Als E-Book beim Hummelburg Verlag erschienen 2020
Die Print-Ausgabe erscheint im Hummelburg Verlag,
Imprint der Ravensburger Verlag GmbH
© 2020 Hummelburg Verlag
Imprint der Ravensburger Verlag GmbH
Cover- und Innenillustration: Max Meinzold
Covertypografie: Max Meinzold
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch
Hummelburg Verlag
Imprint der Ravensburger Verlag GmbH,
Postfach 2460, D-88194 Ravensburg
ISBN 978-3-7478-0026-3
www.ravensburger.de
Für Roland
Felistin sah erstaunt zu den kleinen Papiertieren hinunter, die um seine Füße herumwuselten. Jemand hatte das gefaltete Papier mit einem Zauber zum Leben erweckt. Etwas kitzelte Felistin am Fußgelenk. Eine kleine papierne Giraffe schob von unten ihren Kopf in sein Hosenbein. Erschrocken machte er einen Satz zur Seite.
»Komm endlich rein und mach die Tür zu!«, forderte ihn der größere Junge mit den dicken braunen Locken auf.
Felistin gehorchte, blieb aber unsicher neben der Tür stehen.
»Ich bin Aristide«, sagte der Junge. »Aristide Delune. Und das ist Baltasar Belleson.« Er deutete auf den Jungen mit den Sommersprossen, der Felistin abschätzend musterte.
Es war das erste Mal, dass Felistin bei der Familie Delune zu Besuch war. Und er wünschte sich, seine Großmutter hätte ihn nicht mit hierher genommen. Er konnte die Jungen vom ersten Moment an nicht leiden. Sie hielten sich für etwas Besseres, das spürte er.
»Was sagt ihr zu meinem Zoo?«, fragte Aristide. »Das Zebra war besonders schwer. Ich musste den Zauber drei Mal ausführen, aber jetzt frisst es sogar Gras, wenn ich ihm welches hinhalte.«
Felistin schielte bewundernd zu dem kleinen Papierzebra, das gerade seinen Hals an einem Stuhlbein rieb. Baltasar schien weniger beeindruckt.
»Nette Spielerei«, sagte er nur. »Ich hab gestern die fleischfressende Pflanze von meinem Onkel Leo in einen Kakadu verwandelt. Das hättet ihr mal sehen sollen!«
Aristide hob einen winzigen Papier-Elefanten vom Fußboden auf und betrachtete ihn. »Und an was zauberst du gerade?«, fragte er Felistin.
»An nichts Bestimmtem«, murmelte der. Er wollte mit diesen beiden Angebern lieber nicht über seine Zauberei reden. Sie war … anders als ihre. Tatsächlich zauberte er im Moment wenig. Er war vielmehr mit dem Sammeln von Zutaten für seine Zauberei beschäftigt. Aristide und Baltasar fänden das bestimmt merkwürdig, aber für Felistin war es sehr wichtig, das Einsammeln der Zutaten richtig zu beherrschen. Es war nicht einfach und konnte unter Umständen sogar gefährlich für ihn werden.
»Der wird doch von seiner Großmutter unterrichtet«, sagte Baltasar abfällig. »Und Papa meinte, die kann gar nicht richtig zaubern.«
Felistin spürte Wut in sich hochsteigen. »Sie kann mit Sicherheit besser zaubern als eure beiden Väter zusammen«, fuhr er Baltasar an. Schon im selben Moment bereute er, so giftig gewesen zu sein, doch es war zu spät. Baltasars Augen verengten sich zu zwei Schlitzen. »Ach ja? Was zaubert die denn so Tolles, deine Großmutter, hm?«
Felistins Wangen begannen zu glühen. Er hatte nicht gelogen. Seine Großmutter war eine brillante Magierin. Doch gerade jetzt wollte ihm ganz und gar nichts einfallen, um es den beiden zu beweisen.
»Sie … ähm, sie macht …«, stotterte er.
Baltasar setzte ein spöttisches Grinsen auf.
»Sie zaubert mit Gefüüühlen, seine Großmutter«, sagte er zu Aristide.
Vor Wut und weil er nicht wusste, was er antworten sollte, stiegen Tränen in Felistin auf. Er schluckte. Auf keinen Fall durfte er jetzt weinen. Doch Aristide hatte Felistins feuchte Augen bereits bemerkt und zeigte mit dem Finger auf ihn. »Der fängt gleich an zu heulen«, lachte er.
