Tanya Stewner
Liliane Susewind – Rückt dem Wolf nicht auf den Pelz!
Mit Bildern von Eva Schöffmann-Davidov
FISCHER E-Books
Tanya Stewner wurde 1974 im Bergischen Land geboren und begann bereits mit zehn Jahren, Geschichten zu schreiben. Sie studierte Literaturübersetzen, Englisch und Literaturwissenschaften in Düsseldorf, Wuppertal und London und widmet sich inzwischen ganz der Schriftstellerei. Die Autorin lebt und arbeitet in Wuppertal. Mit ihren Kinderbüchern über die Tier-Dolmetscherin Liliane Susewind und über die Zwillinge Florentine und Pauline erzielte Tanya Stewner auf Anhieb riesige Erfolge. Folgende ›Liliane Susewind‹-Bände sind bisher im Programm der Fischer Schatzinsel erschienen: ›Mit Elefanten spricht man nicht!‹ (Bd. 80709), ›Tiger küssen keine Löwen‹ (Bd. 80773), ›Delphine in Seenot‹ (Bd. 80849), ›Schimpansen macht man nicht zum Affen‹ (Bd. 80884), ›So springt man nicht mit Pferden um‹ und ›Ein Panda ist kein Känguru‹ (gebundene Ausgaben aller Bände). Die Reihe um Florentine und Pauline umfasst bisher die Bände ›Wie weckt man eine Elfe?‹ und ›Eine Fee ist keine Elfe‹ (gebundene Ausgaben). Weitere Bände sind in Vorbereitung.
Eva Schöffmann-Davidov, geboren 1973, hat schon als Kind alles gezeichnet, was ihr vor den Pinsel kam. Nach dem Abitur besuchte sie die Freie Kunstwerkstatt in München und studierte anschließend Graphik-Design in Augsburg. Bis heute hat sie mit großem Erfolg über 300 Bücher, vorwiegend für Kinder- und Jugendbuchverlage, illustriert. Sie lebt, liebt und arbeitet in München.
Mehr Informationen, viele Spiele und Rätsel rund um »Liliane Susewind« gibt es hier: www.liliane-susewind.de
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage, auch zu E-Book-Ausgaben, gibt es bei www.fischerschatzinsel.de
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
Covergestaltung: bilekjaeger
Coverillustration von Eva Schöffmann-Davidov
Nach den Regeln der neuen Rechtschreibung
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-401018-2
»Angriff! Aufruhr! Alarm!«, bellte der kleine weiße Hund aus Leibeskräften und zerrte an der Leine. »Macht euch vom Acker, ihr Blödiane! Ihr geht mir voll auf den Senkel!«
Lilli, die neben ihrem Hund den Fußgängerweg entlangging, presste leise zwischen den Zähnen hervor: »Schon gut, Bonsai, du musst nicht bellen.« Doch innerlich gab sie dem winzigen Mischling vollkommen recht – diese Presseleute konnten einem extrem auf die Nerven gehen!
Lilli seufzte angestrengt. Seit ihre Mutter vor wenigen Wochen öffentlich erklärt hatte, dass ihre Tochter mit Tieren sprechen konnte und durch ihr Lachen Pflanzen zum Blühen brachte, war in Lillis Leben die Hölle los. Das Haus der Susewinds wurde seitdem ständig von Reportern und Fotografen belagert. Alle wollten einen Blick auf das Mädchen erhaschen, das momentan die absolute Sensation in den Schlagzeilen der Zeitungen war. Die ganze Welt schien wissen zu wollen, wie es möglich war, dass das unscheinbare Mädchen mit dem lustigen Namen Liliane Susewind etwas so Unglaubliches konnte, wie die Sprache der Tiere zu verstehen!
Kaum jemand zweifelte noch daran, dass Lillis Gaben echt waren, denn in den vergangenen Wochen hatten sich immer mehr Zeugen gemeldet und Lillis Fähigkeiten bestätigt: Der ehemalige Pferdetrainer Egobert war in einer Talkshow aufgetreten und hatte erzählt, wie Lilli mit dem Springpferd Storm geredet und ihm so zum Sieg in einem Turnier verholfen hatte. Außerdem waren in Interviews einige Journalisten aus Norddeutschland zu Wort gekommen. Diese konnten berichten, dass sie Liliane Susewind im vergangenen Sommer an der Nordsee gesehen hatten, als eine Gruppe verirrter Delphine auf geheimnisvolle Weise gerettet wurde. Zusätzlich hatten sich verschiedene Zoobesucher aus Lillis Heimatstadt und der Nachbarstadt Zupplingen gemeldet, die davon erzählten, dass sie das Mädchen mit dem roten Lockenkopf dabei beobachtet hatten, wie es mit Tieren sprach.
