Ein Cornwall-Krimi von
Rebecca Michéle
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
ZWANZIG
EINUNDZWANZIG
ZWEIUNDZWANZIG
DREIUNDZWANZIG
VIERUNDZWANZIG
Cornwall, Juni 2001
Das Erste, was sie sah, war ein großes Bukett dunkelroter Baccararosen.
»Wie wunderschön!« Sie rutschte vom Barhocker und ging dem attraktiven Mann mit dem Rosenstrauß entgegen.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Schatz!«
Mit dem freien Arm umarmte er sie. Zärtlich küssten sie sich. Dann blickte er sich um und winkte einem der Ober.
»Sind Sie bitte so freundlich und bringen uns eine Vase?«
»Selbstverständlich, und Ihr Tisch ist jetzt auch bereit.« Der Kellner geleitete sie zu einem Zweiertisch im Erker mit bodentiefen Fenstern, dann eilte er dienstbeflissen davon, um die Vase zu holen.
Gentlemanlike rückte er ihr den Stuhl zurecht und wartete, bis sie Platz genommen hatte, bevor auch er sich setzte.
»Du verwöhnst mich«, sagte sie, einen feuchten Schimmer in den Augen. »Die Rosen waren bestimmt sehr teuer, dann das Abendessen in einem der besten Restaurants in Cornwall …«
»Es ist dein Geburtstag«, entgegnete er schlicht, nahm ihre Hand und drückte sie sanft. »Es tut mir leid, dass ich dich habe warten lassen. Zwischen Carland Cross und Chiverton Cross ist ein LKW liegengeblieben. Der Verkehr staute sich auf mehrere Meilen.«
»Wie immer.« Sie seufzte. »Es wird Zeit, dass dieses Nadelöhr der A 30 endlich ausgebaut wird.«
»Habe ich dir schon gesagt, wie wunderschön du aussiehst?« Er zwinkerte ihr zu. »Das Kleid steht dir ausgezeichnet.«
»Ach, das ist alt.« Sie errötete wie ein Teenager, dabei war heute ihr einunddreißigster Geburtstag. Komplimente hörte jede Frau gern.
Der Ober brachte die Speisekarten und fragte nach den Getränkewünschen.
»Bringen Sie uns bitte eine Flasche Champagner«, sagte der Mann. »Den besten, den Sie haben.«
Sie runzelte die Stirn. »Wir müssen beide Auto fahren …«
»Der Abend ist noch jung«, wiegelte er ab.
Aus der kleinen, exquisiten Speisekarte wählten sie ein Fünf-Gänge-Menü für zwei Personen: Shrimps-Cocktail an Salatgarnitur, Hummersuppe, pochierten Lachs an Weinschaumcreme mit jungen Kartoffeln, Nougat-Schokoladen-Trifle, zum Abschluss gesalzene Biskuits, kornischen Käse und Kaffee.
Sie aßen langsam, genossen jeden Bissen. Durch das Fenster warf die Dämmerung ein sanftes, rosafarbenes Licht auf ihre Gesichter. Das Restaurant lag auf einer Anhöhe über St Ives, der Blick aus dem Fenster schweifte über die weite Bucht bis zu den langen Sandstränden von Hayle. Die letzten Sonnenstrahlen blitzten auf den kleinen Wellen, die sanft auf den weißen Sandstrand des Porthmeor Beach trafen. Der Tag war warm und sonnig gewesen, immer noch tummelten sich zahlreiche Surfer in den Wellen.
»Ich bekomme keinen Bissen mehr hinunter«, sagte sie, als nach dem letzten Gang der Kaffee serviert wurde. »So köstlich habe ich noch nie gegessen.« Sie sah ihn liebevoll an. »Ich danke dir für diesen wundervollen Abend.«
Aus der Innentasche seines perlgrauen Jacketts nahm er eine kleine Schachtel aus dunkelblauem Samt und schob sie über das blütenweiße Tischtuch ihr zu. »Ich habe noch ein Geschenk für dich.«
»Noch eines?« Sie schüttelte den Kopf. »Die wundervollen Rosen, das exzellente Essen und die Zeit mit dir heute Abend – das sind mehr als genug Geschenke. Es ist der schönste Geburtstag, den ich je gefeiert habe.«
»Mach es auf, bitte!«
Zögernd nahm sie das Schächtelchen. Der Deckel sprang auf. Auf blauem Samt schimmerte ein Entouragering. Weißgold mit einem ovalen Smaragd, gefasst in glitzernde Brillanten.
»Oh!« Ihre Augen weiteten sich. »Das kann ich doch nicht annehmen.«
Er griff nach ihrer Hand, sah sie ernst an und fragte: »Möchtest du meine Frau werden?« Sie schluckte, unfähig, etwas zu sagen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte nicht geglaubt, dass er diese Frage jemals stellen würde. »Ich weiß, die letzten Monate waren nicht einfach für dich«, fuhr er fort. »Es tut mir leid, dass ich dich so lange im Unklaren gelassen habe. Nun aber habe ich meine Entscheidung getroffen.«
»Bist du dir sicher?« Zweifelnd sah sie ihn an. Sie mochte zwar Romantik, war aber Realistin genug, sich nicht in Wunschträume zu verlieren, mochten sie noch so wundervoll sein. »Ich meine, hast du …?«
Er nickte. »Es ist alles geklärt, es ist nur eine Frage der Zeit. In ein paar Monaten, spätestens in einem Jahr werden wir heiraten können.« Zärtlich nahm er ihre Hand und steckte das Schmuckstück an ihren rechten Ringfinger. »Betrachte dich ab sofort als verlobt.«
Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und wünschte sich, diesen Moment einfangen und für immer festhalten zu können.
Um halb elf Uhr verließen sie Arm in Arm das Restaurant. Im Westen zeigte sich immer noch ein Streifen Helligkeit. Im Juni waren die Nächte in Cornwall kurz. Er hatte seinen Wagen direkt neben ihrem geparkt. Als sie die Autoschlüssel aus der Handtasche holte, hielt er sie am Handgelenk fest.
»Wenn du möchtest, bleibe ich die ganze Nacht bei dir.«
»Wirklich?«
»Das Versteckspiel ist zu Ende«, antwortete er fest. »Lass uns deinen Wagen nehmen. Ich habe nur ein Glas Champagner getrunken und danach gut gegessen.«
»Wir könnten ein Taxi rufen.«
»Glaub mir, wenn ich nicht sicher wäre, würde ich das Risiko nicht eingehen. Besonders mit so einer kostbaren Fracht an meiner Seite.« Zärtlich küsste er sie auf die Stirn.
Sie kicherte und fühlte sich beschwipst. Nicht allein vom Champagner, sie war trunken vor Glück.
