Gerhard Roth
Der Stadt
Entdeckungen im Inneren von Wien
FISCHER E-Books
Gerhard Roth, 1942 in Graz geboren, lebt als freier Schriftsteller in Wien und der Südsteiermark. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, Erzählungen, Essays und Theaterstücke, darunter den 1991 abgeschlossenen siebenbändigen Zyklus »Die Archive des Schweigens«. Anschließend erschienen die Bände des »Orkus«-Zyklus: die Romane »Der See«, »Der Plan«, »Der Berg«, »Der Strom« und »Das Labyrinth«, die literarischen Essays über Wien »Die Stadt« sowie die beiden Erinnerungsbände »Das Alphabet der Zeit« und »Orkus – Reise zu den Toten«. Für sein Werk wurde Gerhard Roth mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet.
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Covergestaltung: hißmann, heiilmann, hamburg
Coverabbildung: © Bildersammlung, Sammlungen der MUW
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
© 2009 Gerhard Roth
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ISBN 978-3-10-401320-6
Windbüchsen waren Luftdruckgewehre, die zur Vogeljagd verwendet und mit den dazugehörigen Pumpen aufgeladen wurden, wobei 2500 Stöße notwendig waren, um etwa 30 bis 40 Schuss abgeben zu können. Für den Transport dieser Geräte war ein eigenes Maultier nötig.
Newton selbst, der sich Jahrzehnte lang mit Theologie befasste, die Infinitesimalrechnung entwickelte, die spektrale Zusammensetzung des weißen Lichtes nachwies und das erste Lehrbuch der theoretischen Physik verfasste, sagte über sich: »Mir selbst komme ich vor wie ein Knabe, der am Meeresufer spielt und sich damit belustigt, dass er dann und wann einen glatteren Kiesel oder eine schönere Muschel als gewöhnlich findet, während der große Ozean der Wahrheit unerforscht vor ihm liegt.« »Voltaire«, schreibt Johannes Wickert, »formte erstmals aus den Fragmenten von Newtons Persönlichkeit ein Sinnbild: Der große Physiker und Mathematiker wurde durch den Philosophen der Aufklärung zum Idol reiner Rationalität, das – befreit von aller Metaphysik – alle Weltprobleme durch die Schärfe seines Verstandes, durch Experimente und Mathematik zu lösen vermochte …« 1965 verblüfften die renommierten Physikhistoriker Alexander Koyré und Fritz Wagner die Welt mit einem anderen Newton-Bild. Sie hatten bisher unbeachtetes Material zu Newton ausgewertet und legten dar, dieser sei nicht etwa der erste Rationalist, sondern der letzte Magier gewesen. Auf Koyrés und Wagners Sockel stand jetzt eine Gestalt, deren rationale Analysen in ein Gewebe von Alchemie und Theologie geflochten sind. Rationalist oder Magier? Wickert kommt zu dem Schluss: »Ja, Newton vertraute auf die Beweiskraft des Experiments, aber auch zweifelsfrei auf die Propheten des Alten Testaments.«
Wie seltsam, denke ich, ein Würfel, der Inbegriff des Zufalls, der Grundstein der Aleatorik … daraus entwickelte sich eine logische Schrift.
Kempelen, 1734 in Preßburg geboren, war ein österreichischungarischer Erfinder, Architekt, Schriftsteller und Staatsbeamter. In Europa und Amerika sorgte sein Schachautomat für Aufsehen, in welchem ein in dem Gerät verborgener und für das Publikum nicht sichtbarer menschlicher Schachspieler mit Hilfe einer kunstreichen Mechanik die Schachzüge einer türkisch gekleideten Puppe steuerte. Als Kempelen den Automaten bei Hof vorführte, belohnte ihn Kaiserin Maria Theresia mit einer goldenen Dose und 1000 Dukaten. Der »Türke« löste mathematische Probleme und beantwortete Fragen, indem er auf Buchstabentafeln zeigte, und »was das Wundernswürdigste ist«, er spielte auch mit Personen aus dem Publikum Schach. Der Erfinder machte mit seinem Automaten in Preßburg, Wien, Paris und deutschen Städten Furore. Über den Schausteller Mälzel kam er sogar nach London und bis Amerika. Allerdings wurden immer wieder Zweifel an dem angeblichen Automaten laut, zunächst in Paris und später von M. I. F. Freyhre aus Dresden, der einen »gut geschulten Knaben, sehr dünn und von der seinem Alter entsprechenden Größe« in dem Automaten vermutete. – Keiner durchschaute jedoch das Geheimnis so exakt wie Edgar Allan Poe in seinem brillanten Essay »Mälzels Schachspieler«, indem er sowohl den Mechanismus des Automaten als auch den Menschen, der hinter seiner Maschinen-Intelligenz steckte, durch eine logische Analyse entschlüsselte. (Nebenbei, es war weder ein Kind noch ein Zwerg, wie andere annahmen, sondern es waren insgesamt drei ausgewachsene, etwas schmächtige Männer.) Der »Türke«, von dem man etymologisch die volkstümliche Bezeichnung »getürkt« für »gefälscht« ableitet, wurde schließlich 1854 nach dem Tod Mälzels bei einem Brand im Peale’s Museum in Philadelphia zerstört, sein Erfinder und Erbauer Kempelen war bereits 1804 gestorben.
Kempelen hatte unter anderem auch eine »Sprechmaschine« entwickelt, das heißt eine Mechanik zur Hervorbringung menschlicher Sprachlaute. 1791 publizierte er dazu die Abhandlung »Mechanismus der menschlichen Sprache nebst der Beschreibung einer sprechenden Maschine«. Dafür baute er die Lunge mit Hilfe eines Blasebalgs nach, die Stimmbänder mit einem aufgeschlagenen Rohrblatt aus Elfenbein, die Nase mit zwei kleinen Rohren und den Mund mit einem Gummitrichter. Die originale »Sprechmaschine«, wenn es sie überhaupt jemals gegeben hat, existiert nicht mehr, dafür gibt es mehrere Nachbauten, die anhand Kempelens erhalten gebliebener Abhandlung vorgenommen wurden. Johann Wolfgang von Goethe berichtete beispielsweise von einem solchen Apparat. Daneben konstruierte Kempelen Wasserpumpen, ein mobiles Bett, in dem Kaiserin Maria Theresia während der Genesung von einer Pockenerkrankung liegen, sitzen und schreiben konnte, und eine Dampfturbine. Er war auch ein begabter Zeichner und verfasste Dramen und Singspiele, zu denen er selbst die Musik komponierte.