Lilli konnte das Haus mittlerweile kaum noch verlassen, da ihr die Paparazzi – so nannte man die Fotojäger – auf Schritt und Tritt folgten und Kameras zu klicken und zu blitzen begannen, sobald sie durch das Gartentor der Susewinds auf die Straße trat. Wenn Lilli zur Schule ging, zog sie sich die Kapuze ihres Anoraks so tief wie möglich ins Gesicht und klammerte sich an die Hand ihrer Oma, die sie auf dem Schulweg nun immer begleitete und die Reporter davon abhielt, ihrer Enkelin zu nahe zu kommen.
Oma Susewind hatte Lilli auch an diesem Tag zur Schule gebracht und sie soeben von dort wieder abgeholt. Nun ging sie mit festem Schritt auf dem Gehsteig voraus, während Lilli ihr mit geducktem Kopf folgte.
»Aus dem Weg, ihr gierigen Schmierlappen!«, rief Lillis Oma den Paparazzi zu und stürmte der Meute resolut entgegen. Einer der Reporter sprang jedoch direkt vor ihre Füße und hielt ihr ein Mikrophon unter die Nase.
»Ist die Begabung Ihrer Enkeltochter vererbt?«, fragte er mit lauter, fordernder Stimme. »Sind Sie auch eine Tier-Flüsterin? Oder haben die Eltern des Mädchens besondere Fähigkeiten?«
Anstatt zu antworten, schnaubte Lillis Oma zornig und zückte ihren Regenschirm. Mit entschlossener Miene zielte sie auf den Reporter und ließ den Schirm knallend aufschnappen. »Weg mit dir, Armleuchter!«, wetterte sie und fuchtelte mit dem Schirm herum, als sei er ein Schwert.
Bonsai feuerte sie vom Boden aus lautstark an. »Ja! Zeigen wir es den Klick-Heinis!«, kläffte er und riss heftig an der Leine, die Lilli in der Hand hielt. »Verzieht euch, ihr Vollpfosten!«
Lilli machte sich in ihrem Anorak ganz klein.
»Komm hinter den Schirm!«, rief Oma und hielt schützend den Arm über ihre Enkeltochter.
Lilli drängte sich ganz dicht hinter den aufgespannten Regenschirm. Oma nahm ihre Hand und nickte ihr zu. Lilli nickte tapfer zurück, und sie begannen zu laufen. Gemeinsam preschten sie im Eiltempo die Straße entlang. Die Reporter umringten sie dabei wie eine Horde hungriger Raubtiere, aber sie wagten es nicht, ihnen noch einmal den Weg zu verstellen. Bald hatten Lilli, Oma und Bonsai es bis nach Hause geschafft, und sobald sie sich durch das Gartentor der Susewinds gezwängt und es hinter sich zugeschlagen hatten, ließen die Paparazzi von ihnen ab. Auf das Grundstück der Familie durften sie ihnen nicht folgen.
»Die werden immer dreister!«, schimpfte Oma und schob kopfschüttelnd den Schirm zusammen.
»Ich find die total doof!«, beschwerte Bonsai sich gleichzeitig. »Wir sind schon seit Ewigkeiten nicht mehr richtig spazieren gegangen, Lilli! Nur wegen denen!« Er stemmte protestierend die Vorderpfoten auf den Rasen. »Du sagst immer, dass ich in den Garten machen soll, weil wir nicht mehr in den Park gehen können. Aber in den Garten zu machen ist voll öde! Das riecht ja dann gar keiner von den Jungs aus dem Park!«
Lilli, die noch ganz außer Atem war, hörte den Kummer in Bonsais Kläffen. Hunde setzten nun einmal gern Duftmarken für andere Hunde ab. Das war, als würden sie kleine Nachrichten hinterlassen. Aber im Garten der Susewinds kamen natürlich keine anderen Hunde vorbei. Bonsai hatte seit Wochen auf das Gassigehen im Park verzichten müssen. Wenn Lilli daran dachte, wurde sie richtig traurig. »Es tut mir leid, Bonsai«, sagte sie leise. »Ich wünschte, wir könnten einfach so im Park spazieren gehen.« Sie schluckte. »Ich wünschte, ich wäre normal, dann …« Der Rest des Satzes verwandelte sich in ein unterdrücktes Schluchzen.