»Was ist mit deinem Wagen?«
»Den hole ich morgen. Entweder nehme ich mir ein Taxi, oder du fährst mich nach St Ives.«
»Ich fahre dich überall hin«, erwiderte sie. »Wenn es sein muss, auch ans Ende der Welt. Hauptsache, ich kann bei dir sein.«
Sie wohnte in dem Dorf Sennen, etwa zwanzig Meilen südwestlich von St Ives und in der Nähe von Land’s End, dem südwestlichsten Punkt der britischen Insel. Er nahm die längere, landschaftlich schönere Strecke über die B 3306. Die Straße war gewunden und schmal, an manchen Stellen nur für einen PKW befahrbar. Um diese späte Uhrzeit indes kamen ihnen nur wenige Autos entgegen, Linienbusse fuhren keine mehr.
Auf der Höhe des Dorfes Zennor deutete sie auf den gedrungenen, normannischen Kirchturm, der von zwei Scheinwerfern in ein sanftes Licht getaucht war.
»Können wir hier heiraten?«
»Warum ausgerechnet in Zennor?«
»Als Kind haben mich meine Eltern mal in die Kirche mitgenommen«, erklärte sie, »mir von der Legende der Meerjungfrau von Zennor erzählt und die Schnitzerei an der Kirchenbank gezeigt. Das hat mich fasziniert. Es ist zwar eine Sage mit einem tragischen Ausgang, zugleich aber auch die Geschichte einer immerwährenden Liebe.«
»Wie die unsere, nur dass diese gut enden wird. Wenn du es möchtest, heiraten wir in dieser Kirche.«
»Danke.«
Sie lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter. Schemenhaft schälten sich die Überreste der Kamine der einstigen Bergwerke aus der Dunkelheit. Sie fuhren durch Morvah, Pendeen, vorbei an der Gevor Tin Mine, einer touristischen Sehenswürdigkeit der Gegend, durch Botallack mit seinen uralten, geduckten Cottages aus braunem Stein. Hier schien die Zeit stehengeblieben zu sein. In zweihundert Jahren hatte sich in diesem Dorf kaum etwas verändert. Anders in St Just, der größten Stadt der Gegend. Hier saßen Teenager rund um das steinerne Marktkreuz, vor dem örtlichen Pub, dem King’s Arms, waren alle Tische besetzt. Die milde Abendluft zog die Menschen nach draußen.
Als der Lichtkegel der Scheinwerfer auf die ersten Häuser von Sennen fiel, sagte sie: »Es ist ein so schöner Abend, und ich bin noch nicht müde. Sollen wir uns eine Zeitlang an den Strand von Sennen Cove setzen?«
Er lachte unbeschwert. »Dasselbe wollte ich auch gerade vorschlagen.«
Er setzte den Blinker und bog nach rechts ab. Die schmale Cove Road, gesäumt mit hohen, begrünten Trockensteinmauern, schlängelte sich zur Küste hinunter. Sie öffnete das Fenster der Beifahrerseite, kuschelte sich in den Sitz, schloss die Augen und sog die würzige Seeluft ein. Er nahm die erste Linkskurve.
»Zum Teufel aber auch …«
Sie schreckte hoch. »Was ist los?«
»Die Bremsen …« Er keuchte. »Verdammt!« Jetzt ging es steil nach unten, der Wagen nahm immer mehr Fahrt auf.
»Langsam!«, schrie sie. »Mach doch langsam!«
»Die Bremse reagiert nicht.«
Hektisch trat sein Fuß immer wieder auf das Pedal. Der Wagen wurde immer schneller. Er riss das Lenkrad nach rechts, um die nächste Kurve zu nehmen. Das Geäst der Hecken kratzte an der Karosserie, mit einem scheppernden Geräusch streifte das Heck die Mauer.
»Halt dich fest!«
Sie klammerte sich an den Sitz. Alles geschah so blitzschnell, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte. Das Meer lag jetzt unmittelbar vor ihnen. Nur noch getrennt durch den Gehweg und ein halbhohes Geländer aus Metall. Er versuchte, nach links zu lenken. Der Wagen war zu schnell, das Heck brach aus, schleuderte über den Gehweg und durchbrach das Geländer. Wie ein Pfeil schoss das Auto ins Wasser.
Sie umklammerte den Ring an ihrer Hand und wusste, dass die Stunden ihres Glücks unwiderruflich vorbei waren.
Cornwall, August 2019
Mit der flachen Hand strich Sandra Flemming über die faltenlose Tischdecke, dann schob sie ein Wasserglas ein paar Millimeter zur Seite, als Nächstes rückte sie einen Stuhl zurecht.
»Stimmt etwas nicht, Sandra?« Die ältere Frau mit den herben Gesichtszügen und einem fliehenden Kinn sah Sandra fragend an.
»Sind die Blumen geliefert worden?«
»Ja, Sandra, wir stellen sie aber erst vor ihrer Ankunft in die Vasen, damit sie frisch bleiben.«
»Monsieur wird das Essen pünktlich fertig haben?«
»Auch das, Sandra.« Eliza Dexter schmunzelte. »Es wird alles reibungslos funktionieren und zu Ihrer Zufriedenheit sein.«
»Sandra, bist du fertig?« Ein hochgewachsener, schlanker Mann stand in der Tür. Das Auffälligste an ihm waren seine karottenroten Haare. »Wir müssen los. Du willst doch nicht zur Taufe deines Patenkindes zu spät kommen?«
»Einen Moment noch«, rief Sandra. »Ich möchte nochmal mit Monsieur Peintré sprechen.«
»Chief Inspector!« Eliza Dexter trat zu dem Rothaarigen. »Können Sie nicht polizeilich anordnen, dass Sandra das Hotel umgehend verlassen muss? Sie könnten sie ja abführen.« Eliza zwinkerte DCI Christopher Bourke verschwörerisch zu. »Wenn nötig in Handschellen.«
»Es ist gut, ich geh’ ja schon!« Sandra lachte. »Ich möchte nur, dass bei diesem besonderen Anlass alles perfekt ist.«
»Das wird es sein, Sandra.« Mit sanfter Gewalt schob Eliza ihre Chefin zur Tür. »Wir haben seit Wochen alles bis ins kleinste Detail organisiert. Von dieser Tauffeier wird in Cornwall noch lange gesprochen werden – und zwar im positiven Sinn.«
»Ich weiß, dass ich mich auf Sie, Eliza, auf alle hier im Haus verlassen kann«, erwiderte Sandra.
»Ms und Mr Trengove sind Ihre Freunde«, erwiderte Eliza. »Es ist nur zu verständlich, dass der heutige Tag absolut perfekt verlaufen muss.«
»Solange nicht jemand ums Leben kommt …«
»Sandra!«, rief Christopher entrüstet. »Mal den Teufel nicht an die Wand!«
»Es war nur Spaß«, erwiderte Sandra. »Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin, dass es seit Monaten in der Gegend keinen Mord mehr gegeben hat.«
»Heute dürfen Sie an so etwas nicht einmal denken.« Eliza hob ermahnend den Finger. »Jetzt ab mit Ihnen, Sandra, DCI Bourke, nicht, dass der Gottesdienst ohne Sie anfängt.«
Sandra hatte es sich nicht nehmen lassen, die Tauffeier für das Kind ihrer Freunde in ihrem Hotel auszurichten. Als Ann-Kathrin sie gefragt hatte, ob sie die Patin für das Mädchen sein wolle, hatte Sandra ihre Tränen der Rührung nicht verborgen und freudig zugestimmt.