»Willst du jetzt mit deinen Tränen zaubern, oder was?«, fragte Baltasar. Und dann hielt Felistin es nicht mehr aus. Er stürzte aus dem Raum. Für einen kurzen Moment stand er auf dem Flur und wusste nicht wohin. Die Tränen liefen ihm über das Gesicht.
»Warum weinst du denn?«
Erschrocken blickte Felistin auf.
Da saß ein kleines Mädchen auf dem Schuhschrank und ließ die Beine baumeln.
»Ich wein gar nicht«, schniefte er.
»Klar weinst du.« Das Mädchen sprang vom Schrank hinunter. Ihre lockigen Zöpfe wippten auf und nieder.
»Beug dich mal runter, dann tröste ich dich«, forderte sie Felistin auf.
Verwirrt neigte er den Kopf zu ihr herunter.
Das Mädchen strich mit ihrer kleinen Hand über seine Wange.
»Armer schwarzer Kater«, flüsterte sie.
Noch nie hatte Felistin jemand über die Wange gestreichelt. Zumindest nicht, seit er sich erinnern konnte. Seine Eltern waren schon zu lange tot, und seine Großmutter berührte ihn niemals.
Felistin fand, dass es sich schön anfühlte. So warm und weich. Aus irgendeinem Grund musste er an Himbeeren im Sommer denken. Unwillkürlich schloss er seine Augen. Doch schon kurz darauf riss er sie erschrocken wieder auf. Was tat er hier eigentlich? »Scher dich weg!«, zischte er.
Er stieß die Kleine von sich und stürmte mit großen Schritten die Treppe hinunter.
Es ist elf Uhr fünfunddreißig an einem sonnigen Vormittag. Claire Delune biegt zu Fuß und mit klopfendem Herzen in die Pariser Rue Marrant ein. Ihr maigrüner Rollkoffer rumpelt laut über das Kopfsteinpflaster. Deswegen schreckt Monsieur Bonnet hoch, der in seiner Schneiderei über der Nähmaschine eingenickt ist. Er wirft einen übellaunigen Blick auf seine Taschenuhr. Mit spitzer Nase lugt er aus dem Fenster.
Als er das Mädchen mit dem roten Halstuch erblickt, pressen sich Monsieur Bonnets dünne Lippen aufeinander. Seine Augen treten nervös aus den Höhlen, und er sieht aus wie der Dackel von Madame Rossetti bei Gewitter. Aber natürlich weiß Monsieur Bonnet nicht, wie er gerade aussieht. Er kann auch gar nicht darüber nachdenken. Denn in seinem Kopf haben nur zwei kurze Worte Platz: Oh nein!
Wegen einer Geschichte, in der ein Heftpflaster, ein gelber Luftballon und eine Stecknadel wichtige Rollen spielen, freut Monsieur Bonnet sich überhaupt nicht, Claire zu sehen. Aber eigentlich freut Monsieur Bonnet sich niemals über irgendetwas. Deswegen ist sein Verhalten auch alles andere als verwunderlich.
Nachdem er den ersten Schrecken verdaut hat, kneift Monsieur Bonnet hinter seinen runden Brillengläsern die Augen zusammen. Er beobachtet, wie Claire auf der anderen Straßenseite vor dem Haus mit der Nummer 22 stehen bleibt. Ängstlich blickt sie an dem alten, mit Efeu berankten Backsteinhaus hinauf.
Von ihrer Angst bemerkt Monsieur Bonnet nichts. Er sieht nur Claires wirre braune Locken, ihre rosa Strumpfhosen und ihre gurkengrünen Lieblingsschuhe. Ärgerlich schüttelt er den Kopf. Welcher anständige Mensch, fragt er sich, trägt grüne Schuhe? Selbst wenn er noch ein Kind ist, so wie Claire?
Monsieur Bonnet trägt immer schwarze Schuhe, dazu passende schwarze Socken und einen grauen Anzug. Und hätte er einen Sohn, so würde der auch schwarze Schuhe tragen. Dazu passende schwarze Socken und einen grauen Anzug.
»Was treibt dieses sonderbare Mädchen denn schon hier?«, murmelt Monsieur Bonnet vor sich hin.
Soweit er weiß, besucht Claire seit ihrem neunten Geburtstag vor drei Jahren ein Internat, weit weg in der Stadt Avignon. Die Sommerferien beginnen erst in zweieinhalb Wochen. Deswegen sieht Monsieur Bonnet gar nicht ein, warum das Mädchen schon jetzt in der Rue Marrant auftauchen muss.