Bonsai stellte betroffen die Ohren auf. »Lilli, du bist nicht fröhlich!«, wuffte er. »Es kommt Wasser aus deinen Augen! Das ist ein ganz schlechtes Zeichen!«
Lilli wischte sich eine Träne von der Wange. »Ist schon gut, Bonsai«, schniefte sie.
Da sagte Oma: »Nein, es ist nicht gut.« Sorgenvoll schaute sie Lilli an. »Wir sollten uns unterhalten.« Sie ging ein paar Schritte in den Garten hinein, setzte sich auf eine Bank und klopfte neben sich. »Komm her, mein Schatz.«
Lilli schniefte noch einmal und nahm auf der herbstkalten Gartenbank neben ihrer Oma Platz. Bonsai lief ihr trippelnd nach, hüpfte ebenfalls hinauf, stellte sich auf die Hinterbeine und schlabberte Lilli fürsorglich übers ganze Gesicht. »Die Klick-Heinis hauen bestimmt bald wieder ab«, hechelte er dabei eifrig. »Früher waren sie ja auch nicht da. Sie können also auch einfach weg sein!«
Lilli lächelte ein kleines Lächeln und ließ Bonsai schlabbern.
Oma neigte nun den Kopf. »Lilli …« Ihr Ton klang ernst. »Es ist Zeit, dass wir einmal über dich und … deine Besonderheit reden.«
Lilli sah sie überrascht an. Oma wollte mit ihr über ihre Besonderheit sprechen?
»Durch deine Gaben bist du anders als andere«, sprach Oma weiter. »Ich weiß, dass du dir in den vergangenen Jahren viele Male gewünscht hast, wie die anderen Kinder zu sein.«
Lilli schaute sie abwartend an.
»Du möchtest normal sein, weil dir deine Fähigkeiten manchmal wie eine schwere Last erscheinen.«
Lilli begann, schweigend Bonsai zu kraulen, der es sich gerade auf ihrem Schoß gemütlich machte.
»Aber manchmal bist du auch sehr froh, dass du so bist, wie du bist, oder?«
Lilli starrte auf Bonsais weißes Zottelfell. Erst nach einer Weile antwortete sie. »Ich finde es eigentlich gut, dass ich mit Tieren sprechen kann. Und ich liebe Pflanzen.«
Oma nickte langsam. »Lilli, ich werde dir jetzt eine wichtige Frage stellen.«
Lilli spürte, wie ihr ein Kribbeln den Rücken hinaufkroch.
»Wenn du die Wahl hättest …« Oma beugte sich vor. »Wenn du entscheiden könntest, normal zu sein oder du zu sein …« Forschend blickte sie Lilli an. »Was würdest du wählen?«
Lilli biss sich auf die Unterlippe. Das war eine sehr schwierige Frage. Sie überlegte. Wie alle anderen zu sein, wäre sehr schön. Sie müsste sich keine Sorgen mehr darum machen, entweder als seltsam oder als sensationelle Attraktion angesehen zu werden. Sie könnte einfach ganz normal leben. Diese Vorstellung gefiel ihr. Aber dann blieb Lillis Blick wieder an Bonsai hängen, der auf ihrem Schoß friedlich vor sich hin hechelte. Es versetzte Lilli einen Stich, wenn sie sich vorstellte, dass sie nicht mehr mit Bonsai sprechen könnte. Das wäre eine Katastrophe!
»Ich möchte lieber ich sein!«, platzte es da aus ihr heraus. »Ich will meine Gaben behalten!«
»Niemand wird sie dir wegnehmen, Schatz«, beruhigte Oma sie lächelnd. »Aber es ist schön zu hören, dass du dir gar nicht wirklich wünschst, anders zu sein als du bist.«
Lilli senkte den Blick. Hatte sie das gesagt? Das hatte sie wohl. Und es stimmte ja auch. Sie wollte mit Tieren sprechen können. Sie wollte Pflanzen wachsen lassen können. Aber sie wäre trotzdem gern wie die anderen gewesen …
Beides ging wohl nicht.
