Louise Jacobs
Fräulein Jacobs funktioniert nicht
Wie ich beinahe verschwand
Knaur e-books
Louise Jacobs, geboren 1982, wuchs in der Schweiz und den USA auf. Heute lebt sie bei Berlin. Ihr erstes Buch »Café Heimat«, erschienen 2006, entwickelte sich zu einem Bestseller.
Louise Jacobs hat alles, wovon man nur träumen kann: Eine glückliche Kindheit, eine wohlhabende Familie, Eltern, die nur ihr Bestes wollen. Doch sie scheitert an den in sie gesetzten Erwartungen - und ihr Leben trudelt einer Spirale gleich dem Abgrund entgegen. Doch dann besinnt sie sich auf ihren alten Kindheitstraum: Cowboy zu sein - und findet so die innere Heimat, die sie nie wirklich hatte.
eBook-Ausgabe 2013
Knaur eBook
© 2013 Knaur Verlag
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: www.buero-jorge-schmidt.de
Coverabbildung: André Rival
ISBN 978-3-426-41668-6
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Für John the Conqueroo
Take me to the station
And put me on a train
I’ve got no expectations
To pass through here again.
THE ROLLING STONES
Ich wollte immer Cowboy werden. Ich träume davon, an nichts und niemanden gebunden zu sein. Ich sehne mich nach Schotterwegen, die nie auf eine Kreuzung stoßen, nach so viel Land und Raum, dass ich mich darin verlieren kann. Nichts berauscht mich mehr als die Weite. Da ich in der Schweiz aufgewachsen bin, machte sich die Sucht nach mehr Platz schon früh bemerkbar. Mit vierzehn begann ich davon zu träumen, ein Cowboy zu sein. Damals fühlte ich mich gefangen in Schulpflichten, eingepfercht von einem Zaun aus einem 4000 Meter hohen Bergmassiv, umschlossen von goldenen Gitterstäben. Ich hatte Sehnsucht und träumte von der endlosen Weite jenseits der Schweiz, jenseits des Ozeans.
Als Cowboy würde ich in einer Blockhütte mitten in der endlosen Weite eines Graslandes leben und zwei, drei Pferde und ein paar Hunde und Schafe besitzen. In meiner Vorstellung wäre ich alleine. Der Wind würde in den Überlandleitungen singen, die hohen Gräser wiegen. Ich würde jeden Tag ausreiten, um meine Rinder auf den Weiden zu besuchen.
Einmal die Woche würde ich mit einem blauen Chevrolet Truck, der einige rostige Stellen an den Kotflügeln hätte und innen nach Motoröl und Eisenketten röche, die paar Meilen zum Beispiel nach Bozeman, Montana, fahren. AM Radio würde Hank Williams’ Move over good dog cause a mad dog’s movin’ in spielen. Ich käme linker Hand an den alten Traktoren vorbei, würde die Scheune mit dem Feldsteinfundament und dem Tonnendach passieren, da lägen Heubüschel auf der Straßenseite, die der Wind von der Ladefläche eines Trucks gezerrt hatte, und die knallblauen, kleinen Bluebirds würden vom Drahtzaun hüpfen und davonzwitschern. Zu beiden Seiten des Highways würde sich die goldene Talsohle, bedeckt von Licht und Schattenflecken ausbreiten, über mir die Wolkenteppiche im Himmel schweben. Da lägen die Baumschnitte und Eisenreste von altem Farmequipment herum, da würde eine Plastikabdeckung im Wind wabern, und die davon aufgeschreckten Pferde stünden mit geblähten Nüstern am Zaun ihrer Koppel. Dann in Bozeman würde ich beim Leaf And Bean an der Main Street einkehren und in der Lokalzeitung die Anzeigen durchgehen. Da gäbe es den zweiten Heuschnitt – die Tonne zu 100 Dollar – in kleinen Ballen zu kaufen, jemand würde ein ganzes Schwein anbieten – cut and wrapped 320 $ call 388-1989 –, oder ich fände einen gebrauchten »John Deere 4720«-Traktor mit Vorderradantrieb in gutem Zustand. Ich würde mich bei den Arbeitern der umliegenden Farmen über günstigen Stacheldraht und elektrischen Drahtzaun informieren, mich mit Greg vom Zeitungsladen und Meredith vom Postamt unterhalten, würde erfahren, wer geboren und gestorben und wie bei jedem die Ernte ausgefallen war. Dann würde ich an den grasenden Rinderpulks mit Son House oder Lightnin’ Hopkins im Radio wieder zurückfahren und mir ein Roastbeef-Sandwich zum Mittagessen machen. Nachmittags könnte ich die Pferde wieder auf die Koppeln bringen, nach den Hühnern sehen, in meinem Gemüsegarten Unkraut jäten oder zur Auktion fahren, um einen neuen Bullen oder ein Schaf zu ersteigern. Abends säße ich auf der Veranda und würde dem Atem des Windes lauschen. Ich bräuchte nur zwei Paar Jeans, hätte mehrere Hüte und eine Auswahl von karierten Hemden. Meine Hände würden nach dem Leder feuchter Handschuhe riechen, meine Stiefel nach Glyzerinseife.
Ich müsste nie Hunger leiden, hätte immer ein paar Geldscheine unter der Matratze, würde mich nie einsam fühlen, sondern wäre geborgen in der unendlichen Großzügigkeit der mich umgebenden Natur.
Meine Reise in diesen Mythos, dorthin, wo eine eigene Gesetzgebung und ungezähmte Elemente herrschen, beginnt mitten in Europa. Genauer: in der Schweiz, am Ufer eines Sees mit Blick auf einen Sendeturm.
Ich bin ein Kind aus dem Schlaraffenland, aus einem kleinen geographischen Wunder, das einst nur ein Fleck Land mitten im Heiligen Römischen Reich war. Doch dieses Land wurde von mutigen Vätern befreit und zur Schweizerischen Eidgenossenschaft ausgerufen. Heute gibt es in der Schweiz die beste Schokolade, der Lack der Autos glänzt hier am schönsten, die Straßen sind immer gesaugt und gefegt, wir haben die idyllischsten Blicke über See und Alp, und unsere Uhren gehen am genausten. Tag für Tag, Jahr für Jahr ist das so, seit dem Apfelschuss von Wilhelm Tell.
Ich bin in meinem Leben fast nie zu etwas gezwungen gewesen. Meine Familie wurde nicht politisch verfolgt, wir mussten nicht vor Krieg flüchten, ich musste nie Hunger leiden. Ich wuchs in einer Familie auf, in der großer Wert auf Harmonie und Ordnung gelegt wurde. Und doch wollte ich irgendwann nur noch eines: weg.
