Lieber Noah,

 

bitte verzeih mir, dass ich dich nicht öfter besuche. Aber ich halte es nicht aus, dich so zu sehen. Mit den Schläuchen, den Geräten, den Verbänden und dem ganzen Zeugs. In diesem Raum, in dem es heiß ist wie in einer Sauna.

 

Bitte stirb nicht! DU DARFST NICHT STERBEN! Ich verbiete es! Weil … ein Leben ohne dich kann ich mir nicht vorstellen! Und will es auch nicht! Du und ich, wir waren immer zu zweit, von Geburt an. Wir konnten uns darauf verlassen, dass der andere da ist, wenn es drauf ankommt. Wenn es das nicht mehr gibt, weil es dich nicht mehr gibt, dann sterbe ich auch … irgendwie … ein bisschen …

 

Und das willst du doch nicht, oder?

 

Deine Leah

Ich lege den Brief in Noahs Nachttisch und schiebe die Schublade zu. So vorsichtig, wie man es macht, wenn man einen Schlafenden nicht wecken will. Was natürlich total bescheuert ist, weil ich nichts lieber täte, als ihn zu wecken. Am Fußende des Bettes drehe ich mich noch mal um und schaue zurück. Und hab die Augen schon wieder voller Tränen. Er spürt keinen Schmerz, versichern uns die Ärzte und Pfleger wieder und wieder, und so friedlich, wie er daliegt, glaube ich ihnen das auch. Dafür spüre ich den Schmerz. Ein ständiges, mal dumpfes, mal spitzes Pochen, das in mir herumwandert. Ich presse die Lippen zusammen. Wenigstens bist du so bei mir, Noah. Auch wenn es wehtut. Aber jetzt wird es langsam zu viel, ich muss weg hier. Bevor noch jemand kommt und mich so sieht. Ich wische meine Tränen ab. Ich lass die Intensivstation hinter mir, bin endlich wieder draußen auf dem Flur. Wo das Leben auch nicht gerade tobt, aber zumindest weitergeht. Wo Menschen miteinander reden, jemand lacht, jemand schimpft, jemand klagt. Wo ich wieder atmen kann.

Ich beeile mich lieber, gleich kommt Mama und ich will ihr auf keinen Fall begegnen. Nicht den erleichterten Ausdruck auf ihrem Gesicht sehen, weil ich endlich mal wieder hier war, nachdem sie mir zigmal ins Gewissen geredet hat. Noah merkt es, wenn jemand bei ihm ist, sagt sie. Wir müssen mit ihm reden, sagt sie, seine Verbindung zur Außenwelt halten. Das ist wichtig für ihn. Und für uns auch.

Tut mir leid, Mama, aber damit liegst du total falsch. Zumindest was mich betrifft. Ich bin Noah viel näher, wenn ich ihn nicht so sehe. Dem echten Noah, meine ich. Wir sind Zwillinge. Wir haben eine besondere Verbindung. Das hast du selbst immer gesagt. So was verliert man nicht einfach. Okay, wir sind seit einer Weile eigene Wege gegangen, jeder für sich. Aber das ändert nichts daran. Nicht wirklich.

Ich beobachte auf der Anzeige, wie der Fahrstuhl Stock für Stock hochkommt. Die Türen gehen auf und plötzlich steht Beate vor mir. Was macht die denn hier? Sie wirkt genauso überrascht wie ich. Sie wird sogar ein wenig rot.

»Hey«, sagt sie, »ist deine Mutter schon da?«

»Nein. Gehst du auch zu ihm?«, frage ich.

»Deine Mutter wollte, dass ich komme.«

Alles klar. Mama hat sich ihre beste Freundin als moralische Stütze geholt, weil ich mich angeblich davor drücke.

»Na, dann viel Spaß«, sage ich und schiebe mich schnell zwischen die Aufzugtüren, die gerade zugehen.

Der Bus hält, zischend gehen die Türen auf. Ich steige mit ein paar Leuten aus, pralle gegen die Hitze wie gegen eine Gummiwand. Vor mir liegt die Bahnhofstraße in all ihrer schäbigen Pracht. Du musst mir nichts beweisen, sagt Noah in meinem Kopf. Ich bin nicht hier, um dir was zu beweisen.

Der Bus fährt ab, die paar Leute, die ausgestiegen sind, schlurfen davon. Wie oft waren wir als Kinder hier, bloß weil alle Erwachsenen sagten: Geht da nicht hin, da ist es nicht sicher. Was es für uns erst recht spannend machte. Am liebsten spielten wir auf den Bahngleisen. Weißt du das noch, Noah? Eigentlich ist es erst sieben oder acht Jahre her, aber es kommt mir vor wie ein ganzes Leben.

Soweit ich weiß, ist es ein paar Hundert Meter weiter vorne passiert. Gegenüber vom Bahnhofsgebäude. Vor dem alten Kasten, an dem seit einer Ewigkeit die Rollos unten sind und den man von hier aus schon sieht.

Ich bleibe nicht auf der Straße, sondern kämpfe mich durch das Gestrüpp rüber aufs Gleisbett. Ich will das Stück zum Bahnhof auf den Schienen laufen, so wie wir es früher auch gemacht haben. Da war das Durchkommen allerdings leichter. Klar, wir waren kleiner und die Büsche weniger dicht. Noah und ich, Steffi, Flo, der freche Benno und ein, zwei andere, von denen ich den Namen nicht mehr weiß, weil sie schon lange weggezogen sind. Kennst du noch alle, Noah? Damals fuhr hier noch alle paar Tage ein Güterzug durch, und wenn einer kam, sind wir wie aufgescheuchte Katzen in die Büsche gesprungen und haben die Waggons aus unseren Verstecken heraus mit Steinen beworfen, und wenn es Tankwaggons waren, haben wir uns bei der Vorstellung gegruselt, einer könnte explodieren, in einem riesigen Feuerball, so wie im Film. Heute ist alles so von Unkraut überwuchert, dass man die verrosteten Schienen kaum noch sieht. Erst wenn man drauftritt oder mit dem Fuß dagegenstößt, bemerkt man sie.

