ISBN 978-3-7751-7326-1 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book:
CPI books, Leck

1. überarbeitete Auflage 2020 (3. Gesamtauflage)

© 2020 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:

Umschlaggestaltung: Nakischa Scheibe

Ich möchte dieses Buch meiner lieben Frau Irina widmen. Sehr dankbar bin ich für die 40 Jahre, die wir unsere Lebensreise Hand in Hand gehen durften. Ohne ihre Unterstützung und Liebe wäre dieses Buch nicht entstanden.

Danke auch liebe Christa Jäger, dass du so gewissenhaft meine Lücken in der deutschen Sprache ausgebügelt hast.

INHALT

Vorwort von Ulrich Parzany

Ein Geschenk Gottes für uns!

1  Hilfe, ich bin ein Jude!

Juden in der Ukraine

Meine Familie – und meine Clique

2  Gibt es Gerechtigkeit?

Eine schreckliche Entdeckung

Ein Brief aus Kiew

3  Gott redet durch Menschen

Gott klopfte zweimal bei mir an

Die beste Ehefrau von allen

Beim Militär

Hochzeit mit Hindernissen

4  Auf der Suche nach der Wahrheit

Düstere Zeiten

Das Buch »Verraten«

Ist das Neue Testament antisemitisch?

Eine messianische Gemeinde oder: Warum sind diese Menschen anders?

Der Wendepunkt

5  Auswanderung nach Deutschland

Es gab genügend Gründe

Warum wandern Juden gerade nach Deutschland aus?

Mit dem Zug nach Westen

6  Das neue Leben in Deutschland

Im Übergangswohnheim

»Sagen Sie niemandem, dass Sie Jude sind!«

Zum ersten Mal in die Synagoge

Die Bibel vom Sperrmüll

»Wann gehen Sie nach Israel?«

7  Mein neuer Auftrag in Deutschland

Eine entscheidende Begegnung

Eine neue Berufung – ein neuer Dienst

Josef, ein Vorbild

8  Als Mitarbeiter beim »Evangeliumsdienst für Israel«

Meine geistlichen Eltern

Marga und unsere neue Wohnung

»Haben Sie einen Auftrag vom Oberkirchenrat?«

Noch ein Puzzlestück

Gemeindegründung

Die Begegnung mit einem ehemaligen Nazi

»Ist es ein Fluch, Deutscher zu sein?«

Evangelische Kirche und messianische Juden

»Da gedenkt man der Toten und will die Lebenden nicht haben«

Meine Berufung zum Leiter

9  Eine neue Perspektive: messianische Jugendfreizeiten

Ich habe keine Erfahrung mit Jugendlichen!

Eindrückliche Erfahrungen mit Jugendlichen

10  Gott spricht in mein Leben hinein

Eine schwere Erfahrung

Was bedeutet es, ein Jude zu sein, der an Jesus glaubt?

Ein neuer Impuls von Gott: Theologie studieren!

Hellenistisches oder hebräisches Denken?

Probleme mit dem Apostolischen Glaubensbekenntnis

11  Eine neue Berufung wird sichtbar

Sie betete: »Gott hat Israel zu mir nach Hause gebracht!«

»Diese sechs Stühle hängen an meinem Hals!«

»Judenschwein« und »Nazischwein«

Monika erzählt von ihren Großeltern

Simon, ein ungewöhnlicher Junge

Michaela bittet mich, ihr und ihrem Vater zu vergeben

Gisela und ihr nationalsozialistischer Vater

Mit Horst in Auschwitz

Mit Hartmut Renz in Yad Vaschem

»Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen«

Musste man unbedingt Juden umbringen, um sich schuldig zu fühlen?

Frau Mayer bittet um Vergebung

»Du musst diesen Menschen helfen!«

»Ich will segnen, die dich segnen«

»Ich strecke mich aus nach wirklicher Buße, nach Vergebung …«

Anhang

Wie Juden und Christen die Bibel verstehen

Messianische Juden und die christliche Kirche

Die Verfolgung der Juden im Mittelalter

Die Aufklärung und die Neuzeit

Jüdische Wurzeln des christlichen Glaubens

Die Entwicklung der messianischen Bewegung

Was hat der Kirchentag mit messianischen Juden zu tun?

Leserbriefe

»Wir wollen Brücken bauen!« – Interview mit ERF Online

Die Zukunft der messianischen Bewegung

Bildteil

Anmerkungen

VORWORT VON ULRICH PARZANY

Ein Geschenk Gottes für uns!

Ich freue mich über dieses Buch. Es beweist mir die Treue Gottes zu seinem Volk Israel. Ich kann es nur als ein Zeichen der unverdienten Gnade Gottes sehen, dass trotz der Verbrechen an jüdischen Menschen in der Nazizeit heute wieder so viele Juden in Deutschland leben. Ein besonderes Wunder sind die kleinen, aber wachsenden Gemeinden messianischer Juden.

Anfang 2012 war ich zu Gast bei Anatoli und Irina Uschomirski in ihrer Wohnung in Echterdingen. Irina hatte ein wunderbares Abendessen bereitet. Ich hörte staunend, was beide mir aus ihrem Leben erzählten. Beim Lesen dieses Buches fühlte ich mich an jenen Abend zurückversetzt – erschüttert und beschenkt. Ein jüdisches Ehepaar findet den Messias Jesus und durch ihn entdeckt es seine jüdische Identität.