Die ersten sieben Jahre meines Lebens sind geprägt von der dörflichen Struktur des Ortes, in dem ich aufwuchs. Es standen noch Bauernhäuser mit Fachwerk im Dorf, auf den Fensterbrettern rote Geranien. Es gab einen Dorfplatz mit einem Süßwarenladen und eine Zoohandlung mit Hasen im Schaufenster. Ich lief zu Fuß zum Kindergarten und nutzte Schleichwege durch fremde Gärten als Abkürzung oder Erweiterung der Strecke. In unserem Dorf gab es keine Gefahren, keine Nöte. Was auch immer eine Kindheit zur glücklichen Kindheit macht, es fiel mir zu.
Und doch: Dort, wo ich geboren wurde, habe ich mich nie heimisch gefühlt. Wir wuchsen nicht in die Tradition eines Zunfthauses rein, haben beim Sechseläuten nie auf dem Balkon bei Sprüngli gestanden, und mein Vater ritt auch nie um den gigantischen Scheiterhaufen herum, während ein Schneemann aus Papier zum Ende des Winters auf dem Sechseläutenplatz in Zürich von Flammen zerfressen wurde. Wir waren Fremde in dem Land, in dem wir lebten. Mein Vater stammt aus einer Bremer Bauernfamilie, die sich im Lauf der Zeit als Unternehmerdynastie einen Namen gemacht hat. Die Familie meiner Mutter hat sephardisch-jüdische Ursprünge; ihre Spuren führen zurück bis ins 15. Jahrhundert, nach Portugal.
In Zürich kam ich mir, ohne von diesen Ursprüngen zu wissen, immer so vor, als sei ich angeschwemmt worden, wie Treibgut. Und nachdem ich der Schweiz einmal den Rücken gekehrt hatte, wollte ich mich nicht mehr umsehen, und ich habe nie die Sehnsucht verspürt zurückzukehren.
Es ist Ende September, ich überquere den Ozean, um mal wieder alles hinter mir zu lassen. Ich will mich von der Gegenwart trennen, mich in den zeitlosen Raum der Reise heben lassen und in der Fremde abgesetzt werden. Vielleicht ist es auch einfach eine Flucht. Obwohl mich weniger das Verlangen danach treibt, alle Seile zu kappen, als vielmehr ein großer Trotz und eine tiefe Verzweiflung darüber, immer mithalten zu müssen. Ich stamme aus einer Welt, in der ich nie gut genug war, und fliehe in eine Welt, in der es keine Maßstäbe gibt.
Ich sehne mich nach endloser Stille.
Wenn diese Sehnsucht unerträglich wird, verfalle ich in ein wiederkehrendes Handlungsmuster: Koffer packen und ab nach Vermont. Als könnte ich damit aus dem einen Film austreten und in einem anderen weiterspielen. In Vermont habe ich nichts mit meinem Leben zu tun. An diesem Ort wird mir alles verziehen, ich brauche mit niemandem umzugehen, ich brauche keine unerwiderten Gefühle niedezukämpfen. Ich wanke mit letzten Kräften in den Wald und lasse mich fallen. Vermont ist eine Droge, die mich über die Jahre abhängig gemacht hat, die mich immer wieder für dieses Muster belohnt: nicht argumentieren, einfach weggehen. Meistens bin ich traurig, verlassen, verzweifelt oder am Ende, wenn ich in Boston aus dem Flughafen trete. Meistens schleppe ich eine Haut mit nach Vermont, die ich dort ablege und begrabe. Egal, ob es die Liebe oder das Leben ist, ich bin voller nicht getroffener Entscheidungen, voller falscher Hoffnungen, voller ungelöster Konflikte, und meist suche ich in Vermont die Einsicht.
Andere gehen dafür zur Beichte, ins Bordell oder setzen sich an den Stammtisch. Mich holt immer wieder das gleiche brennende Verlangen ein: Vermont.
Seit Generationen besaßen die bäuerlichen Vorfahren meines Vaters Land und Hof. Wie es die Tradition vorsah, wurde beides immer dem erstgeborenen Sohn vererbt. Da weder mein Großvater noch mein Vater erstgeborene Söhne waren, bekamen sie nichts davon ab.
In meinem Großvater hat sich die Liebe zum Land schließlich mit sechsundfünfzig Jahren wieder durchgesetzt, er baute ein Vollblüter-Gestüt in Sottrum auf, züchtete Rennpferde und kaufte Bullen und Kühe bei Versteigerungen im Umland ein. Er liebte das Landleben und fuhr noch mindestens dreißig Jahre lang täglich um 16 Uhr und an den Wochenenden auf das Gestüt.
Mein Vater entdeckte während seiner beruflichen Tätigkeit in New York den Staat Vermont. Nur vier Autostunden von der Metropole entfernt fand er hier die stehengebliebene Zeit. Er lernte das Neuengland mit seinen ochsenblutrot gestrichenen Scheunen und den Country Stores kennen, die zugleich Fischlizenzen, Waffen, Unterwäsche, Bier und Panzertape im Angebot führen. Jedes Wochenende fuhr er nach Norden zu den Blueberryfeldern, Birkenhainen, den stillen Kirchen und den Familien, die seit Generationen die einzige Autowerkstatt im Ort betreiben. Auf Birch Hill Farm in Vermont ist auch mein Vater wieder zu seinen Wurzeln zurückgekehrt und Farmer geworden.
Vor dreiundzwanzig Jahren, als Birch Hill in unsere Familie kam, war es nichts als ein von meterhohen und meterdicken Bäumen umzingeltes Haus. Zu diesem Backsteinhaus mit schwarz geschindeltem Dach und vier gemauerten Schornsteinen gehörte ein Waldstück von vielleicht hundertfünfzig Acres. Außerdem standen auf dem Grundstück ein Garagenhäuschen, ein blau gestrichenes Holzhaus und ein alter Stall mit vier Stellplätzen für Pferde und einem ausgebauten Dachboden für Stroh und Heu. Diese drei Nebengebäude lagen dicht beieinander unterhalb des Backsteinhauses und wurden überragt von dem größten frei stehenden Ahornbaum, den ich jemals gesehen habe.
Vor dreiundzwanzig Jahren stand in einer Entfernung von fünf Minuten Fußmarsch auch noch ein Trailer auf einer Anhöhe mit Weitblick auf den Horizont. Dort lebte Mrs. Wilmot, die Dame, von der mein Vater das Grundstück und die Häuser gekauft hatte. Sie hatte das ganze Land gemeinsam mit ihrem Mann besessen. Doch ihr Mann war die Treppe des Hauses runtergestürzt und tödlich verunglückt. Sie räumte das Haupthaus, kaufte sich ein blaues Wohnmobil, das sie an diesem einzigen freigeschlagenen, schönsten Platz auf der Anhöhe aufstellte und beschloss, den Wald drumherum zu verkaufen. Es heißt, sie habe meinen Vater in ihrer Kutsche durchs Dorf gefahren und ihn gefragt, wo er das Geld verdient hätte, um sich ihr Land zu leisten. Mein Vater antwortete nur, er möge Pferde.