Viel schneller, als ich will, erreiche ich den Bahnhof. Auf den beiden Bahnsteigen sprießt Gras, die Laternen sind beschmiert und zerdeppert. Das Gebäude, in dem der Schalter und ein Warteraum waren, sieht auf der Rückseite noch versiffter aus als von vorn. Die Türen sind mit schweren Vorhängeschlössern verriegelt, die Fenster mit Pressspanplatten vernagelt, die selbst schon wieder verfaulen. Der Putz bröckelt, an vielen Stellen kommt die blanke Ziegelmauer durch. Alles ist übersäht mit Graffiti. Darunter Hakenkreuze. SS-Runen. Sieg Heil! Mein Blick bleibt an der Uhr hängen, die für immer und ewig auf zwanzig nach drei steht.

Ich warte noch ein wenig. Kaue an meinem Daumennagel. Ich bin so nervös wie vor der mündlichen Abi-Prüfung. Dann fass ich mir ein Herz und schlüpfe durch eine Lücke im Zaun zurück auf die Straße. Und da sehe ich es, auf der anderen Seite, zwischen den betonierten Pflanzentöpfen, in denen nur Unkraut wuchert.

Wie an einer Schnur gezogen bewege ich mich ich über die Straße. Hinter mir hupt es. Jemand plärrt was aus dem Fenster. Ich gehe einfach weiter. Meine Beine bewegen sich wie von selbst. Ich spüre kaum den Boden unter mir. Ich laufe nicht, ich falle.

Und dann schlage ich auf.

Hier ist es passiert. An dieser Stelle. Gänsehaut kriecht über meinen Rücken und meine Unterarme, meine Kehle wird eng. Zu meinen Füßen brennen Kerzen und Teelichter, Blumen welken vor sich hin, dazwischen liegen Plüschtierchen, Kreuze … Auf Zetteln in Klarsichthüllen lese ich: Du bist nicht vergessen, Noah! Auge um Auge, Zahn um Zahn! Deutschland erwach… Da bemerke ich den großen dunkelroten Schatten unter dem Zeug. Das muss Noahs eingetrocknetes Blut sein. Und auf einmal höre ich ihn schreien, um Hilfe, um Gnade bitten, und mir wird schlecht.

»Kanntest du ihn?«

Ich hab das Mädchen nicht kommen hören. Jetzt reißt sie mich aus meinem Film und ich bin ihr dankbar dafür. Rothaarig, ein bisschen mollig, rosige Wangen und ein schüchternes Lächeln umspielt ihre schmalen Lippen. Ihr Klemmbrett hält sie so fest gegen die Brust gedrückt, als müsste sie es vor mir schützen.

Kanntest du ihn. Als wäre Noah schon tot. Natürlich hat sie das nicht gemeint. »Noch lebt er«, korrigiere ich sie trotzdem.

»Ja, zum Glück. Krass, was die mit ihm gemacht haben, oder? Ich könnt bloß noch heulen.«

Und ich würde am liebsten weglaufen. Dieses fremde Mädchen zeigt so viel Mitgefühl mit Noah. Und ich steh da, als wäre zwischen ihr und mir eine Wand. Wir sollten uns trösten und in den Arm nehmen. Aber ich bin einfach wie gelähmt und tu gar nichts.

»Ich bin Sonja«, sagt sie. »Und du?«

»Leah.«

»Klingt fast wie Noah.« Sie lächelt.

Tut es, stimmt.

»Wir sammeln Unterschriften«, sagt sie. »Vielleicht willst du ja auch unterschreiben.«

Sie hält mir das Klemmbrett hin. Die Seite ist fast bis ganz unten voll. Ich lese die Headline: Gegen Überfremdung! Kriminelle Asylanten raus aus dem Gerberblock! Deutschland den Deutschen! Dann schaue ich Sonja an. Sie lächelt so harmlos. Langsam spüre ich wieder etwas: Zorn kriecht in mir hoch. Ihr geht es überhaupt nicht um Noah. Sie benutzt ihn nur, um Hass zu schüren. Sie und alle anderen, die so ticken. Aber da sind sie an die Falsche geraten. Ich nehme das Klemmbrett, an dem ein Kugelschreiber baumelt, und überfliege die Namen auf der Liste. Einige kenne ich sogar. Leute, von denen ich nie gedacht hätte, dass sie ihre Unterschrift unter solche Sprüche setzen würden.

»Samstag halten wir eine Mahnwache«, sagt Sonja. »Und dann ziehen wir rüber zum Gerberblock. Damit endlich was passiert. Die müssen weg, die Asylanten. Oder wie viele Leute von uns sollen die noch totprügeln, bevor hier mal jemand aufwacht?«

»Bloß weil es hier passiert ist, heißt das noch lange nicht, dass es jemand von den Leuten hier war«, widerspreche ich, kritzle der blöden Kuh was auf ihre Unterschriftenliste und sage, als ich ihr das Klemmbrett zurückgebe: »Ich bin übrigens Noahs Schwester. Und der würde kotzen über eure Aktion hier. Nur damit du’s weißt.«

Ich dreh mich um und marschiere davon.

»Sehr witzig«, höre ich sie hinter mir sagen. »Ich hoffe, mit dir macht das einer von diesen verlausten Affen! Vielleicht kapierst du’s dann!«

Schon klar, was sie meint. Sie hat gelesen, was ich auf ihre Liste geschrieben hab: FICK DICH!