Sandra und Christopher waren bereits an der Ausgangstür, da schepperte und klirrte es lautstark aus dem hinteren Bereich des Erdgeschosses, gefolgt von einem lauten, ärgerlichen Schimpfen: »Kannst du nicht aufpassen?«
»Ich kümmere mich darum«, sagte Eliza, aber Sandra war schon auf dem Weg zu den Wirtschaftsräumen, wo sich auch die Hotelküche befand.
Auf dem Fußboden des Korridors lagen Dutzende von Scherben, und Imogen, eines der Hausmädchen, lehnte mit hochrotem Kopf an der Wand.
»Ich räume das gleich weg, Ms Flemming!«, versicherte sie hastig. »Es tut mir so leid. Sie können das kaputte Geschirr von meinem Gehalt abziehen.«
»Es geht immer mal was zu Bruch«, sagte Sandra beruhigend. »Während meiner Ausbildung habe ich andauernd etwas fallenlassen oder zerschlagen.«
»Nur, dass das schon das dritte Mal in dieser Woche ist.« Unter dem Türsturz zur Küche stand ein kleiner, gedrungener Mann mit lichtem Haupthaar und einem dunklen, schmalen Oberlippenbart. Er funkelte das Hausmädchen zornig an. »Zum Glück war es heute nur das Geschirr für die Angestellten, vorgestern aber …«
»Ich sagte doch: Es tut mir leid!«, unterbrach Imogen den Koch heftig, ihre Lippen zitterten.
»Es ist nicht schlimm, Imogen«, tröstete Sandra. »Räum die Scherben weg und pass künftig besser auf.«
Sandra drehte sich um und kehrte in die Hotelhalle zurück.
»Es stimmt, was Monsieur Peintré gesagt hat«, bemerkte Eliza Dexter leise. Sie hatte alles mitangehört. »Seit einigen Tagen ist Imogen fahrig und unkonzentriert. Heute sagt man dazu auch: Sie ist total durch den Wind.«
»Davon haben Sie mir gar nichts gesagt, Eliza.«
Die Hotelmanagerin zuckte mit den Schultern. »Ich wollte Sie nicht mit den Problemen einer Angestellten belasten, Sandra, Sie haben genügend anderes um die Ohren.«
»Ich werde mit Imogen sprechen«, murmelte Sandra und sah auf die antike, französische Kaminuhr. »Jetzt müssen wir aber wirklich los.«
»Sag’ ich doch schon seit zehn Minuten«, murrte Christopher Bourke – und da Sandra den Sitz ihres weinroten Fascinators in Form einer Blüte im Spiegel überprüfte: »Du siehst wunderschön aus, Sandra, wie immer. Heute steht allerdings die kleine Demelza im Mittelpunkt.«
Draußen schlug ihnen heiße Luft entgegen. Der Himmel war azurblau und von keiner Wolke getrübt, es wehte nur ein leichter Wind.
»Ist das wieder heiß!« Sandra stöhnte. »Im letzten Jahr hat es die Sommerferien hindurch fast nur geregnet.«
»Tja, das ist Cornwall. Kälte und Regen im August, Wärme und Sonne an Weihnachten. Manchmal erleben wir alle Jahreszeiten binnen einer Woche, selbst im Sommer. Freu dich über die Sonne und Wärme. Bei gutem Wetter fühlen sich die Besucher gleich wohler.«
»Demelza … ein schöner, aber seltener Name«, sagte Sandra, nachdem Christopher den Wagen gestartet hatte und langsam das Hotelgelände verließ. »Ich habe ihn nie zuvor gehört.«
»Demelza ist ein alter kornischer Name, er bedeutet so viel wie starke Festung« erklärte Christopher. »Dass der Name dir fremd war, ist ein Beweis dafür, dass du eindeutig zu viel arbeitest.«
»Was hat meine Arbeit mit dem Namen der Tochter unserer Freunde zu tun?«
Der DCI schmunzelte. »Ann-Kathrin nennt ihre Tochter so, weil sie ein Fan der Fernsehserie Poldark ist. Eine der Protagonistinnen heißt Demelza. Sie hat keine Folge versäumt, wobei die Produktionen auf den Büchern des Autors Winston Graham beruhen. In den 1970er-Jahren gab es schon mal eine Fernsehserie, die Neuverfilmung brach in England aber alle Rekorde und war ein regelrechter Straßenfeger.«
»Klar habe ich von Poldark gehört«, erwiderte Sandra. »Der Hauptteil der Drehabreiten fand schließlich in Cornwall statt. Seitdem kommen noch mehr Touristen in den Westen, um auf Poldarks Spuren zu wandeln. Veranstalter bieten Touren zu den Drehorten an.« Grübelnd rieb sich Sandra den Nasenrücken und murmelte: »Vielleicht sollte ich es doch mal anschauen. Ann-Kathrin hat mir immer wieder davon vorgeschwärmt.«
Ann-Kathrin Trengove, Sandras Freundin, hatte vor acht Wochen ihr erstes Kind zur Welt gebracht. Ihr Mann Alan platzte ob seines Nachwuchses beinahe vor Stolz. Alan Trengove war der erfolgreichste Anwalt Cornwalls, zu seinen Klienten zählte alles, was im Südwesten Rang, Namen und auch Geld hatte. Dennoch war der Endvierziger ein herzensguter Mensch, ohne Standesdünkel und stets hilfsbereit denen gegenüber, die Hilfe brauchten und sich eine teure Anwaltsvertretung nicht leisten konnten. Sandra kannte Alan seit drei Jahren. Seitdem hatte er keinen Fall vor Gericht verloren und ihr mehrmals aus der Klemme geholfen. Ann-Kathrin war gerade vierzig geworden. Sie war klein, nicht ganz schlank, aber quirlig und temperamentvoll.
Sandra lehnte sich im Polster von Christophers Rover zurück. Seit der Schwangerschaft ihrer Freundin dachte sie hin und wieder daran, wie es wäre, selbst ein Kind zu haben. Sie wusste, Christopher war dem nicht abgeneigt. Sie waren aber erst seit einem Dreivierteljahr ein Paar. Ihre Beziehung verlief harmonisch, was auch daran lag, dass sie sich oft tagelang nicht sahen. Christopher Bourke war der Detective Chief Inspector von Lower Barton, dem kleinen Ort, der zu dem einstigen herrschaftlichen Landsitz Higher Barton gehörte. Ann-Kathrin und ihr Mann Alan wohnten in Truro. An der Grundschule in Polperro unterrichtete Ann-Kathrin Kinder zwischen fünf und zehn Jahren und liebte jede einzelne kleine Range. Wie Ann-Kathrin mit Leib und Seele Lehrerin war, machte auch Sandra ihr Beruf als Hotelfachfrau großen Spaß. Für sie war es nicht nur ein Beruf, sondern Berufung. Der Umgang mit Menschen unterschiedlichster Charaktere, sich jeden Tag auf neue Gesichter und Situationen einzustellen – das liebte Sandra, denn eine tägliche Gleichförmigkeit war überhaupt nicht ihr Ding. In Eliza Dexter hatte Sandra eine zuverlässige und loyale Managerin für das Higher Barton Romantic Hotel. Sandra selbst versuchte, sich um jeden Gast einzeln zu kümmern und ihm den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Im Herbst wurde sie sechsunddreißig Jahre alt. Ann-Kathrin war bei der Geburt vierzig gewesen. In der heutigen Zeit waren Schwangerschaften in diesem Alter kein großes Problem.