Der 1772 in Regensburg als Sohn eines Orgelbauers geborene Mälzel war selbst eine schillernde Figur. Er studierte in Paris und London Ingenieurwesen und Mechanik und baute nach seiner Übersiedlung in Wien Musikautomaten wie das Panharmonicon. Die Maschine enthielt ein mechanisches Orchester mit Trompeten, Klarinetten, Violinen, Celli und Schlagzeug, so Tom Standage in »Der Türke«, »das ähnlich einer riesigen Spieluhr von einer rotierenden, mit Stiften versehenen Walze gesteuert wurde«. Mälzel war ein zwielichtiger Charakter. Zunächst kam es zum Streit mit Beethoven, dessen Komposition »Wellingtons Sieg« er als seine eigene ausgab und mit seinem »Panharmonicon« zweimal in München aufführte, hatte er doch dem Komponisten die Rechte für 50 Dukaten abgekauft. Als Beethoven ihn verklagte, fuhr Mälzel nach Amsterdam und besuchte dort den Erfinder Diedrich Nikolaus Winkel. Winkel zeigte ihm seinen Entwurf für ein Metronom, und Mälzel erkannte sofort, dass dieser wesentlich besser war als sein »musikalischer Chronometer«. Nachdem er vergeblich versucht hatte, das Patent zu kaufen, meldete er Winkels Erfindung mit geringfügigen Verbesserungen unter seinem eigenen Namen an. Außerdem gründete er eine Firma und erzielte mit »Mälzels Metronom«, wie er das Gerät nannte, einen Verkaufsschlager. (Er war jedoch wegen seines aufwendigen Lebenswandels zumeist verschuldet.) In Amsterdam wurde er daraufhin von Winkel wegen geistigen Diebstahls verklagt und schuldig gesprochen. Mälzel entzog sich den Folgen durch die Abreise. Seine größte Begabung lag auf schaustellerischem Gebiet. Nicht nur präsentierte er seine mechanischen Konstruktionen gegen Eintrittsgeld, er machte sich vor allem auch mit Wolfgang von Kempelens »Schachautomaten« einen Namen, der als »der Türke« Aufsehen erregte, weil eine mechanische Figur mit Turban und orientalischem Gewand gegen seine Gegner zu spielen schien, während jedoch ein Mensch, der im Schachtisch verborgen war, die Züge ausführte. Mälzel reiste mit dem Automaten bis nach Amerika, wo Edgar Allan Poe in einem Essay das Rätsel mit Scharfsinn endgültig löste.
Cochlea-Implantate gibt es seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Bei einem Großteil der gehörlos geborenen Kinder wird diese medizinische Maßnahme jetzt angewendet, »wenn die Hörstörung so ausgeprägt ist, dass ein Spracherwerb mit konventionellen Hörgeräten nicht mehr möglich ist«. Zuvor würden jedoch eingehende Hörtests durchgeführt. In den ersten Lebenswochen wird im Rahmen eines Hörscreenings unter anderem die »Reflexaudiometrie« vorgenommen, bei der ein lauter Schallreflex im Normalfall Reflexe auslöst. Wenn keine Reflexe vorhanden sind, wird anschließend zumeist unter Narkose die Hirnstamm-Audiometrie BERA gemacht. Bestätigt sich dabei die Diagnose, wird an ein Implantat oder Implantate gedacht. Ein Eingriff kommt jedoch nur dann in Frage, wenn ein Gehörausfall auf beiden Ohren gegeben ist. Dann aber soll die Implantation so bald wie möglich erfolgen, weil sich sonst die für das Hören notwendigen Gehirnareale nicht mehr entwickeln. Ist nur ein Ohr von Gehörlosigkeit betroffen, wird nicht operiert. Wenn der Hörnerv nicht ausgebildet ist oder die Gehörlosigkeit ihre Ursache in zentralen Bereichen des Gehirns hat, ist ein Cochlea-Implantat zwecklos. Zumeist ist aber ein defektes Cortisches Organ in der sogenannten Schnecke der Cochlea die Ursache für eine angeborene Gehörlosigkeit. Bei der Operation am offenen Mittelohr schiebt man einen Elektrodenstrang in die Scala Tympani bis an die Spitze der Schnecke. Die Implantation wird nur an bestimmten Kliniken in Österreich, in Wien und Salzburg, durchgeführt, sie verlangt großes Geschick, und es kann zu Komplikationen wie postoperativen Infektionen oder sogar Meningitis kommen. Nach dem Eingriff bleibt ein Patient zunächst gehörlos, bis die Wunde verheilt ist – erst nach einigen Wochen wird dann das Gerät in Anwesenheit eines Technikers angepasst. Walter Schott beschreibt das Implantat folgendermaßen: »Das gesamte Gerät besteht aus den äußeren Teilen: das Mikrophon (am Ohr getragen) nimmt die Schallwellen auf, wandelt sie in elektrische Impulse um, die zum Sprachprozessor weitergeleitet werden. Dort werden die Impulse umgeformt, dosiert und zu einem Überträger, einem kleinen Sender, weitergegeben. Er sendet die empfangenen Signale an die inneren Teile (die implantierten Teile). Der Empfänger schickt dort die Signale durch die Elektroden an verschiedene Stellen der Gehörschnecke, von wo aus der Gehörnerv durch eine elektrische Stimulation die Weiterleitung zur Hirnrinde übernimmt, wo der eintreffende Reiz als Sprache oder als anderer Schalleindruck verstanden wird.« Das Implantat ist teuer und kostet pro Stück rund 22 000 Euro, seine Lebensdauer ist mit 10 bis maximal 20 Jahren begrenzt, hierauf muss es durch ein neues ersetzt werden. In den meisten Städten fehlt allerdings die für das Erlernen des Hörens absolut notwendige Hörfrühförderung nach der Implantation. Spätertaubte, bei denen diese Operation ebenfalls innerhalb von zwei Jahren nach dem Gehörverlust durchgeführt werden muss, bemängeln, dass die akustische Wahrnehmung nicht genügend vielschichtig und ausdifferenziert sei, und beschweren sich über krächzende Geräusche. Es gibt auch Patienten, die das ungewohnte Hören nicht ertragen, über Kopfschmerzen klagen und eine Entfernung des Implantates verlangen. (Der Vorsitzende des Österreichischen Gehörlosenverbandes, wird berichtet, habe sich nach der Implantation sogar das Leben genommen.) Andere hingegen sind beglückt, dass sie wieder das Zwitschern der Vögel hören. Allgemein haben Spätertaubte größere Schwierigkeiten mit dem Implantat als Kinder und benötigen eine längere Gewöhnungsphase, da sie ein »vorgeprägtes Hörerleben« haben. Gehörlos geborene Kinder hingegen haben keine Vergleichsmöglichkeiten und tun sich daher leichter. Meist sind die Eltern, die ein Implantat bei ihren Kindern wünschen, selbst hörend. Gehörlose Eltern, die nicht implantiert sind, äußern sich aber immer wieder negativ über die Möglichkeit und verweigern nicht selten ihre Zustimmung. Derzeit werden von fünfzehn gehörlosen Neugeborenen zehn bis zwölf implantiert. »Blindheit schließt Menschen von Dingen aus«, schrieb die taubblinde Helen Keller, »Taubheit schließt Menschen von Menschen aus.« Vor allem stehen Gehörlose sozial oft schlechter da als Blinde. Die Entscheidung ist nicht leicht, sie muss jedoch rasch erfolgen, denn nach dem vierten Lebensjahr ohne Implantat sinken die Chancen eines Kindes kontinuierlich, sich in die Welt der Hörenden zu integrieren. Andererseits gibt es aber die Gesellschaft der Gehörlosen.