»Wir können Ihnen natürlich nicht verbieten, dorthin zu gehen«, sagt Frau Bartels so freundlich, wie sie es als strenge Polizeibeamtin gerade noch hinkriegt, während ich merke, dass sie mir am liebsten den Kopf waschen würde. »Aber hilfreich ist es nicht. Je weniger Sie an diesem Ort in Erscheinung treten, desto besser ist es. Sonst liefern Sie nur neue Bilder, neue Nachrichten und es kehrt nie Ruhe ein.« Frau Bartels muss nicht laut werden, um eindringlich zu sein. Im Gegenteil. Je ruhiger sie wird, desto schlechter fühle ich mich.

Ich kratze mit dem Daumennagel in der Scharte im Esstisch und spüre dabei die vorwurfsvollen Blicke von Mama und Papa. Schon klar, wir hatten ausgemacht, dass wir die Bahnhofstraße erst mal meiden. Wenn diese Sonja mich nicht fotografiert und das Foto überall gepostet hätte, hätte auch niemand erfahren, dass ich dort war. Jetzt stellt mich die blöde Kuh als naiven Gutmenschen dar, der zu bemitleiden ist, und tausend rechte Idioten liken und kommentieren das.

»War das wirklich nötig?«, fragt Mama.

Irgendwie schon, finde ich. Diese rechten Idioten sind doch dabei, uns mit ihren Mahnwachen und Unterschriftenaktionen Noah wegzunehmen. Aber ich verstehe Mama auch, sie hat schon Sorgen und Kummer genug, und drum tut’s mir leid.

»Ich bin allerdings wegen etwas anderem hier«, sagt Frau Bartels. Sie schaut erst mich, dann Papa, schließlich Mama an. »Wir haben ein Video zugeschickt bekommen, das zeigt, was passiert ist. In der Tatnacht.« Sie räuspert sich. »Wie es zu dem Angriff kam.«

»Sie meinen, mit den Tätern drauf?«, fragt Papa sofort.

Frau Bartels nickt. »Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen den Film. Ich warne Sie aber. So was ist nicht leicht zu ertragen.«

Mama und Papa schauen erst einander an, dann mich. Lange macht keiner von uns einen Mucks. Wir haben alle drei Angst. Wenn Frau Bartels uns warnt, wird das, was sie hat, wohl ziemlich heftig sein. Und einmal im Kopf, können wir die Bilder nicht wieder löschen.

»Wir sehen es uns an«, bestimmt Papa, und weil er versucht, stark und fest zu sprechen, klingt seine Stimme umso zittriger. Papa war noch nie gut darin, seine Gefühle zu verbergen.

Mama atmet tief durch.

Ich lege meine Hand auf ihre.

»Okay«, sagt Frau Bartels, »dann los.«

Sie holt einen Laptop aus ihrer Umhängetasche und klappt ihn auf, tippt ein wenig herum und dreht ihn dann so, dass wir den Film auf dem Bildschirm sehen können. Die Qualität ist eher mau, eine Nachtaufnahme bei wenig Licht. Man sieht eine Gruppe Männer abhängen. Es scheinen dunkelhäutige Männer zu sein. Erst auf den zweiten Blick erkenne ich den Ort wieder: Das ist da, wo jetzt die ganzen Blumen und Kerzen und Zettel liegen.

Noah kommt ins Bild. Er schaut kurz zur Seite. Ich würde ihn immer und überall erkennen, sogar im Dunkeln, schon an der Jacke, die er immer trägt, und auch an seinem Gang. Er latscht zu der Gruppe und redet mit den Leuten. Es wirkt alles cool, Noah lacht und die Männer lachen mit. Bis die Stimmung wie aus dem Nichts umschlägt. Auf einmal sind die Männer total aufgebracht, sie brüllen rum und stoßen Noah. Es gibt die ersten Schläge. Fausthiebe. Noah wehrt sich, aber nicht sehr entschlossen. Die Schläge werden heftiger, er geht zu Boden und wird getreten. In die Nieren, in den Bauch. Gegen den Kopf. Als Noah sich nicht mehr rührt, kapieren die Männer offenbar erst, was sie getan haben. Sie stehen ratlos da. Gucken nur. Keiner scheint was zu sagen. Dann beugt sich einer hinab, testet, was mit Noah los ist. Der gibt kein Lebenszeichen von sich. Jetzt geraten die Männer in Panik. Sie reden aufgeregt miteinander. Schließlich rennen sie weg. Noah bleibt liegen. Das Video stoppt.

Die Stille im Raum drückt auf meine Ohren. Wir sitzen da wie versteinert. Als ich merke, wie fest ich Mamas Hand zusammenpresse, lockere ich meinen Griff. Am liebsten würde ich aufspringen und weglaufen. Doch ich bleibe sitzen.

»Ich bezweifle, dass das Neonazis waren«, sagt Frau Bartels schließlich.

Noah hatte vor ein paar Monaten spätabends einen Zusammenstoß mit Neonazis, die ihn ziemlich verprügelt haben, und das haben wir der Polizei auch erzählt. Für uns war klar, dass es nur wieder so gewesen sein kann. Wohl ein Irrtum. Mein Mund ist ganz trocken.

»Das Video wurde uns von Noahs Handy aus zugeschickt«, fährt sie ungerührt fort.

»Und was heißt das?«, fragt Papa.

»Zunächst das Offensichtliche: Noah war nicht allein. Dann: Die Person, die das aufgenommen hat, ist auch im Besitz von Noahs Handy. Daraus schließen wir, dass die Begegnung mit den Tätern kein Zufall war. Das alles sieht nach einer gezielten Sache aus.«

»Okay«, sagt Papa. Er kann die Informationen genauso wenig verarbeiten wie Mama und ich.