»Alles okay, Darling?«, fragte Christopher.
»Wie?« Sandra schreckte auf. »Was meinst du?«
»Na ja, du hast gerade geseufzt, als läge alle Last der Welt auf deinen zarten Schultern. Du hast doch nicht wieder einen Verbrecher am Hals?«
Sandra gab Christopher einen spielerischen Klaps auf den Oberschenkel.
»Keine Leichen, keine verschwundenen Menschen, keine versteckten Mörder. Seit Monaten ist Higher Barton ein ganz normales Hotel mit einem ausgezeichneten Service.«
»Woran hast du denn gerade gedacht?«, fragte Christopher.
»An ein eigenes Kind.«
»Wie bitte?« Für einen Moment schlingerte der Wagen, Christopher hatte ihn aber sofort wieder im Griff.
Sie grinste. »Keine Angst, Christopher, ich bin nicht schwanger. Und ich möchte es in der nächsten Zeit auch nicht werden«, fügte sie hinzu. »Ich mag Kinder, aber im Moment passen sie eher nicht in meine Planung.«
Christopher nickte. »Wir haben noch viel Zeit, Darling. Als Patentante kannst du mit der kleinen Demelza schon mal ein bisschen üben.«
»Sofern Ann-Kathrin das Mädchen mir überlässt«, erwiderte Sandra. »Wie Helikoptereltern schätze ich die beiden allerdings nicht ein.«
Sie waren in Lower Barton angekommen. Rund um die Kirche mit dem gedrungenen Kirchturm aus dem 12. Jahrhundert standen Dutzende von Autos, vorrangig Modelle der Oberklasse. In seiner Position hatte Alan viele Angehörige der oberen Gesellschaftsschicht einladen müssen. Ann-Kathrin hätte am liebsten eine kleine Tauffeier gehabt, verstand aber, dass ihr Mann gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkommen musste. Es betraf ja auch nur die Feier in der Kirche. Beim späteren Empfang und dem Essen in Higher Barton würden sie nur vierzig Gäste sein.
Ganz Gentleman öffnete Christopher die Beifahrertür und reichte Sandra die Hand zum Aussteigen. Sie zupfte den Rocksaum ihres weinroten Kostüms zurecht und hängte sich bei Christopher ein.
»Dann wollen wir mal. Ich glaube, ich bin aufgeregter als die Eltern. Hoffentlich vergesse ich nicht meinen Text. Ich hätte mir doch einen Spickzettel mitnehmen sollen.«
»Von dem du am Altar ablesen willst? Tz, tz, tz.« Gespielt empört schüttelte Christopher den Kopf. »Du machst das schon! Die Kleine wird auf ihre Patentante stolz sein.«
Christopher behielt recht. Fehlerlos, ohne einmal zu stocken, sprach sie nach den Eltern laut und deutlich ihr Taufgelöbnis. Das Mädchen sah sie dabei aus großen blauen Augen an, als verstünde es jedes Wort. Als der Vikar ihre Stirn mit Wasser benetzte, brüllte Demelza laut und durchdringend. Von wegen manche Babys verschlafen ihre Taufe, dachte Sandra belustigt. Ann-Kathrin wiegte ihre Tochter liebevoll, und die Kleine beruhigte sich langsam wieder. Es war ein schöner Gottesdienst. Sandra merkte gar nicht, wie schnell die Zeit verflogen war, als Vikar Alverton mit den Worten endete: »Leuchte als ein Licht der Welt in der Ehre Gottes.«
Vor der Kirche, beim Glockengeläut, schüttelte Sandra dem Vikar die Hand.
»Nun haben Sie ja doch den Weg in unsere Kirche gefunden«, sagte er.
»Wie Sie wissen, bin ich keine Kirchgängerin «, erwiderte Sandra. »Dennoch möchte ich Ihnen bei der Gelegenheit zur Beförderung gratulieren.«
Der Vikar winkte ab. »Ob Reverend oder Vikar: Der Dienst an der Christenheit bleibt derselbe.«
»Sie kommen doch auch zur Feier nach Higher Barton?«, fragte Sandra.
»So gern ich dies möchte, Ms Flemming, aber ich bedaure. Andere Pflichten erwarten mich. Sie sehen heute wieder sehr hübsch aus, wenn ich das sagen darf.«
Es hatte mal eine Zeit gegeben, in der der dunkelhaarige, blauäugige Geistliche mit dem gepflegten Dreitagebart mit Sandra geflirtet hatte. Als Angehöriger der Church of England durfte er ja Beziehungen eingehen und auch heiraten. Damals hatte Sandras Herz ein bisschen schneller geschlagen. Ihre tiefen, aufrichtigen Gefühle gehörten aber Christopher Bourke. Trotzdem schmeichelten ihr seine Worte.
Sie verabschiedete sich von dem Vikar und trat zu Ann-Kathrin und Alan. Die kleine Demelza war inzwischen eingeschlafen, ruhig lag sie im Arm ihres Vaters.
»Demelza Sarah Victoria«, sagte Sandra. »Das sind wunderschöne Namen. Wie werdet ihr sie rufen?«
»Demi«, sagte Alan schnell. »Gegen den Namenswunsch meiner Frau konnte ich mich wie meistens nicht durchsetzen«, er zwinkerte Ann-Kathrin zu, »Demelza klingt aber viel zu hochtrabend für so ein kleines, zerbrechliches Wesen.«
»Bei Demi denkt jeder doch gleich an Demi Moore und an den Film Ghost«, sagte Ann-Kathrin trocken. »Außerdem hat sie auch den Namen deiner Großmutter, Victoria, erhalten.«
»Ich bin sicher, Demi-Demelza wird eine eigene, starke Persönlichkeit entwickeln«, bemerkte Sandra. »Sarah heißt deine Mutter, Ann-Kathrin, nicht wahr?«
Die Freundin nickte. »Hast du meine Eltern schon begrüßt? Nein? Sie stehen da vorne, ich stelle dich ihnen vor. Dann fahren wir nach Higher Barton. Ich habe so großen Hunger, ich könnte ein ganzes Lamm verspeisen.«
»Kein Lamm im August.« Sandra lachte. »Du musst leider mit Rind und Geflügel vorliebnehmen.«
»Solange es zum Nachtisch die köstliche Schokoladentorte von deinem genialen Koch gibt, esse ich alles.« Ann-Kathrin hängte sich bei Sandra ein und führte sie zu ihren Eltern.
