Die Chroniken von Azuhr

Bernhard Hennen

Die Chroniken von Azuhr

Der Verfluchte

FISCHER E-Books

Über Bernhard Hennen

Seit seinem Roman »Die Elfen« erreichen seine Bücher regelmäßig Spitzenplätze auf deutschen und internationalen Bestsellerlisten: Bernhard Hennen, 1966 in Krefeld geboren, ist Germanist, Archäologe und Historiker. Er arbeitete als Journalist für verschiedene Zeitungen und Radiosender und bereiste Zentralamerika, den Orient und Asien.

 

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Über dieses Buch

Der Beginn eines neuen magischen Zeitalters: Der junge Milan Tormeno ist dazu ausersehen, seinem Vater Nandus in das Amt des Erzpriesters zu folgen: Er soll einer jener mächtigen Auserwählten werden, die die Geschicke der Welt Azuhr lenken. Doch Milan kann nicht akzeptieren, dass sein Schicksal vorherbestimmt ist. Er rebelliert – und verstrickt sich mit der Meisterdiebin Felicia und der geheimnisvollen Konkubine Nok in ein gefährliches Netz von Intrigen.

Gemeinsam geraten sie in den Bann einer alten Prophezeiung steht – einer Prophezeiung, nach der die Ankunft des »Schwarzen Mondes« in Azuhr ein neues Zeitalter der Magie einläuten wird ...

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Copyright © 2017 by Bernhard Hennen

 

© Deutsche Erstausgabe 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

 

Covergestaltung: Guter Punkt, München
unter Verwendung mehrerer Bilder von Conceptor/istock/Zozodesign/Thinkstock, Abstractor/shutterstock

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-490260-9

von Helden lobebæren, von grôzer arebeit,

von freuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen,

von küener recken strîten muget ír nu wunder hœren sagen.

(Erste Strophe des Nibelungenliedes)

Uns wird in alten Mären viel Wundersames berichtet,

von ruhmreichen Helden, von großer Mühsal,

von Festen, von glücklichen Tagen, von Weinen und von Wehklagen,

von Kämpfen kühner Recken wird euch nun Wunderbares erzählt werden.

(Übersetzung: Bernhard Hennen)

Die schillernden Federn leuchteten im Abendlicht. Wie Rubine funkelten die Blutstropfen, die den abgebissenen Pfauenkopf säumten.

»Cato!« Es war eher ein Stoßseufzer als ein Aufschrei.

Blutige Pfotenabdrücke auf den Sandsteinplatten des Atriums verrieten, dass der Pfauenmörder sich hinter den Brunnen verzogen hatte. Und den Kadaver hatte er dabei mit sich gezerrt.

Lucio war aus der kleinen Pforte an der Rückseite des Oktagons getreten. Gerade noch war er in Hochstimmung gewesen, da fast doppelt so viele Gläubige wie üblich zur Abendmesse gekommen waren. Er hatte die Mär vom Krähenmann erzählt. Eine wunderbare Geschichte darüber, wie am Ende stets die Gerechtigkeit über das Dunkel in der Welt obsiegte.

Natürlich war sich Lucio bewusst, dass die meisten Besucher vor der drückenden Hitze des Abends in den kühlen Kuppelbau des Oktagons geflüchtet waren. Aber sei’s drum; er hatte siebzehn Zuhörer gehabt, so zahlreich waren seine Tempelbesucher schon lange nicht mehr gewesen. Arbora hatte zu viele Verlockungen zu bieten. In den anderen Städten erzählte man sich, dass hier selbst die Bettler reich genug waren, um ins Hurenhaus zu gehen.

Lucio straffte sich. Er war Erzpriester und ein verheirateter Mann. Seit Sibelle sich mit Nandus, ihrem gemeinsamen Sohn, für den Sommer auf den großen Gutshof ihres Bruders in den

Lucio trat in den Innenhof und hob den Kopf des Pfaus auf. Tote Augen, schwarz wie Obsidian, starrten aus königsblauer Federpracht.

Er würde wenig Freude haben, wenn Sibelle zurückkehrte. Seine Frau hatte diesen arroganten Pfau geliebt, ihn mit Trauben und kleingeschnittenen Apfelstücken verwöhnt. Ihm, Lucio, indes hatte sie schon lange keinen Teller mit aufgeschnittenem Obst mehr gebracht …

»Cato?« Der Kater sollte ihr besser nicht in die Hände fallen. Der einohrige Jäger würde als Füllung in den Fleischpasteten für die nächste Armenspeisung enden. Er sollte ihn fangen und für ein paar Monde in der Festung der Kaiserritter ins Exil bringen.

»Cato? Zeig dich, alter Halunke!« Lucio umrundete den Brunnen und starrte auf die traurigen Überreste des Pfaus. Die prächtigen Schwanzfedern würden sich nie mehr zu einem Rad fächern. Die Bauchhöhle war aufgerissen und ausgeweidet. Offensichtlich hatte er Cato bei seinem Festmahl gestört. Der alte Kater ahnte, dass Ärger im Verzug war.