»Wer auch immer diese Person ist, sie verfolgt mit dem Video einen Plan.«

Papa, Mama und ich sehen uns bloß an. Langsam kommt mein Gehirn in Gang und versucht, das alles auf die Reihe zu kriegen.

»Könnte das nicht … ich meine … Das Video könnte auch ein Fake sein.«

»Sicher. Heutzutage weiß man das nie. Wir untersuchen das natürlich. Wenn es eine Fälschung ist, dann ist es eine verdammt gute.«

Ein schrecklicher Gedanke beschleicht mich. »Kann es sein, dass Noah in eine Falle gelockt wurde? Von dem, der das aufgezeichnet hat? Dass derjenige wusste, was passieren würde?«

Frau Bartels schaut mich einen Moment stumm an. Vielleicht hatte sie diese Idee auch schon. »Das wäre eine weitere Möglichkeit. So oder so bleibt die Frage: Was wollte er von den Männern? Oder die von ihm? Was ist da gelaufen?«

Irgendwas Illegales, fällt mir als Erstes ein. Drogen vielleicht. Obwohl ich mir das kaum vorstellen kann. Noah war total anti-Drogen. Der hat nicht mal an einem Joint gezogen.

»Und was glauben Sie?«, fragt Papa.

Frau Bartels zögert. Schließlich sagt sie bloß: »Bei der Polizei haben wir eine Regel: Keine voreiligen Schlüsse ziehen.«

»Dann waren es also doch Ausländer«, sagt Mama, nachdem Frau Bartels gegangen ist. Es klingt, als sei damit alles klar, als wären alle Fragen beantwortet. In Wirklichkeit wissen wir nicht mehr als zuvor. Zumindest was die Täter angeht.

»Das weißt du doch gar nicht«, sage ich, schärfer als beabsichtigt. »Sie hatten eine dunklere Hautfarbe. Und?«

»Nichts und«, sagt Mama und sieht mich auf diese Art an, die sagt: Was willst du denn von mir? Ich bin doch die Unschuld in Person.

Ich will mich auch gar nicht mit ihr streiten. Wir sind alle gerade so empfindlich, dass schon die sanftesten Berührungen wehtun. Wie bei Menschen mit Verbrennungen. Ja, wir sind Verbrannte. Und Mama ist ja auch keine von denen, die gegen Ausländer hetzen. Versöhnlich lege ich meine Hand auf ihre, und sie nimmt mein Angebot an, mit einem brüchigen Lächeln.

»Alles wird gut«, sagt Papa, der Berufsoptimist. »Dauert nicht mehr lange, dann wacht Noah auf und kann uns das selbst erklären.«

Es ist erst kurz nach acht, aber ich bin müde und will ins Bett.

Ich drücke und küsse Mama und Papa, dann lasse ich sie allein. Doch statt in mein Zimmer gehe ich in das von Noah. Um diese Zeit hat es von allen Zimmern im Haus das mildeste Licht. Wie ein Weichzeichner legt es sich über alles. Rundet Ecken und Kanten ab. Verflüssigt die Oberflächen. Plötzlich knicken meine Beine weg, ich sacke aufs Bett. Ohne dich fühle ich mich so leer, Noah. Ohne dich wirkt alles so fremd. Der Schreibtisch, an dem du immer gehockt hast; die Korktafel mit deinen Notizzetteln, Fotos, Eintrittskarten; der Sessel mit dem Klamottenberg; eine goldene Münze mit Lederband auf dem Nachttisch. Früher hat all das Geschichten erzählt. Deine Geschichten. Aber jetzt sind die Dinge verstummt. Und ich mit ihnen.

Ich fahre hoch. Schweißnass. Mit Herzrasen. In der Dunkelheit brauche ich ein wenig, bis ich begreife, dass alles nur ein Traum war. Die Männer mit den verzerrten Bulldoggen-Gesichtern und den riesigen Hämmern statt Händen. Es gab sie nur in meinem Kopf. Und Noah, der am Boden lag und den sie mit Füßen traten, bis er sich nicht mehr rührte – ist das auch nur ein Albtraum? Ja. Aber leider ein echter.

Eine tiefe Traurigkeit überkommt mich, presst mich nieder. Ich drücke mein Gesicht ins Kissen. Schluchze. Weine. Gebe mich ganz hin. Lasse mich mitreißen von diesem Strom. Und erschrecke mich über mich selbst. Nein, so darf ich nicht weinen. So weint man um einen Toten!

Ich schiebe das Kissen weg, kämpfe mich aus der Decke, in der ich mich total verheddert hab, und stehe auf. Von draußen kommt nur so viel Straßenlicht herein, dass ich gerade mal die Schemen der Möbel und Sachen erkenne. Irgendwie passt das, ich komme mir selbst vor, als wäre ich nur noch ein Umriss.

Dann waren es also doch Ausländer, höre ich Mama sagen. Ein mulmiges Gefühl beschleicht mich. Was hat das zu bedeuten? Der Satz und das Gefühl. Es ist, als wäre da etwas, das ich dauernd übersehe. Wenn du jetzt bloß da wärst, Noah, du würdest es sehen und mir sagen. So wie immer.

Lautlos wie ein Geist husche ich in mein Zimmer, schlüpfe in mein Schlafshirt und verkrieche mich in meinem Bett. Ein paar Stunden habe ich ja noch. Müde schließe ich die Augen.

Und reiße sie gleich wieder auf. Was war das eigentlich für ein Ding auf seinem Nachttisch? Ich springe aus dem Bett und renne zurück in Noahs Zimmer. Knipse das Licht an. Sie liegt noch immer unschuldig auf dem Nachttisch: die Münze an dem Lederband. Sie ist nicht größer als ein Zweieurostück. Und auch ungefähr so dick. Auf der einen Seiten ist ein Adlerkopf eingeprägt, auf der anderen ein Adler im Flug. Besonders wertvoll sieht sie nicht aus. Eher wie etwas, das man zusammen mit Süßigkeiten aus dem Automaten zieht. Und sicher nicht wie etwas, das Noah unbedingt tragen würde. Was macht sie dann hier? Gehört sie ihm oder jemand anderem? Ich sollte sie wieder hinlegen, aber ich behalte sie in der Hand und nehme sie mit.