»Sie mögen Pferde?«, fragte Mrs. Wilmot weiter.
»Ich liebe Pferde!«, korrigierte sich mein Vater. »Wie heißen denn die beiden Prachttiere in Ihrem Gespann?«
»Oh, der Rechte ist ein Hurensohn ,und den Linken nenne ich immer ›The Shit‹.«
Mein Vater kaufte das Land. Stellte er sich die Frage, ob Landarbeit auf diesem steinigen Boden Spaß machen würde? Wahrscheinlich nicht. Er konnte dem inneren Drang nach der freigebigen Natur einfach nicht mehr widerstehen. Und unsere Mutter und wir sechs Kinder mussten ihm, ob wir wollten oder nicht, folgen.
Niemand in Zürich wusste, wo Vermont liegt. Sprach man von Vermont, antworteten sie: »Eine wunderbare Gegend! Ich mag das französische Voralpenland auch, weil es so gar nicht typisch französisch ist. Ich war schon etliche Male dort unten.«
Ich fand es magisch, nach Vermont zu fahren und zu wissen, dass mir im Zweifel keiner folgen konnte, da er dieses Gebiet irgendwo in Frankreich vermuten würde.
Mein Vater hat sich das Land nicht einfach gekauft, er hat es sich auch erarbeitet, Stück für Stück der Natur abgerungen. Jim, der Forstarbeiter und zugleich das Herz von Birch Hill Farm, half meinem Vater beim Bäumefällen. Er konnte die eingewachsenen Ahornbäume – die zur Gewinnung von Maple-Sirup benötigt werden – von Nutzhölzern und Bauhölzern unterscheiden. Er markierte die Nussbäume, die Buchen, die meterhoch gewachsenen Zuckerahorne, die typisch amerikanischen Weißeichen und bestätigte die Qualität des guten, reichhaltigen Bodens, auf dem die Farm angesiedelt war. Er wusste genau, welche Hölzer für den Zaunbau verwendet werden konnten und welche gutes Feuerholz hermachten.
Mein Vater zeigte uns Birch Hill Farm zum ersten Mal in einem Herbsturlaub 1991. Wir wohnten in dem einzigen Hotel in der Umgebung, dem Hartland Inn. Es lag vierzig Autominuten von der Farm entfernt im nächsten Ort, Hartland. Wir aßen in weißen Blusen im Country Club Sandwiches und fuhren eines Nachmittages mit einem Chevrolet SUV, dessen stechender Ledergeruch Übelkeit erzeugte, an diesen gottverlassenen Ort. Meine Mutter stieg aus dem Wagen, sah sich um und war verzweifelt: weit und breit kein Meer. Die Küste lag Tausende Meilen entfernt. Seit ich denken kann, will meine Mutter »ans Meer«. Statt Kultur, Kirchen und Museen gab es in der nächsten Umgebung von Birch Hill nur einen Country Store mit Zapfsäule für Schneemobile, ein heruntergekommenes Hotel, einen verlotterten Stall mit matschigen Auslaufweiden für verbrauchte Pferde und einen daran angeschlossenen toten Tennisplatz.
Die gelben Blätter des Ahorns vor dem alten Stall der Farm begannen gerade erst abzufallen, und dennoch lag an seinem Stamm ein meterhoher Laubhaufen. Kreischend spielten wir im Laub. Das liegt über zwanzig Jahre zurück.
Wer konnte ahnen, dass mit meinem ersten Schultag ein erbitterter Kampf begann, um mich irgendwie durch ein System zu pressen, in welches ich, wie auch immer gedreht, nicht hineinpassen wollte. Es dauerte keine drei Schulwochen, bis klarwurde, dass an mir etwas nicht stimmte. Ich hatte einen Defekt. Aus dem Nichts kam eine Krankheit, die bis zu meinem siebten Lebensjahr völlig unerkannt geblieben war. Nun aber sollte ich Rechnen und Schreiben lernen, und da stellte sich heraus, dass ich weder addieren noch subtrahieren oder laut vorlesen konnte. Ein Jahr ging das so. Ich lernte nichts. Alles, was ich niederschrieb, war spiegelverkehrt oder unleserlich – bald weigerte sich meine Lehrerin, die Schulhefte zu korrigieren.
Als ich acht war, begann man mich zu untersuchen. Und das Faszinierende war: Je genauer man mich untersuchte, desto weniger an mir stimmte. Ich wurde immer falscher.
Ich konnte keine zwei Worte zusammenhängend lesen, und so musste ich mit meiner Mutter laut lesen üben. Fünf Minuten auf dem linken, fünf Minuten auf dem rechten Auge und fünf Minuten mit beiden. Meine Mutter stellte die Eieruhr. Fünf Minuten, das waren für mich damals wie fünf Stunden am Bahnsteig auf den Zug warten. Die Zeit nahm kein Ende. Nach fünfzehn Minuten Lesen war ich völlig erschöpft und bekam als Belohnung einen Anspitzer, einen Stift oder einen Schlumpf.
Mit dem Rechnen ging es mir ähnlich. Ich konnte drei und fünf nur mit den Fingern zusammenzählen. Da mir das Fingerrechnen von der Lehrerin verboten wurde, übte ich mich im Fingerdrücken. Das heißt, dass ich meine Hände unter dem Tisch zu Fäusten ballte und bei links anfing, dreimal zu drücken: Daumen, Zeige-, Mittelfinger. Plus fünfmal drücken: Ringfinger, kleiner Finger, Daumen der rechten Hand, Zeige- und Mittelfinger. Ich merkte mir den Mittelfinger und begann wieder von vorne zu zählen und kam so auf acht.
Eines meiner Probleme war, dass jede Zahl in meiner Vorstellung eine Farbe hat; die Null ist farblos, die Eins ist grau, die Zwei ist weiß, die Drei ist grün, die Vier ist pink, die Fünf ist gelb, die Sechs ist grün, die Sieben ist schwarz, die Acht ist braun, die Neun ist blau. Ich hege auch Sympathien und Aversionen gegenüber bestimmten Zahlen. Die schwarze Sieben habe ich immer gehasst, die Neun hingegen ist mir sympathisch. Mit der Sieben assoziiere ich auch Katzen, schwarze Katzen. Mit der Neun hingegen Wasser. Ich rechnete also nicht sieben plus neun, sondern sieben schwarze Katzen plus eine blaue Neun, die bis zur Hüfte im Wasser steht, ergeben eine farblose Eins mit acht braunen Pferden, die auf einer Weide stehen und grasen. Das nennt sich nonverbales Denken in Bildern. Pro Sekunde spielt das Gehirn in diesem Fall zweiunddreißig Bilder ab – kontinuierlich. In derselben Sekunde produziert ein verbal denkender Mensch zwei bis fünf Worte.