Ich schlich hinunter in die Keller …
Ich habe Wien seit 1986 durchforscht. Mehrere Jahre schrieb ich Essays für das ZEIT- bzw. das FAZ-Magazin, die dann unter dem Titel »Eine Reise in das Innere von Wien« als Buch erschienen. Seither habe ich mich auf andere Schauplätze konzentriert, beispielsweise das Haus Am Heumarkt 7, in dem ich seit 1988 wohne. Mich faszinierte an ihm besonders der Zustand seines Verfalls. Das Gebäude ist eigentlich ein Palais, das der Oberbefehlshaber der k.u.k. Armee Conrad von Hötzendorf erbauen ließ. Deshalb hat es auch einen kasernenartigen Charakter. Es besteht aus zwei Höfen mit alten, hohen Bäumen: Kastanien und Platanen vorzugsweise. Der Ast einer Platane wuchs, bis man ihn abschnitt, direkt vor das Fenster meines Arbeitszimmers, stieß zuletzt an das Glas und scharrte leise bei Wind. Ich hatte vom Schreibtisch aus das Gefühl, in der verlängerten Baumkrone zu sitzen, und war dadurch immer zum Schreiben animiert. Der Baum zeigte mir die Jahreszeiten besser an als jeder Kalender, und ich versank nicht in jenen abstrakten Zeit-Raum, den ich seit einem einjährigen Aufenthalt in einem Hamburger Haus am Holzdamm fürchte: Vom Fenster aus sah ich dort nur eine Ziegelwand mit einer Uhr und der Überschrift »Normalzeit«. Es gibt seither für mich keinen schlimmeren Ausblick als eine öde Hauswand mit einer Uhr, die immer gnadenlos die vergehende und vertrödelte Zeit registriert. Ein Baum hingegen altert mit mir, und in den Jahreszeiten, den sich verfärbenden und abfallenden Blättern spiegelt sich nicht nur der Tod, sondern im frühlingshaften Grün auch die Wiedergeburt.
Das Gebäude Am Heumarkt 7 war damals, wie gesagt, verfallen, der Verputz abgeblättert, Feuchtigkeit stieg im Erdgeschoss hoch, und es machte einen verwahrlosten Eindruck. Trotzdem fühlte ich mich als Bewohner wohl, ich hatte meine Wohnung renoviert und genoss den Blick vom zweiten Stock, sozusagen aus der Vogelperspektive, auf die malerischen Mauerflecken. Im Nebenhof hatte Ingeborg Bachmann zwei Jahre gewohnt, und ich entdeckte auch ein Ehepaar mit Namen Malina (dem Titel von Ingeborg Bachmanns gleichnamigem Roman), das mir gegenüber auf der anderen Seite des Hofes wohnt.
Ein Stück weiter vom Gebäude befindet sich ein verschlafenes Café, das Café Heumarkt, das nur leidenschaftliche Besucher oder leidenschaftliche Nichtbesucher kennt. Ich gehörte zu den leidenschaftlichen Besuchern, ich fand dort zunächst gerade das, was ich bei meinem Fenster in Hamburg zu hassen gelernt hatte: Eine Uhr aus den fünfziger Jahren hing an einer Wand, allerdings war es immer drei viertel zwölf. Das ist eine gute Stunde, und das Zusammentreffen des Interieurs aus den fünfziger Jahren mit der stehengebliebenen Uhr vermittelte mir stetig den Eindruck, in Sicherheit zu sein. Das Café Heumarkt war lange Zeit aus diesem Grund für mich ein Fluchtpunkt. Ich schrieb in meinem Versteck nicht, sondern las Zeitung, aß zu Mittag oder trank mit Freunden wie Michael Schottenberg, Karlheinz Kratzl und Peter Pongratz hin und wieder mehrere Gespritzte. Aber es war immer nur mein Stammcafé, niemand kam dort mehr als einmal hin (und schon gar nicht regelmäßig), was mir recht war. Ich nannte es in meinem Kopf »Vorzimmer des Todes«. Mit Günter Brus machte ich einmal am Schließtag ein Interview für eine Kunstzeitschrift, das bezeichnenderweise nie erschien. Der Besitzer händigte uns die Schlüssel aus und gestattete uns, uns selbst zu bedienen, wir mussten nur die Getränke auf einem Block notieren, und ich würde am nächsten Tag die Rechnung begleichen. Natürlich stellte sich die Tonbandaufzeichnung der sechsstündigen Sitzung im ansonsten leeren Café als Dokument des allmählich einsetzenden Schwachsinns und alkoholbedingten Wiederholungszwanges heraus, aber es passte zum Café, obwohl es nicht typisch für die ansonsten stille Atmosphäre war, die nur von knackenden Parketten, dem Klicken der Billardkugeln und dem Scheppern von Metalltassen auf den Marmortischen unterbrochen wurde.
Ich fing an, die Mauerflecken des Gebäudes Am Heumarkt 7 zu fotografieren, stromerte an anderen Tagen in der Stadt herum, betrachtete mit wachsender Begeisterung in verschiedenen Bezirken Wiens die Mauerflecken und die in ihnen verborgenen Bilder, verglich sie mit dem Hintergrund von Gemälden im Kunsthistorischen Museum und fotografierte sie schließlich, bis ich eine eigene Stadtkarte der österreichischen Hauptstadt beisammen hatte. Manche Bezirke oder Gebäude sind darauf sofort zu erkennen, wie zum Beispiel Schönbrunn an seinem unverwechselbaren Gelb oder der 2. Bezirk an seinem melancholischen Grau. Ich hatte auch das Glück, die Schönheit von Rostflecken auf einer eisernen Tür oder auf Scharnieren zu entdecken, die bezaubernde Anmut eines chemischen Prozesses, die mich an Flechten auf Baumstämmen oder Steinen erinnert, und in manches alte Wiener Haus schlich ich hinein, und es gelang mir auch immer wieder, bis in den Keller vorzudringen und dort schöne Flecken zu studieren, woraus allmählich ein phantastischer Atlas aus imaginären Landkarten in meinem Kopf entstand, die eine rätselhafte Welt zum Vorschein brachten.