»Deine Fähigkeiten sind Geschenke«, fuhr Oma nun fort. »Du solltest dich freuen, dass du sie hast.«
Lilli kraulte Bonsai und schwieg.
»Du kannst mit deinen Gaben viel Gutes tun«, fügte Oma mit sanfter Stimme hinzu. »Du hast schon so vielen Tieren und Pflanzen geholfen. Stell dir vor, was du noch alles tun kannst!« Sie strich ihrer Enkelin eine rote Locke hinters Ohr. »Du hast ein gutes Herz, Lilli, und deshalb sind diese enormen Fähigkeiten bei dir genau am richtigen Platz. Aber du trägst auch eine große Verantwortung.«
Lilli blickte starr ins Leere.
»Ich will dich nicht überfordern.« Oma streichelte Lillis Arm. »Aber eines möchte ich dir noch sagen: Wenn du deine Gaben von ganzem Herzen annimmst, mit allen Vor- und Nachteilen, dann fühlst du dich bestimmt viel wohler in deiner Haut.« Damit stand sie auf, lächelte Lilli noch einmal liebevoll zu und ging langsam ins Haus.
Lilli blieb auf der Bank zurück, den Kopf voller Gedanken. War ihre Besonderheit ein Geschenk oder war sie eine Last? Lilli wusste nur eines: Es war ganz und gar nicht leicht, Liliane Susewind zu sein.
Lilli hatte eine kleine Ewigkeit auf der Bank gesessen und gegrübelt, da ertönte plötzlich eine durchdringende Stimme hinter ihr. »Madame von Susewind, welch gramvolle Bekümmerung muss Sie ergriffen haben, dass Sie derart abgeschlafft hier herumsitzen?!«
Lilli drehte sich um. Auf der Lehne der Bank thronte eine orange getigerte, äußerst elegante Katzendame: Frau von Schmidt. »Guten Tag, Madame! Wie schön, Sie zu sehen!«, grüßte Lilli höflich, denn diese Katze besaß Stil, und man musste so hochgestochen wie möglich mit ihr sprechen.
»Hey, Schmidti!«, bellte Bonsai ebenfalls erfreut, sprang auf und leckte der Katze überschwänglich über die feine kleine Nase.
Frau von Schmidt verstand den wenig geschmackvollen Spitznamen jedoch nicht, den der Hund gerade für sie benutzt hatte, denn sie sprach ausschließlich Katzisch und kein Wort Hundisch. Bonsais Begrüßungsgeste hielt sie dagegen für absolut angemessen. »Wie freundlich von Ihnen, Herr von Bonsai!«, schnurrte sie, während der Winzling ihr nun die Ohren ausschleckte. »Wirklich sehr zuvorkommend.« Als der Hund schließlich von ihr abließ, fuhr sie sich zweimal sorgfältig mit der Pfote durchs Gesicht, als wolle sie ihre Frisur wieder richten, und wandte sich anschließend erneut Lilli zu. »Madame, da Sie offenbar von tiefschürfendem Gram überrollt wurden, möchte ich Ihnen zur Linderung Ihres Jammers noch einmal die höchste Auszeichnung anbieten, die eine Katze überhaupt aussprechen kann.«
Lilli runzelte die Stirn. »Oh, Sie meinen, dass ich Sie beim Vornamen nennen darf?«
»In der Tat.« Frau von Schmidts Schwanz schlug angespannt auf die Lehne der Bank. Dies war offensichtlich ein heikles Thema für sie. Vor einigen Wochen hatte die Katze Lilli zum ersten Mal das Du angeboten und ihr gleich darauf ihren Vornamen verraten. Als Lilli diesen gehört hatte, war sie sich sofort sicher gewesen, dass sie Frau von Schmidt niemals so nennen würde.