Weitere blutige Pfotenabdrücke führten zur Rosenlaube, hinter der eine kleine Gittertür in der ursprünglichen Festungsmauer den Durchgang für Zweibeiner versperrte. Jenseits der halb verfallenen Mauer, über welche die Stadt längst hinausgewachsen war, lag die Gasse der Blumenfärber.

Lucio wollte sich schon abwenden – eine Katzenjagd durch nächtliche Gassen erschien ihm lächerlich; er würde den Leichnam des Pfaus in einen Sack mit Steinen packen und im Hafen versenken –, da ließ ein leises Keuchen jenseits der Gittertür ihn innehalten. Ein Betrunkener? Lucio trat an die Eisenstäbe.

Ein Mann, mehr Schatten als Gestalt, kauerte im Durchgang.

Unwillkürlich tastete Lucio nach dem Schwert an seiner Seite, dem Zeichen seines Amtes als Erzpriester.

Die Gestalt wandte ihm den Kopf zu. Ein bärtiges, wettergegerbtes Gesicht blickte zu ihm empor. Ein heiseres Röcheln drang aus der Kehle des Mannes.

Zögerlich schloss der Erzpriester die Tür auf und trat in den gewölbten Durchgang, der nach Blumenfarben und Urin stank. Da war etwas im Blick des Mannes. Ein Flehen, wie er es von Sündern kannte, die zum Richtblock gingen. Sein Blick bat um Verzeihung. Aber wofür?

Der Fremde war massig, seine Arme tätowiert. Ein Seemann. Wildheit und Kraft schienen sein Leben gewesen zu sein. Aber etwas hatte ihm beides genommen. Er war nicht einfach nur ein Betrunkener. Eine Ahnung von drohendem Unheil umgab ihn.

»Mag…, Mag…«

Lucio beugte sich vor, in der Hoffnung, dass sich die gekrächzten Silben zu Worten fügen würden.

Das Gesicht des Mannes verzerrte sich in unsäglichem Schmerz. »Erlöse mich«, stieß er hervor. Sein Blick heftete sich auf Lucios Schwert. »Bitte …«

Eisiger Schrecken erfasste den Erzpriester. Er beugte sich noch tiefer und tastete nach der linken Achselhöhle des Fremden. Durch den groben Stoff des schweißgetränkten Hemdes fühlte er die Schwellung.

Der Seemann zuckte bei der Berührung vor Schmerz zusammen.

Lucio spürte ein Kribbeln auf der Hand. Dann sah er die hüpfenden dunklen Punkte. Flöhe!

»Hernando! Manuelo!«, rief er nach den beiden einzigen Dienern, die seine Frau zurückgelassen hatte. »Bringt die Sänfte der Herrin!«

Der Tod war in dieser Sommernacht nach Arbora gekommen. Und der grausame Schnitter wollte reiche Ernte halten.

Elisa hatte den Schlag erwartet, und doch war er so heftig, dass er sie von den Beinen riss.

»Das ist meine Nachricht an deinen Patron Tercio«, zischte Giacomo Fornio. Das Gesicht des korpulenten Kaufmanns war von der Hitze des Tages gerötet. Seine dunklen Augen lagen tief eingesunken unter buschigen Brauen. Sein Doppelkinn schwappte auf und nieder. Doch trotz der Fettleibigkeit war er erstaunlich kräftig. »Steh auf! Ich hab noch was hinzuzufügen.«

»Das muss doch nicht sein«, versuchte ihn Julio Costa, sein Schwager, aufzuhalten. Elisa kannte den ergrauten Patrizier seit ihrer Kindheit. Er hatte die älteste Tochter des Hauses Fornio geheiratet und besuchte regelmäßig die großen Landgüter, die den Fornios aufgrund bestehender Handelsverträge einen Großteil ihrer Ernte schuldeten.

»Misch dich nicht ein. Du hast ein zu weiches Herz. Dieses faule Pack betrügt uns, wo es nur kann. Härte ist die einzige Sprache, die sie verstehen.« Er stieß ihr mit dem Fuß in die Seite. »Los, auf die Beine mit dir! Oder erwartest du etwa, dass ich mich nach dir bücke, du ungewaschene Dirne.«

Elisa sah die Tränen in den Augen ihrer beiden Mädchen. Zum Glück waren Viola und Arianna klug genug, nichts zu sagen.

Der metallische Geschmack von Blut füllte ihren Mund. Elisa biss die Zähne zusammen, rappelte sich auf und wappnete sich innerlich gegen den zweiten Schlag. Hoffentlich brach er ihr nicht die Nase.

Er schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht. Seine schweren Goldringe schrammten über ihre Wange.