Denken in Bildern ist 400- bis 2000mal schneller als verbales Denken. Es ist vielfältiger, tiefer und umfassender. Verbales Denken verläuft dagegen linear und strukturiert.
Lese ich einen Text, dann wächst das Bild mit jedem weiteren Wort, jedem weiteren Gedanken, der dem Grundgedanken angefügt wird.
Zum Beispiel: »Das braune Pferd sprang über die Steinmauer und rannte durch die Weide.«
Würde ich den Satz so beschreiben, wie ich ihn mir bildlich vorstelle, bräuchte ich dafür etwa eine halbe Seite.
»An einem sonnigen Tag, an dem die Schäfchenwolken im Himmel gen Westen ziehen, hebt ein grasendes braunes Pferd mit schwarzer Mähne und glänzendem Schweif seinen Kopf und erblickt einen vorbeifahrenden roten Traktor. Es richtet sich auf, hebt den Schweif an, schnaubt und fängt in großen Schritten an zu traben. Der Traktor kommt näher. Es rattert, und der Anhänger, den er zieht, scheppert. Das Pferd galoppiert an und nähert sich einer Steinmauer, die am Rand der Wiese steht. Die Trockenmauer ist bewachsen mit Moos und Flechten. Unkraut, Brombeeren und anderes Gestrüpp haben sich über die Jahre an ihr hochgerankt. Auf einem der obersten Steine sonnt sich eine Echse. Blitzschnell verschwindet sie in den dunklen Ritzen, als das Pferd heranprescht, zum Sprung ansetzt und das Hindernis in hohem Bogen überwindet. Auf der anderen Seite galoppiert es sich aus, fällt wieder schnaubend in Trab, dreht noch wild blickend ein paar Kreise, prüft die Gefahr erneut und erkennt, dass der Traktor ruckelnd hinter dem Hügel verschwindet.«
Ich habe in dem Beispiel die Insekten ausgelassen, den Geruch vom Gras, dem Pferd, die Wärme der Sonne auf meiner Haut. Wie sieht die Landschaft aus, in der das Pferd steht? Und so weiter. Ich kann die Bilder gar nicht alle auf die Schnelle erfassen, die beim Lesen auftauchen und wieder verschwinden. Vielleicht kann man es vergleichen mit Folgendem: Man spielt einen Ausschnitt aus der Ouvertüre von La Belle Hélène ab, lässt die Musik ein paar Sekunden laufen und drückt auf Pause. Nun soll man all die einzelnen Instrumente benennen, die man gehört hat, jede einzelne Note aufzählen, die Melodie in ihrer Fülle versuchen nachzuerzählen. So geht es einem in Bildern denkenden Menschen, wenn er sich Satz für Satz in einem Text vortastet. Er muss sich an den Worten festklammern, da die Bilder in beliebiger Reihenfolge durch das Gehirn jagen. Das führt beim lauten Vorlesen zur völligen Überforderung und Desorientierung. Das Gehirn sieht nicht mehr, was die Augen sehen. Es sieht, was die Person gerade denkt. Das Gehirn hört nicht mehr, was die Ohren hören, sondern es hört, was die Person gerade denkt. Es fühlt nicht den Körper, sondern es fühlt, was die Person gerade glaubt zu fühlen. Das fortgeschrittene Stadium dieser Desorientierung ist Autismus.
Heute habe ich keine Probleme, Texte zu lesen. Schwierig wird es erst beim Bankgespräch. Denn wie soll ich mir folgenden Satz in Bildern vorstellen: »Unsere Performance reflektiert die Entwicklung des jeweiligen Strategiedepots der fünf Sparkonten seit 2008.«
Bei unsere sehe ich uns hier beisammensitzen. Den Bankberater und mich. Hat er eine Frau? Ist er glücklich? Singt er unter der Dusche? Bei Performance sehe ich einen Sportler, der gerade eine Bestzeit geschwommen ist und jubelnd seinen Arm in die Höhe reckt. Bei reflektiert sehe ich mein Bild in einem Spiegel, das Abbild des Narziss auf der Wasseroberfläche. Die ist ein Wort, zu dem es kein Bild gibt, daher lassen es Legastheniker beim lauten Lesen auch oft aus oder vergessen es beim Abschreiben des Satzes ganz. Des und jeweiligen lösen ebenfalls kein Bild aus. Entwicklung löst eine Zeitrafferaufnahme eines Baumes im Sommer, Frühling, Herbst und Winter aus. Bei Spar sehe ich einen Bettler auf der Straße, der seine Centstücke im Plastikbecher schüttelt. Das Konto ist ein Fach mit Wänden aus dickem Stahl. Bei seit 2008 überlege ich, was denn seit 2008 alles passiert ist in meinem Leben, und bis ich mit alldem fertig bin, legt mir der Bankberater das Formular zur Unterschrift hin, und ich weiß überhaupt nicht mehr, worum es eigentlich ging.
Es ist Nachmittag, vier Uhr nordamerikanische Zeit.
Für Anfang Oktober ist es sommerlich warm, Indian Summer, der Himmel leuchtet wasserblau. Die Temperaturen schwanken zu dieser Jahreszeit zwischen minus 15 Grad in der Nacht und plus 25 Grad am Tag. Ich nehme meinen Koffer vom Gepäckförderband und gehe nach draußen auf den Parkplatz vor dem Bostoner Flughafen. Ungelenk schiebe ich den Koffer neben mir her über die Bordsteinkante. Das Handgepäck hängt auf meiner Schulter, die Jacke habe ich über den Unterarm gelegt.
Dort steht Francis. Er ist der Verwalter von Birch Hill und der Kopf eines kleinen Teams aus Jim, vier Frauen und den Saisonarbeitern, das rund ums Jahr für Birch Hill zuständig ist. Auf der Farm wird Ahornsirup und Heu produziert, das Fleisch der Schafe wird an Restaurants und andere Abnehmer in der Umgebung verkauft. So versucht sich die Farm mittlerweile selbst zu tragen.
Francis’ Schatten liegt auf dem Asphalt des Parkplatzes. Nebeneinander parken die schwarzen Limousinen, ihre Chauffeure stehen mit dunklen Sonnenbrillen jeweils an der Kühlerhaube oder am Kofferraum lehnend daneben. Francis sticht aus den anderen wartenden Männern in schwarzen Anzügen hervor, da er seine grüne Steppjacke und Khakihosen trägt. Ich will ihn in den Arm nehmen, doch ich zögere, und so gibt er mir seine rechte Hand und klopft mir mit der Linken liebevoll auf den Rücken. »Ich habe dich ein bisschen vermisst.«
»Erzähl mir keinen Quatsch.«
Francis ist Ire, hat aber diese klassischen Gesichtszüge: herb, nobel, mit einem vornehmen Witz in den wasserblauen Augen. Er lacht sehr viel, auch jetzt lacht er, dabei legt er seinen Kopf zurück und guckt mich dann wieder an. An den Mundwinkeln entstehen für Sekunden tiefe Furchen, an den Augenwinkeln sind es Dutzend Fältchen, die dann wieder verschwinden. Er hat einen dichten roten, kurzen Bart und blondes, welliges Haar mit einem rötlichen Stich.
