© eBook: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2015
© Printausgabe: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2015
Alle Rechte vorbehalten. Weiterverbreitung und öffentliche Zugänglichmachung, auch auszugsweise, sowie die Verbreitung durch Film und Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Zustimmung des Verlags.
Herausgeber: Mathias Voelchert
Projektleitung: Reinhard Brendli
Übersetzung: Knut Krüger
Lektorat: Irmela Sommer
Covergestaltung: independent Medien-Design, Horst Moser, München
Innenlayout: Sabine Krohberger, ki 36, Editorial Design, München
eBook-Herstellung: Dana Wingensiefen
ISBN 978-3-8338-4708-0 |
1. Auflage 2015
Bildnachweis
Coverabbildung: Shutterstock
Illustrationen: Martin Haake
Syndication: www.jalag-syndication.de
GuU 8-4708 02_2015_02
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Der erste Ratgeberverlag – seit 1722.
Perfekte Eltern? Die gibt es nicht. Und es muss sie auch nicht geben. So wie die Kinder heranwachsen und sich zu Jugendlichen und jungen Erwachsenen entwickeln, so wachsen die Eltern mit den Aufgaben und immer neuen Herausforderungen, die in jeder Familie anders sind. Denn in jeder Familie herrscht eine spezielle Dynamik. Und diese macht das Familienleben so spannend – jeden Tag. Denn jeden Tag aufs Neue erleben die Eltern, wie ihre Kinder sich weiterentwickeln, meistens sehr positiv, manchmal auch in eine negative Richtung. Dann sind die Eltern gefragt, rechtzeitig gegenzusteuern, mit Rat zu helfen und den Kindern ein gutes Vorbild zu sein. Dabei entwickeln sich nicht nur die Kinder, auch die Erwachsenen durchlaufen einen Entwicklungsprozess.
Wenn die Eltern oder auch die Jugendlichen selbst jedoch nicht weiterwissen, dann werde ich als Familientherapeut häufig um Rat gefragt. Und ich versuche zu helfen, indem ich Anregungen gebe. Ein Rezept mit Gelinggarantie für eine heile Familie ist dieses Buch dennoch nicht. Vielmehr finden Sie hier eine Auswahl an Briefen, die Eltern und Jugendliche mir geschrieben haben. Sie sind zunächst als Kolumnen in den norwegischen Zeitungen »Aftenposten« und »Dagbladet« erschienen. Und ich habe jeweils eine Antwort formuliert, in der ich auf die persönliche Situation der Betroffenen eingehe. Auch wenn diese nicht unbedingt zu hundert Prozent mit Ihrer Situation übereinstimmen mag, so sind Sie dennoch aufgefordert, Anregungen aufzugreifen und über Wertvorstellungen nachzudenken, die Sie persönlich betreffen.
Oft bekomme ich zu hören, dass die Werte, die von der Elterngeneration vermittelt wurden, sich als wenig konstruktiv erwiesen haben, dass aber die Betroffenen nicht wissen, welche Werte für die heute Heranwachsenden stattdessen Gültigkeit haben sollen. Daher stelle ich Ihnen im Folgenden vier Werte vor, die in meinen Augen für die Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen von besonderer Bedeutung sind. Es sind dies: Gleichwürdigkeit, Integrität, Authentizität und Verantwortung.
Eine Mutter mit ihrer 12-jährigen Tochter schreibt:
»Ich erlebe oft, dass mir meine Tochter gewissermaßen den Spiegel vorhält. Neulich sagte meine Tochter zu mir, ich solle sie nicht ständig belehren, weil sie sich dann so dumm vorkomme. Erst mal war ich geschockt, weil mir klar wurde, dass ich sie tatsächlich oft belehre. Dann fragte ich sie, ob sie mir ein Beispiel nennen könne. Wenn jetzt wieder solch eine Situation eintritt, sagt meine Tochter zu mir: ›Mama, es ist wieder so weit.‹ Wir kommen also voran, obwohl ich nur langsam dazulerne.«
Diese Mutter ist auf gutem Wege, eine gleichwürdige Beziehung zu ihrer Tochter aufzubauen.