Das verstehen viele nicht. Sie meinen, dass ein Jude zum Christentum konvertiert, wenn er an Jesus Christus glaubt. Nein, Jesus war Jude, alle zwölf Apostel waren Juden, Paulus war Jude, die Jerusalemer Urgemeinde bestand aus Juden. Sie wären nie auf den Gedanken gekommen, etwas anderes zu sein. Sie haben in Jesus die Erfüllung der Geschichte Gottes mit dem Volk Israel erlebt. Und sie erlebten staunend, dass Gott den Bund mit Israel für die Völker öffnete. An der Lebensgeschichte von Anatoli und Irina Uschomirski wird das unmittelbar verständlich. Anatoli zeigt den Lesern, wie Fehlentscheidungen in der Kirchengeschichte und skandalöses Fehlverhalten der Kirchen bis heute messianischen Juden das Leben schwer machen.

Die Begegnung mit Anatoli Uschomirski ist für mich die Fortsetzung einer vierzigjährigen Geschichte mit meinem Freund und Lehrer Alfred Burchartz, dem Gründer und langjährigen Geschäftsführer des »Evangeliumsdienstes für Israel«. Er ist als Jude durch tiefes Leid gegangen und erkannte auf schier unfassbare Weise Jesus als seinen Messias. Er hat mich und viele Christen gelehrt, das Neue Testament gründlicher aus jüdischer Perspektive zu verstehen. Nur so kann es überhaupt verstanden werden.

Als Ende der 1970er-Jahre in den evangelischen Kirchen bestritten wurde, dass die Verkündigung des Evangeliums von Jesus zuerst den Juden gilt (Römer 1,16), hat Alfred Burchartz in Wort und Schrift dagegen die Position messianischer Juden vertreten. Im Dezember 1979 veröffentlichte er in dem von mir herausgegebenen Magazin SCHRITTE einen Vortrag zum Thema »Judenmission – eine andere Art Holocaust? Stellungnahme zu einer Kontroverse«. Leider wurde die Stimme des an Jesus glaubenden Juden in der evangelischen Kirche nicht gehört.

Anatoli Uschomirski setzt diesen Dienst als theologischer Referent des »Evangeliumsdienstes für Israel« fort. Er und andere messianische Leiter der jüngeren Generation können uns in den christlichen Gemeinden helfen, die biblischen – und das heißt: jüdischen – Wurzeln unseres Glaubens an Jesus Christus besser zu verstehen. Sie sind ein Geschenk Gottes an uns. Hoffentlich wissen wir das zu schätzen.

Ulrich Parzany

HILFE, ICH BIN EIN JUDE!

Juden in der Ukraine

Ich wurde am 8. April 1959 als Kind jüdischer Eltern geboren. Meine Familie lebte in Kiew, der Hauptstadt der Ukraine. Kiew ist eine riesige Metropole mit ca. 3 Millionen Einwohnern, von denen sehr viele Juden waren, die meisten von ihnen assimiliert. 70 Jahre Kommunismus sind auch an ihnen nicht spurlos vorbeigegangen. Oft war es nur der Nachweis im Personalausweis, der ihre jüdische Identität bescheinigte. Auch meine Familie war nicht besonders religiös und eher säkular geprägt, auch wenn wir auf dem Papier nachweislich Juden waren.

Die meisten ukrainischen Juden kannten kaum die Geschichte ihres Volkes und wussten nichts vom Gott ihrer Väter. Dennoch konnte man Juden von Ukrainern unterscheiden. Ihre Gesichtszüge, ihre Gewohnheiten, ihre Sprache, ihre Witze, ihr Essen waren anders. Es herrschte schon immer offener oder auch verborgener Antisemitismus in der Ukraine. In den Überlieferungen, den Witzen und Erzählungen hat man Juden als gierige und hässliche Personen verabscheut. Im Personalausweis musste man unter Punkt 5 die Nationalität eintragen. Wer dort als Ukrainer oder Russe registriert war, hatte Glück, denn alle Türen standen ihm offen: ein Studium, gute Arbeitsstellen und vieles mehr. Für Juden sah es anders aus. Es herrschte ein ungeschriebenes Gesetz, welches besagte, dass auf der Universität in Kiew nur ein geringer Prozentsatz von Juden aufgenommen werden durfte. So verhielt es sich auch in den Betrieben: Es gab kaum Juden, die eine große Firma leiteten. Gleichzeitig versuchte jeder Chef, einen jüdischen Berater einzustellen, weil Juden als sehr gebildet galten.

Als ich später die Geschichte der Juden studierte, habe ich verstanden, weshalb unser Volk so viel Wert auf Bildung legt. Die Juden wurden durch die Jahrhunderte überall gejagt und vertrieben. Oft mussten sie fliehen, um ihr Leben zu retten, ohne ihre Habseligkeiten mitnehmen zu dürfen. Das Einzige, was sie immer mitnehmen konnten, waren ihre Intelligenz und ihre hohe Bildung. Aus diesem Grund haben Juden schon immer enorme Leistungen erbracht, um ihren Kindern eine gute Bildung zu ermöglichen.

Punkt 5 im Personalausweis war für die Juden in der UdSSR wie ein gelber Stern – ein Erkennungszeichen. Es gab auch viele Witze darüber, bis zur Bezeichnung: »die Behindertengruppe 5«. Kein Jude wollte, dass andere in seinen Personalausweis blicken. Sich öffentlich als Jude zu bekennen, war peinlich.