Auf seinem Handrücken treten, als er mir den Koffer abnimmt, die Adern hervor. Er öffnet die Kofferraumtür, versucht das Gepäck hochzuheben, zieht und zieht am Henkel. »Brauchst du Hilfe?«, frage ich mit gerunzelter Stirn. Francis lacht und hievt den Koffer mit einer kräftigen Bewegung seiner Arme in den dunkelgrünen Chevi.
Erleichtert öffne ich die schwere Beifahrertür und klettere auf den Sitz. Von Müdigkeit keine Spur mehr.
Francis startet den Motor und streicht sich, bevor er den Rückwärtsgang einlegt, mit seinen groben großen Händen übers Haar.
Francis kommt, wie er selbst sagt, aus dem »bitterkalten, nassen und kargen« Norden Irlands. Ich kann ihn mir als Kind sehr gut vorstellen. Er wird als Junge im Regen über hügelige Wiesen gerannt sein. Er wird die Milchkanne geschleppt haben, mit nackten Füßen auf dem Rücken eines Ponys durch das Moor geritten sein und, die Beine baumelnd, auf einem Zaun gesessen und selbstgepflückte Äpfel gegessen haben.
Dieser Junge ist er heute auch mit Anfang fünfzig noch, nur die Haut in seinem Gesicht ist gealtert. Auf einer festgetrampelten Rennstrecke irgendwo auf dem irischen Land ritt er, keine zwölf, Ponyrennen. Mit Pferden konnte er einfach besser umgehen als mit Eseln, sagt er.
Francis’ Familie zog später nach London zu einer Tante des Vaters, die ihrem Neffen Arbeit in einem Stahlwerk verschafft hatte. Francis verbrachte nach wie vor jedes Wochenende auf einer Rennstrecke. Er wollte eigentlich Jockey werden. Doch da er nicht so klein und schmächtig blieb, sondern mit fünfzehn in die Höhe schoss, entdeckte er das Kutschefahren. Als jüngster Knecht bekam er ein Jahr später in den königlichen Ställen seine erste Stelle. Er musste die störrischsten Pferde reiten. Er putzte die prunkvollen Zaumzeuge und zwängte sich für Spazierfahrten mit einem Gespann von acht Pferden quer durch London in steife, hundert Jahre alte Hosen, in Rock und Stiefel. Er saß auf Kutschböcken, die so hoch über der Erde lagen wie das erste Geschoss eines Reihenhauses. Doch Kutschefahren ist für Francis sowieso ein Kinderspiel, egal wie viele Pferde er angespannt hat. Je mehr Pferde, desto mehr Spaß.
Noch nie habe ich Francis schlecht gelaunt erlebt, er kann selbst noch lachen, wenn er sich den Finger bricht. Er singt Countrysongs wie Blue Canadian Rockies von Gene Autry bis zu The Taker von Waylon Jennings auswendig, und er erzählt Pferdegeschichten. Zum Beispiel kann er die grausigsten Kutschunfälle schildern. Darin kommen Uferböschungen von reißenden Flüssen, tote Pferde und querschnittsgelähmte Fahrer vor, und er gibt sie so nüchtern wieder wie die Rezeptur von Yorkshire-Pudding. Bis nach Polen ist er gereist, um weiße Lipizzaner für den Stall von Mr. Cummings einzukaufen. Mr. Cummings, unser Nachbar in Vermont und passionierter Kutschenfahrer, hat Francis vor Jahrzehnten in London entdeckt und ihn nach Amerika geholt. Seitdem lebt er mit seiner Frau und einem Sohn in Hartland, und doch ist er bis heute der irischste Ire außerhalb Irlands geblieben.
Als wir den Flughafen hinter uns gelassen haben und uns durch die Rushhour bis zum Stadtrand von Boston durchgeschlängelt haben, stellt er die Frage, die alle Vermonter einem Fremden stellen: »Wie lange bleibst du?«
»Für immer«, sage ich und lache. Wir wissen beide, dass es ein Witz ist.
Mit 75 Meilen pro Stunde schleicht der gekühlte Chevi Richtung Norden. Während der drei Stunden Fahrt nach Birch Hill Farm nähern wir uns den »Grünen Bergen«. Sie bilden das Rückgrat des kleinen Staates und verlaufen von der kanadischen Grenze im westlichen Vermont bis nach Connecticut. Auf 400 Millionen Jahre schätzt man das Alter des Gesteins ein, welches die Hügelkette bildet. Über die Zeit wurde sie durch Wind, Wasser und Eis abgeschliffen und erhielt so ihre typische weiche Silhouette.
Der Himmel erscheint unendlich weit und groß, der Highway endlos lang und sanft. Ich kann nicht anders: dafür liebe ich Amerika. Dafür kehre ich immer wieder zurück an diesen Ort, nach Vermont, das mir – zumindest auf Zeit – ein Leben mit und in der Natur ermöglicht. Hier lebe ich mich selbst, und diese Erkenntnis hat mich unter dem tiefblauen endlosen Himmel auch oft traurig gestimmt. Anscheinend lebe ich mich woanders nicht oder kann mich nicht leben.
Vermont ist für mich ein Ort der Besinnung. Für Francis ist es Heimat geworden. Ich beneide ihn darum.
Nach zwei Stunden verlassen wir den Highway. Die untergehende Sonne färbt den westlichen Himmel rot. Francis biegt rechts ab. Er hält an einer Kreuzung und biegt links auf die Route 12 ab. Die Route 12 schlängelt sich über eine kleine Schlucht, die »Pippin Gorge«, vorbei an dem Souvenirshop, in dem man Tassen, Hüte und T-Shirts mit dem Namen der Schlucht erwerben kann. Wir passieren die Orte Springfield und Weathersfield, eine Tankstelle, eine weitere Tankstelle und noch eine Tankstelle und fahren schließlich mit 25 Meilen pro Stunde über die Hauptstraße durch Hartland durch. Von hier führt uns die Route 4 Richtung Birch Hill. Uns umgibt das Connecticut Valley. Das ist das Tal, in dem der Connecticut-Fluss fließt. Es ist umringt von Hügeln, und auf einem von ihnen sitzt das Haupthaus der Farm. Wir biegen auf die Rick Road ab, die steil bergauf geht.
Mittlerweile ist es Abend geworden. Vor der kleinen, schwach erleuchteten Garage nimmt unsere Fahrt ein Ende. So gerne hätte ich Francis noch zum Essen eingeladen, doch ich weiß, dass er – im Gegensatz zu mir – erwartet wird.