Den Grund für Claires verfrühte Abreise aus dem Internat wird er allerdings niemals erfahren. Und würde ihm jemand die Geschichte erzählen, würde er sie ohnehin nicht glauben. Dazu ist sie viel zu sonderbar und rätselhaft, und Monsieur Bonnet hat weder für Sonderbares noch für Rätselhaftes etwas übrig.
Gerade drückt Claire auf den Klingelknopf der Hausnummer 22. Sie wartet eine Weile, doch nichts regt sich. Dann kramt sie einen großen schwarzen Schlüssel aus ihrer Manteltasche hervor und steckt ihn ins Schloss. Kaum hat sie die Tür einen Spalt weit aufgedrückt, plärrt ihr auch schon eine schrille Stimme entgegen: »Wieso hat das denn so lange gedauert?«
Claire fährt zusammen. Eilig schlüpft sie mit ihrem Koffer ins Haus.
»Sag mal, spinnst du, Gabriel? Die Tür war offen. Es hätte dich jemand hören können.«
Suchend blickt Claire sich in der Diele nach dem Übeltäter um. Sie entdeckt ihn schließlich auf dem goldenen Kronleuchter unter der Decke. Zum Glück ist das Licht ausgeschaltet, sonst hätte sie ihn bestimmt übersehen. Geister sind bei Tageslicht schließlich fast unsichtbar. Aber in dem beinahe fensterlosen Flur kann Claire die bläulich schimmernde Gestalt gut erkennen.
Für einen Geist ist Gabriel nicht besonders groß. Wenn er die Arme und Beine ganz ausstreckt, ist er höchstens so lang wie das Nudelholz von Madame Bordelon aus der Bäckerei. Er hat viele blaue Sommersprossen, ein abstehendes Ohr und eine Stupsnase, die im Augenblick wütend zittert.
Gabriel ist nämlich böse auf Claire. Die letzten Tage haben ihm keinen besonderen Spaß gemacht. Er hatte nur Gesellschaft von einem dicken Zauberbuch und von Claires Tante Odette. Das Buch war so schlecht gelaunt wie nach sieben Tagen Regenwetter, weil niemand aus ihm gezaubert hat. Nur Unsinn hat es deshalb angestellt. Und Claires Tante Odette … nun, die kommt selten aus ihrem Zimmer heraus. Gabriel gibt Claire die Schuld an dem ganzen Schlamassel. Er starrt zur Decke und tut so, als wäre sie überhaupt nicht da.
»Gabriel, ich habe mich wirklich beeilt«, sagt Claire.
»Püh!«, macht der kleine Geist. »In der Zeit hätte ich locker bis nach Afrika fliegen können. Und da hätte ich mindestens zwanzig Krokodile verspeist.«
»Du kannst doch aber gar nichts essen«, sagt Claire.
Gabriel rollt wütend mit den Augen.
Claire grinst, weil das lustig aussieht. Aber sie will Gabriel nicht allzu sehr ärgern. Bevor er sich weiter aufregen kann, klappt sie schnell ihren Koffer auf und zieht ein kleines Päckchen hervor.
»Ich hab dir etwas mitgebracht.«
Claire bemerkt, wie Gabriel aus den Augenwinkeln zu ihr herunterschielt. Als er das bunte Geschenkpapier erblickt, wird er ganz kribbelig. Auffordernd wedelt Claire mit dem Päckchen herum. Und da zögert der kleine Geist nur noch einen winzigen Moment, bevor er sich in die Tiefe stürzt. Atemlos landet er auf Claires Schulter.
»Pack es aus, pack es aus!« Freudig klatscht er in die Hände, und Claire muss lachen. Wenn Geister in der Menschenwelt Dinge berühren könnten, hätte Gabriel das Papier schon längst in kleine Fetzen zerrissen. Langsam löst Claire das dicke rote Geschenkband.
»Ui!«, ruft Gabriel, als endlich eine DVD zum Vorschein kommt. »Da sind ja Krokodile drauf.«
»Das ist ein Film über Tiere in der afrikanischen Savanne«, sagt Claire. »Ich weiß doch, wie gern du Krokodile magst. Auch wenn du sie nicht essen kannst.«
Gabriel nickt begeistert. Er schwingt sich glucksend in die Luft und vollführt dort einen dreifachen Looping, sodass einem schon vom Zuschauen schlecht werden kann.
