Cover

Simone Buchholz

Schwedenbitter

Ein Hamburg-Krimi

Knaur e-books

Über Simone Buchholz

Simone Buchholz, geboren 1972, wohnt mit Mann und Sohn im Herzen von Hamburg. In ihrem Krimi-Debüt Revolverherz hatte Chas Riley, die Staatsanwältin mit dem seltsamen Namen, ihren ersten fulminanten Auftritt. Mit Knastpralinen folgte der zweite, mit Schwedenbitter nun der dritte Streich.

Über dieses Buch

Eine Villa im Hamburger Süden und darin zwei tote Amerikaner. Außerdem: ein schnüffelnder Ex-Kommissar, ein paar sehr höfliche Autonome, eine durchgeknallte Schwedin, Immobilienhaie, eine Freundin, die vielleicht ein Kind bekommt, ein schnöseliger Kollege – und überall der mafiose Behördensumpf.

Mittendrin stapft Staatsanwältin Chas Riley durch den Novembernebel und braucht all ihre Kraft, um nicht darin unterzugehen.

Impressum

eBook-Ausgabe 2011

Knaur eBook

© 2011 Droemer Verlag

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: © Kai Remmers/buchcover.com; FinePic®, München

ISBN 978-3-426-41125-4

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Für Christopher Riley.

 

 

 

 

 

And in this grey, in this blue shade,

my tears dry on their own.

Amy Winehouse

HAMBURG SÜD

Das ist kein Anfängerhusten. Alle paar Minuten kommt ein hässlicher alter Hofhund aus meinen Lungen gekrochen, und der rasselt beim Bellen ziemlich übel mit der Kette. Ich sollte im Bett liegen und eine Tasse Tee trinken, statt hier in HSV-Land rumzustehen und zwei alten Rednecks auf ihre zerschmetterten Köpfe zu kucken. Ich halte mir den Unterarm vor den Mund. Da ist er wieder. Der Hustenhund.

»Sie sind krank«, sagt der Calabretta und nimmt mir die Zigarette weg.

»Sie sollten endlich zum Arzt gehen«, sagt der Brückner. Er versucht, sehr streng zu kucken, als er das sagt. Geradezu gescheitelt. Huh, gleich hab ich Angst.

»Sie will das nicht hören«, sagt der Schulle, »und das ist eine Frechheit. Ich hab auch schon die Pest am Hals.«

Er fasst sich an den Kehlkopf und macht Altmännergeräusche.

Jaja, denke ich und huste zu Ende. Es schmeckt ein bisschen nach Blut. Als der harte Hund meine Stimme wieder freigibt, sage ich: »Ihr könnt euch ja über mich beschweren. Kann ich meine Zigarette wiederhaben?«

»Nein«, faucht der Calabretta. Er geht ins Nebenzimmer, um mit dem neuen Chef der Spurensicherung zu sprechen. Der Hollerieth und sein ewiger Bandscheibenvorfall sind in den heiligen Vorruhestand gegangen. Halleluja. Der Neue heißt Kessler. Talentierter junger Mann, modern und unaufgeregt. Schlanke eins achtzig groß, leicht hakige Nase im ansonsten ebenmäßigen Gesicht, redet nicht viel, aber wenn er was sagt, ist das nie Bullshit. Hätte er nicht so eine ambitionierte Frisur, so ein nach vorne gekämmtes, mit einem Haarstylingprodukt unterstütztes, topfiges Jungsding, für das er dann eigentlich schon wieder zu alt ist, weil so was am liebsten Vierzehnjährige tragen, ich fände ihn richtig super.

Die Wohnung von Walt und Lorraine Tucker ist ein bisschen wie nach Hause kommen. Oder das, was mir bei der Beerdigung meines Vaters mal als Zuhause verkauft werden sollte: Hier sieht es genauso beschissen aus wie bei meiner Tante Grace und meinem Onkel Luke in Bellehaven, North Carolina. Der Holzfußboden ist dunkel lackiert, darauf liegen in wirrer Folge dicke Teppiche in bösen Farben wie Rostrot und Mintgrün. Die Tapeten an den Wänden sind vergilbt und waren vielleicht mal weiß oder gelb. Die Decke ist mit haselnussbraunen Holzkassetten verbaut. In der Mitte des Zimmers, genau vor dem riesigen Plasmabildschirm, steht ein geblümtes Sofa. Große Blumen. Sehr viele Pastellfarben. In der Ecke rechts vom Fernseher: ein alter brauner Waffenschrank, die Tür steht offen. Der Schrank ist mit einer Südstaatenflagge ausgeschlagen.