Mit zehn Jahren wurde ich zum ersten Mal mit meiner jüdischen Identität konfrontiert. Zwei Mitschüler verprügelten mich grausam ohne jeglichen Grund. Dabei hörte ich von ihnen die Worte: »stinkender Jude«. Offensichtlich hatte das aber nichts mit meiner Hygiene zu tun.

Woran konnte man erkennen, dass ein Kind aus einer jüdischen Familie stammte? Es gab in den Schulklassen Namenslisten aller Schüler, auf denen nicht nur der Name, sondern auch die Nationalität des Schülers stand. Wir vier Juden in der Klasse hatten immer Angst, wenn der Lehrer diese Liste in den Pausen auf seinem Tisch liegen ließ. Wir wollten auf keinen Fall, dass unsere Klassenkameraden in die Liste blickten und unser Geheimnis entdeckten.

Ich habe damals nicht verstanden, weshalb ich so abwertend als stinkender Jude bezeichnet wurde. Jahrzehnte später habe ich erfahren, woher der Ausdruck stammt. Im Anhang erläutere ich, wo diese Beschimpfung ihren Ursprung hat. Damals, in meiner Kindheit, hatte ich das nicht wissen können. Also wollte ich herausfinden, was es damit auf sich hatte. Zu Hause stellte ich meiner Mutter viele Fragen, die sie nicht beantworten konnte: »Was heißt es, ein Jude zu sein? Ist es etwas Schlechtes, ein Jude zu sein? Warum hasst man die Juden? Kann ein Jude ein Nichtjude werden, um sich alle Unannehmlichkeiten im Leben zu ersparen?« Meine Mutter glaubte an die kommunistische Partei, den Internationalismus und an große sowjetische Ideale. Ihr Bruder war mit 19 Jahren im Krieg gegen die Deutschen ums Leben gekommen. Vier ihrer Onkel ließen ihr Leben im Kampf für die Sowjets. So versuchte sie mir beizubringen, dass es einfach schlecht erzogene Kinder waren, die mich in der Schule beleidigten und schlugen. Das konnte ich nicht glauben, entschied mich aber, meine jüdische Identität nicht mehr einfach so preiszugeben.

Man konnte die Juden in der Ukraine auch an ihren Nachnamen erkennen. Es gab ausgesprochen jüdische Nachnamen wie Rosenfeld, Shapira oder Rabinowitsch. Mein Name Uschomirski war nicht besonders jüdisch. Der Mädchenname meiner zukünftigen Frau Irina war Kaz. Dieser Name war während des Zweiten Weltkrieges wie ein gelber Stern. Meine Frau erinnert sich: »Ich hatte keine Freunde beim Spielen im Hof, weil ich jüdisch war. In der Schule raufte ich mich ständig mit jemandem, weil ich oft gehänselt wurde. Das alles führte dazu, dass sich die jüdischen Kinder und später die jungen Leute zusammenschlossen und eigene Gruppen bildeten. Für mich war es so wichtig, mein Volk nicht zu verraten und meine jüdische Identität nicht zu verlieren.«

Nach dem Berufsschulabschluss musste jeder Absolvent vor ein Komitee treten, damit ihm sein künftiger Arbeitsplatz zugewiesen werden konnte. Es gab gute und weniger gute Arbeitsplätze. Für die Juden blieben oft nur die schlechten übrig. In Betrieben, in denen Waffen produziert wurden, durften Juden überhaupt nicht arbeiten. Als ich vor das Komitee trat, wurde mir mitgeteilt, dass ich in einem solchen Betrieb einen Arbeitsplatz bekäme. Ich traute meinen Ohren kaum! Aber der Vorsitzende bestätigte mir die Zuteilung erneut. Erst als ich die Papiere in meinen Händen hielt, fragte mich einer aus dem Komitee, ob mein Nachname nicht jüdisch sei Aber da waren die fertigen Papiere, die man nicht für ungültig erklären konnte. Deshalb fragte ich sehr frech zurück: »Und Ihr Name ist nicht jüdisch?« Später habe ich verstanden: Sie waren zu faul, um in den Personalunterlagen meine Nationalität zu überprüfen, und hatten daher diesen Fehler begangen. Meine zukünftige Frau mit ihrem typisch jüdischen Nachnamen Kaz hatte jedenfalls keine Chance, einen guten Arbeitsplatz zugewiesen zu bekommen.

Meine Familie – und meine Clique

Mein Vater starb, als ich elf Jahre alt war. Er hatte Lungenkrebs. Er wurde operiert, aber nach der Narkose blieb sein Herz stehen und man konnte ihn nicht mehr wiederbeleben. Das war meine erste Konfrontation mit dem Tod in der Familie. Den Sarg mit der Leiche meines Vaters bahrte man in unserer kleinen Zweizimmerwohnung auf, und ich fürchtete mich sehr, vorbeizulaufen, wenn ich auf die Toilette musste. An der Beerdigung nahm ich nicht teil. Meine Oma war der Meinung, dass man Kinder nicht zum Friedhof mitnehmen dürfe. Neun Jahre später heiratete meine Mutter einen anderen jüdischen Mann, den sie aus ihrer Kindheit kannte. Damit bekam ich einen Stiefvater.