»Du weißt, dass der Kornpreis in den nächsten Wochen jeden Tag fallen wird.«

Eine weitere, schallende Ohrfeige riss Elisas Kopf zur Seite, und ein durchdringender Ton schrillte in ihrem linken Ohr.

Tränen traten ihr in die Augen und nahmen ihr die Sicht. Sie war sich bewusst, dass sie angegafft wurde. Die Schauerleute, die auf den Kais herumlungerten, Matrosen und ein einbeiniger Bettler ergötzten sich an dem Spektakel.

»Es geht mir besser, wenn ich sie prügele!« Giacomos Atem ging keuchend. Fleisch klatschte auf Fleisch. Elisas Mund füllte sich mit Blut. Sie beugte sich vor, spuckte auf das Pflaster.

»Das genügt!«

Überrascht blickte sie auf. Ein Mann im weißen Waffenrock der Kaiserritter baute sich vor dem Kaufherren auf. »Sollte es nicht unter Eurer Würde sein, eine Dame zu schlagen?«

»Eine Dame? Gewiss. Aber ich sehe hier nur eine billige Kebse.«

»Es tut mir leid, dass es um Euer Augenlicht so schlecht bestellt ist, Kaufherr.«

Giacomo öffnete und schloss den Mund wie eine Forelle, die aus dem Wasser gezerrt wurde. Entgeistert starrte er den hochgewachsenen Waffenknecht an, einen blonden Krieger mit rot verbrannter Nase, der wohl erst vor kurzem aus der fernen Westermark gekommen war.

»Ihr Patron soll sehen, was ihn erwartet, wenn ich aufs Herrengut hinausreite. Dafür ist sie hier. Um meine Botschaft an ihn zu überbringen.« Giacomo hob erneut die Hand.

Der Waffenknecht fiel ihm in den Arm. »Ich denke, Eure Botschaft war deutlich genug. Ist es im Übrigen nicht gerechter, den zu strafen, der Euren Zorn erweckt hat, als die unschuldige Botin?«

Der Krieger lockerte seinen Griff. Giacomo löste sich mit einem Ruck. »Du bist noch neu auf Cilia, nicht wahr?« Der Kaufherr trat einen Schritt zurück und musterte sein Gegenüber. »Wie ist dein Name? Ich werde mich bei deinem Komtur über dich beschweren.«

Elisa warf sich auf die Knie. Sie wünschte sich, der Fremde wäre nie erschienen. Sie wusste nur zu gut, welches Unheil der Zorn eines Fornio anzurichten vermochte. Demütig hob sie den pelzbesetzten Saum des Kaufmannsrocks an die Lippen und küsste ihn. »Bitte, Herr, das müsst Ihr nicht. Schlagt mich. Er ist fremd und mit unseren Gebräuchen nicht vertraut.«

Giacomo bedachte sie mit einem Blick, als sei sie eine räudige Hündin. »Du weißt, welche Nachricht du deinem Patron zu überbringen hast. Sein Korn sollte heute hier auf dem Markt sein. Jeder Tag, den sich seine Lieferung verspätet, bringt mich um ein kleines Vermögen.« Der Kaufherr sah zu einem Schiff, das weit draußen im Hafen vor Anker lag und im Abendlicht nur ein Schatten vor dem glühenden Horizont war. Dann wandte er sich abrupt dem Krieger zu. »Und nun zu dir, edler Recke. Wie lautet dein Name?«

»Ilja.«

»Dein Komtur wird von mir hören.« Mit diesen Worten wandte sich der Kaufherr ab und strebte der Landungsbrücke entgegen, an der einst die Seidenschiffe festgemacht hatten. Julio warf Elisa einen bedauernden Blick zu, dann folgte er seinem Schwager.

Der junge Krieger aber kniete vor ihr nieder. »Geht es Euch gut, meine Dame?«

Elisa senkte beschämt den Blick. »Ich bin wirklich keine Dame«, sagte sie leise. Sah er denn nicht, was für schäbige, geflickte Kleider sie trug?

»Eine Dame erkennt man an ihrem Lächeln und

»Bin ich auch eine Dame?« Viola, die kleinere ihrer beiden Töchter, bedachte den Krieger mit einem zahnlückigen Grinsen.

»Du bist peinlich!« Arianna versetzte ihrer Schwester einen Knuff mit dem Ellenbogen.

»Meine Dame?« Er hob sanft Elisas Kinn und sah sie an. Seine Augen waren blau wie der Sommerhimmel. Nie zuvor hatte sie in solche Augen geblickt.

»Alles in Ordnung«, entgegnete sie hastig und richtete sich auf.

»Bist du ein richtiger Ritter?«, bedrängte Viola ihn.