»Darf man das?«, frage ich.

»Was«, sagt der Brückner, »eine Rechtsaußenfahne haben?«

»Seine Knarren in so einem ollen Schrank aufbewahren«, sage ich.

»Ich würde beides verbieten«, sagt der Brückner.

Links vom Fernseher wackelt ein Teewagen unter den Schritten der Kollegen. Der Teewagen musste bei den Tuckers als Bar herhalten, es stehen fünf schwere Kristallkaraffen darauf, alle eher halbleer als halbvoll. Ich tippe auf Bourbon.

Außer nach Blut riecht es insgesamt sehr stark nach Alkohol, nach altem Staub und nach Frittenfett von vorgestern.

Ich gehe einmal um das Sofa herum, damit ich mir die Tuckers in Ruhe anschauen kann. Von hier hinten kann ich nur sehen, dass die Kopfschüsse ziemliche Austrittswunden hinterlassen haben, machen wir uns nichts vor: Hackfleisch. Der Holzboden knarzt unter meinen Füßen.

»Hoppla«, sage ich, als ich die zerschlagenen Gesichter der alten Leute sehe, »da hätte man aber gar nicht mehr unbedingt schießen müssen.«

»Und dann auch noch mit einem offenbar ganz schön fetten Kaliber«, sagt der Schulle. »Hat was von Gewaltexzess, oder?«

Ich muss husten. Der Schulle kuckt mich an, schüttelt den Kopf und geht dem Brückner hinterher, der sich auf den Weg durch die Wohnung gemacht hat. Der Calabretta steht mit den KTU-Leuten um den Schreibtisch im Arbeitszimmer rum. Da gibt’s wahrscheinlich die Munition zum Waffenschrank.

Ich bleibe noch ein bisschen vor dem toten Ehepaar stehen. Das sieht nicht gut aus. Die matschigen Gesichter, das ganze Blut. Und auch sonst so. Zwei verdrehte alte Amis halt. Lorraines Klamotten – und soweit man das noch beurteilen kann, auch ihre Frisur – erinnern schlimm an die Miss-Ellie-Phase von Donna Reed. Alles ist irgendwie aufgetürmt und gerüscht und gepufft. Ihr Kleid oder Kittel oder Nachthemd ist apricotfarben. Ihre Pantoffeln sind aus weißem Plüsch. Und auch wenn sie tot ist, wirkt sie, als würde sie gleich aufspringen, weil sie vergessen hat, Kekse anzubieten.

Der zermatschte Walt wirkt nicht so. Walts Leiche sieht aggressiv aus, als wolle sie immer noch jedem und allem eine verpassen, und dann wächst da aber kein Gras mehr, Mann. Sein kariertes Hemd spannt über breiten Fast-Food-Hüften und einem mächtigen Brustkorb. Er trägt keine Hosen, sondern Shorts. Im November. Aus den Shorts kucken dicke, haarige Beine hervor. Lorraine musste sich das Tag für Tag anschauen.

So ätzend ich die Tuckers vermutlich gefunden hätte, irgendwie rühren die mich. Ich sehe sie an, und etwas auf dem Fußboden meines Herzens fängt an zu rascheln.

»Chef?«

Der Calabretta. Ich räuspere mich und muss husten.

»Was machen Sie da?«, fragt er.

Ich kucke, denke ich. Und ich frage mich wieder mal, was wohl aus mir geworden wäre, wenn mein Vater nicht mit mir in Deutschland geblieben wäre. Wenn wir zusammen in North Carolina gelebt hätten. Wenn ich wirklich Amerikanerin wäre. Südstaatenamerikanerin. Wenn ich ein Land hätte. Wenn da mehr wäre als nur mein Name.