Wir verabschieden uns mit Handschlag, und ich nehme den Koffer entgegen.
Ich schaue mich noch mal um. Die Autotür schlägt zu, und der Wagen wendet auf dem Kies. Ich sehe den Rücklichtern nach.
Ein Grundstein meiner Erinnerung an die Kindheit sind die Sommer und Winter im Engadin. In der Bergwelt fühlte ich mich heimisch und wohl, und das, obschon sich rechts und links die Granitwände türmen und im Sommer die Gebirge wie versteinerte Elefantenfüße auf dem Talboden stehen. Zwei Stunden Autofahrt von Zürich, und ich war in einer anderen Schweiz. Sie ist geprägt von der reinen Luft, dem kristallinen Licht und der Ursprünglichkeit der Bündner.
Leider verfügt der Kurdirektor des Engadins über einen unerschöpflichen Werbe- und Bauetat. Der Massentourismus ist seit den Neunzigern von Davos und Arosa auch ins Engadin gespült worden. Für manche bietet St. Moritz Après-Ski, schillerndes Clubleben und schäumenden Luxus. Für dieses sporteifrige Volk werden Pferderennen im Schnee veranstaltet, Gourmetfestivals organisiert und Kaviar herangekarrt. Diesen öden Vergnügungsnomaden ist eben egal, wo auf der Welt sie sich befinden – Hauptsache, Krach.
Hinter dem St. Moritzersee, wo wir in den Ferienwochen wohnten, haben wir winters und sommers nichts von dem Krach mitbekommen. Ich legte noch nie Wert auf Nachtleben in 1800 Metern Höhe, und meine Eltern hielten sich raus aus dem gesellschaftlichen Zirkus, den die Züricher von Dezember bis Februar ins Engadin verlagerten.
Im Winter ging es mit meinem Vater und dem seit Urzeiten gleichen Skilehrer um acht Uhr auf die Piste. Bis mittags wurde Ski gefahren. Dann aßen wir gemeinsam auf einer der Hütten, fuhren weiter bis 15 Uhr und gingen ab ins Tal. Zu Hause wartete meine Mutter mit Schwarztee und Kuchen aus einer Konditorei in Pontresina. Während dann die Sonne allmählich zwischen Piz Nair und Piz Corvatsch versank, saßen wir auf unseren Zimmern, in denen wir zu zweit schliefen, lasen mitgebrachte Bücher, lagen bäuchlings auf dem Flur, bastelten mit Bausteinen, malten oder spielten Karten vor dem Kamin. Einen Fernseher gab es nicht in dem Haus.
Stattdessen gruben wir jedes Jahr aufs Neue in der gleichen Hörspiel-Kassettenkiste. In dieser Kiste befand sich unter anderen eine Pinocchio-Kassette. Ich hörte diese so oft, dass ich irgendwann die ganze Geschichte auswendig miterzählen konnte. Und ich musste immer an den gleichen Stellen schallend lachen.
Das Engadin ist für mich ein Ort der Konzentration und der Kreativität. Ich glaube, das liegt an der Prägung dieser langen Nachmittage und Sonntage (sonntags durften wir nicht auf die Piste), an denen ich meiner Phantasie freien Lauf lassen konnte.
Und immer kochte meine Mutter aufwendig und in Engadiner Tradition. Abends war das Haus erfüllt vom Geruch des brennenden Feuers im Kamin, von Ragouts mit Polenta, überbackenen Spätzle, Steinpilzsaucen oder Rahmgeschnetzeltem.
Im Schoß der schroffen Gebirge, des überall aufblitzenden Granits, umgeben von knorrigen Fichten, Lärchen, den vom Wetter gebeutelten Tannen, fühlte ich die Zugehörigkeit, die mir in Zürich in jeder Hinsicht fehlte. Die Unmittelbarkeit der Natur imponierte mir. Nichts ist vergleichbar mit dem Sonnenaufgang auf dem Berg. Nimmt man um halb acht im Dorf die erste Bergbahn zur Corviglia hinauf, erlebt man das imposante Schauspiel, wie sich das weißgoldene Licht allmählich über die kohlschwarzen Steinkanten ergießt. Dann verwandelt sich innerhalb von Minuten die stumpfe Schneedecke in eine millionenfach funkelnde Oberfläche. Das Bergmassiv wird durch Licht und Schatten plastisch und lebendig. Bergdohlen kreisen in der Luft, Wind fegt pulvrigen Schnee umher. Der Himmel nimmt dieses unbeschreiblich tiefe Tintenblau an und spannt sich makellos über die Bergkulisse. Und das alles geschieht geräuschlos.
Egal ob Schneesturm, Blindsicht oder Nebel – wir waren immer auf der Piste. Wir haben uns auf jeder Sesselliftfahrt nach Frostbeulen untersucht und immer noch eine Schicht Kälteschutzcreme aufgetragen. Mit Schönwetter-Skifahrern konnten wir nichts anfangen: Gerade wenn sie aus Deutschland kamen, verachteten wir sie. Schönwetter-Fahrer waren entweder Frauen, die ihre Haarpracht so auftoupierten, dass sie keine Mütze brauchten, auf der Toilette immer den Lippenstift nachziehen mussten, weiße Skischuhe trugen und eine Parfümwolke hinter sich herzogen. Die Männer fielen auf durch ihre krampfhaft erholten Gesichter, über die sich weiße Schlieren von nicht verstrichener Sonnencreme zogen. Ihre verspiegelten Sonnenbrillen setzten sie nur ungern ab, und ihre Skiausrüstung war besetzt von großen, aufgenähten Abzeichen des entsprechenden Herstellers.
Im Sommer wanderte ich schon sechsjährig wie ein Bergbub mit zum Maiensäss – dem Sommersitz der Bauern –, lief und lief neben dem pfeiferauchenden Thore her und trug meinen Rucksack und die Hundeleine mit unermesslichem Stolz. Thore war unser Bergführer, ein großer, wohlbeleibter Mann mit dicken Händen und vom Tabak verfärbten Fingerkuppen. Er hatte einen schweren, gleichmäßigen Gang und immer zu Schlitzen verengte Augen. Er sprach Italienisch, Rätoromanisch und wie alle Bündner Schweizerdeutsch mit breitem Akzent. Er rauchte Pfeife und hatte die Gewohnheit, fortwährend an dem Mundstück zu nuckeln, während er erzählte. Er hüllte sich dann in den Rauch, nuschelte ein bisschen und grummelte wie ein Brummbär. Auf unseren Tageswanderungen ging ich immer ganz vorne an seiner Seite. Dort lief auch Sira, eine English-Setter-Hündin, die ihm aufs Wort gehorchte und auf jeden kleinen Fingerzeig von ihm reagierte. Thore konnte aus dem Augenwinkel Steinpilze oder Edelweißblüten entdecken. Er erspähte die Steinböcke in den Felsritzen mit bloßem Auge, er trug ein handgeschmiedetes Jagdmesser bei sich, mit dem er die Haut seines Hirschsalsizes abschälte oder lange Stecken zum Grillen anspitzte. Thore machte uns die Schweizer Bergwelt zugänglich und bot sie uns als das Wunderland dar, das sie noch immer ist.