»Still«, mahnte Elisa. »Belästige unseren Retter nicht!«

»Lasst sie nur fragen. Ein Ritter bin ich nicht, doch ich reite an der Seite von Rittern in die Schlacht und halte ihnen den Rücken frei, während sie ihre Heldentaten vollbringen.«

Viola sah ihn mit großen Augen an. »Du hast ein Pferd? Dann musst du aber reich sein!«

Ilja lachte auf. »Das Pferd gehört mir nicht. Der Orden vom Schwarzen Adler stellt es mir zur Verfügung.«

»Ritter helfen doch, wenn die Ungeheuer kommen …«

»Das sollten sie.«

»Dann bist du also doch ein Ritter!«, verkündete Viola überzeugt. »Du hast den dicken Kerl vertrieben und …«

»Ungeheuer gibt es nur in Mären«, unterbrach sie Arianna.

»Zumindest hatte dieser Giacomo ein ungeheuer schlechtes Benehmen«, entgegnete Ilja in gespieltem Ernst.

Ein flüchtiges Lächeln huschte über Ariannas Gesicht, und Elisa ging das Herz auf. Seit Arianna miterlebt hatte, wie ihr Vater unter den Rädern eines voll beladenen Kornkarrens gestorben war, hatte sie nicht mehr gelächelt.

»Ich stehe in Eurer Schuld, meine Dame. Ich hätte verhindern sollen, dass dieser Kerl Hand an Euch legt und …«

»Das Ungeheuer!«, berichtigte Viola ihn lautstark.

Ängstlich sah Elisa dem Kaufherren und Julio nach. Hatten die beiden das gehört? Wenn sie Giacomo das nächste Mal begegnete, würde es keinen edlen Recken geben, der sie vor seinem Zorn in Schutz nahm. Es war besser, wenn sie jetzt zu ihrem Patron zurückkehrten. Bis zum Gutshof würden sie es vor Einbruch der Dunkelheit nicht mehr schaffen, ja, nicht einmal ein Viertel des Weges, aber zumindest bis zur Blutbrücke kämen sie noch. »Gehen wir!«

»Aber …« Arianna standen Tränen in den Augen. Sie biss sich auf die Lippe und sagte nichts mehr. Sie war alt genug, um zu wissen, was geschehen war.

»Habe ich Euch beleidigt, meine Dame?«

»Wir müssen jetzt wirklich gehen …«

»Die heult, weil sie kein Fischbrot bekommt und wir nicht …«

»Viola!« Elisa wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken.

Der Krieger sah sie bestürzt an. »Ihr habt Euren Botenlohn nicht bekommen, weil ich mich eingemischt habe.«

Jetzt wusste er also, dass sie so bettelarm war, dass sie kein einziges Kupferstück besaß. Sie griff nach Violas Hand. »Wir müssen …«

»Bitte gestattet mir, dass ich den Schaden, den ich angerichtet habe, wiedergutmache.«

Fassungslos sah sie den Krieger an. Verspottete der Kerl sie?

»Bitte, Mama«, sagte Arianna leise.

Elisa schluckte. Sie wusste, worauf das hinauslaufen würde. Seit Riccardo tot war, erdreistete sich ihr Patron Tercio, ihr selbst vor den Augen der Mädchen unter die Röcke zu greifen,

»Wir werden uns zu dritt ein Brot teilen.«

»Das kommt gar nicht in Frage! Meine Ehre gebietet mir, meine Schuld ganz und gar abzutragen. Ich kenne eine Garstube, in der es köstlichen …«

»Thunfisch muss es sein!«, belehrte Viola den Krieger. »Mit gebratenen Zwiebeln und einer weißen Soße mit Knoblauch. Das Ganze auf einem Fladenbrot.«

»Das hört sich ganz so an, als wüsstet Ihr sehr genau, wohin wir am besten gehen sollten, um zu speisen, junge Dame.«

»Stimmt!«

Elisa blickte zum Himmel. Es dauerte noch mindestens eine Stunde, bis das Mondtor bei Einbruch der Nacht geschlossen wurde. Sie hatten genug Zeit.

Arbora, Haus des Hafenmeisters, erste Stunde der Nacht, 7. Tag des Hitzemondes, 53. Jahr vor Sasmiras zweiter Thronerhebung

Lucio ließ den schweren Löwenkopf des Türklopfers auf die Metallplatte krachen. »Öffnet das Tor! Hier steht Lucio Tormeno, Erzpriester von Arbora, und ich verlange den Hafenmeister zu sprechen. Sofort!«

Er war sich der Blicke der Faulpelze, die auf dem Kai vor dem festungsgleichen Haus des Hafenmeisters herumlungerten, wohl bewusst. Eigentlich hatte er wenig Aufmerksamkeit erregen wollen. Deshalb klopfte er auch am Tor zum Hof und nicht an dem prächtigen, von Säulen flankierten Hauptportal des Amtsgebäudes. Aber jetzt war sein Temperament mit ihm durchgegangen.