Erleichtert und mit einem zufriedenen Lächeln lehnte sich Sandra gegen den Tresen der Rezeption und sah dem letzten Gast nach. Natürlich war die Tauffeier perfekt verlaufen und das Essen von allen gelobt worden. Zwischendurch war Ann-Kathrin mal in Sandras Büro gegangen, um Demelza zu stillen. Gerührt, mit feuchten Augen, hatte Sandra zugesehen und sich gewünscht, malen zu können, um dieses idyllische Bild für immer auf eine Leinwand zu bannen. Keine Fotografie konnte dem wirklich gerecht werden.
»Ich werde alles tun, um Demi eine gute Patentante zu sein«, hatte Sandra geflüstert.
»Sei einfach du selbst, dann wird Demelza dich lieben.«
Christopher kam, um sich von Sandra zu verabschieden.
»Ich habe heute Nachtdienst«, erklärte er. »Sergeant Greenbow wird froh sein, wenn ich endlich komme und ihn ablöse, damit er den Sonntagabend mit seiner Familie verbringen kann.«
»Ihr bekommt keinen Constable zur Unterstützung?«
Christopher schüttelte den Kopf und seufzte. »Greenbow ist zwar zum Detective Sergeant befördert worden, eine zusätzliche Stelle wird unserem kleinen Revier aber nicht zugestanden.«
»Dabei ist in Lower Barton doch immer was los!«
»Solange du meinst, Verbrecher überführen zu müssen, bekomme ich nie einen weiteren Kollegen oder eine Kollegin«, erwiderte Christopher trocken. Er küsste Sandra auf die Lippen. »Morgen muss ich für drei Tage zur Fortbildung nach Exeter. Versuch bitte, in der Zeit nicht wieder über eine Leiche zu stolpern.«
»Ach du!« Sie knuffte Christopher in die Seite. »Als ob ich scharf darauf wäre, immer wieder in Mordfälle verstrickt zu werden.«
»Mord?«, sagte eine tiefe Stimme hinter ihnen. »Höre ich ›Mord‹? Ist wieder was passiert?«
»Zum Glück nicht«, riefen Sandra und Christopher unisono, und Sandra ergänzte: »Hatten Sie einen schönen Nachmittag, Major?«
»Es war zu heiß für einen Spaziergang«, antwortete der kahlköpfige Mann mit dem grauen Vollbart. »Gut, dass die Räume in einem alten Gemäuer wie Higher Barton im Hochsommer angenehm kühl sind.«
Deswegen im Winter schwer zu heizen, dachte Sandra, sagte aber laut: »Wenn Sie Tee trinken möchten, Major, sage ich Lucas Bescheid. Er serviert Ihnen den Tee hier in der Halle, im Restaurant muss erst aufgeräumt und saubergemacht werden.«
»Ich nehme den Tee gern in der Halle ein.«
Der Major setzte sich in einen bequemen Sessel vor dem großen Kamin, in dem locker ein Mann hätte stehen können. Major Collins lebte im Romantic Hotel. Er war vermögend, ohne Familie und hatte sich entschlossen, anstatt allein in einem großen Haus zu leben, lieber alles zu verkaufen und die Annehmlichkeiten eines Rund-um-die-Uhr-Services in Higher Barton zu genießen. Er war ein angenehmer, ruhiger Gast. Bis zu seiner Pensionierung vor fünfzehn Jahren hatte er in der Royal Air Force gedient. Von dieser Zeit erzählte der Major gern häufig und ausführlich. Dass er dabei manchmal etwas übertrieb, wurde ihm von allen verziehen.
»Sie machen jetzt auch Feierabend«, sagte Sandra zu Eliza, nachdem Christopher gegangen war. »Ich erledige den Rest und übernehme den Abenddienst. Im Büro liegen bereits die ersten Anfragen für Weihnachten.«
Eliza nickte. »Wenn man in Cornwall zum Fest und Jahreswechsel ein freies Hotelzimmer und einen Platz bei einem Weihnachtsdinner bekommen will, muss man rechtzeitig buchen. Sind Sie sicher, dass Sie sich heute Abend nicht freinehmen möchten?«
»Ganz sicher!« Sandra schmunzelte. »Ich danke Ihnen für die wunderbare Tauffeier. Sie haben den Tag hervorragend gemanagt, Eliza. Monsieur Peintré und Rosa habe ich bereits gedankt. Das Menü hat allen hervorragend geschmeckt, Ann-Kathrins Mutter lobte besonders die kalte Melonen-Limetten-Soße zu den Jakobsmuscheln. Über die immer wieder neuen Kreationen von Monsieur bin ich überrascht. Unser Koch scheint ein unendliches Repertoire an Rezepten zu haben.«
»Und einen besonders feinen Gaumen«, ergänzte Eliza. »Rosa sagte mir, Monsieur Peintré habe die heutige Suppe selbst kreiert. Loben Sie ihn aber bloß nicht zu sehr, Sandra! Nicht, dass er wieder abhebt. In den letzten Monaten ist Peintré beinahe zu einem normalen, umgänglichen Mann geworden.«
»Pst, Eliza!« Sandra legte einen Finger auf ihre Lippen. »Ohne Peintré wäre das Restaurant wohl weniger gut besucht. Er darf es nur nicht erfahren.«
Eliza lachte, holte aus dem Büro ihre Handtasche und ging nach oben. Sie, der Koch Monsieur Peintré und das Küchenmädchen Rosa Piotrowski wohnten im Hotel. Im westlichen Dachgeschoss, wo früher die Zimmer für das Personal gewesen waren, hatte jeder eine gemütliche Suite mit eigenem Badezimmer. Sandra Flemming bewohnte ein dreihundert Jahre altes Cottage in der Nähe des Hotels. Früher hatte das Haus den verheirateten Angestellten gedient. Nun ja, wohnen war eigentlich zu viel gesagt. Sandra schlief in ihrem Cottage, duschte dort und trank morgens im Stehen eine Tasse Kaffee mit reichlich Milchschaum. Die meiste Zeit verbrachte sie im Hotel. Seit sie mit dem DCI von Lower Barton enger befreundet war, sorgte Christopher Bourke allerdings dafür, dass Sandra die Arbeit auch mal sein ließ und sich mehr Freizeit nahm. Nach Ostern waren sie zusammen für eine Woche in Sandras Heimat, nach Dufftown in Schottland, gefahren und hatten Sandras Eltern besucht. Zum Glück hatte Heather Flemming auf Anspielungen, wann Christopher und Sandra heiraten würden, verzichtet. Seit den Vorfällen während des vergangenen Weihnachtsfestes in Higher Barton hatte Heather mehr Vertrauen in ihre Tochter, mischte sich nicht ständig in ihr Leben ein oder gab ihr wohl gemeinte Ratschläge. Sandra liebte ihre Eltern zärtlich, sie wusste, Heathers übertriebene Sorge war auch ein Zeichen ihrer Liebe zur Tochter.