»Nichts«, sage ich und räuspere mich, »gar nichts.«

Ich warte, bis alle sich wieder mit was auch immer beschäftigen. Dann mache ich einen polnischen Abgang und verschwinde im Treppenhaus. Es ist ein hartes Treppenhaus. Furchtbar schmutzig. Die Holzstufen sind abgewetzt und teilweise so abgetreten, dass ich immer wieder abrutsche und den Weg nach unten fast auf der Nase mache. Es ärgert mich, wenn Dinge so verrotten. Wenn Menschen Häuser einfach kaputtgehen lassen. Alte Häuser haben eine Seele. Um die muss man sich doch kümmern. Hier hat sich niemand gekümmert, seit Jahren nicht. Die Tuckers waren die letzten Mieter in der ganzen Bude, und die eine von den beiden Erdgeschosswohnungen hat nicht mal mehr eine Tür. Da hängt ein Sack, der von innen an den Türrahmen genagelt worden ist. Ich schiebe den Sack zur Seite und gehe rein. Keiner da. Aber wenn es dunkel wird, sind hier wohl eine Menge Leute, die das Loch als Zuhause benutzen. In fast jeder Ecke jeden Zimmers liegt ein ranziger Schlafsack oder eine alte Decke oder eine fleckige Matratze. Manche von den Fenstern sind noch ganz, manche nicht. Die sind dann einfach weg, da ist nicht mal eine Plastiktüte oder so was vorgeklebt.

Der Calabretta hat gesagt, er glaubt, dass es auch einer von den Leuten hier gewesen sein muss, der die Tuckers entdeckt und die Polizei angerufen hat, anonym natürlich. Er geht davon aus, dass wir von denen keinen finden, dass die hier nie wieder aufkreuzen werden. Wenn irgendwo gestorben wurde, halten sich Menschen ohne Wohnung da nicht mehr gerne auf.

Ich bleibe noch eine Minute in einem der ehemaligen Zimmer stehen. An einer Wand hängt ein Bild. Windjammer vor heruntergerissener Tapete.

Niemand kümmert sich. Niemand.

*

Der Himmel hat dieses spezielle, etwas dunkle Herbstblau, das den Winter ankündigt. Das kommt von den Wolken. Die sind schwerer als im Frühling und im Sommer, die haben eine andere Qualität. Mehr Gewicht, mehr Bumms in den Backen. Sie sind eher beige als weiß, und das wirkt sich natürlich auf den Himmel aus. Und auch, wenn die Sonne da ist, hat sie die Dunkelheit immer schon im Gepäck. Der Hamburger Novemberhimmel ist ein aufdringliches Ding in Moll, ein sentimentales, dramatisches Gebilde, aber das darf man nicht so ernst nehmen. Tut der Himmel ja selber nicht.

Ich laufe zum S-Bahnhof Wilhelmsburg und nehme mir da ein Taxi. Wichtig, wenn man eh schon angeschlagen ist: niemals den öffentlichen Nahverkehr nutzen, schon gar nicht die Linie S 3, schon gar nicht südlich der Elbe, denn danach steht man ganz sicher nicht mehr auf.

*

Tagsüber zu Hause zu sein ist dermaßen nichts für mich. Ich tu mich ja sowieso schon schwer mit zu Hause sein. Und dann auch noch tagsüber. Und dann auch noch im Bett liegen. Noch fünf Minuten, und ich werde depressiv. Ich rufe den Calabretta an.

»Sie liegen hoffentlich im Bett und rühren sich nicht«, sagt er.

»Ja«, sage ich. »Es ist schrecklich.«

»Genau richtig«, sagt der Calabretta. »Und Finger weg von den Kippen. Sie bringen sich noch um, Chef.«

»Ist doch nur eine alte Bronchitis«, sage ich und huste in meine Armbeuge.

»Auf dem Weg zur Lungenentzündung«, sagt der Calabretta.

Auf dem Weg in die Hölle, denke ich und zünde mir eine Zigarette an.