Auf dem Pflaster hinter dem Tor erklangen Schritte. Der schwere Riegel wurde zur Seite geschoben, ohne dass die kleine

»Hebt die Sänfte an«, befahl er Hernando und Manuelo. Das Haar klebte den beiden in schweißnassen Strähnen auf der Stirn. Mit Einbruch der Dämmerung war heute kein Wind vom Meer gekommen. Es war noch immer so drückend heiß, wie es den ganzen Tag über gewesen war. Die Hitze hatte sich in die Stadt hineingefressen und ließ sie nicht mehr los, als läge Arbora im Fieber.

»Auf, auf!«, bedrängte er die beiden Diener, kaum dass sich das Tor öffnete.

Drei Fackeln erhellten den Innenhof, in den die Sänfte getragen wurde. Gelbes Licht schnitt in die Schatten des Kreuzgangs, der den Hof einfasste. Dort stapelten sich beschlagnahmte Güter. Fässer und Kisten, Stoffballen und Kornsäcke. Ein wahres Vermögen! Sobald diese Waren veräußert waren, wäre der Erlös den Rittern des Ordens vom Schwarzen Adler zu überstellen, aber Tommaso Galli, der Hafenmeister, ließ sich damit offensichtlich Zeit.

Einige Waffenknechte hatten sich auf dem Hof eingefunden und beäugten Lucio misstrauisch. Als Erzpriester war er unantastbar, einer der höchsten Würdenträger Cilias. Er las Trotz und Schuld in den Blicken der Krieger. Sie wussten, dass ihr Gebieter etwas zu verbergen hatte.

»Wo steckt Tommaso?«

»Hier!« Eine schmale Gestalt trat, begleitet von zwei Laternenträgern, durch die schwere Tür, die vom Haus auf den Hof führte. Tommaso trug eine der unsäglichen hautengen Hosen, die Mode unter den Patriziern und reichen Kaufleuten geworden waren. So knapp war sie geschnitten, dass man deutlich sehen konnte, wie sich das Gemächt des Hafenmeisters unter dem Stoff abzeichnete. Zu allem Überfluss war die Hose auch noch von einem geradezu obszönen Rot. »Was bringt Euch so auf, mein Freund? Ihr stürmt hier herein, als stünden die wilden Horden des Khanats vor unseren Stadtmauern.«

Tommaso, der, während er sprach, über den Hof geeilt war, hob überrascht die Brauen. Sein weißes Seidenhemd mit goldenen Knöpfen wehte offen um seinen Leib. Letzte Reste von hastig abgetupftem Rasierschaum benetzten seine Wangen. Sein schmaler Schnauzbart war perfekt gestutzt.

»Und was ist mit der Dame?« Der Hafenmeister nickte zu der Sänfte hinüber.

»Die Dame bleibt!«, entgegnete Lucio barsch.

»Warum machen wir es so kompliziert? Redet frei heraus. Ich gestehe, ich bin ein wenig in Eile. Der Kaufmann Matteo Canali gibt heute Abend ein großes Fest, auf dem ich erwartet werde. Auch das gehört zu den Pflichten meines Amtes.« Er bedachte Lucio mit einem selbstgefälligen Lächeln und begann damit, sein Hemd zuzuknöpfen. »Könnte es sein, dass Ihr nicht geladen seid?«

Lucio rang um Fassung. Dieser aufgeblasene Wichtigtuer sollte, wenn es nach ihm ginge, noch in dieser Nacht den Kopf auf den Richtblock legen. »Ihr werdet nicht wollen, dass andere mithören, was ich Euch zu sagen habe.«

Tommaso zog eher verärgert als besorgt die Brauen zusammen. Mit lässiger Geste winkte er seinen Waffenknechten. »Geht ins Haus. Wir haben über Entscheidungen des hohen Rates zu sprechen.«

Wie leicht ihm Lügen über die Lippen kommen, dachte Lucio angewidert. »Geht vor das Tor und wartet auf mich«, wies er Hernando und Manuelo an.

»Nun?« Tommaso hob mit provozierender Gelassenheit die Hände, als wolle er ihn gleich umarmen. »Welches Geheimnis wollt Ihr mit mir teilen?«

Lucio machte einen Satz nach vorn, packte den völlig überrumpelten Hafenmeister bei seinem kurzen Lockenhaar und zwang ihn auf die Knie. Dann stieß er dessen Kopf zwischen den Vorhängen der Sänfte hindurch. Eine Kerze hinter Glas erhellte das Innere. Dort lag, auf einem Leinenlaken

»Ahnt Ihr, was ich von Euch wissen will, Tommaso?«

»Ich … ich kenne diesen Mann nicht!« Der Hafenmeister bäumte sich auf, doch Lucio war ihm an Kraft deutlich überlegen. Er hielt ihn in die Sänfte gedrückt.

»Wer hat Euch bestochen? Welchem Schiff habt Ihr erlaubt, in den Hafen einzulaufen, obwohl es Kranke an Bord gab?«

»Ihr habt kein Recht …«

»Ich nehme mir jedes Recht, Tommaso.«

Der Sterbende starrte sie beide mit glasigen Augen an, ohne sie zu erkennen. Hin und wieder zuckte er zusammen. Die Schwellung unter seiner linken Achsel hatte sich dunkel verfärbt.