Trotz des latenten Antisemitismus gab es für jüdische Jugendliche Wege, nicht Außenseiter zu sein. Mit 16 Jahren wurde ich Mitglied einer Clique. Ihr Anführer war ein zwei Jahre älterer hochgewachsener Ukrainer namens Wolodya. Wir wohnten im gleichen Plattenbauwohnhaus. Wenn Wolodyas Vater betrunken war, ging er im Hof umher und schrie: »Gib mir eine Sokyra1, ich möchte den Juden den Kopf abhaken!« Alle in unserer Clique wussten, dass ich Jude war. Diese Tatsache störte sie allerdings nicht, weil ich mich als guter Kamerad erwiesen hatte und mich gut prügeln konnte. Außerdem duldete ich ihre antisemitischen Witze, die sie ab und zu rissen. Es ist mir heute unangenehm, an dieses Verhalten von damals zurückzudenken, aber ich hatte schlichtweg Angst, mich zur Wehr zu setzen, und meine jüdische Identität war damals durch negative Erfahrungen geprägt worden. Interessanterweise habe ich viele Jahre später ähnlich unangenehme Situationen erlebt. Zu diesem Zeitpunkt war ich schon Jesus begegnet, hatte aber bis dahin nicht viel Erfahrung mit meinem Glauben. Ich saß in einer Gruppe ungläubiger Männer. Einer erzählte einen vulgären Witz über Jesus. Ich lachte nicht mit, aber widersprach auch nicht. Daraufhin habe ich für mich beschlossen, bei solchen Gelegenheiten nie wieder zu schweigen. Dennoch kann ich gut nachvollziehen, dass ein Mensch in solchen Situationen versagen kann.

Nachdem ich schon drei Jahre in Deutschland gelebt hatte, besuchte ich zum ersten Mal meine Heimatstadt Kiew. An die ganz besondere Begegnung mit Wolodya, dem Anführer unserer Clique, kann ich mich recht gut erinnern. Er hatte zu diesem Zeitpunkt schon einige Jahre Gefängnis hinter sich. Wir hatten uns schon seit 13 Jahren nicht mehr gesehen, sodass es mir schwerfiel, ihn zu erkennen. Er freute sich sehr, mich zu sehen, und war sehr freundlich. Er sah überhaupt nicht wie ein Krimineller aus. Und dann erzählte mir Wolodya mit Begeisterung, dass er nach dem Gefängnisaufenthalt in einer Pfingstgemeinde zum Glauben an Jesus gefunden hatte. Wir unterhielten uns und er erzählte mir ausführlich, weshalb er als Christ das jüdische Volk so sehr liebte. Es sagte, dass es ihm eine besondere Ehre sei, mir das mitzuteilen. Ich konnte damals kaum glauben, dass dieser Jesus eine solche Kraft hatte, aus einem Antisemiten einen Freund des jüdischen Volkes zu machen!

GIBT ES GERECHTIGKEIT?

Eine schreckliche Entdeckung

In meiner Jugend begann ich, mich heimlich für meine jüdische Herkunft zu interessieren. So forschte ich in der Geschichte und im Leben meiner Vorfahren. Zu Hause fand ich ein Buch, das mir ziemlich eigenartig vorkam. Es enthielt nur Namen. Lauter jüdische Namen und einige wenige Fotos. Ich fand heraus, dass das die Namen der Juden waren, die in der Schlucht von Babyn Jar am 29. und 30. September 1941 zusammengetrieben und umgebracht wurden. Leider wurde die Geschichte des »Holocaust« in der ehemaligen Sowjetunion verschwiegen. Die Ideologie der Kommunisten war schon antisemitisch geprägt und man wollte den Juden keine »Extrarolle« im Zweiten Weltkrieg zuteilen. Als nach dem Krieg das Verbrechen der Nazis in Babyn Jar an die Öffentlichkeit trat, ersetzte man in den Berichten das Wort »Juden« mit dem Begriff »die sowjetische Zivilbevölkerung«. Nach der offiziellen Version ermordete man auch Juden, aber nicht mehr oder gezielter als andere Bevölkerungsgruppen. Deswegen wollte ich erfahren, warum so viele jüdische Namen in einem Buch gesammelt sind und weshalb dieses Buch bei uns zu Hause lag.

Die Namen waren alphabetisch geordnet. Aus reiner Neugier schlug ich die Seite mit dem Buchstaben »U« auf. Mir lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter, als ich die Namen meiner Verwandten las: der Name meines Großvaters, meiner Tante und die Namen zweier Cousins, fünf und drei Jahre alt. Mir drängten sich viele ungeklärte Fragen auf: Wie waren sie umgekommen? Warum hatte mir das keiner erzählt? Gab es irgendwo ein Grab oder ein Denkmal, wo man sie hätte beweinen können?

Meine Frau erzählte mir später, dass sie als Kind mit ihrer Familie ganz in der Nähe dieses Orts »Babyn Jar« lebte. Es war eine große Schlucht mitten im Wald. Kinder und Teenager spielten dort, ohne zu ahnen, was in dieser Schlucht geschehen war. Oft fand man dort Knochen oder ein altes rostiges Messer. Ein Junge stieß dort einmal auf eine deutsche Pistole.

Dieser Ort des Grauens wurde bis zum Ende der 60er-Jahre weder durch ein Denkmal noch durch eine Hinweistafel gekennzeichnet. Die Eltern und die Schwester meines Stiefvaters waren ebenfalls in Babyn Jar ermordet worden. Ich kann mich noch gut erinnern, wie meine Mutter und mein Stiefvater jedes Jahr am 29. September dorthin gingen und dort zwei Blumensträußchen auf einen mit Gras bewachsenen Hügel legten. Das taten auch viele andere Menschen, die keinen Ort hatten, an dem sie ihre Toten beweinen konnten.