Die Wiener bestehen in der Regel aus einer Mischung aus Missmut und schlechtem Gewissen. Die offenbar nur beim Heurigen und privat anzutreffende Lustigkeit ist im Alltag zumeist vom Nieselregen einer chronisch schlechten Laune getrübt, die aber wiederum wie abblätternder Verputz ist und deshalb auch ihre verborgenen Reize hat. (Wie ja auch die Muräne ein bissig aussehender Fisch ist, dessen Fleisch aber als Delikatesse gilt.)
Die mir mitunter von einer fremden Hausmeisterin gestellte Frage nach meinem Grund und der Erlaubnis, die ihrer Meinung nach hässlichen Mauern zu fotografieren, konnte ich nicht wahrheitsgemäß beantworten, da es mir bei noch so angestrengten Bemühungen vermutlich nicht gelungen wäre, Übereinstimmung zu erzielen, dass sie schön seien, etwa wie eine Schwarz-Weißfotografie des Sternenhimmels. Stattdessen stellte ich barsch die Gegenfrage, seit wie lange die Mauern schon in einem solchen Zustand seien, und machte nebenbei eine weitere Aufnahme. Mein schroffes Auftreten zeigte immer die gewünschte Wirkung. Misstrauen und schlechtes Gewissen verstärkten sich zwar, aber die üble Laune verlegte sich sichtlich von der Sprache in die Physiognomie der Betreffenden. Das Verstummen und angestrengte Nachdenken meines jeweiligen Gegenübers war dann das Zeichen zum raschen Aufbruch.
Es war übrigens richtig, dass ich mit meinen Recherchen frühzeitig begann, denn die schöne Gemäldeausstellung der Mauerflecken droht zu verschwinden. Am Heumarkt 7 wurde zum Beispiel das gesamte Gebäude frisch verputzt und generalsaniert, gleichzeitig wurde die Miete erhöht. Dort, wo ich früher aus Begeisterung auf der Stiege am Steinboden kniete, um zu fotografieren, wo ich vor einem schimmeligen Stück Mauer in Entzücken geriet, niederkniete und eine Aufnahme machte, finde ich jetzt auswechselbare Farben. Und von der einstigen Aschenputtel-Schönheit des Gebäudes spüre ich nur noch etwas, wenn ich, in nostalgische Gedanken an die vormalige Pracht des Platanenastes versunken, plötzlich erkenne, dass er wieder auf mein Arbeitszimmer zuwächst, fast unmerklich, aber doch. Und vor allem, wenn im Winter die Krähen kommen und sich im Schnee im Hof niederlassen. Sie krächzen und schnarren wie Aufziehtiere. Ich studiere, wie der Schwarm sich stetig in seinen Bewegungen verändert. Als Verfechter der Chaos-Theorie und ewiger Student der fraktalen Geometrie, die seit meinem Roman »Landläufiger Tod« mein Schreiben und literarisches Denken beeinflusst und inspiriert, als Bewunderer von Vergrößerungen der schönen Randdetails und beglückter Betrachter von Darstellungen der selbstähnlichen Struktur der sogenannten Mandelbrotmenge, kann ich die Krähenschwärme lange, um nicht zu sagen stundenlang betrachten, in der Absicht, eine unbekannte Ordnung im Schwarm zu entdecken, der sich im Schnee wie lebendig gewordene Noten auf einer weißen Seite Papier hüpfend ausbreitet und wieder zusammenzieht. Welche unhörbare Musik komponieren sie? Und wenn sie hörbar wäre, wie klänge sie? Und wenn es keine Noten sind, sondern tierische Hieroglyphen, in die Luft gekratzt oder beim Fressen mit dem Schnabel in den harten Winterboden gemeißelt, was verkünden sie? Und sind es Zeichnungen, was stellen sie dar? In diesen Krähenschwärmen ist ein großes Rätsel verborgen, das die Naturwissenschaft, genauer gesagt die Ornithologen, offenbar nicht interessiert. Vom Ankommen im November bis zum Abflug im Februar, von der Sitzordnung auf Bäumen bis zum lautstarken Anflug des Schlafplatzes am Steinhof wird bei den Krähenschwärmen eine Ordnung, ein inneres Wissen sichtbar, die mich fasziniert. Ich sah einmal, wie eine vermutlich kranke Krähe im Hof zurückblieb, als der Schwarm im März zum Rückflug aufbrach. Tage später flog eine Nachhut mehrmals laut krächzend über die Dächer und nahm mit der kranken Krähe Kontakt auf. Zwei Tage lang wiederholte sich dieser Vorgang, diesmal nur von zwei Krähen, bis am dritten die Krähe mit den beiden anderen »Wächtern«, wie ich sie für mich selbst nannte, davonflog.
Ich habe Hunderte Bilder von den Krähen im Hof aufgenommen, die Form ihrer Flügel beim Auffliegen und beim Landen ist wunderschön. Begeistert fotografierte ich auch die Spuren der Krähen im Schnee und Eisblumen auf den Fenstern des ungeheizten Vorzimmers zu meiner Schreibwohnung. Die Bilder gehören zu den anregendsten, die ich gemacht habe, allerdings habe ich nicht oft Gelegenheit dazu, denn die kalten und niederschlagsreichen Winter sind selten geworden – die Klimaforscher finden Erklärungen dafür. Aber auf irgendeine seltsame Weise gehören alle beschriebenen Fotografien zusammen: die Mauerflecken, die Krähen, die Eisblumen, ja selbst die des alten Cafés, die ich später nachholte.