Seit die Pest in der Westermark wütete, gehörte es zu den Aufgaben des Hafenmeisters, jedes Schiff, das in Arbora vor Anker gehen wollte, noch weit draußen auf See zu inspizieren. Fand er Kranke an Bord, wurde die schwere Kette, welche die Einfahrt zum Hafenbecken sicherte, nicht heruntergelassen. Drei Koggen war in diesem Sommer schon ein Ankerplatz im Hafen verweigert worden. Während die Pest das Reich heimsuchte, hatte sie Cilia bislang verschont.

»Welches Schiff hat ihn gebracht?«, drängte Lucio. Er drückte den Kopf des Hafenmeisters herab, bis dessen Lippen nur noch eine Handbreit von der Pestbeule unter der Achsel des Seemanns entfernt waren. »Ich lasse Euch dieses Geschwür küssen, wenn Ihr nicht redet. Damit Ihr begreift, was Ihr in diese Stadt geholt habt!«

»Ich kann nicht …«

Lucio stieß Tommasos Kopf nach unten. Der Hafenmeister schrie auf und wand sich verzweifelt. Auch der fremde Seemann keuchte. Schon die leiseste Berührung der Pestbeule schien ihm grässliche Schmerzen zu bereiten.

Ein übler Gestank stieg aus der Sänfte auf. Tommasos Schrei

Die Pestbeule war aufgebrochen. Tommaso spuckte. Dann begann er zu würgen.

Lucio hatte davon gehört, dass es genügte, den fauligen Odem der Krankheit einzuatmen, um sich anzustecken. Der Tod hatte nun auch ihm seine kalte Hand auf die Schulter gelegt.

»Welches Schiff?«

Tommaso erbrach sich in die Sänfte.

»Beim Herrn des Himmels, ich schwöre Euch, Ihr werdet diese eiternde Wunde noch einmal küssen, wenn Ihr nicht …«

»Die Magdalena«, stieß Tommaso hervor und würgte erneut. »Er ist der Steuermann. Er kam mit mir an Land. Nur er. Sonst keiner.«

Lucios Gedanken überschlugen sich. Falls das stimmte, gab es, wenn er nur schnell und entschlossen genug war, noch Hoffnung.

»Lasst mich gehen«, wimmerte der Hafenmeister.

Lucio blickte auf die Jammergestalt in dem zerrissenen Seidenhemd. »Das kann ich nicht. Ihr habt einen Pestkranken geküsst«, sagte er ruhig und zog sein Schwert.

Arbora, Via Monte, vor dem Mondtor, erste Stunde der Nacht, 7. Tag des Hitzemondes, 53. Jahr vor Sasmiras zweiter Thronerhebung

»Du musst gehen«, drängte Elisa. »Es ist zu spät.« Dabei hielt sie Iljas Hände fest umklammert.

Der Waffenknecht der Kaiserritter hatte sie überrascht. Er hatte sie weder begrabscht noch eine einzige anzügliche Bemerkung gemacht. Nach einer Weile hatte sie befürchtet, dass er sie

Er hatte die Mädchen zum Lachen gebracht und sie mit Fischbroten und süßem Apfelkompott verwöhnt. Die Zeit mit ihm war wie im Fluge vergangen.

Jetzt fiel es Elisa schwer, ihn ziehen zu lassen. Ihren Retter, der so plötzlich in ihr Leben getreten war. Den edlen Ritter, an den sie schon lange nicht mehr geglaubt hatte.

Er sah so gut aus! Ein Mann mit Goldhaar, aus der Westermark. Er trug einen schweren Waffenrock, unter dessen Stoff sich, wie sie wusste, Eisenplatten verbargen, die wie Fischschuppen übereinanderlagen. Der schwarze Adler, das Wappentier des Ordens der Kaiserritter, prangte auf dem weißen Stoff.

Ilja war erst vor einem Mond aus der Westermark nach Cilia versetzt worden. Die Hitze der sonnengesegneten Insel machte ihm zu schaffen, und obwohl er nicht geklagt hatte, spürte sie, wie sehr er die Westermark vermisste. Trotz all der Schrecken, die dort lauerten, der plündernden Krieger des Khanats und des Schwarzen Todes, den die Reiterhorden aus den weiten Steppen des fernen Westen mitgebracht hatten.

»Du musst gehen«, drängte sie erneut und ließ seine Hände los, auch wenn sie es nicht wollte. Elisa wusste, dass der Orden selbst kleine Vergehen mit strengen Strafen ahndete. Und Ilja hätte bei Einbruch der Nacht in der Hafenfestung sein müssen.

»Kommst du uns besuchen?«, fragte Viola. Die Kleine war so müde, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.