Erst 23 Jahre später, als ich schon in Deutschland lebte, hatte ich die Möglichkeit, die schreckliche Geschichte von »Babyn Jar« (ukrainisch: »Babyn Jar«) ausführlich zu lesen. An diesem Ort des Grauens wurden am 29. September 1941 33 771 Juden (nicht gerechnet Tausende von kleinen Kindern) aus Kiew und Umgebung erschossen. Das Massaker von Babyn Jar war einer der Anklagepunkte in den Nürnberger Prozessen. Das sowjetische Anklageteam legte dort schriftliche Dokumente über die Exhumierungen vor. Im Jahr 1968 wurden weitere acht Mitglieder des Sonderkommandos 4a im »Callsen-Prozess« vom Landgericht Darmstadt zu langen Haftstrafen verurteilt. SS-Hauptsturmführer Kuno Callsen war Stellvertreter des SS-Offiziers und Leiters des Sonderkommandos Paul Blobel. Generalfeldmarschall Walter von Reichenau war schon 1942 an einem Schlaganfall gestorben. Generalmajor Kurt Eberhard verübte 1947 während seiner US-Internierung in Stuttgart Suizid.2

Im Mai 1971 wurde vor dem Landgericht in Regensburg ein Prozess gegen den Kommandeur des Polizei-Bataillons 45, Martin Besser (79), den Kompanieführer Engelbert Kreuzer (57) und den Feldwebel der Kompanie Fritz Forberg (66) wegen Beihilfe zu tausendfachem Mord eröffnet. Schon nach zwei bzw. drei Tagen aber stellte man das Verfahren gegen Besser und Forberg aufgrund amtlich attestierter Verhandlungsunfähigkeit ein bzw. unterbrach es. Kompanieführer Kreuzer klagte man zudem als Mittäter bei 40 000-fachem Mord an. Im August 1971 wurde der Polizeimajor und SS-Sturmbannführer Kreuzer vom Gericht für schuldig befunden und zu sieben Jahren Haft wegen Beihilfe zum Massenmord von Babyn Jar verurteilt. Darüber hinaus war er laut Urteil an den Morden von Berdytschiw, Chorol, Slawuta, Schepetowka, Sudylkow und Winniza beteiligt. Das Regensburger Landgericht war örtlich zuständig, da das Polizeibataillon 45 zum Polizeiregiment Russland-Süd gehörte und dessen Kommandeur, René Rosenbauer, in Regensburg lebte. Das Verfahren gegen den Oberstleutnant Rosenbauer, der das Kommando des oben genannten Regiments innehatte, wurde schon im Vorfeld wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt. Keiner der Wehrmachtsoffiziere, die sich an der Vorbereitung, Durchführung oder Vertuschung des Massakers beteiligt hatten, musste sich jemals vor Gericht verantworten.3

Ein Brief aus Kiew

Zu Hause fand ich in einem Buchumschlag einen Brief, der in kargen Worten den Tod meiner Verwandten beschrieb. Diesen Brief hatte meine Tante zweiten Grades an eine Organisation in Philadelphia (USA) verschickt. Die Kopie davon hatte meine Mutter im Buchumschlag versteckt. Darin konnte ich einiges über den Tod meines Großvaters David Uschomirski und seiner Familie erfahren. Hier die Übersetzung dieses Briefes:

Ich schreibe Ihnen aus Kiew, der Stadt, in der die Tragödie von Babyn Jar stattgefunden hat.

Freunde aus Philadelphia haben mir geschrieben, dass auf Ihre Initiative hin Shimon Kipnis, das Buch »Buch der Erinnerung« über die Tragödie von Babyn Jar veröffentlicht wird.

Was für eine gütige Idee das doch ist! Vielen Dank Ihnen dafür!

Ich will, dass in dieses Buch die Namen meiner Mutter, meines Großvaters, meines Bruders und meiner Schwester eingetragen werden. Mein Großvater – David Jakowlewitsch Uschomirski, von Beruf Schuhmacher, hatte zwölf Kinder. Am Leben blieben nur acht.

Mein Großvater liebte meine Mutter Bronislava Davidovna von ganzem Herzen: Sie war sein ganzer Stolz, weil sie als einzige Tochter des armen Uschomirski einen Hochschulabschluss hatte – sie war Ärztin. Als der Krieg begann, gingen zwei Brüder meiner Mutter an die Front. Viele unserer Verwandten wurden evakuiert. Wir wollten auch weggehen, aber unglücklicherweise erkrankte mein dreijähriger Bruder Dimitri an Scharlach. Meine Mutter konnte sich nicht auf den Weg machen, während sie ein krankes Kind im Arm hielt. Als wir einen Monat später Dima aus dem Krankenhaus abholten, wurde meine fünfjährige Schwester Mila krank. Auch sie hatte Scharlach. Auch da konnten wir nicht fahren …

Und trotzdem schickte mein Großvater meine Großmutter, eine seiner Töchter und mich mit dem letzten Zug aus Kiew weg. Er selbst blieb bei meiner Mutter. Er konnte seine Lieblingstochter nicht »verlassen« …

Sie alle kamen in Babyn Jar um. Ich bin die einzige Überlebende aus unserer großen, fröhlichen Familie. Jedes Jahr gehe ich am 29. September wie Tausende andere nach Babyn Jar, lege dort frische Blumen hin, wo sie ermordet wurden, und weine, weine, weine …

Jetzt werde ich wissen, dass mein Großvater, meine Mutter, meine Schwester und mein Bruder nach der jüdischen Tradition auf dem jüdischen Friedhof in Philadelphia beerdigt sind.