»Wir haben erste Ergebnisse aus der Pathologie«, sagt er. »Die Tuckers waren schon so gut wie tot, als sie erschossen wurden. Schwere Schädelverletzungen.«

»So sah das ja auch aus«, sage ich.

»Da wollte jemand auf Nummer obersicher gehen«, sagt er.

»Sonst noch was?«

»Tatzeit muss zwischen einundzwanzig und dreiundzwanzig Uhr gewesen sein«, sagt er. »Und wir haben ein bisschen DNA. Hautpartikel unter Walts Fingernägeln, die nicht ihm gehören. Er hat offensichtlich noch Zeit gehabt, sich zu wehren.«

»Haben Sie mit Betty Kirschtein gesprochen?«, frage ich.

»Ich musste mit ihrem Assistenten vorliebnehmen. Unsere Chefpathologin redet nicht mehr mit mir«, sagt er.

»Seit wann das denn?«

»Seit ungefähr vier Wochen. Ich hab’s tatsächlich geschafft, dass sie mit mir ausgeht. Aber dann hab ich’s verbockt. Und jetzt ist sie sauer.«

»Was haben Sie denn verbockt?«, frage ich.

»Ach«, sagt er. »Ich hab’s halt verbockt.«

Pause. Dann: »Bin einfach aus der Übung.«

Der Calabretta wünscht sich nichts sehnlicher als eine Frau und eine Familie, das hat er oft durchblicken lassen. Und von nichts auf der Welt ist er so weit entfernt. Er kriegt das irgendwie nicht gebacken. Erstens ist er sehr geschickt darin, sich dermaßen mit Arbeit zuzudröhnen, dass er auf keinen Fall die Zeit findet, sich mal ein bisschen an eine Frau ranzuwanzen. Zweitens wird er immer im entscheidenden Moment stockfischig, wenn er eine Frau wirklich gut findet. Hat er mir mal erzählt. Er wird dann wohl richtig unhöflich. Benimmt sich wie ein struppiger Hund auf Pinkeltour. Dann, wenn die Frauen es geschmeidig wollen. Klingt für mich ja nach Angst vor Nähe. Sagt aber natürlich auch genau die Richtige.

»Und was gibt’s Neues aus der Ballistik?«, frage ich. Ich will ihn auf andere Gedanken bringen. Mir tut’s leid, dass ich Betty erwähnt habe. »Das hübsche Schießeisen, das neben den beiden auf der Couch lag, war das die Tatwaffe?«

»Yup«, sagt der Calabretta. »Ein alter Smith & Wesson-Revolver aus Walt Tuckers Waffenschrank. Kaliber .38 Special.«

»Schönes Ding«, sage ich.

»Klassische Liebhaberwumme«, sagt er. »Richtet auch immer ordentlich was an.«

»Soll uns das was sagen?«, frage ich.

»Na ja«, sagt der Calabretta, »mit der eigenen Pistole zu schießen und die dann auch wieder mitzunehmen wäre irgendwie diskreter gewesen. Aber deshalb muss ja nicht gleich eine Botschaft dahinterstecken. Wir treffen uns morgen Nachmittag im Präsidium zur ersten Besprechung. Meine Jungs zerpflücken gerade den Tuckerschen Hintergrund. Wenn Sie möchten, können Sie ja dazukommen.«

Natürlich möchte ich.

»Wieso sind Sie vorhin eigentlich so schnell verschwunden?«, fragt er.

Ich lege auf, weil ich husten muss.