Das Naturhistorische Museum
Im Winter 1989 ging ich einmal spät abends, als die Krähen längst zu ihrem Schlafplatz am Steinhof geflogen waren, in Begleitung eines Beamten durch das Naturhistorische Museum in Wien. Ich hatte erfahren, dass der Schädel des Komponisten von der Internationalen Stiftung Mozarteum an die Anthropologische Abteilung »zur Überprüfung der Identifizierung« übergeben worden sei, und es war mir durch Vermittlung eines Journalisten gelungen, eine sogenannte inoffizielle Erlaubnis zu erhalten, die geheimnisvolle Reliquie zu sehen. Der mir unbekannte Beamte, der kurz vor der Pensionierung stand, erwies sich dabei als ein zwar eigenartiger, aber kundiger Gesprächspartner über Mozarts Oper »Die Zauberflöte« und die Geschichte des Naturhistorischen Museums. Er bot mir, halb im Scherz, eine »Nachtführung« mit Taschenlampe an, wie sie vorwiegend für Schulklassen, aber auch für Neugierige, die eine Vorliebe für romantische Schauer haben, abgehalten werden. Wir stiegen im Halbdunkel die breite Marmortreppe, die sogenannte »Prunkstiege«, hinauf bis zum großen Gemälde des Kaisers Franz I., vormals Franz Stephan von Lothringen, des Gemahls Maria Theresias und Vaters ihrer fünf Söhne und elf Töchter. Oben angekommen, wies der Beamte mit seiner Taschenlampe auf den im Stil des Rokoko mit einem roten, goldbestickten Gehrock, roten Kniehosen, weißen Strümpfen, schwarzen Schnallenschuhen und einer weißen Perücke gekleideten Monarchen hin und hob ihn dadurch gleichsam aus der Dunkelheit heraus wie eine Heiligenerscheinung. Durch den Ankauf der berühmten, 30 000 Objekte umfassenden Sammlung Johann von Baillous, der als späterer Direktor des »Naturalien-Cabinets« mit Perücke und in blauer Artilleriestabsuniform hinter dem an einem Tisch sitzenden Kaiser dargestellt ist, habe Franz I., wie der Beamte außer Atem und stockend ausführte, den Grundstein »für die heute mehr als zwanzig Millionen Objekte umfassende Kollektion des Naturhistorischen Museums« gelegt. Die zu Zeiten Kaiser Franz I. noch bestehenden Kunst- und Wunderkammern der Habsburger, gleichfalls unüberschaubar groß (vor allem durch die Gier des wahnsinnig gewordenen Rudolf II. in Prag), hätten zwar Seychellennüsse, Panzer von Karettschildkröten, Elfenbein, Nashörner oder Narwalzähne, die fälschlicherweise für die Waffen des legendären Einhorns gehalten wurden, beinhaltet, doch seien diese sogenannten Exotica und Curiosa wegen ihrer vermeintlich magischen Wirkung und nicht wegen des wissenschaftlichen Wertes geschätzt worden. Baillous Sammlung, die in der Hofburg aufgestellt worden sei, fuhr der Beamte noch immer heftig atmend fort, habe vor allem aus Mineralien, Fossilien, Korallen sowie Schnecken- und Muschelschalen bestanden. Pflanzen und Tiere seien damals – nicht zuletzt wegen der zum Teil noch ungelösten Präparationsprobleme – lebend in botanischen Gärten und Menagerien gehalten worden. Allerdings habe man vom Ausstopfen bald nicht genug kriegen können und sogar die Häute des angesehenen Hofmohren Soliman sowie dreier weiterer nach Europa verschleppter und hier verstorbener Afrikaner aufgespannt und zur Schau gestellt, bis die Menschenpräparate im Revolutionsjahr 1848 auf dem Dachboden im Augustinertrakt der Hofburg, wohin man sie letztendlich aus Platzgründen geschafft habe, verbrannt seien. Der Beamte machte eine Pause und fuhr dann fort, dass das Gemälde vor uns erst acht Jahre nach dem Tod des Kaisers entstanden sei. Die Franz I. umgebenden Möbel – Schränke mit verglasten Türen – hätten nie existiert, und die dargestellten Säle im Augustinertrakt seien erst später bezogen worden.
Die Archivarin des Hauses, Frau Professor Riedl-Dorn, fand übrigens noch weitere Merkwürdigkeiten an diesem zunächst wenig auffallenden Gemälde, wie sie mir in einem Gespräch mitteilte. Neben dem Kaiser und dem Leiter des »Naturalien-Cabinets« Baillou sei der Leibarzt Maria Theresias und Präfekt der Hofbibliothek Gerard van Swieten – ein Buch an die Brust gedrückt – dargestellt. Außerdem der mit Perücke und Gehrock bekleidete Leiter des »Münz-Cabinets« Valentin Duval und der geistlich-schwarzgekleidete Abbé Johann Marcy, Direktor des »Physikalisch-Mathematischen-Cabinets«. Infrarot- und Röntgenuntersuchungen hätten zu Tage gebracht, dass das Bild zumindest viermal übermalt worden sei, wobei mehrere Personen weggelassen und einzelne Gegenstände hinzugefügt worden seien. Nachgewiesen im oberen Teil seien beispielsweise noch die Köpfe fünf weiterer, jetzt verschwundener Personen, von denen eine ein Kolar trug. »Vermutlich«, sagte Riedl-Dorn, habe es sich dabei um den Jesuitenpater und Physikprofessor Joseph Franz gehandelt. 1773 nämlich, im Jahr, in dem das Gemälde vollendet worden sei, war auch der Jesuitenorden durch Kaiser Joseph II. in Österreich aufgelöst worden. Dafür sei der Leibarzt und Zensor van Swieten in der ursprünglichen Vorzeichnung noch gar nicht vorhanden gewesen. Der große Kristall rechts im Vordergrund und zu den Füßen des Abbé Marcy wiederum sei weder auf den um 1900 entstandenen Fotos noch auf einem Wochenschaubeitrag aus dem Jahr 1935 zu sehen und also erst später hinzugefügt worden. Auch die Länge des dargestellten Teppichs habe man dabei verändert.
Da kaum anzunehmen ist, dass es sich bei dem Bild um das erste selbstmalende und sich selbst verändernde Ölgemälde der Welt handelt, sozusagen um einen Vorfahren des mystischen Bildnisses des Dorian Gray, müssen wohl politische Anschauungen ihre Spuren darauf hinterlassen haben. Durch Verwendung ungeeigneter Reinigungsmittel sei es darüber hinaus, erklärte Riedl-Dorn weiter, zur »Erblindung von Firnis« gekommen. Vor allem aber sei das Gemälde beim erwähnten Brand des Augustinertraktes während der Revolution 1848 in Mitleidenschaft gezogen worden, weshalb es zu Kraterbildungen und Brandblasen gekommen sei.