Wenn das so weitergeht, werde ich noch zum totalen Nachrichten-Junkie. Seit Tagen geht das jetzt schon so. Die Polizei hat die Information, dass Noah von einer Gruppe junger Männer, vermutlich mit Migrationshintergrund, zusammengeschlagen wurde, an die Öffentlichkeit gegeben. Sie will sich nicht vorwerfen lassen, Tatsachen zurückzuhalten. Auch dass ein Video von der Tat existiert, wird mitgeteilt. Die verwischten, unterbelichteten Bilder mutmaßlicher Täter werden als Fahndungsfotos veröffentlicht. Man kann die Gesichter allerdings kaum erkennen, was dazu führt, dass immer wieder Menschen, die den Denunzianten nicht deutsch genug aussehen, angepöbelt und bei der Polizei denunziert werden.

Wenn Noah das sehen könnte – er würde kotzen.

Die Mahnwache für Noah und den angekündigten Schweigemarsch zum Gerberblock hat die Stadt im Eilverfahren verboten. Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder so. Daraufhin ist das Video, das zeigt, wie Noah verprügelt wird, im Netz aufgetaucht. Und jetzt kommen von überall her Busse voll mit Menschen in die Bahnhofsstraße. Andere Busse sind voll mit Polizisten. Niemand weiß, was passieren wird. Sogar die großen Nachrichten berichten.

»Wenn du nicht aufhörst, dauernd auf das Ding zu starren, nehme ich es dir weg«, droht Mama und deutet auf mein Handy. Aber ich kann nicht anders. Ich muss ständig die News checken, springe zwischen den offiziellen Kanälen und WhatsApp hin und her, wo mich Steffi und ein paar andere Freunde, die live vor Ort sind, auf dem Laufenden halten. »Komm lieber nachher mit zu Noah«, sagt Mama. »Dort ist unser Platz.«

»Ich komm ja mit«, sage ich genervt darüber, dass sie mir dauernd ein schlechtes Gewissen macht. »Hab ich doch schon gesagt.«

Ich klink mich aus, schreibe ich Steffi. Brauch ’ne Auszeit. Und wir fahren gleich zu Noah.

Alles klar, antwortet sie. Ich halt die Stellung. Gib ihm ’nen dicken Kuss von mir.

Mach ich.

»Leah, jetzt komm!«, schreit Mama durch den Flur, dann fällt die Haustür ins Schloss.

Als ich rauskomme, sitzen Papa und Mama schon im Auto, der Motor läuft, Papas Daumen trommelt nervös auf das Lenkrad. Ich schmeiß mich auf den Rücksitz. Das Handy bleibt in meiner Hosentasche, sonst regt Mama sich gleich wieder auf. Ohne Kommentar fahren wir los.

»Was ist das eigentlich für ein Anhänger, den du da trägst?«, fragt Mama nach einer Weile. Ihre Augen beobachten mich im Rückspiegel.

Ich nehme Noahs Anhänger zwischen meine Finger. »Nichts Besonderes«, antworte ich. »Nur ein Anhänger.«

Selbst wenn ich es wollte, ich könnte ihr nicht sagen, warum ich das Ding trage. Etwas daran fasziniert mich. Vielleicht nur, dass es Noah gehört und ich nichts darüber weiß, obwohl ich doch eigentlich alles über ihn weiß. Dachte ich zumindest.

Auf der Bundesstraße in die Kreisstadt kommt uns ein alter VW-Bus entgegen, in den sich viel zu viele Leute reingequetscht haben. Aus dem Seitenfenster flattert eine schwarz-weiß-rote Fahne mit einem Eisernen Kreuz in der Mitte. »Idioten«, murmle ich.

Es bleibt eine Weile still zwischen uns, bis Papa völlig aus dem Nichts sagt: »Natürlich sind diese Nazis Idioten. Aber es ist nicht jeder gleich ein Nazi, bloß weil er … Ich meine, irgendwie kann man die Leute ja verstehen. Erst passiert im Gerberblock jahrelang nichts, dann kommen die Asylanten und auf einmal wird ruckzuck renoviert.«

Ich fasse es nicht, dass er so was von sich gibt. »Das hätte Noah jetzt aber nicht hören dürfen«, antworte ich. »Der hätte dir was erzählt.«

Papa murmelt nur was Unverständliches.

»Wieso sind die Leute nicht vorher auf die Straße gegangen und haben was dafür getan, dass der Gerberblock hergerichtet wird?«, fahre ich fort. »Da haben sie einfach nur zugesehen, wie alles verrottet. Und das Paradies ist es dort jetzt auch nicht gerade. Es wurde nur das Nötigste für die Flüchtlinge gemacht. Hat Noah gesagt und der war mehrmals dort. Und ich hab zumindest Fotos gesehen.«

»Ja, ja, sicher«, wiegelt Papa ab, »ich meine ja nur.«

»Ich ertrag es auch kaum, dass Noah das angetan wurde«, sage ich. »Aber es bringt niemandem was, jetzt alle Flüchtlinge zu hassen. Das würde Noah bestimmt nicht wollen.«

Es ist wieder kurz still, dann bricht es aus Mama heraus: »Kann ja auch sein, dass Noah sich geirrt hat … Vielleicht war es doch ein Fehler, all diese Leute … Es ist nun mal so, dass es Ausländer waren, die Noah fast zu Tode geprügelt haben. Das zumindest haben wir mit eigenen Augen gesehen!«

»Ich hab nur gesehen, dass die Männer eine andere Hautfarbe hatten als wir«, sage ich. »Was in ihrem Pass steht, weiß ich nicht.«

»Das ist mir doch egal! Aber du … du klingst fast so, als würdest du diese Kerle auch noch in Schutz nehmen!«

»Und du klingst so, als wolltest du sagen, dass Noah selber schuld war, weil er sich für die Flüchtlinge eingesetzt hat.«

»Das stimmt überhaupt nicht!«, schreit Mama wie unter Schmerzen auf.