*

Die Musik ist traurig, und sie ist spöttisch, und sie geht mir sofort ans Herz. Ich kenne die Melodie nicht, aber es ist, als hätte ich sie schon mein ganzes Leben lang gehört. Eine sehr verdrehte Balkanmusik, die ein bisschen klingt wie die Essenz von Musik. Die ursprüngliche Idee. Als wäre es genau so gemeint gewesen. Ich gehe zum Fenster. Die Musik wird immer lauter. Ich mache das Fenster auf und kucke runter auf die Straße, und da sind sie: zwei heruntergekommene Typen, der eine hat eine Trompete, der andere ein Schifferklavier. Sie schlingern unsere Straße entlang, ich glaube, die sind angetrunken, wenn nicht sogar völlig besoffen. Ihre Teufelsmusik geht mir so nah, ich fang gleich an zu heulen. Sie torkeln bis zum Ende der Straße, die Musik wird nur langsam leiser. Ganz dahinten, bevor sie links abbiegen, bleiben sie stehen, hören kurz auf zu spielen und rufen was in die Dämmerung. Natürlich verstehe ich die Sprache nicht, niemand hier kann das verstehen. Aber ich glaube, sie erwarten auch von niemandem eine Antwort. Dann spielen sie weiter, ein neues Lied, aber es klingt mir genauso vertraut wie das erste.

In Frankfurt, als ich studiert habe, gab es eine alte Frau in unserem Haus, die sah aus wie eine Zigeunerin aus einem Märchen. Die hat mir genauso zugesetzt. Ich hätte jedes Mal heulen können, wenn ich die auch nur von weitem gesehen hab. Habe mich immer gefragt, was das soll, hab’s aber nie begriffen. Mit dem Balkan hab ich ja nun wirklich gar nichts zu tun. Aber so was gibt’s halt.

Die beiden sind schon lange nicht mehr zu sehen, da kleben ihre Melodien immer noch in unserer Straße. An den Wänden, an den Fenstern, in meinem Gehirn. Würde ich tanzen, würde ich jetzt tanzen.

Ich kriege einen höllischen Hustenanfall.

*

Klatsche steht in meinem Türrahmen und legt mir die Hand auf die Stirn. »Sag mal, soll ich dich vielleicht ins Krankenhaus bringen? Du hast doch Fieber.«

»Nein«, sage ich, »Blödsinn.«

»Du siehst aber echt schlimm aus.«

»Danke, sehr freundlich.«

»So war das nicht gemeint.«

»Schon okay. Komm rein, du Ganove.«

»Ex-Ganove, bitte. So viel Zeit muss sein.«

Er entert mit großen Schritten meinen Flur, biegt ins Schlafzimmer ein, schmeißt sich aufs Bett und sagt:

»Komm her, Baby. Du solltest dich wirklich hinlegen.«

Ich habe nicht die Kraft, ihm zu erklären, dass er mich nicht Baby nennen soll, überhaupt habe ich nicht die Kraft für irgendwas, ich bin ein denkbar gutes Opfer für einen strammen Mittzwanziger, also lasse ich mich auch einfach aufs Bett fallen und warte, was kommt. Klatsche möchte wahrscheinlich ein bisschen rumkaspern, das sehe ich an seinem Blick. An seinen blitzenden Augen. An dem gespannten Zug um den Mund. Er liegt neben mir, auf den rechten Ellbogen gestützt, und grinst mich an. Ich glaube, der will doch nicht rumkaspern. Der will mich provozieren.

»Was?«, frage ich.

»Baby, ich werde wahrscheinlich umsatteln«, sagt er.

»Wie, umsatteln?«, frage ich. »Bin ich dir zu alt?«

»Blödsinn. Ich will doch nicht mein bestes Pferd wechseln.« Er gibt mir einen Kuss auf die Stirn, dreht sich auf den Rücken, zündet sich eine Zigarette an, kuckt an die Decke und sagt: »Ich denke darüber nach, in die Gastronomie einzusteigen.«

Dann schaut er mich triumphierend an.

Ich ziehe eine Augenbraue hoch.

»Nicht gut?«, fragt er.

»Ich weiß nicht«, sage ich. »Wo willst du denn einsteigen?«

»Pass auf«, sagt er und stützt sich wieder auf den Ellbogen, »Ali geht in Rente.«

»Welcher Ali?«

»Ali, der dicke Türke, dem die Blaue Nacht gehört«, sagt er, »der Typ, der damals den kleinen Heiner Matzen versteckt hat, weißt du noch?«

Ich nicke. Ali. Ich weiß noch. Und ich weiß auch noch, dass Ali nicht nur Gastronom ist. Ali hat seine Finger ganz tief im Kiez stecken.