Inzwischen erreichten wir, der Beamte und ich, im nächsten Stockwerk den Eingang zu den Zoologischen Schauräumen, und gleich nachdem der Beamte aufgesperrt hatte, stellte sich heraus, dass wir uns im letzten, dem Primatensaal befanden, wie der im Kegel des Taschenlampenlichtes auftauchende Affe in der großen gläsernen Vitrine mir zeigte. Der Beamte sperrte die Tür hinter uns zu, atmete durch, ließ kurz das Taschenlampenlicht auf die ausgestopften, doch lebendig wirkenden Gorillas, Schimpansen und Orang-Utans schweifen und richtete dann den Lichtstrahl auf den Fußboden. Die Affen im ersten Saal und später Füchse und Wölfe und noch später die einheimischen und fremdländischen Vögel waren nur als Schattenrisse in den wuchtigen gläsernen Schränken und Terrarien und in den langen, mit Scheiben versehenen Wandregalen erkennbar. Wir gingen über den dumpf knarrenden Parkettboden an den endlos sich aneinanderreihenden Vitrinen entlang, in denen die Tierpräparate im Tod verharrten. Zumeist war es nur die Straßenbeleuchtung von draußen, die die Dunkelheit in den Sälen erhellte, und bald hatte ich die Orientierung gänzlich verloren, zumal der Beamte wieder begann, von der Geschichte des Hauses zu sprechen und damit meine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Kaiser Franz I., sagte er, während wir an Raubtieren, einem Löwen, aber auch an Seehunden und Robben, wie ich zu sehen glaubte, vorbeigingen, sei seit 1731 Freimaurer und ein an den Naturwissenschaften besonders interessierter Mann gewesen. Er habe auch in Laboratorien mit gelehrten Jesuiten alchemistische Experimente durchgeführt und dabei versucht, mit Hilfe von Silberspiegeln und der Kraft des konzentrierten Sonnenlichts, kleinere Diamanten zu einem größeren zusammenzuschmelzen. Dabei seien die Edelsteine jedoch verkohlt. Unbeabsichtigt habe er damit den Beweis erbracht, dass Diamanten verbrennen. Ein anderes Mal habe er mit seinem Bruder Carl in Brüssel Rubine und Diamanten im Wert von 6000 Gulden – damals das doppelte Jahresgehalt eines Hofrates – in Tongefäße gesteckt und 24 Stunden in stärkstes Feuer gehalten. Die Diamanten seien dabei zwar verschwunden, die Rubine jedoch – selbst nachdem man sie noch dreimal 24 Stunden der großen Hitze ausgesetzt hatte – unverändert erhalten geblieben. Der Kaiser, setzte der Beamte fort, habe in Wien zwei Laboratorien einrichten lassen, eines davon in der Menagerie in Schönbrunn. Im Untergeschoss eines achteckigen Pavillons, der heute als Restaurant diene, habe es einen durch geheime Gänge mit anderen Gebäuden verbundenen Raum gegeben, in dem er mit Hilfe einer kostbaren handschriftlichen Broschüre nach dem Stein der Weisen gesucht habe. In Schönbrunn hätten auch die Rosenkreuzer, eine esoterische Gruppe der Freimaurer, ihren Sitz gehabt. Man könne an der Architektur des Pavillons unschwer den freimaurerischen Geist erkennen, vor allem an der »Zahlenmystik«, wie er sagte, beispielsweise bei der Anzahl der Stufen, welche zur Plattform führten. Neun sei nämlich eine magische Zahl und stehe für Vollendung und Klugheit. Franz I. habe sich außerdem eine sogenannte »Planetenmaschine« konstruieren lassen, die den Umlauf der Planeten um die Sonne sowie die Bewegungen der Erde im Tierkreis, Jahreszeiten, Datum und Uhrzeit anzeigte und heute im Meteoritensaal im Hochparterre zu sehen sei, ursprünglich aber im sogenannten »Physikalisch-Astronomischen Cabinet« des Kaisers ihren Platz gefunden hätte. Franz I. habe sich übrigens von Anfang an bemüht, seine Sammlung zu vergrößern und sich dafür des erwähnten Chevalier de Baillou bedient, dessen Fähigkeiten als Sammler, Physiker und Erfinder er äußerst geschätzt habe. Baillou habe nämlich auch Automaten entworfen und konstruiert, wie eine hydraulisch betriebene Maschinerie, die er als »Die Zaubergrotte von Colorno« bezeichnet habe. Sie habe Blitze, Donnergrollen, den Gesang von Vögeln und Flötenspiel erzeugt und bewegliche Figuren aus der griechischen Mythen- und Götterwelt, wie den Sänger Orpheus, vorgeführt. Die Sammlung habe einzig dem Studium der Natur, der Suche nach Wahrheit und der Aufdeckung von Scharlatanerie und Aberglauben gegolten, sagte mein Begleiter. Vermutlich sei es auch Baillou gewesen, der Maria Theresia beraten habe, als sie den berühmten »Edelsteinstrauß« für ihren Gemahl habe anfertigen lassen. Zwar berichte Goethe, so der Beamte, im vierten Buch des ersten Bandes seiner Autobiographie »Dichtung und Wahrheit«, dass der Juwelier Lautensack in Frankfurt an einem derartigen Edelsteinstrauß für Kaiser Franz I. gearbeitet habe, doch nehme man an, dass ihn der Wiener Juwelier Grosser zumindest vollendet habe. Zur Herstellung des Straußes wurden 2102 Diamanten und 761 andere Schmucksteine wie Rubine, Smaragde, Saphire, Chrysolithe, Opale, Türkise, Hyazinthe und Granate verwendet, die zu 61 Blumen und 12 unterschiedlichen Tierarten zusammengesetzt wurden, erklärte mir später die Archivarin Riedl-Dorn. Leider seien aber im Laufe der Jahre die aus Seide angefertigten Blätter völlig ausgeblichen. Der Edelsteinstrauß, fuhr der Beamte inzwischen fort, zeige, wie sehr die Kaiserin die Neigungen ihres Mannes teilte. Nach seinem Tod habe sie ihren Sohn Joseph II. zum Mitregenten ernannt und den Siebenbürgischen Mineralogen und Geologen Ignaz von Born als Leiter des Mineralien-Cabinets nach Wien berufen. »Und damit«, rief der Beamte triumphierend und mit der Taschenlampe auf mehrere ausgestopfte Nashörner zeigend, »kennen Sie schon zwei Figuren und ihre Beziehung zur Freimaurerei, die mit der Entstehung von Mozarts Oper ›Die Zauberflöte‹ zu tun haben – den unglücklichen Hofmohren Angelo Soliman, der, wie Sie wissen, ausgestopft wurde, und den scharfzüngigen Ignaz von Born.« Bevor der Beamte sich jedoch weiter der »Zauberflöte« zuwandte, zeigte er mit der Taschenlampe auf ein kleines Nashorn und wies mich darauf hin, dass es sich um eines der besterhaltenen und ältesten Stopfpräparate der Welt handle, ein männliches Java-Nashorn, das vierzehn Monate alt und für den Tiergarten in Schönbrunn vorgesehen gewesen sei. Es sei jedoch 1801 auf dem Transport gestorben.