Ich bin zu weit gegangen und bereue meine Spitze sofort. »Entschuldige, Mama«, beschwichtige ich. »Das war fies von mir. Das hab ich nicht so gemeint.«

Sie schweigt.

Und ich halt besser auch meinen Mund, bevor ich Mist rede. Ich bin eben nicht du, Noah. Du weißt immer, was richtig ist und was falsch, und du kannst es auch super ausdrücken. Darum wirst du bestimmt mal ein klasse Anwalt.

Stumm verlassen wir die Klinik. Mit verquollenen Augen. Papa hat den Arm um Mama gelegt und stützt sie. Wir durften nur kurz zu Noah, heute war kein guter Tag, sein Herz drohte wohl schlappzumachen, keine Ahnung, ich höre bei diesem Ärztekram nie so genau hin, weil ich es eh nicht verstehe. Will es auch nicht verstehen, dann krieg ich bloß noch mehr Angst.

Ich komme mir gerade vor wie unter Wasser. Alles ist verschwommen. Gedämpft. Nichts kommt an mich ran und ich komm an nichts ran.

Mechanisch bewege ich mich auf unser Auto zu. Papa schließt per Funkfernbedienung auf, die Blinklichter leuchten kurz. Ich sehe uns drin sitzen, Papa, Mama, mich selbst, und zwischen uns eine riesige, unüberbrückbare Lücke – Noah. Ich kann jetzt nicht in dieses Auto steigen. Auf keinen Fall. Mama so zerbrochen zu sehen und ihr nicht helfen zu können … Aber darf ich sie und Papa jetzt allein lassen?

Ich lege meinen Arm um Mama und ziehe sie an mich. »Hey«, sage ich, »wie geht es dir?«

Sie schnieft nur hilflos. Dann klammert sie sich plötzlich an mich und weint. Ich schaue zu Papa. Hilflos steht er da. Versucht, sich zu beherrschen. Stark zu bleiben.

»Ich liebe dich, Mama«, sage ich. »Und ich bin für dich da. Immer. Und wenn ich manchmal Dinge sage, die –«

»Hör auf«, unterbricht sie, »das weiß ich doch alles.«

Papa legt seine Arme um uns. »Wollen wir langsam …?«

Ich löse mich von den beiden. »Ist es okay, wenn ich nicht mit nach Hause fahre? Ich muss jetzt ein bisschen für mich sein.«

»Ja, aber wie …?«, fragt Papa.

»Ich nehm den Bus.«

Mama ergreift meine Hand. »Hast ja recht«, sagt sie. »Man muss sich auch mal ablenken.«

Ich drücke sie noch einmal ganz fest, wische ihr die Tränen aus dem Gesicht und küsse sie. Dann gehe ich über den Parkplatz davon, auf kürzestem Weg, zwischen den Autos hindurch. An der Ausfahrt begegnen wir uns noch einmal, ich winke, sehe ihnen nach und – atme durch.

Ich habe keine Ahnung, was ich jetzt mache. Eigentlich habe ich auf nichts Lust. Vielleicht lauf ich einfach nur eine Weile rum.

Das Handy in meiner Hosentasche piept. Reflexartig fährt meine Hand nach unten. Dann zögere ich. Will ich jetzt wirklich Neuigkeiten über eine Ansammlung von rechten Idioten in der Bahnhofstraße lesen? Eher nicht. Und doch ziehe ich es aus der Hosentasche.

Es ist Eva. Was will sie von mir? Seit dem Abi hab ich nichts von ihr gehört. Nicht dass ich sie vermisst hätte. So eng waren wir nie.

Hab erfahren, dass du gerade hier in der Gegend bist. Wenn du Zeit und Lust hast, lass uns treffen.

Wahrscheinlich weiß sie von Steffi, dass wir zu Noah gefahren sind.

Passt gerade nicht so, tippe ich und will es schon fast abschicken, zögere aber. Vielleicht wäre ein bisschen belangloses Quatschen jetzt genau das, was ich brauche.

Ich lösche den Text und schreibe: Okay. Wie wär’s jetzt gleich? Im Café Huber?

Super. Ich kann in zwanzig Minuten da sein. C u ☺

Im Café Huber ist nichts los um diese Zeit. Eva ist noch nicht da. Ich suche uns einen Tisch am Fenster mit Blick auf die Straße.

Langsam ahne ich, warum Eva sich mit mir treffen will. Alte Liebe rostet nicht, sagt Papa immer. Sie wollte mal was von Noah, hat sich ziemlich an ihn rangeschmissen, aber er ist nur halb darauf eingestiegen. Keine Ahnung, ob und was zwischen den beiden gelaufen ist. Wenn es um Mädchen geht, lässt Noah sich nicht mal von mir in die Karten schauen. Da ist er ganz der verschwiegene Typ.

Mein Handy schreckt mich mit einem Pling aus meinen Gedanken auf. Einer meiner Freunde hat was auf Snapchat gepostet. Ich gucke nach, was es ist, und ein Stromschlag fährt durch mich. Unmöglich. Das muss ein Fehler sein. Snapchat muss sich vertan haben. Aber Snapchat hat sich eigentlich noch nie vertan. Der Snap kommt angeblich von Noah! Ein Video. Ich starte es. Es beginnt wie das Video, das uns die Kommissarin gezeigt hat und jetzt durchs Internet schwirrt.