Ein Vater klopft an die Zimmertür seiner 14-jährigen Tochter. Da sie mit Kopfhörern vor ihrem Laptop sitzt, kann sie ihn nicht hören, bis er hereinkommt und plötzlich neben ihr steht. Sie nimmt ihren Kopfhörer ab und entnimmt dem Gesichtsausdruck ihres Vaters im Bruchteil einer Sekunde, dass sie nun kritisiert, belehrt oder zur Rede gestellt wird, und sie reagiert verärgert. Er ermahnt sie, ruhig und vernünftig zu sein, woraufhin sie entweder ihren Kopfhörer wieder aufsetzt, ihn anschreit, er solle sie in Ruhe lassen, oder mit den Worten »Du hörst mir nie zu!« aus dem Zimmer stürzt.
Die Situation eskaliert zu einem Streit, den niemand gewinnen kann, obwohl die meisten Eltern um die zerstörerische Kraft wissen, die im Schweigen einer 14-Jährigen liegt. Dieses Schweigen ist für sie ebenso vereinsamend und schmerzhaft wie für ihre Eltern. Der Unterschied zwischen ihnen besteht darin, dass die Eltern in der Lage sein sollten, nach der Ursache ihrer Reaktion zu suchen.
Wie hätte sich dieser Vater anders verhalten können? Ehe er an die Tür seiner Tochter klopft, hätte er an seiner eigenen Einstellung arbeiten sollen. Er hätte sich das Bedürfnis seiner Tochter nach Privatheit und Integrität vergegenwärtigen können. Dann hätte er vielleicht gesagt: »Ich möchte mit dir reden. Passt es dir jetzt?« In diesem Fall hätte er in ein entspanntes Gesicht geblickt und eine gesprächsbereite Tochter vorgefunden.
Falls Ihre Familie von Anfang an in der Lage ist, solch eine Atmosphäre zu schaffen, in der jeder sein Bestes tut, die Integrität und Grenzen der anderen zu wahren und Respekt für die eigenen einzufordern, wird es kaum nötig sein, in Bezug auf Schule, Hobbys, Freunde, Sex oder Alkohol strenge Regeln aufzustellen. Falls dies nicht der Fall ist, können Sie sich hinsichtlich der Pubertät Ihrer Kinder auf einige Turbulenzen gefasst machen und sollten sich dringend um einen anderen Ton bemühen.
Um die Liebe und Gemeinschaft zwischen Eltern und Jugendlichen zu erhalten und zu fördern, müssen die Eltern lernen, auf Kontrolle zu verzichten. Dieser Prozess dauert mindestens fünf bis zehn Jahre und kann ohne die Mithilfe und Inspiration der jungen Menschen nicht gelingen. Lädt man sie zu dieser Mithilfe nicht ein, wird man sich damit abfinden müssen, dass es irgendwann zu heftigen und schmerzlichen Konflikten kommt.
Wenn man also seinem 15-jährigen Sohn verbietet, ein Konzert zu besuchen, das 150 Kilometer von zu Hause entfernt stattfindet, und dieser trotzdem hinfährt, ist es an der Zeit, sich ein paar ernsthafte Gedanken zu machen und das Gespräch zu suchen – im Stillen für sich allein, die Eltern untereinander und alle zusammen. Im Stillen, weil es nun dringlich ist, die eigenen Ziele, Wertvorstellungen und Motive zu ergründen: Zu welchem Menschen soll sich mein Sohn entwickeln? In welchen wichtigen Punkten bin ich anderer Ansicht als mein Partner? Bin ich streng, weil ich das Strengsein für nötig halte? Bin ich nachgiebig, weil ich Konflikte scheue? Versuche ich wirklich, das Leben meines Kindes zu verbessern, oder geht es mir vor allem um mein eigenes Bewusstsein und meine Wirkung nach außen? Möchte ich der Ratgeber meines Sohnes sein oder Polizist?
Nachdem Sie sich allein mit diesen wichtigen Fragen beschäftigt haben, ist es an der Zeit, mit Ihrem Partner / Ihrer Partnerin oder einem guten Freund / einer guten Freundin darüber zu reden.