»Das Buch hat in der Zauberkammer übrigens eine Dornenhecke wachsen lassen. Wenn du zaubern willst, musst du dir erst eine Gartenschere besorgen«, sagt er. »Und Tante Odette hat einen neuen Frosch.«
Claire runzelt die Stirn. Nur für einen kurzen Moment hat sie vergessen, warum sie überhaupt hier ist. Leider ist es ganz und gar kein erfreulicher Grund, sondern einer, wegen dem in Claires Bauch schon seit Freitag ein schwerer Stein rumpelt.
»Um das Buch kümmere ich mich später«, sagt sie zu Gabriel. Ihr Blick wandert zu der großen dunkelbraunen Eichentür von Tante Odettes Zimmer hinüber.
Vorsichtig klopft Claire an.
»Herein!«, piepst es.
Claire folgt der Aufforderung, und unversehens sieht sie sich zwei tellergroßen Augen gegenüber. Tante Odette, die offenbar direkt hinter der Tür gelauert hat, trägt ihre Vergrößerungsbrille. Damit betrachtet sie gern ihre Frösche.
»Claire, Schätzchen!«, ruft sie aus. »Sind denn bereits Ferien?« Sie schaut verwirrt auf ihre Armbanduhr, obwohl sie an der ja auch nicht ablesen kann, wann die Ferien beginnen – selbst mit der dicken Brille nicht.
»Nein.« Claire gibt Tante Odette ein Küsschen auf die blasse Wange. »Ich bin wegen Papa hier. Er ist doch …«
Claire muss schlucken. Die Worte wollen ihr nicht über die Lippen. Sie muss kurz innehalten.
»Er ist doch … in der Mauer. Weißt du das denn nicht?«
»Waaas?«
Tante Odette reißt die Augen noch weiter auf. Mit der Vergrößerungsbrille sieht sie jetzt aus wie eine mutierte Stubenfliege.
»Wieso habe ich das denn nicht mitbekommen?«
Claire stellt sich ehrlich gesagt dieselbe Frage, doch ihre Tante ist vor Schreck ohnehin schon ganz aus dem Häuschen, da will Claire sie nicht noch mehr betrüben.
Verwirrt schüttelt Odette die grauen Locken und lässt sich in ihren Plüschsessel plumpsen. Claire hockt sich daneben und hält eine Weile ihre Hand.
»Weißt du, Claire«, sagt Tante Odette, und ihre Stimme klingt noch dünner als sonst, »vielleicht ist es ganz gut so. Auf der Welt passieren immer so furchtbare Dinge … Da hat dein Vater es in der Gartenmauer sicher besser.«
Claire ist anderer Meinung, doch sie nickt trotzdem, und bald stiehlt sich wieder ein Lächeln auf Odettes Gesicht.
»Ich habe einen neuen Frosch«, sagt sie stolz. Sie erhebt sich aus dem Sessel und trippelt zur Rückseite des Zimmers. Dort stehen unzählige Terrarien übereinandergestapelt. In den Glaskästen krabbeln Dutzende von Fröschen. Manche ruhen sich auf Steinhügeln aus, andere baden in kleinen Pfützen.
»Schau mal, ist der nicht putzig?« Odette deutet auf einen zitronengelben Frosch.
»Es ist ein Phyllobates terribilis. Ein schrecklicher Pfeilgiftfrosch. Er ist so giftig, dass man keine zwanzig Minuten überlebt, wenn man ihn einmal angefasst hat«, sagt sie fröhlich.
Claire weiß nicht recht, ob sie Lust hat, die Wohnung mit einem Killerfrosch zu teilen. Doch weil Odette so überglücklich aussieht, sagt sie nichts.
Stattdessen erklärt sie, dass sie von der langen Fahrt im Zug furchtbar müde sei und erst einmal ihren Koffer auspacken möchte. Rückwärts schleicht sie aus dem Zimmer. Dabei lässt sie den gelben Frosch nicht aus den Augen.
Im Flur auf einer der Wandleuchten wartet Gabriel. Seitdem eine von den großen Kröten einmal durch ihn hindurchgehüpft ist, traut er sich nicht mehr in Odettes Zimmer.
»Sie hat einen Phylli… Phyllibites terribi… Dingsbums«, stammelt Claire. »Hättest du ihr das nicht ausreden können?«
»Wie denn?« Gabriel verschränkt die Arme vor der Brust. »Sie bestellt ihre Frösche im Internet. Und ich kann ja wohl kaum mit dem Paket zur Post gehen und es zurückschicken.«
»Stimmt.« Claire seufzt. Müde fasst sie nach dem Griff ihres Koffers. »Ich packe jetzt erst mal meine Sachen aus.«
Gabriel zieht verdutzt seine blauen Augenbrauen in die Höhe. »Willst du denn gar nicht zu Aristide in den Garten gehen?«
»Nein«, sagt Claire. »Das schaffe ich noch nicht. Erst brauche ich ein paar Minuten für mich allein.«
Kein Wunder, dass Claire sich ausruhen muss. Schließlich hat sie eine lange Reise hinter sich und einiges zu verarbeiten.