Sandra öffnete das Fenster im Büro und atmete tief ein. Das Fenster lag auf der Rückseite des Hauses. Bevor Higher Barton zu einem Romantic Hotel geworden war, war hier ein kleiner Küchen- und Kräutergarten gewesen. Heute erstreckte sich ein gepflegter Rasen, gesäumt von Blumenbeeten, in der Mitte eine mannshohe Statue des heiligen St Pirans, des Schutzheiligen Cornwalls. Von Ann-Kathrin wusste Sandra, dass auch St Petroc als Schutzheiliger galt. Was die Geschichte Südenglands betraf, war die Freundin ein wandelndes Lexikon, und Sandra wurde nicht müde, Ann-Kathrin zu lauschen, wenn sie von den Sagen und Legenden erzählte, die in keiner anderen Gegend Englands so zahlreich waren wie im Herzogtum Cornwall. Ann-Kathrin war es auch gewesen, die Sandra vorgeschlagen hatte, die Gästezimmer zu benennen, anstatt sie einfach durchzunummerieren.
»Du könntest Namen von Persönlichkeiten der Tudors nehmen«, hatte Ann-Kathrin vorgeschlagen. »Higher Barton wurde im 16. Jahrhundert erbaut, das würde gut passen.«
»Eine tolle Idee!«, hatte Sandra zugestimmt. »So können sich die Gäste mehr mit dem Haus identifizieren und lernen etwas über die Historie. Ich werde in jedem Raum die Geschichte zu den jeweiligen Persönlichkeiten auslegen und die Wände mit Bildern aus der Zeit schmücken. Natürlich keine echten Ölgemälde, die kann ich mir leider nicht leisten.«
Gleich am folgenden Tag hatte Sandra den Vorschlag in die Tat umgesetzt. Vor drei Jahren war sie aus Schottland nach Cornwall gekommen, um das Hotel zu managen. Ihr Anfang im Südwesten war voller Steine gewesen, inzwischen hatte sie sich aber eingelebt und wollte Cornwall nie wieder verlassen. Im letzten Jahr hatte Sandra Higher Barton gekauft, was sie jeden Tag aufs Neue mit großer Freude und Stolz erfüllte. Ihr Jugendtraum war Realität geworden – sie war ihr eigener Chef.
Sandra schmunzelte bei diesen Erinnerungen und überlegte, einen Spaziergang zu machen und den schönen Tag so ausklingen zu lassen. Allerdings wartete auf dem Schreibtisch eine Menge Arbeit. Das Hotel war bis auf das letzte Zimmer ausgebucht, alle paar Tage erfolgten An- und Abreisen. Im August war in Cornwall kaum noch ein freies Zimmer zu bekommen. Zwar wurden die Übernachtungsmöglichkeiten an den Küsten mit den langen, weißen Sandstränden und dem kristallklaren Wasser bevorzugt, aber gerade Landhotels wie Higher Barton waren bei den Gästen auch beliebt. Hierher kamen Besucher, die Ruhe und Erholung suchten und dem Trubel in den Ferienresorts entgehen wollten.
Sandra setzte sich an ihren Schreibtisch und schaltete den Rechner ein. Heute Abend wollte sie die Liste der Anmeldungen für die Regatta und die Carnival Week in Fowey durchgehen, um morgen dem Busunternehmen die genaue Anzahl der Gäste durchzugeben. Nächsten Sonntag begann die Festwoche in dem Städtchen an der Südküste, etwa zehn Meilen von Higher Barton entfernt. Die Regatta war eine der beliebtesten in ganz Großbritannien, dementsprechend viele Besucher wurden in Fowey erwartet. Bereits vor Monaten hatte Sandra exklusiv für ihre Gäste im Restaurant Havener’s direkt am Hafen Tische reserviert. Von diesen Plätzen hatte man den besten Blick auf die Bucht und die Regatta. Das Angebot war gut angenommen worden. Ein Bus würde die Gäste im Romantic Hotel abholen und am späten Abend wieder zurückbringen. So konnte der eine oder andere auch ein Gläschen mehr trinken.
Sandra zählte gerade die Anmeldungen, als es in der Halle schepperte, dann hörte Sandra eine weibliche Stimme: »Mist, aber auch!«
Sandra stand auf und ging durch die offene Tür hinter die Rezeption. Zwischen dem Kamin und der Tür zum Restaurant stand eine mittelalterliche Ritterrüstung als Dekoration. Vor dieser kniete eine junge Frau, einen Teil des Arms der Rüstung in der Hand.
»Imogen! Was tust du da?«, rief Sandra.
Das Zimmermädchen sprang auf. »Es tut mir leid, Ms Flemming. Ich bringe das gleich wieder in Ordnung.«
»Wie ist das passiert?«
»Ich weiß nicht. Ich wollte vorbeigehen, da muss ich wohl hängengeblieben sein.« Imogen starrte Sandra aus weit aufgerissenen blauen Augen an. »Entlassen Sie mich jetzt?«
»Dich entlassen?« Sandra schmunzelte. »Warum sollte ich das tun?«
»Na ja, heute Vormittag das Geschirr …«
»Zweifelsohne bist du in letzter Zeit etwas schusselig«, stellte Sandra fest. »Alles okay bei dir? Du weißt, wenn du Sorgen hast, kannst du jederzeit mit mir sprechen.«
»Ich weiß«, murmelte Imogen verlegen. »Es gibt tatsächlich etwas …«
»Komm in mein Büro«, forderte Sandra das Zimmermädchen auf. Imogen Paynter arbeitete hier seit der Eröffnung des Higher Barton Romantic Hotels. Sie war fleißig und zuverlässig, an ihrer Arbeit hatte Sandra bisher nichts auszusetzen gehabt. Am Vormittag hatte Eliza aber angedeutet, die junge Frau sei in den letzten Tagen unkonzentriert und ihr würden häufiger Fehler passieren.
Wie ein Häufchen Elend kauerte Imogen auf dem Stuhl. Aus der bereitstehenden Karaffe schenkte Sandra ein Glas Wasser ein und reichte es Imogen. Sie trank es durstig bis zur Neige.
»Was ist los, Imogen?«, fragte Sandra. »Derart fahrig kenne ich dich gar nicht. Hast du private Probleme?«
»Nein, nein«, versicherte Imogen hastig, dann allerdings: »Oder doch, ja, ach, ich weiß nicht …« Sie sah Sandra ernst an. »Ms Flemming, Privates und Berufliches sollten streng getrennt sein, aber …«
»In diesem Haus sind wir doch wie eine Familie«, warf Sandra ein. »Ihr habt fest zu mir gehalten, als mir das Wasser bis zum Hals stand. Ich hoffe, ich bin keine Chefin, vor der man Angst haben muss.«
»Nein, das sind Sie nicht«, raunte Imogen. Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Stirn. »Es ist wahrscheinlich besser, wenn ich mit Ihnen rede. Allein stehe ich das wohl nicht durch.«
In Sandras Magen grummelte es unangenehm. Hoffentlich war nichts Schlimmes geschehen! Was sie, Sandra, jetzt am wenigstens gebrauchen konnte, war ein Verbrechen oder gar ein Mord in Verbindung mit dem Hotel. Wenngleich: Ihre detektivischen Ermittlungen in der Vergangenheit waren durchaus reizvoll und aufregend gewesen, wobei stets immer alles gut ausgegangen war. Sandra räusperte sich und konzentrierte sich wieder auf Imogen.