»Also«, sagt Klatsche, »Ali hat Rocco und mich gefragt, ob wir seinen Laden übernehmen wollen.« Er setzt sich auf und macht einen auf ganz wichtig. »Ich meine, der große Ali fragt uns kleine Checker, ob wir sein Erbe antreten wollen. Das ist ’n Hammer!«

Totaler Hammer. Der ehemalige Einbrecherkönig Klatsche und sein Knastkumpel Rocco Malutki machen zusammen eine Kneipe im Rotlichtviertel auf.

»Jetzt sag schon!«, sagt er.

»Totaler Hammer«, sage ich und muss husten.

»Ja«, sagt er, »Riesenkompliment von Ali, oder? Da kann man doch nicht nein sagen.«

Er kuckt mich an.

»Hörst du irgendwann eigentlich auch mal wieder auf zu husten?«

Ich schüttele den Kopf und huste weiter. Als es wieder still ist, streichelt er mir übers Haar und fragt:

»Und? Was gibt’s bei dir Neues? Außer deiner Schwindsucht, meine ich.«

»Zwei tote alte Amerikaner in Hamburg Süd«, sage ich.

»Aha«, sagt er. »Da ist meins jetzt aber aufregender, oder?«

Ich hab den Jungen ja echt gern, doch manchmal könnte ich ihm den Arsch versohlen.

FALLER RELOADED

Der Taxifahrer setzt mich am S-Bahnhof Wilhelmsburg ab. Ich finde, der Hamburger Süden ist eine verdammt undurchsichtige Gegend. Angeblich ja der heiße Scheiß. Der nächste Szenestadtteil. Der Sprung über die Elbe. Wilhelmsburg, die neue Mitte Hamburgs. Hamburg, wachsende Stadt. So ein Blödsinn, echt. Jedes Mal, wenn ich hier bin, sehe ich nichts von alldem. Ich sehe eine Mischung aus Ghetto und niedlicher Natur, aber das ergibt kein Bild, denn Ghetto und niedliche Natur stehen sich naturgemäß im Weg. Da sind abgefuckte Wohnblöcke, triste Kneipen, graue Straßen. Und direkt nebenan wachsen Birken und Weiden und Rosenstöcke, manchmal ist da auch ein kleiner Kanal oder ein Weiher. Es gibt sogar alte Bauernhöfe, ein bisschen weiter weg von den S-Bahn-Schienen. Ich verstehe die Idee: Das könnte schön sein hier. Aber es funktioniert nicht. Das Problem sind die Probleme. Die Tristesse. Hier weht nicht der Geist von Aufbruch durch die Luft. Hier gammelt die Perspektivlosigkeit. Das ist eine No-Hope-Ecke. Den Leuten hier geht’s nicht gut. Wer kann, haut ab. Und nur, wer sich was anderes nicht oder nicht mehr leisten kann, kommt hierher. Die Menschen sehen einfach nicht so aus, als wären sie freiwillig hier, als würden sie gerne hier leben.

Kann man natürlich trotzdem versuchen, so was als aufregenden neuen Stadtteil zu verkaufen. Irgendwer wird schon dran verdienen.

Ich kann das Haus, in dem die Tuckers gelebt haben, schon von weitem sehen. Vier Stockwerke Jugendstil, hellblau gestrichen. Abgeblätterte, früher mal weißlackierte schmiedeeiserne Balkone, der Stuck bröckelt. Das Haus steht auf der anderen Seite der S-Bahn-Schienen, abseits von den schmuddeligen Häuserblocks mit ihren traurigen kleinen Läden im Erdgeschoss. Ich muss nur an der Verlorenen-Seelen-Kneipe Zum alten Bahnhof vorbei und über eine pragmatische, ziemlich zugige Brücke laufen, zack, bin ich auch schon im Grünen und direkt vorm Tucker-Haus. Die Straße sieht aus, als würde sie direkt ins Alte Land mit seinen Apfelbäumen und Deichen führen. Aber wenn man genauer hinschaut, sieht man, dass sie am Ende des Industriegebiets nur auf der Schnellstraße endet.