Ganz allein ist sie von Avignon mit dem Zug nach Paris gefahren. Und wie Monsieur Bonnet und Tante Odette bereits festgestellt haben, müsste sie eigentlich noch mindestens zwei Wochen in der Schule sein.
Vor drei Jahren, kurz nachdem Claires Mutter spurlos verschwunden war, hat ihr Vater sie auf das Internat von Madame Roux geschickt. Er hatte wenig Zeit, und ein kleiner blauer Geist und eine Tante Odette schienen ihm für Claires Erziehung wenig förderlich zu sein. Das Internat hatten außerdem schon einige der Delunes besucht. Auch Tante Odette war dort zur Schule gegangen, weil ihre Eltern eine ordentliche Schulbildung für ein Mädchen wichtiger fanden als eine Zauberlehre. Aristide sah das anders. Trotzdem entschied er sich dafür, Claire auf das Internat zu schicken.
Noch am letzten Freitag aß Claire wie gewöhnlich in der großen Halle von Madame Roux’ Schule zu Mittag. Es gab Flammkuchen. Den mag sie besonders gern.
Als die Halle sich langsam leerte, weil die Mädchen in ihre Aufenthaltsräume strömten, sah Claire aus den Augenwinkeln etwas aufblitzen: Es war ein Briefumschlag. Ein Briefumschlag mit drei spitzen Ecken. Er schwebte direkt über dem Büfetttisch für den Salat und schimmerte eiswasserblau.
Mit schnellen Schritten durchquerte Claire den Raum. Sie pflückte den Brief aus der Luft, bevor ihn noch jemand anders entdecken konnte. In Madame Roux’ Internat ist es nämlich ganz und gar nicht üblich, dass Briefe in der Luft herumschweben. Im Gegensatz zur Rue Marrant Nummer 22, in der Claire zu Hause ist, geht es bei Madame Roux mit rechten Dingen zu.
Auf der Vorderseite trug der Brief ein Siegel aus blauem Wachs: zwei Sterne, eingerahmt von einem Halbmond. Das Wappen der Familie Delune. Der Halbmond steht für den Mondstein der Familie, der große Stern für den Zauberlehrer, der kleine bildet seinen Lehrling ab.
Nervös riss Claire den Umschlag auf und zog den Brief heraus.
Liebe Claire, stand dort …
Liebe Claire,
du musst so schnell wie möglich deinen Koffer packen und nach Hause kommen. Ab jetzt können wir uns nur noch an der Gartenmauer treffen. Du weißt schon, warum …
Ich habe an Madame Roux bereits einen Brief geschrieben. Er müsste morgen eintreffen. Kümmere dich gut um Tante Odette, um Gabriel und vor allen Dingen um das Zauberbuch. In der letzten Zeit steckt es mit seiner schlechten Laune sogar die Tapeten an. Die in meinem Schlafzimmer haben sich schon ganz dunkel verfärbt.
Gute Reise und pass auf dich auf!
Es umarmt dich fest
dein Vater Aristide
Als Claire den Brief sinken ließ, schwammen ihre Augen in Tränen. Ohne eines der vorbeieilenden Mädchen oder den fluchenden Deutschlehrer Monsieur Monette im Treppenhaus zu bemerken, schlich sie in ihr Zimmer hinauf. Sie zog den maigrünen Rollkoffer unter ihrem Bett hervor und begann zu packen.
»La Paloma Oheeee!
Einmal wird es vorbeiiii sein.
Einmal holt uns die See,
und das Meer gibt keinen von uns
zurüüüüück!«
Gabriel ist schrecklich langweilig. Er fliegt im Flur herum und schmettert alte Seefahrerlieder.
Claire liegt in ihrem Zimmer auf dem Bett und schnarcht leise.
»… eine Seefahrt, die ist lustig, eine Seefahrt, die ist schööööön …«
Langsam macht Claire ein Auge auf. Sie erhebt sich, schlurft durchs Zimmer und öffnet die Tür.
»Wir sind hier aber nicht auf hoher See«, murmelt sie.