Es roch süßlich nach Bodenwachs und abgestandener Luft. Wir waren von Tod und Schatten umgeben und beinahe zur Gänze in den Tiefen der Geschichte versunken, die uns jetzt gegenwärtiger erschien als das Leben draußen. In diesem Augenblick war mir auch, als ob wir uns in einem Panoptikum befänden und uns durch die Dioramen vergangener Zeiten bewegten. Der arme Angelo Soliman, begann mein Begleiter wieder, sei eine stadtbekannte Persönlichkeit gewesen, habe fließend Italienisch, Deutsch, Französisch, Tschechisch, Englisch und Latein gesprochen und hervorragend Schach gespielt. Außerdem sei er Mitglied der Loge »Zur wahren Eintracht« und zuletzt sogar deren Zeremonienmeister gewesen. Es sei bekannt, dass Ignaz von Born auf seinen Antrag hin von den Freimaurern aufgenommen und schon bald danach zum »Meister vom Stuhl« gewählt worden sei. Der Freimaurer Emanuel Schikaneder, der das Libretto der »Zauberflöte« von Wolfgang Amadeus Mozart, der ebenfalls ein Freimaurer gewesen sei, verfasste, habe Soliman als Vorlage für den liebestollen Mohren »Monostatos« und Born als Vorbild des Sonnenpriesters »Sarastro« genommen. Mit Ignaz von Born sei ein besonders streitbarer Mann von den Freimaurern aufgenommen worden. Er sei aber auch ein ebenso hervorragender Wissenschaftler gewesen.
In seiner »Mönchologie«, ergänzte später Frau Riedl-Dorn, habe er in lateinischer Sprache Mönche nach Art der Linné’schen Beschreibung von Insekten dargestellt und in der Satire »Die Staatsperücke« mit Swift’scher Bosheit die Geschichte einer Perücke beschrieben, die für einen König hergestellt wird, zuletzt aber nur noch als Polsterfutter dient. Das habe nicht gerade zu seiner Beliebtheit beigetragen. Born habe die kaiserlichen Sammlungen im »Naturalien-Cabinet« neu aufstellen lassen und sich besonders um die Mineralien verdient gemacht. Er habe vor allem die Meteoriten, die sich damals unter der Bezeichnung »Luftsteine« oder »Aerolithen« als Curiosa in der kaiserlichen Schatzkammer befunden hätten, in das »Naturalien-Cabinet« überführen lassen. Damals habe die Wissenschaft noch heftig daran gezweifelt, dass Steine vom Himmel fallen könnten, so sei auch der berühmte, 39 Kilogramm schwere Eisenmeteorit, der am 26. Mai 1751 in Hraschina bei Agram auf der Erde aufgeschlagen sei, mit Argwohn betrachtet worden, obwohl unter Aufsicht eines Bischofs ein genaues »Fallprotokoll« erstellt worden sei. Born habe damit die heute älteste Meteoritensammlung der Welt begründet. Im Laufe von mehr als 200 Jahren wuchs sie immer mehr an und nimmt jetzt im Hochparterre den ganzen Saal V ein.
In Gedanken versunken waren wir bis zu den Sälen der Vögel gegangen, die in der Dunkelheit alle krähenschwarz über die toten Gelehrten und Adeligen zu wachen schienen, welche mein Begleiter mit seiner Erzählung heraufbeschworen hatte. Hierauf gelangten wir, wie ich mich zu erinnern glaube, in den großen Saal mit dem vielleicht sechs Meter langen Skelett eines Finnwal-Jungen. Der Beamte zeigte mit der Taschenlampe jedoch auf die langen Kiemen eines ausgewachsenen Tieres, die an der Wand zu sehen waren, und fügte hinzu, dass daraus früher Kämme gemacht worden seien. Ich könne mir anhand der Größe der Kiemen vorstellen, welche Ausmaße ein ausgewachsenes Exemplar habe.
Gleich darauf öffnete er eine Tür, und wir traten wieder hinaus auf den dämmrigen Gang. Treppe um Treppe stiegen wir hinauf zur »Anthropologischen Abteilung«, wie ich endlich in verschnörkelten Buchstaben über der hohen Tür las, und mein Begleiter sperrte, während nun ich die Taschenlampe hielt, das Schloss auf. Sodann lief er hastig – noch immer mit der Taschenlampe in der Hand – den sogenannten »Schädelgang« entlang, auf dem sich an der linken Seite bis zur Decke reichende Regale mit Glasscheiben befanden, in denen sich Hunderte oder sogar Tausende menschliche Totenschädel dicht aneinanderreihten. Plötzlich blieb mein Begleiter stehen, wartete, bis er wieder zu Luft gekommen war, und stieß dann hervor, dass die Sammlung von Skeletten im Naturhistorischen Museum »mit 40 000 Objekten« Wiens zweitgrößter Friedhof sei. »Was sagen Sie dazu?«, flüsterte er erwartungsvoll. Ich schwieg erstaunt. Der Strahl der Taschenlampe war jetzt auf den Boden gerichtet, ich konnte daher das Gesicht meines Begleiters nicht erkennen, lediglich seine dunkle kleine Gestalt, die vor mir stand. Das reflektierte Licht ließ mich die ungeheure Anzahl von Schädeln erahnen, und es war mir, als hätten wir ein anderes Erdzeitalter betreten, in dem die Menschen ausgestorben und ihre Reste nur noch als archäologische Fundstücke vorhanden waren.
»Mozarts Schädel«, sagte der Beamte, nachdem er sich gefasst hatte, »gelangte erst 77 Jahre nach seinem Tod 1791 an die Öffentlichkeit. Er stammte aus dem Besitz des Anatomen Josef Hyrtl, einer Koriphäe in seinem Fach«, wie mein Begleiter betonte. »Erstmals wurde der Schädel nach dem Tod des Anatomen 1901 im Hyrtl’schen Waisenhaus in Mödling ausgestellt.« Seither sei seine Echtheit abwechselnd bestätigt oder angezweifelt worden. 1902 sei er dann in Mozarts Geburtshaus nach Salzburg gekommen und habe schließlich 1940 im Mozarteum seinen endgültigen Platz erhalten. Die Herkunft, fuhr der Beamte fort, habe der Anatom, der den Schädel von seinem Bruder, einem Bildhauer, geerbt habe, auf einem Papierstreifen über der Stirn vermerkt. Demnach solle der Totengräber am St. Marxer Friedhof, Rothmayer, bei der Umgrabung des Schachtgrabes, das die sterblichen Überreste enthalten habe, »das Relikt« geborgen und trotz strengsten Verbotes an sich genommen haben. Unter rigoroser Geheimhaltung sei das wertvolle Exemplar dann von Rothmayer auf seinen Nachfolger Löffler, von diesem an einen gewissen Radschopf und zuletzt an dessen Enkel Franz Braun weitergegeben worden. Jeder Totengräber habe sich vor den drohenden gesetzlichen Folgen gefürchtet, und keiner habe seine Vorfahren verraten und damit den Namen der Familie in Unehren bringen wollen. Trotzdem seien gerade zur Zeit von Mozarts Tod und auch später immer wieder Schädel gestohlen worden. »Joseph Haydn zum Beispiel«, brauste der Beamte plötzlich auf, »ist zuerst 150 Jahre ohne seinen Kopf und später mit einem falschen Schädel in seinem Grab gelegen, bevor man ihm endlich wieder den eigenen aufgesetzt hat!