»Geht es um einen Mann?«, fragte sie geradeaus.
Die tiefe Röte auf Imogens Gesicht bewies Sandra, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. Sie hatte also Liebeskummer, dachte Sandra und verkniff sich ein Schmunzeln. Aus eigener Erfahrung wusste sie, wie wenig man sich auf die Arbeit konzentrieren konnte, wenn das Herz wund war.
»Ja, Ms Flemming. Letzten Februar, als ich eine Woche Urlaub hatte, flog ich mit einer Freundin nach Ägypten. Da lernten wir uns kennen. Ich weiß, es klingt wie aus einem Kitschroman, aber es war Liebe auf den ersten Blick. Wir wussten sofort, dass wir zusammengehören.«
»Ist er Ägypter?«, fragte Sandra vorsichtig, wohl wissend, dass solche Beziehungen schwierig waren.
Imogen schüttelte den Kopf. »Andy ist Engländer, er lebt in Sussex.«
»Hat er mit dir Schluss gemacht?«, hakte Sandra nach.
Wieder ein Kopfschütteln. »Vor vier Wochen fragte mich Andy, ob ich ihn heiraten will.«
»Das ist doch wundervoll!« Sandras Augen leuchteten. »Ich vermute, du willst deine Anstellung in diesem Haus aufgeben und zu deinem Andy nach Sussex ziehen. Bist du deswegen derart durch den Wind, Imogen?«
»Nein, oder ja, auch …« Mit einer hilflosen Geste hob Imogen die Hände. »Ja, wenn wir heiraten, werde ich aus Cornwall fortgehen müssen.«
»Willst du überhaupt heiraten, oder wo ist der Haken?« Sandra schwante nichts Gutes. Bisher hatte sie Imogen nie jedes Wort aus der Nase ziehen müssen, im Gegenteil. Imogen war eine liebenswürdige junge Frau, die offen auf alle Menschen zuging und ihr Herz auf der Zunge trug.
»Natürlich will ich Andy heiraten!«, rief Imogen aufgeregt und knetete ihre Finger, dass die Knöchel knackten. »Ich liebe ihn und möchte mein Leben mit ihm verbringen.«
»Aber?«
»Es ist seine Mutter, Ms Flemming. Sie wird niemals erlauben, dass er eine wie mich heiratet.«
»Was bedeutet ›eine wie du‹?« Verständnislos sah Sandra ihre Angestellte an.
»Andy ist ihr einziges Kind, und er ist ein echter Lord«, erklärte Imogen. »So einer, über die man immer in den Zeitschriften liest. Er war sogar schon im Buckingham Palace bei der Queen. Das wusste ich allerdings nicht, als wir uns kennenlernten. Er sagte es mir erst später. Die Familie ist von uraltem englischen Adel, und Andy und seine Mutter leben in einem Haus, das Higher Barton nicht unähnlich ist. Er hat mir Fotos gezeigt.«
»Du hast ihn also noch nie zu Hause besucht?«
»Wo denken Sie hin, Ms Flemming!« Imogen schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre langen, welligen Haare in alle Richtungen flogen. »Andys Mutter hätte mich nie in ihrem Haus empfangen. Sie weiß nichts von Andy und mir.«
»Also wirklich, Imogen, wir leben im 21. Jahrhundert! Es hört sich an wie einem Jane-Austen-Roman entnommen. Die Zeiten, in denen Kinder die Erlaubnis ihrer Eltern brauchten, um zu heiraten, sind lange vorbei. Wenn selbst die Prinzen William und Harry Bürgerliche …«
»Andy ist es wichtig, dass seine Mutter mich mag«, unterbrach Imogen Sandra. »Sein Vater starb von heute auf morgen, als er noch ein Kind war, an einem Blutgerinnsel im Kopf. Seitdem hat seine Mutter nur noch ihn. Er kann nicht mit ihr brechen, das würde ihn sehr unglücklich machen.«
Das hört sich nach einem Muttersöhnchen an, dachte Sandra, ließ sich aber nicht anmerken, wie besorgt sie war.
»Was wirst du tun?«, fragte sie. »Ich verstehe jetzt, warum du so konfus bist, aber auf Dauer müsst ihr eine Lösung finden.«
»Er kommt morgen hierher«, platzte Imogen heraus. »Er und seine Mutter.«
»Lady und Lord Withcombe!« Sandra nickte verstehend. »Wir haben morgen nur die eine Anreise. Ich dachte allerdings, es handle sich bei den Herrschaften um ein Ehepaar. Ich vermute, Lady Withcombe hat keine Ahnung, in welcher Beziehung du zu ihrem Sohn stehst, nicht wahr?«
»Andy meint, es wäre eine gute Gelegenheit, dass seine Mutter mich kennenlernt. Wir könnten uns ganz zwanglos beschnuppern, vielleicht mag sie mich dann ein bisschen.« Imogen sah Sandra flehend an. »Sie werden mich doch nicht verraten, Ms Flemming? Wenn es für Sie okay ist, werde ich neben der Reinigung der Suite zusätzlich im Service helfen, damit ich Lady Claire kennenlernen kann. Selbstverständlich ohne zusätzlichen Lohn, die Überstunden mache ich freiwillig.«
»Ich weiß nicht.« Sandra zögerte. »Ist es nicht besser, mit offenen Karten zu spielen? Wenn die Lady erfährt, dass sie hintergangen wurde …«
»Wir hintergehen Lady Claire doch nicht«, rief Imogen. »Wenn Andy seiner Mutter sagt, er will ein einfaches Zimmermädchen heiraten, wird sie es ablehnen, mich überhaupt kennenzulernen. Bitte, Ms Flemming! Sie brauchen nichts zu tun, dürften sich nur nicht anmerken lassen, dass Sie Bescheid wissen. Andy und ich werden sehr vorsichtig vorgehen, damit seine Mutter nicht merkt, wie sehr wir uns lieben.«
Sandra hielt den Plan für falsch, dachte aber an sich und Christopher. Obwohl sie sich vom ersten Moment an gemocht hatten, war auch ihre Beziehung von vielen Stolpersteinen geprägt gewesen – und war es heute noch. Gab es aber Schöneres, als zu lieben und geliebt zu werden? Wenn Lady Claire Withcombe so ein Snob war und an altmodischen Traditionen festhielt, wie Imogen sie beschrieb, konnte es für die junge Frau wirklich eine Chance sein.