Gabriel schlägt sich stolz mit der Faust auf die Brust.
»Ein wahrer Seemann trägt das Meer in seinem Herzen«, sagt er.
»Na, du musst es ja wissen.« Claire gähnt. Sie tapert barfuß in die Küche – mit dem johlenden Klabautergeist im Schlepptau. Immer noch schläfrig macht sie sich eine Tasse heißen Kakao. Die geblümte Zuckerdose ist wie immer störrisch. Erst als Claire ihr den dicken runden Bauch krault, lässt sie sich öffnen.
Eine Weile rührt Claire nachdenklich in ihrer Tasse herum. Alle paar Sekunden wirft sie einen gequälten Blick durch das Fenster in den Garten.
»Jetzt geh schon hinaus«, sagt Gabriel. »Irgendwann musst du es ja hinter dich bringen.«
Claire nickt. Mit kleinen Schlucken trinkt sie ihren Kakao. Dann stellt sie die Tasse in das Spülbecken und wartet. Doch nichts geschieht. Als ihr einfällt, dass Aristides Aufräumzauber nun gar nicht mehr wirken kann, wird Claire traurig. Seufzend spült sie ihre Tasse selbst ab. Danach wendet sie sich entschlossen zur Terrassentür. Wir treffen uns an der Gartenmauer, hat ihr Vater geschrieben. Und genau dort würde sie nun hingehen.
Claire öffnet die Terrassentür und tritt nach draußen. Sie ist nervös. So nervös, dass ihr das Herz in der Brust herumflattert.
Ängstlich blickt sie zu der Mauer, die den Garten begrenzt. Schon nachdem sie nur ein paar Schritte über die Terrasse getan hat, gerät die Mauer in Bewegung. Die rostbraunen Backsteine beginnen, sich schabend um sich selbst zu drehen. Immer schneller und schneller rotieren sie, und dann wachsen plötzlich hier ein Bart, dort eine Brille und am Ende sogar ein paar Nasen und Segelohren aus dem Mauerwerk hervor. Als die Steine endlich zur Ruhe kommen, schauen vier steinerne Gesichter in den Garten. Neugierig mustern sie das Mädchen mit den braunen Locken, das vor Aufregung kein Wort herausbringt.
Ururgroßvater Leopold mit dem langen Rauschebart, ganz links in der Mauer, ergreift als Erster das Wort:
»Haatschiii!« Für einen Moment ist sein Gesicht hinter einer dichten Wolke aus Steinstaub verborgen.
»Na, wenn das keine Überraschung ist«, sagt er, als die Wolke sich lichtet.
»Aber das ist doch keine Überraschung, Leopold«, sagt Großvater Nikolas, brummig wie immer.
»Wie bitte?«, fragt Leopold. Leider hört er schlecht. Beinahe so schlecht wie ein Regenwurm.
»KEINE ÜBERRASCHUNG!«, brüllt Nikolas deswegen. »Wir haben dir doch gesagt, dass Claire früher kommen wird. Wegen Aristide.«
»Wie bitte?«, fragt Leopold wieder.
Großvater Nikolas verdreht die Augen, und Urgroßvater Septimus mit den dicken Pausbacken ergreift das Wort: »Herzlich willkommen, Claire! Es ist so schön, dich zu sehen.«
Claire schenkt ihm ein kurzes Lächeln. Septimus war schon immer der höflichste unter ihren Vorfahren. Dann wendet sie sich zur Seite, dem vierten Gesicht in der Mauer zu. Einem Gesicht, das sie bis jetzt noch nie dort gesehen hat.
»Hallo Papa«, sagt sie leise.
Sie fühlt sich schrecklich traurig. Auch wenn ihr Vater in Stein eigentlich gar nicht so viel anders aussieht als sonst. Er hat immer noch die Grübchen in den Wangen, und seine lockigen Haare sind strubbelig wie bei einem zerstreuten Professor.
Doch natürlich ist es etwas anderes, seinem Vater als Steingesicht in einer Mauer zu begegnen, als ihn am Frühstückstisch zu treffen. Er wird Claire nie wieder in den Arm nehmen können, und ihre Zauberübungen wird sie zukünftig ganz allein machen müssen. Durch Claires Kopf rasen tausend Gedanken: Erst ihre Mutter und nun auch noch ihr Vater. Wie soll sie das alles allein bloß schaffen? Für einen kurzen Moment kämpft Claire mit den Tränen. Zum Glück bemerkt ihr Vater nichts davon. Er blinzelt, als wäre er eben erst aufgewacht.