Hier leben Gämsen und Murmeltiere, Bergbäche stürzen von halsbrecherisch steilen Hängen herab, die Bergseen sind klar und kalt, milchig weiß oder moosig grün.
Wir wanderten zu Hütten, wo es frische Milch für Mensch und Tier gab, Käse vom Laib und Brot und Wurst aus der Hand. Wir rasteten an sprudelnden Bächen mitten in bunten Bergblumenwiesen, wir kraxelten angeseilt über Gletscher und durchstreiften abgelegene Dörfer.
Nach diesen Wochen in den Bergen fiel mir der Abschied immer schwer. Der Tag, an dem mein Vater das Auto belud und meine Mutter Brote strich und Provianttüten packte, war meist ein strahlend schöner Tag. Dann saß ich oft noch in meinem Zimmer im ersten Stock auf dem Fensterbrett des Doppelkastenfensters und schaute zu den Bergen hinüber. Sie bildeten einen Schutzraum, in dem ich mich geborgen fühlte.
Aus der scheinbaren Grenzenlosigkeit der Bergwelt führte uns der Julierpass wieder hinab ins Tal. In Zürich war die Luft nicht mehr so kristallin und rein, in Zürich wurden die Haare wieder wellig, die Haut fühlte sich nicht mehr so straff und trocken an, und der gesunde Appetit ging verloren. Nach dem Skifahren und Bergsteigen war ich hier unten höchstens noch eine schlechte Schülerin.
Die Heilbehandlung begann mit dem Besuch einer Logopädin, einer gewissen Frau Rössler – denn ich lispelte. Ich glaube, sie hieß in Wirklichkeit Müller und legte sich nur aus Schikane den Namen Rössler mit Doppel-s zu. Wenn ich auf dem rechteckigen Edelstahlklingelschild mit dem eingestanzten Namen den Klingelknopf drückte, öffnete sie die weiße Tür mit einem Lächeln. Es gibt unterschiedliche Formen des Logopäden-Lächelns: Manche Logopäden lächeln aus Berufszwecken mitleidig. Denn ihnen tun all die von Schwächen befallenen Kinder leid. Andere Logopäden lächeln diabolisch, denn sie sehen ihre Aufgabe darin, den Kindern die Schwächen mit allen erdenklichen Therapien und Methoden gänzlich auszutreiben. Wiederum andere lächeln analytisch. Sie können während des Lächelns feststellen, inwieweit ihre Therapiemethode schon Erfolge erzielt hat.
Bei Frau Rössler musste ich einmal in der Woche, immer montags nach der Schule, ein Papierbällchen durch ein Labyrinth aus Pappwänden pusten, sehr viele Worte mit dem Buchstaben s nachsprechen und wiederholen. Einmal sollte ich etwas vorpfeifen. Und ich erinnere, danach mit dem Pfeifen aufgehört zu haben.
Im März 1991, ich war in der zweiten Klasse, begann die nächste Therapie mit einem zweistündigen Orientierungsgespräch. Bei Frau Godenschweig, die auch Rechenschwächen behandelte, machte ich laut Therapie-Bericht ein Augen-Koordinierungstraining. Ich kann leider nicht mehr beschreiben, worum es sich dabei handelte. Auf Frau Godenschweig wirkte ich fröhlich und offen trotz meiner Schulprobleme. Wenn sie mich auf das Rechnen ansprach, antwortete ich: »Ich brauch ein bisschen lang.«
Sie versprach mir, mich so hinzukriegen, dass es schneller ging.
Ich wies darauf hin, dass ich auch weniger Fehler machen wollte. Fehler mochte ich nicht, weil sie rot eingekreist wurden.
Es wurde eine Sitzung pro Woche à fünfzig Minuten vereinbart. Und so wurde ich wöchentlich vor einem Stadthaus in Zürich abgesetzt, das einem senkrecht aufgestellten Schuhkarton glich. Frau Godenschweig war hager, klein und ehemalige Schweizer Meisterin in der Leichtathletik. Ihr Lächeln war streng und diabolisch. Sie besaß nur zwei weite Kleidungsstücke, die sie abwechselnd über schwarzen Leggins trug. Dazu offene Hausschuhe. Durch den klaustrophobisch engen Flur, an dessen rechter Wand Mantel über Mantel über Jacke über Schal über Poncho hing, zwängte ich mich an zwei Katzen vorbei, eine enge, gewundene Treppe hinauf. Auf dem düsteren Dachboden, in dem nur Frau Godenschweig aufrecht stehen konnte, roch es stets leicht muffig. Der Sauerstoff war immer knapp. Alles, was an Spielsachen herumlag, war von hundert Kinderhänden abgegrabbelt und angefasst. Wir setzten uns an dem einzigen Tisch einander gegenüber, und die stechenden Blicke von Frau Godenschweig wichen keinen Augenblick mehr von mir ab. Immer dieses Beobachten und ihr Schweigen, während ich an einer Aufgabe saß. Je länger ich brauchte, umso höher wuchs die Wand der Stille.
Die Therapie zeigte keinerlei Niederschlag auf meine messbaren Schulleistungen. Ich wusste noch immer nicht, ob 43 kleiner oder größer ist als 46. Wenn Rechnungen über 100 führten, verwechselte ich 102 mit 200.
In den schriftlichen Prüfungen sanken meine Noten ab. Weder wollten meine Eltern, dass ich die zweite Klasse wiederholen musste, noch wollten die Lehrer, dass ich den Notendurchschnitt der ganzen Klasse herabdrückte. Die Folge war: Man strich das Unwichtige aus meinem Stundenplan und konzentrierte sich auf das Wichtige. Statt am geliebten Kunstunterricht in der Schule teilzunehmen, musste ich nun jede Woche neunzig Minuten zu Frau Godenschweig.
Schon seit Beginn der zweiten Klasse wurde ich in Mathematik nicht mehr benotet, da dies den Aufbau meines Selbstvertrauens in Bezug aufs Rechnen empfindlich stören und die Wirkung der therapeutischen Arbeit ein Stück weit zunichtemachen würde. Alle in meiner Klasse fanden es ungerecht, dass ich Prüfungen ohne Noten schreiben durfte, und alle fragten, warum.
Ich wusste es selbst nicht so genau, saß nur weiter in der düsteren Stube, umgeben von den Katzen, vor mir die Logopädin mit rot gefärbten Haaren und einer riesigen Holzkette auf der faltigen Brust, und musste rechnen.