Die Haustür hat kein Schloss mehr und ist so gut wie aus den Angeln gehoben, sie schwingt sofort auf, als ich leicht dagegentrete. Es ist heute dunkler im Haus als gestern. Kein Licht mehr von draußen. Das Licht versteckt sich hinter dickem Nebel. Ich bemerke den Faller erst, als wir uns auf der morschen Treppe in die Arme stolpern. Was macht der denn hier?

»Was machen Sie denn hier?«

Er zieht seinen Hut tiefer ins Gesicht, kuckt an mir vorbei, kuckt mich wieder an und sagt: »Äh …«

Der überlegt tatsächlich, ob er mich anlügen soll.

»Faller …«, sage ich.

»Schon gut«, sagt er und steckt die Hände in die Manteltaschen. »Ich bin beruflich hier.«

Der alte Schnüffler. Ich hätte nicht gedacht, dass er ernst macht mit seiner Detektei.

Ich zünde zwei Zigaretten an und gebe ihm eine.

»Ihr erster Job?«, frage ich.

»Nein«, sagt er. »Der dritte.«

»Wer hat Sie denn da jetzt so schnell rangesetzt? Die Tuckers sind ja noch nicht mal richtig kalt.«

»Amy Tucker«, sagt er. »Die Nichte der beiden. Ihr Vater Keith war Walts Bruder.«

»Und Miss Tucker traut uns nicht zu, dass wir das hier alleine hinkriegen?«

»Das geht mich nichts an«, sagt der Faller und zieht an seiner Zigarette.

Ich muss husten.

»Hört sich ja grauenvoll an«, sagt er.

»Halb so schlimm«, sage ich und ziehe schnell an meiner Kippe, damit der Blutgeschmack weggeht.

»Sind Sie auf dem Weg in die Tucker-Wohnung?«, fragt er.

»Nein«, sage ich, »ich wollte hier gerade einen Gebrauchtwagen kaufen.«

Blöde Frage, Faller.

»Nehmen Sie mich mit rein?«

Diesen Blick, gleichzeitig souverän und unbekümmert, kann nur der Faller.

»Hätten Sie früher einen Schnüffler mit in eine versiegelte Wohnung genommen?«, frage ich.

»Niemals«, sagt er. Streng.

»Okay«, sage ich, »kommen Sie mit.«

Wir hangeln uns vorsichtig in den zweiten Stock. Ich frage mich, wie die alten Leutchen dieses Monster von Treppenhaus bewältigen konnten. Hinter mir kracht es. Dann knallt es. Der Faller stöhnt.

»Verdammte Hacke«, sagt er, rappelt sich auf und klopft sich den Staub vom Knie. Eine der Holzstufen ist unter seinem Tritt zur Hälfte abgebrochen.

»Wenn die Tuckers schlau waren, sind sie immer schön in ihrer Wohnung geblieben«, sagt er.

»Und wenn«, sage ich. »Hätte ihnen am Ende ja auch nicht geholfen. Sind Sie okay, Faller?«

»Jaja, geht schon.«

Er klopft sich noch mal beide Hosenbeine ab, während ich mit meinem Schlüssel das Siegel an der Wohnungstür von Walt und Lorraine Tucker aufschlitze.

Der Blutgeruch ist schon fast raus aus der Wohnung. Und auch sonst riecht es hier inzwischen mehr nach Herbstnebel als nach Menschen. Muss wohl jemand von den Kollegen das Fenster aufgemacht haben. Ich wusste gar nicht, dass von denen einer hausfrauliche Fähigkeiten hat.

Der Faller und ich stehen relativ dumm im Flur rum. Es ist wirklich duster, aber ich will kein Licht anmachen. Das wäre mir schon zu offiziell. Wir sind ja eigentlich gar nicht zusammen hier.

»Faller«, sage ich, »wir sind in unterschiedlichen Zimmern unterwegs, okay?«

Der Faller knurrt und zieht Handschuhe an. Der alte Profi. Ich hab natürlich keine dabei.

»Haben Sie für mich auch welche?«

My dear Lorraine! Look how close I am to the President … kissing you: Louise.