« Bei der geplanten Überführung des Leichnams von Haydn nach Eisenstadt, elf Jahre nach seinem Tod, habe man erst festgestellt, dass der Kopf fehlte. »Was weiter gefolgt ist, war eine einzige Schädel-Odyssee!«, resignierte mein Begleiter. Mit Schädeln und Gebeinen sei damals überhaupt »Schindluder« getrieben worden, er sage nur: Schubert und Beethoven. Hierauf machte er eine Pause und wartete darauf, was ich dazu zu sagen hätte. Ich schwieg jedoch, worauf er sich plötzlich umdrehte, mir vorauseilte und mich in einen Saal führte, ohne dort aber das Licht einzuschalten. Der Saal war, konnte ich im Halbdunkel erkennen, an drei Wänden mit Schränken ausgestattet, in denen wie am Gang Totenschädel lagerten, einer neben dem anderen. Eine Zeit lang kramte der Beamte im Nebenzimmer herum und rief währenddessen: »Schuld war hauptsächlich der Gall, ein Genie und ein Narr!« Gall sei davon überzeugt gewesen, durch Abtasten und Vermessen von Köpfen Diagnosen über den Charakter der Menschen erstellen zu können. Er habe Ende des 18. Jahrhunderts vor allem Geisteskranke aus dem Narrenturm obduziert und Menschen- und Tierschädel vermessen und daraus zwei Dutzend Grundeigenschaften abgeleitet, die er an der Gehirnrinde lokalisiert sehen wollte – »natürlich alles Blödsinn«, bis auf die Entdeckung des Sprachzentrums. Diese sei ihm aber nur zufällig geglückt. Seine Lehre, die »Phrenologie«, habe in ganz Europa Aufsehen erregt, und man habe, wo immer es möglich gewesen sei, Gräber geöffnet und Totenschädel entfernt, um sie zu vermessen. Das sei eine Zeit lang wie eine Seuche gewesen, die die feine Gesellschaft und insbesondere die Ärzte befallen habe. Gall selbst habe eine große Sammlung von Schädeln, Büsten, Totenmasken und in Wachs nachgebildeten Gehirnen von Menschen und Tieren besessen, darunter einen Gipsabguss des österreichischen »Nationaldichters« Ferdinand Raimund, der 1836 Selbstmord verübte. Nachdem der damalige Kaiser Franz I. (II.) Galls Vorlesungen per kaiserlichem Dekret verboten hatte, habe sich Gall auf eine Vortragsreise begeben und schließlich in Paris niedergelassen. Ein Teil seiner Sammlung sei übrigens in Österreich, genauer gesagt in Baden geblieben, der andere in das Musée de l’Homme in Paris gelangt, wo sich auch Galls eigener Schädel, den einer seiner Schüler präpariert habe, befände. Übrigens sei in der »Wiener Allgemeinen Tageszeitung« schon im Jahr 1853 zu lesen gewesen, dass Gall, als er Mozarts Schädel erblickte, die Entwicklung des musikalischen Organs in Entzücken versetzt habe. Das passe aber zeitlich nicht mit den anderen Daten zusammen. Während der Beamte jetzt seinen Redeschwall abrupt beendete, schwieg auch ich zu seinen Bemerkungen über Gall, den ich für einen bedeutenden Mann halte, den Begründer einer auf die Erforschung der Triebe aufgebauten Psychologie und damit Vorläufer Sigmund Freuds und der gesamten Gehirnforschung überhaupt. Außerdem wusste ich, dass er einer Intrige von Franz’ I. (II.) reaktionärem Leibarzt Stifft zum Opfer gefallen war, der ihn nach Paris vertrieb.
Der Beamte eilte plötzlich aus dem Nebenzimmer zu mir heraus, den Schädel Mozarts – wie er gleich darauf betonte – in beiden Händen und legte ihn in der Dunkelheit auf einen Tisch, bevor er seine Taschenlampe aus der Jacke holte und den Lichtstrahl auf ihn richtete. Auf dem Tisch lag auch zumindest ein Dutzend anderer Schädel. Angesichts der Hunderten, ja Tausenden in den Regalen des Saales und des langen Ganges der Anthropologie war dieser Schädel vor mir nichts Besonderes mehr. Ich konnte zuerst auch nicht glauben, dass es wirklich der Kopf des Komponisten war. Trotzdem berührte ich ihn. Mir kam dabei der banale Gedanke, dass Mozart in meinen Gedanken lebte, während sein Knochenschädel jetzt vor mir lag. Doch ohne lange zu fragen, nahm der Beamte das Heiligtum wieder in seine Hände, stellte es in das Nebenzimmer zurück und führte mich nach einigen Minuten über die endlos sich um den Lift schlingende Hintertreppe ins Freie. Erst Monate später erfuhr ich von dem Journalisten, der mir die Führung vermittelt hatte, dass der Beamte mich getäuscht und mir einen falschen Schädel gezeigt hatte, weil der echte in einem Safe eingesperrt lag, zu dem er keinen Schlüssel besaß.
Nach dem ersten Besuch im Naturhistorischen Museum vor dreißig Jahren blieb in meinem Kopf nur eine Spirale in Form der marmornen Prunktreppe zurück und Hans Canons Deckengemälde aus nackten Menschenleibern »Der Kreislauf des Lebens«, das sich, wie ich mir einbildete, über der Stiege selbst im Kreis drehte und einen Sog auf mich ausübte, der mich scheinbar in die Luft hinaufziehen wollte. Die weißen Marmorstatuen von Naturforschern am Ausgang zur großen Kuppelhalle – darunter Aristoteles, Johannes Kepler, Alexander von Humboldt, Isaac Newton und Carl von Linné – waren wie Figuren eines Ringelspiels in diese Drehbewegung eingeschlossen und riefen in mir zusätzlich Schwindelgefühle hervor.
Dachte ich an die Säle, so waren es die mehr als hundert Ölbilder aus der Gründerzeit an den Wänden, das braune Mobiliar, das seit der Eröffnung des Hauses im Jahr 1889 durch Kaiser Franz Joseph unverändert geblieben ist, und die stillen, weiten und hohen Räume selbst, die ich vor mir sah – insgesamt 39 in zwei Etagen, dem erwähnten Hochparterre und dem ersten Stock. In meiner Vorstellung bildeten sie einen Korridor, in dem ich vergeblich nach einem Ausgang suchte, weil sich hinter jeder Ecke ein neuer Korridor mit einer weiteren Ecke öffnete, so dass ich allmählich nicht mehr wusste, wo ich mich befand. Die Kuppel im ersten Stock mit den acht ovalen Fenstern und dem reichen Dekor erschien mir damals wie ein überdimensioniertes Kaleidoskop, das aus buntem, gefrorenem Wasser zusammengesetzt war und sich stetig veränderte.