Meine Tante, die diesen Brief geschrieben hatte, war zu diesem Zeitpunkt schon verstorben. Ich habe diese Geschichte tief in meinem Herzen begraben. Sie war zu schmerzhaft, um mit jemandem darüber zu sprechen. Doch dieser Same ging auf und ich begann, Deutsche dafür zu hassen, was sie meinen Verwandten und meinem Volk angetan hatten. Gleichzeitig wuchs in mir eine Ablehnung gegen alles, was nicht jüdisch war. Die Gesellschaft übte Druck auf die Juden aus und das war die entsprechende Reaktion.

GOTT REDET DURCH MENSCHEN

Die sowjetische Gesellschaft, in der ich aufgewachsen bin, war von der Ideologie geprägt, dass der Mensch von Natur aus gut ist und alles aus eigener Kraft erreichen kann. Besonders wichtig waren eine gute Bildung, Intelligenz, gesellschaftlicher Status und die Fähigkeit, sich mit Ellenbogen durchzusetzen. Ich versuchte, mein Leben entsprechend dieser Werte selbst zu bestimmen, doch es gelang mir nicht. Obwohl ich einen guten Job und Freunde hatte, spürte ich, dass mein Leben ins Leere lief. Meine Intuition sagte mir, dass das Leben aus mehr besteht als aus Kameradschaft, Arbeiten, dem Bücherlesen und dem Musikhören. Das Leben musste einen tieferen Sinn haben, vielleicht in unserer Seele. Doch womit füllt man die eigene Seele, damit sie glücklich wird?

Gott klopfte zweimal bei mir an

Mit 20 Jahren musste ich als treuer sowjetischer Bürger zwei Jahre beim Militär dienen. Leider wurden Juden dort sehr schlecht behandelt. Besonders das Militär wurde von antisemitischen Klischees beherrscht. In der Zivilgesellschaft war es möglich, die eigene jüdische Identität nicht preiszugeben. Beim Militär war es jedoch schwierig. Man wusste alles über jeden, weil Familienstand, Briefwechsel, persönliche Neigungen offengelegt und kontrolliert wurden. Juden galten als Menschen zweiter Klasse. Manchmal musste ich hart kämpfen, um den anderen zu beweisen, dass auch ich etwas wert war. Es herrschte immer latenter Antisemitismus unter Ukrainern und Russen. Desto mehr überraschte mich die Begegnung mit einem russischen Mann, der sich anders verhielt. Er war in meiner Abteilung und vom ersten Tag an stellte ich fest, dass mit diesem Mann etwas nicht stimmte. Im Unterschied zu anderen fluchte er nicht, rauchte nicht, arbeitete fleißig und schimpfte nicht über die Juden. Als ich mehr über sein Leben erfahren wollte, erzählte er mir, dass er an Gott glaube und eine Baptistengemeinde besuche. Das war der erste Jesus-gläubige Mensch, dem ich bis dahin begegnet war. Wir sprachen oft miteinander und er erzählte mir von Gott, von Jesus und der Bibel. Ich hatte großen Respekt vor ihm. Im Rückblick muss ich feststellen, dass Gott schon damals leise an die Tür meines Herzens klopfte.

Zum zweiten Mal klopfte er an, als mir auf der Straße von Charkiv ein Straßenevangelist eine Bibel anbot. Als ich das Geschenk ablehnte, antwortete der Mann Folgendes: »Auch über dich steht etwas in diesem Buch.« Er schlug Psalm 14 auf und gab mir Vers 1 zu lesen: »Nur Narren sagen sich: ›Es gibt keinen Gott!‹ Sie sind durch und durch schlecht und ihre Taten sind böse. Es gibt keinen, der Gutes tut!« Ich war schockiert: »Bin ich etwa ein Narr?«, dachte ich. Damals habe ich die Botschaft ignoriert, aber das Leben selbst zeigte mir, wie unfähig ich war, aus mir selbst heraus etwas Gutes aus meinem Leben zu machen.

Die beste Ehefrau von allen

Ich hatte schon mehrere Freundschaften mit Mädchen gehabt, als ich meine zukünftige Frau kennenlernte. Als meine Mutter mich einmal fragte, welche Ehefrau ich mir in der Zukunft wünsche, antwortete ich: »Ich werde nur die schönste Frau von allen heiraten!« Das war sehr eitel! Ich war mehrmals verliebt und gleichzeitig hatte ich keine Ahnung, was Liebe bedeutet. Meine Beziehungen mit Mädchen wurden durch Egoismus geprägt und sobald ich das bekommen hatte, was ich brauchte, dachte ich ans nächste Abenteuer. Die Welle der »Free Love«, die uns aus Amerika erreicht hatte, begeisterte mich. Rockmusik, Drogen und wechselnde Beziehungen bestimmten mein Leben, als ich Abitur machte. Doch dann drängte sich mir wie jedem jungen Menschen irgendwann die Frage auf, was ich aus meinem Leben machen will. Ich fragte mich, welchen Beruf ich erlernen soll, und war unentschlossen. Ich wusste nur, dass ich keinen Beruf erlernen wollte, der etwas mit Mathematik zu tun hatte. Ich hasste Mathematik. In dieser Zeit sah ich eine Anzeige von der »Republikanischen technologischen Fachschule für Fototechniken«. Da ich das Fotografieren mochte und glaubte, Talent zu haben, entschloss ich mich, Fotograf zu werden.