»Also gut, Imogen«, gab Sandra nach. »Ich werde mitspielen, deine Arbeit darf darunter aber nicht leiden. Ich erwarte, dass du dich besser konzentrierst und nicht jeden Tag etwas zu Bruch geht.«
»Selbstverständlich, Ms Flemming!« Imogens Augen leuchteten. »Den anderen sagen wir nichts davon, dass Andy und ich uns kennen. Ich bin sicher, Lady Claire wird mich mögen, so wie ich bin.«
Sandra hoffte, dass diese kleine Scharade keine Auswirkungen auf den laufenden Hotelbetrieb haben würde.
Sandras Philosophie war, sich persönlich um jeden einzelnen Gast zu kümmern. Das Higher Barton Romantic Hotel verfügte über neun Räume, die als Doppel- oder Einzelzimmer genutzt wurden, und drei Suiten. Die kleinste von ihnen, Queen Mary, bewohnte der Dauergast Major Collins, die Lord-Leicester-Suite mit zwei Schlafzimmern war von Lady Claire Withcombe und ihrem Sohn Andrew gebucht worden. In der Queen-Elizabeth-Suite logierte ein frischvermähltes Paar aus den Niederlanden, die während ihrer Hochzeitsreise durch Südengland tourten. Jedem neuen Gast sah Sandra mit freudig-gespannter Erwartung entgegen. Heute Nachmittag war sie aber derart unruhig, dass Eliza Dexter sagte: »Alles in Ordnung, Sandra? Sie wirken etwas hippelig.«
»Alles okay.« Sandra winkte ab. »Übrigens, Eliza: Imogen fragte mich, ob sie diese Woche Sonderschichten machen und im Service mithelfen kann. Ich habe zugestimmt.«
»Warum denn das?«, entfuhr es der spröden Managerin.
Sandra, die mit dieser Reaktion gerechnet hatte, antwortete: »Das Haus ist voll belegt, zum Dinner kommen immer mehr Gäste von außerhalb. Wir können jede zusätzliche Hand und Imogen am Ende des Monats ein paar Pfund mehr gut gebrauchen.«
»Von mir aus.« Eliza zuckte mit den Schultern und stellte Sandras Entscheidung nicht infrage.
In diesem Moment kam Imogen die Treppe in die Halle herunter. »Soeben ist ein Wagen vorgefahren«, sagte sie mit einem wissenden Blick zu Sandra. »Das müssen Lord und Lady Withcombe sein.«
Imogen hatte sich perfekt im Griff. Nur weil Sandra über die Besonderheit dieser Gäste informiert war, bemerkte sie bei dem Zimmermädchen eine leichte Nervosität. Sandra verließ das Haus, um die neuen Gäste zu begrüßen. Aus einem silberfarbenen Bentley stieg der Fahrer, ein hochgewachsener Mann mit einer schlaksigen Figur und hellblonden, kurzgeschnittenen Haaren. Imogens Augen leuchteten auf. Das ist also der besagte Andy, dachte Sandra. Der junge Mann öffnete die Tür im Fond und reichte der Dame helfend die Hand. Die Ähnlichkeit zwischen Lady Claire Withcombe und ihrem Sohn war unverkennbar. Auch sie war groß und schlank, beide hatten die gleiche Gesichtsform und volle Lippen. Lady Claires langes Haar war kupferrot. Sie trug es hochgesteckt, geschmückt mit einem türkisgrünen Fascinator, das Twinset in derselben Farbe.
Sandra ging den Gästen entgegen. »Willkommen in Cornwall, Lady Withcombe, Lord Withcombe. Ich bin Sandra Flemming, die Inhaberin von Higher Barton.«
Lady Claire musterte erst Sandra, dann das Haus. Ihr Teint war hell, porzellanartig, frei von Sommersprossen, bei roten Haaren eher untypisch, und nahezu faltenfrei, ihre grünen Augen hatten bernsteinfarbene Einsprengsel. Neidlos musste Sandra zugeben, dass Andys Mutter eine wunderschöne Frau war. Aus dem Buchungsformular wusste sie, dass Lady Claire Mitte Fünfzig war.
»Es sieht unerwartet nett aus.« Lady Claires Stimme war tief und etwas rau. »Ich verstehe nicht, warum mein Sohn darauf bestanden hat, ausgerechnet in der Hauptsaison nach Cornwall zu reisen.« Sie seufzte. »Wenn das Hotel wenigstens am Meer liegen würde.«
»Die Lage auf dem Land schätzen unsere Gäste sehr«, erwiderte Sandra mit einem freundlichen Lächeln. »In den Badeorten an den Küsten treten sich die Touristen gegenseitig auf die Zehen, in Higher Barton werden Sie Ruhe und Erholung finden, Mylady.«
»Erholung wovon?« Die Dame zog eine ihrer sorgfältig schmal gezupften Augenbrauen hoch. »Mit Ruhe meinen Sie wohl Langeweile, aber die eine Woche wird schnell vergehen.«
»Mum, ich verspreche dir, du wirst diese Gegend lieben.« Zum ersten Mal sprach Andrew Withcombe. Auch er hatte eine tiefe Stimme, die Sandra angenehm in den Ohren klang. »Abseits des Trubels finden sich hier viele prähistorische Stätten, Cornwall hat ausgezeichnete Museen, die Tate Gallery in St Ives ist weltberühmt, und …«
»Lass es gut sein, Andrew.« Zum ersten Mal lächelte Lady Claire. Auf Sandra wirkte sie gleich freundlicher. »So ist das halt mit Kindern.« Sie zwinkerte Sandra zu. »Man kann ihnen schlecht etwas abschlagen. Haben Sie Kinder, Ms Flemming?«
»Nein«, erwiderte Sandra und fügte hinzu: »Noch nicht. Darf ich Sie in Ihre Suite führen oder möchten Sie erst eine Erfrischung zu sich nehmen, Mylady?«
»Ich glaube, ich möchte gleich auf mein Zimmer. Ach, sagen Sie Lady Claire zu mir, Mylady klingt nach einer alten Matrone.«
»Die du zweifelsohne nicht bist, Mum.« Liebevoll legte Andy einen Arm um die schmalen Schultern seiner Mutter. »Es wird dir in Cornwall gefallen.«
»Solange du an meiner Seite bist, gefällt es mir überall, Andrew.« Lady Claire legte ihren Kopf an die Schulter ihres einen Kopf größeren Sohnes. »Du hast sicher recht, ein Tapetenwechsel wird mir guttun.«
»Wir werden eine wundervolle Zeit miteinander haben, Mum.«
Aus dem Augenwinkel sah Sandra, wie ein Ausdruck von Beklemmung über Imogens Gesicht huschte. Das innige Verhältnis zwischen Mutter und Sohn war zu offensichtlich.
Andrew Withcombe öffnete den Kofferraumdeckel und stellte drei Trolleys und ein Beautycase auf das Kiesrondell. Zwei der Koffer nahm er zur Hand, Imogen trat vor und griff nach dem Trolley und dem Schminkkoffer.
»Ich helfe Ihnen mit dem Gepäck, Sir«, sagte sie.
»Das ist nicht nötig, ich kann zweimal gehen.«