»Da bist du ja«, begrüßt er Claire. Er spricht noch etwas langsam, und seine Worte klingen, als steckten sie in einem verrosteten Uhrwerk fest. Jetzt schneidet er ein paar Grimassen, wohl um sein neues Gesicht auszuprobieren.
»Ich muss sagen, bis auf das leichte Kribbeln in den Ohrläppchen und den Schmerz im Backenzahn fühlt sich dieser Kopf nicht übel an«, bemerkt er.
»Die Zahnschmerzen hattest du doch schon vorher.« Claire blickt ihren Vater tadelnd an. »Ich hab dir schon vor drei Wochen am Telefon gesagt, du sollst zum Zahnarzt gehen. Oder dir zumindest einen Zauber dagegen suchen.«
»Fluchen?«, fragt Leopold empört. »Wer wird denn fluchen?«
»SUCHEN!«, brüllt Claire. »Warum hast du mir eigentlich nichts davon gesagt, dass du so krank warst?«, fragt sie ihren Vater. Sie kann nicht verhindern, dass es sich vorwurfsvoll anhört. »Madame Roux hätte mich doch bestimmt früher beurlaubt. Dann hätten wir uns noch einmal sehen können, bevor du … na ja, du weißt schon … bevor du gestorben bist.«
»Aber Schätzchen, ich war doch gar nicht krank«, sagt Aristide und schaut kurz verlegen. »Ich bin einhundertsechsunddreißig. Da kann so etwas schon mal passieren.« Er lacht. Laut und polternd. Dabei quellen kleine Staubwölkchen aus seinem Mund.
»Außerdem bist du doch jetzt da«, sagt er. »Und in meinem Brief an Madame Roux habe ich geschrieben, dass du nun hier in Paris zur Schule gehen wirst. Tante Odette kann dich anmelden. Was sagst du dazu?«
Alle Augen richten sich auf Claire. Nur Leopold schaut verträumt auf ein kleines Butterblümchen – wahrscheinlich hat er wieder einmal nicht verstanden, worum es geht.
»Natürlich bleibe ich«, sagt Claire. »Einer muss sich schließlich um das Buch kümmern. Tante Odette und Gabriel kann ich damit doch nicht allein lassen.«
»Wie bitte?«, fragt Leopold.
»ICH BLEIBE!«, brüllt Claire. Sie schaut ihren Vater an. »Ich wollte ja auch gar nicht auf das Internat. Du wolltest das.«
»Ich habe nur versucht, das Beste für dich zu tun«, rechtfertigt sich Aristide, klingt aber ein wenig kleinlaut.
»Mag sein.« Claire beschließt, das Thema nicht weiter zu vertiefen. »Das Gute ist, dass du mich ab jetzt wieder viel besser unterrichten kannst. Im Internat konnte ich gar nicht richtig üben, weil ich ständig Angst haben musste, erwischt zu werden.« Sie stemmt ihre Hände in die Hüften. »Deine Abschriften vom Zauberbuch sind übrigens kaum zu lesen. Du hast wirklich eine Sauklaue!«
»Das stimmt«, pflichtet Großvater Nikolas ihr bei. »Die Weihnachtswunschzettel von Aristide hatte ich immer erst an Ostern entziffert.« Er prustet los. Auch Urgroßvater Septimus’ dickes Doppelkinn zittert vor Lachen, und Ururgroßvater Leopold kichert mit, obwohl er bestimmt wieder nur die Hälfte verstanden hat.
Nur Aristide blickt trübsinnig drein.
»Ich weiß, Claire, deine Zauberausbildung ist in den letzten Jahren viel zu kurz gekommen«, seufzt er. »Ich wünschte, deine Mutter wäre nicht auf diese Expedition gegangen …«
»Bahnstation?«, fragt Ururgroßvater Leopold.
»EXPEDITION!«, brüllt Septimus.
Für einen Moment sagt niemand etwas.
»Und, wie ist es so?«, fragt Claire ihren Vater nach einer Weile.
Sie erntet einen verständnislosen Blick.
»In der Mauer«, sagt sie. »Ist es so, wie du es dir vorgestellt hast?«
Aristide spitzt nachdenklich die Lippen.
»Nein, eigentlich nicht.«
»Erzähl’s mir«, fordert Claire.
Natürlich ist sie neugierig. Aus den anderen Verwandten hat sie nie etwas Brauchbares über das Dasein in der Mauer herauskitzeln können, geschweige denn darüber, warum alle Ahnen nach ihrem Tod dort hineingeraten.