Außerdem wurde in der Aufnahmeprüfung nicht Mathematik, sondern Chemie geprüft. Von Chemie wusste ich zwar genauso wenig wie von Mathematik, aber ich hasste sie nicht, was größtenteils an meiner Chemielehrerin lag, die ich sehr sympathisch fand. So begann ich meine Ausbildung zum Fotografen.

Die Berufsschulklasse bestand hauptsächlich aus Mädchen. Intuitiv konnte ich jüdische Mädchen von nicht jüdischen unterscheiden. Nicht dass die jüdischen Mädchen einen besonderen Kleidungsstil hatten oder sich anders verhielten – sie waren genauso assimilierte sowjetische Mädchen wie die anderen. Aber die Nachnamen waren anders. Ich habe schon zuvor erwähnt, dass man in der ehemaligen Sowjetunion Juden an ihren Nachnamen erkennen konnte. Auch die Gesichtszüge der Juden unterschieden sich von denen anderer Volksgruppen. Es gab viele Juden, die ihre jüdischen Nachnamen in ukrainische oder russische Nachnamen wechselten. Das traf man oft in gemischten Familien an, in denen der Vater ein Jude und die Mutter eine Nichtjüdin war oder umgekehrt. Um sich und ihre Kinder vor Antisemitismus zu schützen, nahmen solche Familien eine ukrainische oder russische Identität an – die Bezeichnung »Jude«, »Ukrainer« oder »Russe« war im Pass eingetragen – und versuchten zu verheimlichen, dass sie als Juden geboren wurden. Leider wurden solche Menschen häufig zu schlimmen Antisemiten. Dadurch wollten sie (vielleicht auch sich selbst) beweisen, dass sie mit den Juden nichts gemeinsam hatten.

Wir, die keine Chance hatten, unsere Nationalität zu wählen, weil alle unsere Vorfahren jüdisch waren, verabscheuten solche Menschen. Und oft bildeten wir eigene jüdische Subkulturen, zu denen andere keinen Zugang hatten. Das war unser Schutz und hat uns vor der Assimilation bewahrt. Auch den zukünftigen Lebenspartner suchte man sich in den eigenen Kreisen.

So lernte ich Irina Kaz kennen. Die Juden, die so hießen, wussten, dass sie von den anderen sofort als Juden »disqualifiziert« wurden. Sie mussten mit Beleidigungen und Ausgrenzungen rechnen. Am Rande erwähnt, hat die Geschichte des Antisemitismus in der Ukraine tiefe Wurzeln. Als Beispiel möchte ich die Geschichte des ukrainischen Helden Bogdan Chmelnyzkyj erzählen. Diesen Namen kannte jeder Ukrainer. Auf einem der größten Plätze Kiews stand eine riesige Statue dieses Mannes, der sich für die Rechte der ukrainischen Kosaken eingesetzt hatte. Im Jahre 1648 unternahm er einen Aufstand gegen die Adelsrepublik Polen-Litauen, bei dem mehr als 50 000 Juden auf grausamste Weise ermordet wurden. Tausende jüdische Gemeinden in Polen und in der Ukraine wurden zerstört. In unseren Schulbüchern galt Bogdan Chmelnyzkyj als Nationalheld, der die Ukraine von der polnischen Knechtschaft befreit hatte und einen Bund mit Russland eingegangen war. Das glaubten auch wir Juden. Umso mehr war ich überrascht, als ich erst hier in Deutschland die Wahrheit über den Chmelnyzkyj-Aufstand erfuhr. In diesem Zusammenhang möchte ich dem Leser das Buch von Isaac Bashevis Singer, »Jakob der Knecht«4, empfehlen. Es ist heute sehr beunruhigend zu sehen, wie berühmte Antisemiten wie Bogdan Chmelnyzkyj Popularität im ukrainischen Volk gewinnen. Der Rahmen dieses Buches erlaubt mir nicht, die Geschichte des Antisemitismus in der Ukraine ausführlich zu beleuchten, weshalb ich zu meiner eigenen Geschichte und der Begegnung mit Irina Kaz zurückkehre.

Ich hätte damals nicht den Nachnamen Kaz tragen wollen. Erst als ich mehr über das Judentum lernte, erfuhr ich, dass der Nachname Katz ein hoch angesehener Name unter frommen Juden ist. Das hat einen bestimmten Grund: Der Nachname Kaz ist eine Abkürzung von Kohen Zadik, was einen Vertreter des hohepriesterlichen Geschlechts verrät. Mein Schwiegervater, der auch ein assimilierter Jude war, kannte die Bedeutung auch nicht, aber er trug seinen Nachnamen mit Stolz bis zum heutigen Tag. Seine Tochter Irina, die mit mir zusammen Fotografie studierte, war sehr hübsch und ich verliebte mich sehr in sie. Das Schicksal trug dazu bei, dass wir einander besser kennenlernten. Als Fototechniker mussten wir lernen, einen 35-mm-Film in eine Kleinbildpatrone aufzuwickeln. Damals gab es noch keine Digitalfotografie und alle fotografierten mit Analogkameras.