Zur Rechnung 7–3 führte ich folgende unlogische Handlung aus: Ich legte sieben Spielfiguren hin und erklärte: Sieben Kinder haben drei Kinder eingeladen, dann sind sie weggegangen. Dann sind es noch vier gewesen. Ich addierte also und zog dann von zehn wieder sieben ab und kam so auf vier.
?
Das haute nicht hin.
Die Logopädin fragte nach und verlangte für die Subtraktion ein weiteres Beispiel. Ich erklärte: Es treffen sich zwei Leute, dazu kann man auch 1 + 1 = 2 sagen. Dann gehen sie wieder auseinander, jetzt heißt die Rechnung 1 × 1, nein, ich war verwirrt, 1–1, nein, 1–0, nein, 2–1.
Seufzen.
Ich begriff gar nichts.
Also noch mal von vorne. Und so ging das stundenlang.
Erstaunlicherweise wirkte ich, laut Protokoll, dabei aber immer noch fröhlich. Ich würde sogar in der Klasse mitmachen! Was als Erfolg für die Therapie verbucht wurde. Sie wurde fortgesetzt.
Meine Mitschüler gingen auf Klassenfahrt, während ich Kugeln auf einem Draht von rechts nach links schob. Im Klassenzimmer hingen die Zeichnungen und Malereien der Schüler – nur meine Zeichnungen fehlten.
Ich konnte Gehörtes nicht in Geschriebenes umsetzen. Man empfahl, dies noch einmal abzuklären – diesmal in der klinischen Logopädie. Meine Mutter setzte sich mit mir ins Kinderspital in Zürich ins Wartezimmer. Die Wände waren beklebt mit bunten Punkten und Clowngesichtern, lauter fröhlichen Dingen. Zwischen Kasperlefiguren und Holzpyramiden fieberten wir der Diagnose entgegen, die endlich darlegen würde, welchen Knopf man drücken musste, um die Maschine Louise endlich zum Laufen zu bringen. Es folgte eine ganztägige Untersuchung.
Das Ergebnis: Ich hatte eine normale Hörschwelle. Die im Vordergrund stehende Lernstörung ist vorwiegend auf eine weitgehend intelligenzunabhängige Schwäche des sprachlautlichen Gedächtnisses zurückzuführen. Aus der klinisch-logopädischen Sicht wurde empfohlen, während des Operierens mit Zahlen laut mitzusprechen, da durch das laute Denken eine akustische und artikulatorisch-taktil/kinästhetische Rückmeldung stattfände.
Ich fand das total albern. Laut mitsprechen beim Rechnen, dafür schämte ich mich, da somit jeder meine Fehler hören konnte. Die Untersuchung enttarnte auch eine auffallend verkrampfte Stifthaltung. Beim Schreiben würde ich starken Druck auf den Stift ausüben. Zudem verdeckte der Daumen die Stiftspitze. Eine Kontrolle des Geschriebenen sei so nicht möglich. Aus Sicht des Arztes war im schreibmotorischen Bereich somit ein zusätzliches, leichtes Defizit vorhanden. Er empfahl, diesen Bereich bei der Therapie stärker zu berücksichtigen. Dieses krankhafte Stifthalten hieß in der logopädischen Fachsprache: Dysgraphie.
Ebenfalls kam nach dieser Untersuchung zu meiner Linkshändigkeit auch eine Linksäugigkeit hinzu. Die vom Arzt empfohlene Maßnahme war der Besuch einer Sehschule, was meine Eltern gleich in die Wege leiteten.
Während der Rest meiner Klasse Wandertag hatte und durch den Wald streunte, saß ich einen ganzen Nachmittag in St. Gallen bei einem alten Arzt in weißem Kittel auf einem Stuhlungeheuer. Auch er schrieb nach meinem Besuch einen unglaublich komplizierten Befund mit Sätzen wie »pos. möglich alt Fix.Licht zeitw. Hg od« und dem wenig erhellenden Ergebnis: »Therapievorschlag: Schulung in Leseschwierigkeiten und Rechenschwierigkeiten.«
Meine Eltern verhandelten mit jedem Lehrer, jedem Direktor um mein schulisches Weiterkommen.
Ich war zehn Jahre alt, und die Siebener-Reihe löste Angstzustände in mir aus. Wenn Frau Stein, meine Grundschullehrerin, auftrug, die Siebener-Reihe (7, 14, 21, 28 usw.) zu üben, graute es mir vor dem nächsten Morgen. Dann würde es wieder heißen: bitte zwei Gruppen bilden. Diese gegnerischen Mannschaften stellten sich hintereinander in zwei Reihen vor der Tafel auf. Frau Stein sagte: »Drei mal sieben!«, und der, der das Ergebnis zuerst herausschoss, durfte sich bei seiner Gruppe wieder hinten anstellen. Die Gruppe, in der der Vordermann zuerst wieder an die Reihe kam, hatte gewonnen. Ich und Christoph (der auch nicht rechnen konnte) wurden immer auf beide Mannschaften aufgeteilt, sonst war es nicht fair, da klar war, dass die Gruppe mit Christoph und Louise niemals gewinnen konnte.
Distanzen, Maßeinheiten, die Stunden und Minuten, alles, was mit Zahlen zu tun hatte, verwirrte mich. Zwischen einem Kilometer und drei Metern bestand für mich kein Unterschied. Sagte man mir aber: »Das ist etwa so weit wie zehn große Schritte«, konnte ich die Distanz sofort einschätzen. Beim Gewicht erging es mir gleich – Gramm, Kilo und Tonnen konnte ich nur einschätzen, wenn sie mit einer bestimmten Anzahl von Mehlsäcken oder Elefanten verglichen wurden. Das Gewicht von einem Elefanten konnte ich mir vorstellen, man brauchte einen Kran, um ihn hochzuheben, das musste schon ziemlich schwer sein.
Manchmal blieb ich auf dem Nachhauseweg von der Schule an dem Süßwarenladen im Dorf hängen. Wenn ich gerade etwas Taschengeld bei mir hatte, bat ich die Dame, das Geld, das ich ihr in die Hand legte, auszuzählen und mich so lange aussuchen zu lassen, bis es nicht mehr reichte. Aus all den bunten Kisten, voll mit sauren Schlangen, Katzenzungen, Colaflaschen, Lakritzen, Bonbons und Karamellstangen nahm ich mir, bis sie »stopp« sagte, und ging glücklich weiter meinen Weg. Die Beträge von fünf Rappen, fünfzehn Rappen, zwanzig Rappen und zehn Rappen zusammenzuzählen, hätte mich den ganzen Nachmittag gekostet.
Dann: Nach zweiundzwanzig Therapiesitzungen zeigte ich eine bisher noch nicht da gewesene Lockerheit beim Rechnen. Alle waren, was meine Weiterentwicklung betraf, zuversichtlich, und ich durfte in die dritte Klasse.
Na