Bereits seit Jahrhunderten ist es ein großes Geheimnis, warum die Zauberer der Familie Delune nach ihrem Tod in die Gartenmauer der Rue Marrant einziehen.
Einerseits findet Claire es sehr schön und praktisch, ihre Vorfahren im Garten besuchen zu können. Doch manchmal fragt sie sich, ob es die Verwandten im Himmel – oder wo immer auch sonst andere Menschen nach ihrem Tod hingehen – nicht doch schöner hätten.
Zum Glück sieht Aristide aber gar nicht unzufrieden aus. Als er jetzt versucht, Claire sein neues Leben zu beschreiben, breitet sich sogar ein träumerisches Lächeln auf seinem Gesicht aus.
»Es ist … als ob du in ein frisches Eclair hineinbeißt«, sagt er. »Erst hörst du das Knacken der Schokolade, dann beißt du dich durch den Teig und am Ende schmeckst du die fluffigste Vanillefüllung, die du dir vorstellen kannst.«
Jetzt ist Claire genauso schlau wie vorher. Sie weiß immer noch nicht, wie sich das Leben in der Mauer anfühlt. Vermutlich wird sie es erst erfahren, wenn sie selbst hineingerät, und das wird hoffentlich noch eine ganze Weile dauern.
Der alte Monsieur kämpft sich schnaufend die Treppe hinauf. Er ist groß, fast riesig und hat einen spiegelnden Glatzkopf. In jeder seiner Pranken trägt er einen Koffer. Endlich erreicht er die Wohnungstür. Drinnen in der geräumigen Stube befördert er einen Koffer unter das Sofa. Den anderen hebt er so vorsichtig wie ein Porzellanei auf den Tisch. Er lässt die Schlösser aufspringen und sieht beinahe liebevoll auf die kleinen grauen Kästchen, die sich in dem Koffer befinden.
Ganze sechs Wochen lang hat es diesmal gedauert, sie zu füllen, und es war nicht einfach: Er wurde von einem Pudel gebissen, zweimal von der Polizei gejagt und einmal sogar von einer alten Madame mit der Handtasche verprügelt.
Insgesamt sind es nun aber bereits sechsundsiebzig Zutaten, die der Alte in den vergangenen drei Jahren zusammengetragen hat. Nur eine einzige fehlt ihm noch. Die würde er in den nächsten Tagen besorgen, und dann … dann konnte er endlich beginnen.
Der Glatzkopf atmet zufrieden aus. Ihm fällt ein, dass er natürlich auch das Bild noch stehlen muss, denn ohne das Gemälde wären die ganzen Zauberzutaten schließlich unnütz. Doch zum Glück würde der Diebstahl nur eine Kleinigkeit für ihn sein: Die lächerlichen Sicherheitsmaßnahmen des Museums bedeuteten für einen so großartigen Magier wie ihn kein Hindernis.
»Deprime!«, ruft er. »Deprime, miez, miez!«
Er macht sich auf die Suche nach seiner Katze.
Die dicke Deprime hat in den letzten Wochen ihre Mäuse selbst fangen müssen, und damit war sie ganz und gar nicht einverstanden gewesen. Die kleinen Biester stellten sich nämlich als sehr flink heraus. Und weil Deprime alles andere als schnell ist, musste sie sich hier und da mit einem Frosch oder ein paar Schaben begnügen. Deshalb lässt die Katzendame den Glatzkopf jetzt noch ein Weilchen zappeln, bevor sie aus ihrem Versteck unter der Kommode hervorkriecht.
Der Alte freut sich mächtig, als er sie erblickt. Er hebt sie in die Höhe und dreht sich mit ihr im Kreis herum. Das gefällt Deprime ebenso wenig wie das Mäusefangen. Und sie findet es auch ziemlich ungewöhnlich. Sonst ist der Alte nämlich meist angenehm schlecht gelaunt.
»Deprime, bald zeigen wir es ihnen«, verspricht der Glatzkopf. »Bald werde ich der Mächtigste von allen sein.« Seine Augen flackern erwartungsfroh.
Deprime maunzt leise, aber nur aus Höflichkeit. Die merkwürdigen Sachen, die der Alte mit den grauen Kästchen anstellt, sind ihr schnurzpiepegal. Hauptsache, sie muss nie wieder Schaben essen. Doch wenn sie es richtig versteht, würde der Alte nun nicht mehr verreisen.
Die mageren Zeiten sind endlich vorbei.