»Bitte!«, bedrängte ihn auch Arianna.

»Manchmal schickt der Komtur einige Ritter auf Patrouille zum Rand des Schwertwalds. Ich bin mir sicher, dass wir auf dem Weg dorthin an eurem Gutshof vorbeikommen.«

»Zum Schwertwald, wo die bösen Bogenmänner wohnen?«, fragte Arianna besorgt.

Ilja klopfte mit der flachen Hand auf seinen Plattenrock. »Das Eisen hier schützt sehr gut vor Pfeilen. Und wenn wir einen von

Elisa glaubte nicht, dass sie ihn wiedersehen würde, auch wenn er die Worte, die er zu den Kindern sagte, vielleicht ehrlich meinte. Dankbar für die schöne Stunde, die er ihnen geschenkt hatte, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Dann wich sie zurück, erschrocken vor ihrem eigenen Mut.

»Ich komme Euch besuchen«, sagte er mit fester Stimme und sah Elisa an. Dann strich er den Mädchen noch einmal über das Haar, ehe er die Straße an der Ringmauer entlang zum Hafen hinabeilte.

Elisa suchte sich mit ihren Töchtern einen Platz unter einem der Karren, die vor dem versperrten Tor abgestellt waren. Viola schmiegte sich in ihren Arm und war binnen Augenblicken eingeschlafen.

Elisa sah zwischen den Speichen eines Rades zum Himmel hinauf. Schon leuchteten erste Sterne in dem samtigen Blau.

»Magst du ihn so wie Papa?«, fragte Arianna.

»Mit deinem Vater war es anders«, antwortete sie sanft. »Er war mein Mann.« Mehr zu sagen, brachte sie nicht über sich. Sie hatte Riccardo schon lange nicht mehr geliebt, als er gestorben war. Ihre Liebe war nur ein Strohfeuer gewesen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte Ricardo sich sehr um sie bemüht. Jeden Morgen hatten Feldblumen auf der Schwelle ihrer Hütte gelegen. Er hatte ihr kleine Geschenke zugesteckt. Mal einen Apfel, ein kleines Töpfchen Honig und einmal sogar ein schönes Tuch, das ihr Haar bei der Arbeit vor dem Staub der Felder schützte. Nie zuvor war sie so beschenkt worden. Sie hatte geglaubt, dass er sie wirklich liebte. Damals war sie erst sechzehn und zu ahnungslos, um zu begreifen, dass es nicht Liebe war, sondern ein Wettkampf, wer die Jungfräulichkeit des hübschesten Mädchens auf dem Gut pflücken würde – der alte Patron, einer der anderen Knechte oder Ricardo, der, wie sie erst viel später erfuhr, mehr

Schließlich hatte sie sich Ricardo geschenkt. Gegen den Rat ihrer Eltern. Nach ihrer ersten Nacht endete sein Werben abrupt. Aber als sich Wochen später zeigte, dass sie schwanger war, blieb ihm keine Wahl, als sie zu heiraten, denn er hatte überall mit der Nacht im Heu geprahlt.

Von dem Mann, für den sie ihn gehalten hatte, war nichts geblieben. Er war mürrisch geworden, trank mehr Wein, als gut für ihn war, und machte den anderen Mädchen auf dem Landgut schöne Augen. Nicht, dass die anderen Knechte besser gewesen wären … Elisa hatte sich damit abgefunden, dass das Leben nun einmal so war. Dass die Kindbettgabe nach der Geburt eines Mädchens eine Tracht Prügel war und dass es die strahlenden Ritter, welche die Jungfrauen in Not retteten, nur in den Mären gab.

Aber nun, da sie längst aufgehört hatte, daran zu glauben, war eine Mär für sie Wirklichkeit geworden. Sie hatte doch noch den Ritter ihrer Mädchenträume getroffen.

So lebendig, so glücklich wie an diesem Abend hatte Elisa sich seit Kindertagen nicht mehr gefühlt. Die Sterne am Himmel leuchteten heller in dieser Nacht, weil sie ihm begegnet war.

Sie hatte längst jegliche Hoffnung begraben, je solch ein Glück zu erleben. Ihr Herz war wie tot gewesen, und sie hatte es als gegeben hingenommen. Doch das würde sie nie wieder tun. Sie würde das Gefühl dieses Abends festhalten. Es war ihr geheimer Schatz. Und keiner könnte ihr den je nehmen.

Bleierne Müdigkeit quälte Camilla. Dabei war die Nacht noch jung, und sie hatte seit der Mittagsstunde erst drei Freier gehabt. Nicht genug, um Essen und Schlafkammer im Schwarzen Mast zu bezahlen.

»Du da!« Der hagere Glatzkopf zeigte auf Raisa, das Mädchen zu ihrer Linken. »Traurige Bohnenstangen wie dich will mein Herr nicht in seinem Ballsaal sehen.«

»Warum hat er dich dann angestellt?«, fuhr ihre Freundin ihn an, zog sich aber eilig zurück, als der Hofmeister drohend seinen schweren Zeremonienstab hob.