Eines Tages fanden Irina und ich uns in einer Dunkelkammer wieder, in der wir Filme für eine ganze Klasse aufwickeln sollten. Da die Filme sehr lichtempfindlich waren, musste man sie in vollkommener Dunkelheit fertigstellen. Dieser Prozess dauerte lange, die Dunkelheit verschluckte unsere Schüchternheit und weckte unser Interesse aneinander. Ich meine hier keine erotischen Gefühle, sondern echtes gegenseitiges Interesse, einander als Persönlichkeiten kennenzulernen. Während dieser Zeit öffneten wir uns einander und stellten mit Freude fest, dass wir die gleiche Literatur lasen und in vielen Dingen ähnliche Ansichten hatten. Es gab eine gemeinsame Basis, weil wir Juden waren, und dadurch konnte sich unsere Beziehung weiterentwickeln. Wir waren verliebt! Doch kurz darauf wurde ich zum Militär einberufen.

Beim Militär

Nach zwei Monaten Armeedienst erkannten Irina und ich, dass unsere Liebe nicht verging, sondern noch größer wurde. Da wir uns nicht sehen konnten – es gab damals noch kein Skype! –, schrieben wir einander fast jeden Tag Briefe. Allerdings landeten 90 Prozent meiner Briefe bei einer falschen Adresse vier Häuser weiter entfernt. Irina machte sich Sorgen, weshalb ich so selten schrieb. Dank eines schlampigen Postboten lagen zu dieser Zeit mehrere Stapel meiner Briefe ungeöffnet in einer Mülltonne.

Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus und kam mich besuchen. Ihr Besuch brachte Sonnenschein in den dunklen Alltag meines Kasernenlebens. Nach drei Monaten wollte sie mich wieder besuchen, doch ihre Mutter hatte Einwände. Sie war der Meinung, dass ein gutes jüdisches Mädchen nicht irgendwohin fahren sollte, um einen Soldaten zu besuchen, das machten nur Flittchen. Doch das beeindruckte Irina nicht. Wir wollten uns sehen und konnten unsere lange Trennung nicht mehr ertragen. So machte ich ihr einen Heiratsantrag. Wir hatten aber kein Geld für Eheringe. Dieses schenkten uns Irinas Eltern. Das war mir unangenehm, aber als Soldat verdiente ich bloß 30 Rubel im Monat und konnte keine Ringe bezahlen. Da ich aber die Ringe selbst kaufen wollte, bat ich Irina, mir das Geld zu überweisen. In der Nähe von unserer Militärbase befand sich ein Juweliergeschäft. Die meisten Juden in der Sowjetunion durften in speziellen Militäreinheiten dienen, die keine Waffe benutzten. Das waren die sogenannten Baueinheiten, deren einzige »Waffe« die Schaufel war. Wir bauten unterschiedliche Gebäude für militärische Zwecke. Da ich die meiste Zeit auf einem Bau verbrachte, war meine Uniform sehr schmutzig und nach einem anstrengenden Tag der Beschäftigung mit Beton und Zement sah ich nicht sehr repräsentativ aus. Mein Aussehen erweckte kein großes Vertrauen bei der Verkäuferin, als ich den Juwelierladen betrat. Sie war nahe dran, die Polizei zu holen. Als ich ihre Verwirrung bemerkte, versuchte ich sie zu beruhigen und beschwichtigte sie, indem ich gleich sagte, dass ich Eheringe kaufen wollte. Das überzeugte sie jedoch nicht unbedingt, weil mein Äußeres alles Mögliche vermuten ließ, aber nicht, dass ich das Geld für Eheringe hatte. Als ich mit meiner mit ausgetrocknetem Zement verklebten Hand das Geld aus der Hosentasche hervorkramte, war die Verkäuferin endlich beruhigt. Ich kaufte nun die Ringe und versteckte sie in meinem Kissenbezug. Jeden Morgen nahm ich sie zur Baustelle mit, damit sie mir niemand entwenden konnte.

Hochzeit mit Hindernissen

Fünf Monate später, am 22. Dezember 1979, heirateten wir. Irina kam mit dem Zug und wir gingen gemeinsam zum Standesamt. Auf dem Weg fiel uns ein, dass wir keine Trauzeugen hatten. In der Hektik der Vorbereitungen hatten wir vergessen, dass die Begleitung durch die Trauzeugen vom Gesetz verpflichtend war. Kurzerhand bat ich einen Militärkameraden, mein Trauzeuge zu sein. Nun fehlte noch eine weibliche Trauzeugin. Ich kannte flüchtig eine Kartenverkäuferin am Bahnhof, zu der wir schnell eilten und das Glück hatten, die am Arbeitsplatz anzutreffen. Sie war sehr überrascht über unsere Bitte, konnte diese jedoch nicht abschlagen, da es als sehr unhöflich galt, einem Brautpaar abzusagen. Sie schloss ihre Kasse und ging mit uns zum Standesamt.

Das nächste Problem bestand darin, die Trauzeremonie so schnell wie möglich hinter uns zu bringen. Ich hatte nämlich keinen ordentlichen Urlaub von meinem Vorgesetzten erhalten und war ohne Erlaubnis abwesend. Jede Militärstreife konnte mich verhaften und in ein Militärgefängnis bringen. Ich blickte immer unruhig umher, um die Gefahr rechtzeitig zu erkennen.

Als wir endlich vor den Türen des Standesamts standen, waren diese verschlossen! Später erfuhren wir, dass die Beamtin verschlafen