»Warum widerstrebt es Ihnen derartig, mich mit meinem Vornamen anzusprechen?«, fragte die Katze nun säuerlich. »So etwas biete ich nicht alle Tage an!«
»Ich …« Lilli suchte nach erklärenden Worten. »Ich kann Sie einfach nicht … Mausi nennen!«
Bonsais Ohr zuckte. »Warum solltest du auch? Sie heißt ja Schmidti …«
Lilli ging nicht darauf ein. »Madame, es … erscheint mir … unangebracht«, stammelte sie. »Wie sind Sie überhaupt zu diesem Namen gekommen?« Lilli konnte noch immer kaum fassen, dass Frau von Schmidt tatsächlich so heißen sollte.
Die Katze seufzte ein Katzenseufzen. »Nun, meine derzeitigen Hausangestellten sind nicht meine ersten zweibeinigen Aushilfen.«
Lilli benötigte einen Augenblick, um der Katze zu folgen. »Wollen Sie damit sagen, dass die Sturmwagners nicht Ihre ersten –« beinahe hätte Lilli Besitzer gesagt, aber sie konnte sich gerade noch zusammenreißen. »… nicht Ihre ersten Menschen sind?« Die Familie von Lillis bestem Freund Jesahja hatte die Katze also von jemand anderem übernommen?
»Nun …«, maunzte die Katzenlady, »bevor ich hier einzog, wohnte ich woanders und hatte andere Hausangestellte. Das waren tragischerweise Zweibeiner ohne jeglichen Stil und ohne den kleinsten Funken Geschmack! Kein einziges Mal haben sie mein Fell gebürstet, geschweige denn mir Futter gegeben, das meine Frisur zum Leuchten gebracht hätte!« Die Katze schnupfte entrüstet. »Und sie nannten mich … Mausi.« Sie schüttelte sich. »Als ich hierher zog, gaben mir die neuen Zweibeiner zum Glück einen passenderen Namen, und das Futter hier unterstützt die natürliche Leuchtkraft meines hinreißenden Fells ebenfalls ganz vortrefflich!« Entzückt leckte sie sich über ihr Brustfell.
Lilli überging den letzten Kommentar. »Aber wenn Sie Ihren Vornamen gar nicht mögen, wieso soll ich Sie dann so nennen?«, wunderte sie sich.
Frau von Schmidt zögerte und wiegte den Kopf. »Madame … ich will Ihnen damit zeigen, dass Sie eine ganz besondere Zweibeinerin für mich sind«, miaute sie und wirkte dabei beinahe etwas unbeholfen. »Ich kann Sie … erstaunlich gut leiden.«
Lillis Wangen röteten sich vor Freude. »Das ist sehr freundlich von Ihnen«, brachte sie leise hervor. »Ich kann Sie auch sehr gut leiden.«
Frau von Schmidt kratzte sich fast verschämt am Ohr.
Lilli überlegte. »Und weil ich Sie so mag, rede ich Sie lieber weiterhin mit Ihrem überaus vornehmen Nachnamen an«, fügte sie entschlossen hinzu.
Da meldete Bonsai sich wieder zu Wort. »Ich mag Schmidti auch total! Sie ist voll der gute Kumpel!«
Bevor Lilli das übersetzen konnte, hörte sie leises Geraschel in den Rhododendronbüschen am Rande des Gartens. »Lilli?«, rief im nächsten Moment eine vertraute Stimme.
»Warte, Jesahja, ich komme!«, antwortete Lilli und lief rasch zu den Büschen hinüber. Dort, versteckt zwischen den Blättern, befand sich der geheime Besprechungsort von ihr und ihrem besten Freund. Kaum hatte Lilli sich unter ein paar Zweigen hindurchgebückt, entdeckte sie Jesahja auch schon: Er saß im Schneidersitz auf einem Stapel Zeitungen. Seine lockigen dunklen Haare waren sorgsam verstrubbelt, was daran lag, dass er seit neuestem Haargel benutzte, um sich zu stylen. Lilli lächelte schief. Jesahja war der bestaussehende Junge der ganzen Schule – eigentlich brauchte er gar kein Gel. Seine wachen braunen Augen blitzten sie wie immer zur Begrüßung an. »Hey! Willst du mal sehen, was heute alles über dich in den Zeitungen steht?«, fragte er leichthin.
Lilli stöhnte. Sie hatte schon gehofft, Jesahja hätte die Zeitungen nur deshalb mitgebracht, weil der Boden inzwischen recht kalt war. Es war eben kein Sommer mehr. »Bloß nicht!«, entgegnete sie energisch und setzte sich neben Jesahja auf die Zeitungsbogen.