Camilla drückte den Rücken durch und hielt den Atem an, um ihre kärglichen Rundungen ein wenig üppiger aussehen zu lassen. Dazu bedachte sie den Hofmeister mit ihrem schönsten falschen Lächeln.

Der Alte griff ihr an die Brust und schnaubte verächtlich. »Mir musst du nichts vormachen. Ich hab einen Blick für euch Huren und kenne all eure Tricks. Hast Glück. Matteo Canali vergnügt sich gern mit kleinen, knabenhaften Mädchen. Wenn er dir die Nacht versilbert, weißt du, was du mir morgen früh schuldest.«

Sie senkte den Blick. »Dann werde ich mit Freuden meine Schulden begleichen.«

Er packte sie grob am Kinn und zwang sie, ihren Kopf zu heben. Harte, schwarze Augen hielten sie gefangen. »Red keinen Unsinn! Wir beide wissen, dass du es nicht mit Freuden tun wirst. Aber du wirst deine Schulden begleichen. Ich behalte dich im Blick.« Er ließ von ihr ab und deutete auf die grün gestrichene Hintertür, von der in breiten Streifen die Farbe abblätterte.

Der Atem des Hofmeisters stank nach fauligen Zähnen.

Sie sah Raisa nach, die schon fast das Ende der Gasse erreicht hatte. Ein Freier hatte ihrer Freundin vorigen Sommer die Nase gebrochen. Seitdem konnte sie nichts mehr riechen. Das war geradezu ein Geschenk des Herrn des Himmels.

Camilla trat durch die schäbige Tür in einen dunklen Flur. Irgendwo im Innern des Gebäudes spielte Musik, und es roch nach gebratenem Fleisch.

»Hierher!« Sie wurde in eine Kammer gewunken, in der ein großer Holzzuber stand. Zwei Mädchen schrubbten sich darin mit groben Schwämmen.

»Ausziehen«, blaffte eine alte Vettel sie an, die Ringe, groß wie Kaisertaler, an den Ohren trug. Ein Dutzend dünner, silberner Armreife klimperte an jedem ihrer Handgelenke. Camilla betrachtete das grell geschminkte Gesicht der Alten mit forschendem Blick. Wie hatte sie es geschafft, reich zu werden? Schön war sie nicht …

»Du musst eben etwas Besonderes sein«, sagte die Herrin des Badezubers kühl, als habe sie ihre Gedanken gelesen. »Das bleibt. Schönheit welkt. Und jetzt zieh dich aus!«

Gehorsam löste Camilla die Schnüre ihres leichten Kleides und ließ es zu Boden sinken.

»Waschen!«, befahl die Alte. »Vor allem zwischen den Beinen. Wenn du den feinen Herren gefallen willst, darfst du nicht riechen, als hättet du da unten ein paar alte Fischköpfe versteckt.« Sie stieß ein meckerndes Lachen aus und schob Camilla zu dem Zuber hinüber.

Das Wasser war eisig, aber in der schwülen Nacht eine willkommene Abkühlung. Eine üppige Blonde drückte Camilla den Schwamm in die Hand, mit dem sie sich gerade gesäubert hatte.

Camilla wusch sich unter den Achseln. Dann befolgte sie den Rat der Alten.

Als sie fröstelnd aus dem Zuber stieg, drückte ihr die Alte einen angeschlagenen Tonbecher in die Hand. »Trink was. Das

Camilla fragte sich, ob die Alte in besseren Tagen auch einmal zu denen gehört hatte, die das Haus durch die Hintertür betraten, um in den Zuber zu steigen. Dennoch nippte sie nur an dem Wein. Sie fühlte sich schon jetzt ein wenig benommen. Es war besser, einen klaren Kopf zu haben, wenn sie die Reichen der Stadt umgarnte. Diese Nacht könnte ihr Leben verändern …

Die Alte nahm ihr den fast vollen Becher wieder ab. »Du musst es wissen.« Sie klang enttäuscht. Dann deutete sie auf einen Durchgang hinter dem Badezuber. »Dort entlang.«

Camilla hatte vergessen, ihre Sandalen wieder anzuziehen. Der Boden war feucht und kühl. Sie ging einem goldenen Licht entgegen, durchquerte mehrere Kellerräume, in denen sich Amphoren und Vorratsfässer türmten.

Gelächter lockte sie. Camilla entdeckte die Blonde aus dem Zuber, die nun ein scharlachrotes Kleid trug, das dazu geschaffen schien, alle ihre Vorzüge hervorzuheben und kaum etwas zu verhüllen.

»Da vorn gibt es noch mehr solcher Gewänder, Kleine.« Sie deutete auf einen dunklen Winkel. »Viel Glück!« Dem Wunsch folgte leicht angeheitertes Gelächter.