Es ist ein häufiger Irrtum, zu glauben, dass ich Ihnen rate, Ihren Sohn einfach gewähren zu lassen: »Okay, wenn er sich so benimmt, dann können wir das nicht ändern …« Wenn Sie das tun, geben Sie Ihre elterliche Führungsrolle aus der Hand und lassen Ihr Kind über die Art Ihres Miteinanders bestimmen. Wenn Sie dies zulassen, werden Sie alle den Verlust zu tragen haben – den Verlust von Nähe, Vertrauen, Freude und bedeutungsvollem Kontakt. Wenn Sie nicht wissen, was Sie sonst tun sollen, dann setzen Sie sich mit Ihrem Sohn an einen Tisch, begegnen Sie ihm mit der notwendigen Authentizität und lassen Sie ihn Anteil haben an Ihrer Besorgnis und Ihrer Hilflosigkeit und bitten Sie im Interesse der Familie um seine Hilfe. Solange Sie offen und ehrlich sind, wird Ihr Sohn dies nicht als Schwäche betrachten. Er wird froh sein, etwas beitragen zu können.
Ich erinnere mich an die Mutter eines 13-jährigen Mädchens, die an einem mehrwöchigen Seminar teilnahm. Diese Mutter war anfangs sehr unglücklich darüber, einen schwerwiegenden Konflikt mit ihrer Tochter nicht gelöst zu haben, bevor sie zu dem Seminar aufbrach. Also verbrachte sie die ersten beiden Abende am Telefon, bis ihre Bemühungen schließlich von Erfolg gekrönt waren und der Friede zwischen Mutter und Tochter wiederhergestellt war. Am letzten Abend rief sie ihre Tochter erneut an, um ihr zu sagen, dass sie sie liebe und es kaum erwarten könne, sie wiederzusehen. Daraufhin entgegnete ihre Tochter: »Ach, hab ich dir das gar nicht gesagt? Ich werde dieses Wochenende bei meiner besten Freundin verbringen.«
Die Mutter war überrascht und sagte: »Aber ich dachte, jetzt, wo wir die Probleme gelöst haben …«, worauf ihre Tochter liebevoll erwiderte: »Ja, liebe Mama, genau deshalb! Wir sehen uns am Sonntag.«
Die Mutter war enttäuscht und verwirrt, und es dauerte den halben Vormittag, bis sie begriff, dass sich ihre Tochter, gerade weil die Harmonie zwischen ihnen wiederhergestellt war, frei fühlte, Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen.
Dieses Mädchen hat seine Mutter auf sehr sanfte Weise daran erinnert, dass sie sich in einem Prozess befinden, in dem sie von ihren alten Mutter-Kind-Rollen Abschied nehmen und eine neue Art der Beziehung begründen. Diese Entwicklung, die sich über mehrere Jahre hinweg vollzieht, löst bei vielen Eltern Melancholie oder gar Trauer aus, wohingegen die Teenager eine sprudelnde Freude und Aufregung empfinden. Wenn Eltern aber willens sind, dazuzulernen und sich innerhalb dieses Prozesses zu verändern, dann ist eine neue und bessere Beziehung möglich, wenn auch nicht garantiert.
Beim Gedanken an die Pubertät mögen bei vielen Eltern die Alarmglocken läuten. Aber es besteht kein Grund zur Panik. Denn in dieser besonderen Zeit, die zahlreiche Herausforderungen mit sich bringt und in der die Familienstruktur neu geordnet wird, sind die Eltern nach wie vor gefragt. Zwar nicht mehr in ihrer Rolle als aktive Mitspieler, dafür aber als Sparringspartner, die den Kindern auf dem Weg zum Erwachsenwerden zur Seite stehen, sie anleiten, ohne ihnen starre Grenzen zu setzen. Denn die Jugendlichen wollen in ihrer Individualität wahrgenommen werden, so wie sie sind.
Was sich alle Generationen meiner Erfahrung nach wünschen, ist das warme Gefühl, gebraucht zu werden und für die anderen wertvoll zu sein. Erreicht wird dies am besten in einer Atmosphäre, die von Gleichwürdigkeit, gegenseitigem Respekt und Vertrauen getragen wird.