»Super, dass es gleich geklappt hat!« Evas Stimme lässt mich so heftig zusammenzucken, dass mir fast das Handy aus der Hand fällt.

Sie lacht. »Hab ich dich erschreckt? Sorry!«

Wie unter Schock starre ich auf mein Handydisplay, wo jetzt für ein paar Sekunden eine Internetadresse auftaucht. Und dann ist das Video auch schon vorbei, gleich wird es ganz verschwunden sein. Wenn ich nicht so perplex wäre und Eva mich nicht zusätzlich erschreckt hätte, hätte ich es vielleicht geschafft, einen Screenshot von der letzten Einstellung zu machen. Aber dafür ist es jetzt zu spät. Manchmal hasse ich Snapchat!

Eva ist inzwischen auf den Stuhl mir gegenüber gesunken. »Ich hoffe, keine schlechte Nachricht«, sagt sie mit Blick auf mein Handy.

»Nur der übliche Snapchat-Scheiß.« Ich lege das Handy mit dem Display nach unten auf den Tisch.

»Hey, ich … also, ich hab das mit Noah natürlich mitgekriegt«, sagt Eva und legt ihre Hand tröstend auf meine. Das ist mir ein bisschen too much, doch ich lasse es zu, weil sie ja bloß nett sein will. »Echt krass«, fährt sie fort. »Wie geht’s ihm?«

Ich zucke mit den Schultern. »Mal besser, mal schlechter. Zum Glück ist er aktuell nicht in Lebensgefahr. Aber das kann sich schnell ändern.«

»Er wacht doch wieder auf, oder?« Sie guckt ernsthaft besorgt.

Ich merke, wie die Tränen in mir hochsteigen, vielleicht ist es die Art, wie sie mich ansieht, die meine Schutzmauer durchlässig macht. Bloß nicht heulen!, ermahne ich mich. Bloß kein Mitleid!

»Kann man nicht wissen«, sage ich.

Eva seufzt. »Ich hoffe so, dass alles wieder gut wird. Noah ist ein ganz besonderer Mensch. Wir wären ja fast mal …« Sie lächelt verlegen. »Ewig her. Aber er hat für immer einen besonderen Platz in meinem Herzen.«

Mir fällt dazu nichts ein, also bleibe ich still und frage mich nur, ob sie auch einen besonderen Platz in Noahs Herzen behalten hat.

»Und wie geht’s dir damit?«, fragt sie.

»Das ist das kleinste Problem. Das allerkleinste.«

»Nee, ist es nicht. Ich bewundere, wie tapfer du bist.«

Die Bedienung kommt an den Tisch, ich bestelle einen Milchkaffee, Eva einen Latte macchiato.

»Du weißt ja sicher, dass ich jetzt bei der Zeitung arbeite«, sagt Eva nach einer kurzen Weile.

Klar weiß ich das. Sie hatte es nach dem Abi jedem unter die Nase gerieben. Aber ich bin froh, dass sie das Thema wechselt.

»Volontariat, oder?«, frage ich zurück.

»Stimmt.«

»Und, macht Spaß?«

Sie nickt. »Genau meins. Ich krieg auch richtig was zu tun. Nicht bloß Kaffee kochen und Archivrecherche.«

»Toll für dich. Dann ist die Journalistenschule in München wohl schon gebucht.«

Sie rollt mit den Augen. »Wenn das mal so einfach wäre. Aber wird schon irgendwie klappen. Und du? Was machst du?«

»Ich geh im Herbst nach Berlin. Erst mal die Stadt kennenlernen. Bisschen jobben und so. Und nächstes Jahr an die Uni.«

»Cooler Plan.« Sie spitzt kurz ihre vollen Lippen und sagt dann: »Ich hab die Berichterstattung über Noah genau verfolgt, und ich finde, dass eure Position darin viel zu wenig vorkommt. Also, ich meine, deine Position und die deiner Eltern. Euer Statement gleich nach der Tat war gut, aber in der heutigen Medienwelt verpufft so was sehr schnell und wird vergessen.«

Ich hab das dumpfe Gefühl, dass wir jetzt zum eigentlichen Grund unseres Treffens kommen.

»Die Polizei rät uns zur Zurückhaltung«, sage ich.

»Sicher. Die Polizei hat natürlich ihre Gründe, so was zu wollen. Gute Gründe. Aber es sind halt ihre Gründe. Ihr habt vielleicht andere Interessen. Oder ein anderes Anliegen. Gerade du. Du warst doch immer total engagiert.«

»Eigentlich war das mehr Noah. Ich war nur Mitläuferin. Sozusagen.«

Ich schaue zum Tresen hinüber, wo die Bedienung unsere Bestellung fertig macht. Nein, ich war nie mit vollem Herzen bei der Flüchtlingshilfe dabei. Das war vor allem dein Ding, Noah. Ich glaube, ich wollte mehr dir helfen als den Flüchtlingen. Obwohl es mir dann schon was bedeutet hat. Aber nie so viel wie dir. Wahrscheinlich hast du das gemerkt und mich deswegen nicht mehr mitgenommen. Für dich muss alles immer durch und durch ehrlich sein. Heuchelei ist das Schlimmste.

»Leah? Hörst du mir zu? Oder wo bist du gerade?«

Ich schaue wieder zu Eva. »Oh, sorry. Was hast du gesagt?«

»Dass euer Schweigen auch als Zustimmung gedeutet werden kann. Zu dem, was da gerade läuft. Also, wenn du dich mal äußern willst, öffentlich, meine ich, dann komm damit zu mir. Unsere Zeitung steht dir offen. Und wir sind nicht irgend so ein Forum im Internet, sondern eine richtige Zeitung, online und im Print. Damit erreichst du viel mehr Leute.«

Die Sätze klingen auswendig gelernt und überhaupt nicht wie sie selbst. Eher wie die große Journalistin, die sie gerne sein will. Es wäre fast zum Lachen, wenn das alles nicht viel zu ernst und traurig wäre.

