessen bezahlt er mir gelegentlich ein Beratungshonorar.«
»Präsident Lincoln?«, fragte Sherlock, dem bereits der Kopf schwirrte. »Aber wurde der nicht …«
»Oh, am Ende haben sie ihn doch erwischt.« Crowes Gesicht war so ausdruckslos, als wäre es aus Granit gemeißelt. »Drei Jahre nach der Baltimore-Verschwörung hat wieder jemand sein Glück versucht und auf ihn geschossen. Lincolns Pferd ist mit ihm durchgegangen, und der Hut wurde ihm vom Kopf geblasen. Als man später seine Kopfbedeckung fand, war tatsächlich ein Einschussloch darin. Die Kugel hat ihn nur um Zentimeter verfehlt.« Er seufzte. »Und dann zwölf Monate danach, das ist jetzt gerade mal drei Jahre her, ist es passiert. Lincoln sah sich gerade im Theater von Washington ein Stück mit dem Titel Our American Cousin an, als ihm plötzlich ein Mann namens John Wilkes Booth in den Hinterkopf schoss, danach auf die Bühne sprang und entkam.«
»Sie waren nicht dort«, sagte Mycroft leise. »Sie hätten es nicht verhindern können.«
»Ich hätte dort sein sollen«, erwiderte Crowe niedergeschlagen. »Genau wie Al Pinkerton. Aber der einzige Leibwächter, der an diesem Abend auf den Präsidenten aufpasste, war ein betrunkener Polizist namens John Frederick Parker. Er war nicht mal im Theatersaal, als auf den Präsidenten geschossen wurde. Stattdessen ließ er sich in der Schänke nebenan mit Bier volllaufen.«
»Ich habe damals in Vaters Zeitung davon gelesen«, sagte Sherlock und unterbrach damit das bedrückende Schweigen, das sich über den Raum gesenkt hatte. »Und ich erinnere mich daran, dass Vater darüber gesprochen hat. Aber ich habe nie richtig verstanden, warum Präsident Lincoln umgebracht wurde.«
»Das ist das Problem mit den Schulen heutzutage«, brummte Mycroft. »Da hört die englische Geschichte vor ungefähr hundert Jahren einfach auf, und so etwas wie Weltgeschichte scheint gar nicht zu existieren.« Er blickte zu Crowe hinüber, aber der Amerikaner schien nicht bereit zu sein fortzufahren. »Du hast doch bestimmt schon mal vom Amerikanischen Bürgerkrieg gehört, oder?«, fragte er Sherlock.
»Ich habe nur in der Times mal etwas darüber gelesen.«
»Kurz gesagt haben elf Staaten im Süden – rund die Hälfte der Vereinigten Staaten von Amerika – ihre Unabhängigkeit erklärt und die Konföderierten Staaten von Amerika gegründet.« Er schnaubte. »Das ist etwa so, als würden Dorset, Devon und Hampshire plötzlich beschließen, zusammen ein neues Land zu gründen, und ihre Unabhängigkeit von Großbritannien erklären.«
»Oder als würde Irland beschließen, dass es ab sofort unabhängig von der britischen Herrschaft sein will«, murmelte Crowe.
»Das ist eine ganz andere Situation«, blaffte Mycroft. Doch dann widmete er seine Aufmerksamkeit gleich wieder Sherlock und fuhr fort: »Eine Zeit lang gab es zwei amerikanische Präsidenten: Abraham Lincoln im Norden und Jefferson Davis im Süden.«
»Warum wollten sie denn unabhängig sein?«, fragte Sherlock.
»Aus dem gleichen Grund, aus dem jeder unabhängig sein will«, erwiderte Mycroft. »Weil sich niemand gerne Befehle erteilen lässt. Und es gab unterschiedliche politische Ansichten. Die Südstaaten befürworteten die Sklaverei, wohingegen Lincoln im Wahlkampf die Befreiung der Sklaven versprochen hatte.«
»So einfach ist es nun auch wieder nicht«, protestierte Crowe.
»Das ist es nie«, stimmte Mycroft zu. »Aber für den Moment mag es reichen. Der Krieg begann am 12. April 1861, und während der darauf folgenden vier Jahre sind über 620000 Amerikaner im Kampf gefallen. In einigen Fällen kämpften Bruder gegen Bruder und Väter gegen ihre Söhne.« Ein Schaudern schien ihn zu durchfahren, und als sich eine Wolke vor die Sonne schob, wurde es kurzzeitig dunkler im Raum. »Nach und nach«, fuhr er fort, »zermürbte die Union, wie die Nordstaaten hießen, die militärischen Kräfte der Südstaaten, die sich selbst Konföderierte Staaten von Amerika nannten. Der bedeutendste Konföderierten-General, Robert Lee, kapitulierte am 9. April 1865231865Shenandoah21865