Ich gucke zu meinem Handy auf dem Tisch, fasse es aber nicht an. »Weißt du«, sage ich, »eigentlich will ich niemanden erreichen. Wieso auch? Was gehen mich fremde Leute an? Ich hab keine Botschaft an die. Hab niemandem was zu sagen. Ich will nur meinen Bruder zurück. Sonst nichts.«

Erst jetzt nehme ich das Handy in die Hand und drehe es um. Ich muss an den seltsamen Snap von vorhin denken. Ich hab vielleicht keine Botschaft, aber anscheinend hat jemand eine für mich.

»Na, den Kopf ein bisschen frei gekriegt?«, fragt Mama, als ich nach Hause komme. Sie muss hinter der Tür auf mich gewartet haben.

»Ein bisschen.«

Auf dem ganzen Heimweg hatte ich noch ein schlechtes Gewissen, weil ich mich bei Mama und Papa gleich nach dem Besuch bei Noah einfach ausgeklinkt hab. Dass Mama mich jetzt sogar anlächelt, zeigt mir: Es war wirklich okay für sie. Und es freut mich doppelt, weil Mama in letzter Zeit nicht oft lächelt. Von dem merkwürdigen Snap erzähle ich ihr besser nichts, ist wahrscheinlich eh nur ein dummer Scherz von irgendeinem Honk. Ich kann mir nur nicht erklären, wie es sein kann, dass dieser Snap von Noah kam.

»Ist was passiert?«, fragt sie in mein Schweigen hinein.

»Nichts.«

Ich gehe nach oben in mein Zimmer, werfe die Tür hinter mir zu und lasse mich auf meinen Sessel fallen. Vielleicht hätte ich Mama doch was erzählen sollen. Aber was hätte ich denn schon groß sagen können? Es hätte sie nur beunruhigt und sie hat mehr als genug Sorgen. Nee, es war schon richtig, dass ich geschwiegen hab. Ich kann ja auch jemand anders fragen. Jemanden, der sich wirklich auskennt.

Ich suche die Karte von Kommissarin Bartels raus, rufe sie an und erzähle ihr von dem Snap. »Das Merkwürdige daran war, dass er von Noah kam. Also vielleicht von seinem Handy.«

»Wir prüfen nach, ob es Aktivitäten von Noahs Handy gab«, antwortet sie und wirkt dabei total unaufgeregt. »Wahrscheinlicher ist, dass jemand sich einen Zugang zu seinem Snapchat-Account verschafft hat. Es gibt Leute, die ziehen ein perverses Vergnügen daraus, Leute wie Sie zu belästigen. Sagen Sie Bescheid, wenn sich noch mal jemand meldet.«

Kommissarin Bartels wirkt nicht so, als bereite ihr das große Sorgen, und das beruhigt auch mich.

»Mach ich«, verspreche ich ihr und lege auf.

Pling!

Ich zucke zusammen. Es ist Steffi. Über WhatsApp.

Alles klar bei dir?, fragt sie.

Alles gut. Und bei dir? Wie ist die Demo gegen Rechts gelaufen?

Sie schickt ein Foto, auf dem einige farbig gesprenkelte Typen zu sehen sind, die sich mächtig aufregen. Dazu schreibt sie: Die Welt ist bunt! Du siehst: Viel Gebrüll, viel Lärm, sonst alles gut! Wir sitzen bei Toni. Komm gern vorbei! ☺

Heute nicht mehr. Bin total kaputt.

Sie schickt mir drei Herzchen.

Ich will das Handy gerade weglegen, da macht es schon wieder Pling. Wohl noch mal Steffi. Aber nein, ein neuer Snap von Noah! Sofort bin ich hellwach. Wieder ist es ein kurzer Ausschnitt aus dem bekannten Video, dann erscheint das Schild mit der von Hand geschriebenen Internetadresse. Und einem Spruch, der beim letzten Mal nicht da war: Nur für Leah. Kein Fake. Diesmal bin ich besser vorbereitet und mache einen Screenshot.

Okay, und jetzt? Gleich wieder Kommissarin Bartels anrufen?

Nur für Leah, lese ich auf dem Screenshot. Kein Fake.

Wenn jemand behauptet, dass etwas kein Fake ist, dann ist es sehr wahrscheinlich ein Fake.

Mal sehen, was sich dahinter verbirgt. Frau Bartels kann ich danach immer noch anrufen. Ich klappe meinen Laptop auf, gebe die Adresse ein und drücke auf Enter. Zu spät kommt mir in den Sinn, dass ich mir vielleicht gerade einen fiesen Virus runterlade, der meinen Laptop lahmlegt. Oder gleich ganz übernimmt und irgendwelchen Scheiß damit anstellt. Mist! Aber jetzt ist es zu spät. Ich werde automatisch über mehrere Seiten geleitet, bis sich schließlich ein Videofenster öffnet, auf dem nur eine weiße Fläche zu sehen ist und das Play-Symbol.

Letzte Chance, Nein zu sagen.

Ich halte die Luft an und klicke auf Play.

Eine weiße Fläche. Es wird rausgezoomt und ein Bett erscheint. Ich weiß sofort, wo das ist. In Noahs Zimmer. Es ist sein Bett. Von der Seite kommt er ins Bild und setzt sich auf die Kante. Er sieht aus wie immer. Unter seiner Wuschelfrisur, die er dringend mal schneiden müsste, lächelt er verlegen. Dann wischt er sich die Haare aus dem Gesicht und spricht in die Kamera: