Inhalt

  1. Über dieses Buch
  2. Über den Autor
  3. Titel
  4. Impressum
  5. Widmung
  6. 1
  7. 2
  8. 3
  9. 4
  10. 5
  11. 6
  12. 7
  13. 8
  14. 9
  15. 10
  16. 11
  17. 12
  18. 13
  19. 14
  20. 15
  21. 16
  22. 17
  23. 18
  24. 19
  25. 20
  26. 21
  27. 22
  28. 23
  29. 24
  30. 25
  31. 26
  32. 27
  33. 28
  34. 29
  35. 30
  36. 31
  37. 32
  38. 33
  39. 34
  40. 35
  41. 36
  42. 37
  43. 38
  44. 39
  45. 40
  46. 41
  47. 42
  48. Danksagung

MARCUS HÜNNEBECK

ABSCHAUM

Thriller

Über dieses Buch

»Meine Damen und Herren«, sagte der Geiselnehmer. »In wenigen Augenblicken wird uns das Fernsehen einen Besuch abstatten.

Bringen Sie also Ihre Frisuren in Ordnung. Aufs Nasepudern müssen Sie aber leider verzichten. Was uns diese Ehre verschafft? Es ist die Anwesenheit eines deutschen Superstars. Einer Schauspieler-Ikone. Hubert Scherer. Herr Scherer hat sich bereiterklärt, mir ein Exklusiv-Interview zu geben.«

Langsam näherte er sich ihrem Tisch.

»Ein Interview? Ich verstehe nicht«, meinte Hubert.

Der Verbrecher mit der Waldorf-Maske baute sich direkt vor ihm auf.

»Bevor ich dich erledige«, zischte er leise, »wird die Welt erfahren …«

Christoph stieß einen Schrei aus. Hubert sah aus dem Augenwinkel, wie der junge Mann aufsprang und dem Geiselnehmer kraftvoll gegen die Rippen schlug. Der Maskierte stöhnte schmerzerfüllt auf. Ehe er sich wehren konnte, hatte Christoph mit der anderen Hand seinen Arm zur Seite gerissen, wodurch der Pistolenlauf nicht mehr auf Hubert zielte.

Im Café brach die Hölle los …

Für Stefan

1

Er spürte die neugierigen Blicke der anderen Gäste, die immer wieder mehr oder weniger verstohlen zu ihm herübersahen. Wenigstens hatte ihn noch keiner um ein Selfie gebeten. Wie er diese Marotte hasste! Ständig musste man in irgendeine Handykamera schauen und sich bemühen, freundlich zu gucken. Schließlich wusste man nie, wo der Schnappschuss später auftauchte.

Hubert Scherer konzentrierte sich auf seine Agentin, die ihm gegenübersaß. Caroline hatte das Café als Treffpunkt vorgeschlagen und ihn davon überzeugt, dass es momentan förderlich für ihn war, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. In einigen Tagen würde eines der großen amerikanischen Streamingportale bekanntgeben, dass es zum ersten Mal in Deutschland eine Serie produzieren werde. In der Hauptrolle Hubert Scherer, zweiundsechzig Jahre alt, Darsteller in zahlreichen Filmen und unzähligen Fernsehserien. Er hatte im Lauf seiner Karriere alle wichtigen Preise gewonnen, die Schauspieler hierzulande gewinnen konnten; zudem würde man ihn in ein paar Wochen für sein Lebenswerk ehren.

Scherer hatte in einem Alter, in dem Normalsterbliche hauptsächlich an den Beginn ihrer Rente dachten, eine fantastische Phase.

Innerlich lächelnd lehnte er sich zurück und ignorierte die Gaffer. Immerhin gehörten sie zu dem Publikum, das ihm sein großartiges Leben überhaupt erst ermöglichte.

»Du siehst zufrieden aus«, meinte Caroline.

»Kann ich auch sein, nicht wahr? Nach allem, was ich geleistet habe.« Er registrierte ein dezentes Runzeln ihrer Stirn. Offensichtlich fühlte sie sich für ihren Anteil an seinem Erfolg nicht genug wertgeschätzt. »Mit deiner Hilfe«, fügte er hinzu. »Nicht umsonst bin ich in dreißig Jahren nie zur Konkurrenz gewechselt. Trotz mancher Angebote.«

Er griff zu seinem Kaffeebecher und prostete ihr zu. Sofort wirkte sie entspannter.

»Ja, wir sind ein tolles Team«, bestätigte sie und trank ebenfalls einen Schluck.

Als sie das Glas wieder abgesetzt hatte, bemerkte er an ihren zusammengepressten Lippen, dass ihr ein unangenehmes Thema auf den Nägeln brannte. Statt sie darauf anzusprechen, schaute er sich im Café um. Der Laden verfügte über insgesamt sechzig oder siebzig Plätze, von denen mehr als die Hälfte besetzt waren. Die Innenausstattung war modern, in jeden Tisch war eine Steckdose integriert, damit den jungen Leuten für ihre elektronischen Spielereien nie der Saft ausging und sie womöglich vorzeitig den Ort verließen. Einige Personen saßen allein, andere in kleinen Gruppen zusammen. Diejenigen, die ohne Begleitung da waren, starrten auf ihre Handys oder arbeiteten an Laptops. Lediglich eine ungefähr vierzigjährige Frau schmökerte in einem echten Buch, dessen Seiten man umblättern und sogar knicken konnte. Am liebsten wäre er zu ihr hingegangen und hätte ihr ein Autogramm gegeben. Mittlerweile bekam er Drehbücher elektronisch zugeschickt statt wie früher in Papierform, was ihm deutlich lieber gewesen war.

Durch die offen stehende Eingangstür trat ein Mann mit einer dunkelblauen Sporttasche. Er ging zur Theke und bestellte bei der hübschen Bedienung etwas, ohne die Tasche loszulassen. Während sich die schwarzhaarige Frau umwandte, um einen Kaffee für ihn zuzubereiten, ließ der Neuankömmling seinen Blick über die Anwesenden schweifen. Unterdessen konzentrierte sich Hubert wieder auf Caroline.

»Du weißt, dass eine Mitarbeiterin regelmäßig die Namen meiner Klienten googelt?«, fragte sie.

Er zuckte mit den Achseln. Ihm war es egal, für welche nutzlosen Aufgaben sie ihr Personal einspannte.

»Daniela hat vor ein paar Tagen eine betrübliche Entdeckung gemacht«, fuhr sie leiser fort.

Nun genoss sie seine ganze Aufmerksamkeit. »Etwa die alte Geschichte?«

»Leider ja.«

»Das darf nicht wahr sein! Wo? Eine Zeitung?«

»Nein. So schlimm ist es noch nicht.« Sie beugte sich zu ihm vor. »Bislang ist es bloß eine Meldung in einem Blog, dem gerade einmal zweihundert User folgen. Das ist heutzutage nichts. Das Hauptaugenmerk des Bloggers gilt Internetserien. Er kommentiert in dem Artikel das Gerücht, dass demnächst in Deutschland von einem amerikanischen Unternehmen eine Sitcom mit dir in der Hauptrolle produziert werden soll. Offiziell wird der Deal ja erst nächste Woche über die Bühne gehen. In einem Nebensatz stellt er die Frage, warum ausgerechnet du ausgewählt wurdest, wo die Affäre doch nie aufgeklärt worden sei.«

»Verdammter Freak. Was wisst ihr über ihn?«

»Nicht viel. Ende dreißig. Selbstständiger Informatiker.«

»Ist er eine Gefahr?«

»Kann ich momentan nicht einschätzen.«

Unwirsch zischte Hubert. »Können wir ihn mundtot machen? Oder die Sache sonst irgendwie unter den Teppich kehren? Ihm Geld bieten?«

»Das möchte ich dir derzeit nicht empfehlen. Wir beobachten den Blog und überlegen uns gegebenenfalls gemeinsam mit dir eine Strategie. Hektischer Aktionismus könnte schlafende Hunde wecken.«

»Der Deal darf keinesfalls platzen!«, beschwor er sie. »Das klassische Fernsehen ist in ein paar Jahren tot. Streaming ist die Zukunft. Ich will noch eine Zeit lang im Geschäft bleiben und nicht der Vergessenheit anheimfallen.«

»Wir tun unser Bestes«, entgegnete Caroline.

Aus dem Augenwinkel bemerkte er eine Person, die sich ihrem Tisch näherte. Hubert sah hoch. Ein Mann, den er auf ungefähr dreißig schätzte, strahlte ihn an. Er trug ein kurzärmeliges schwarzes Jeanshemd und eine weiße Stoffhose, die am linken Bein einen hellroten Fleck aufwies.

»Sie sind es wirklich!«, rief er begeistert.

Hubert nickte. »Allerdings befinde ich mich gerade in einer wichtigen Besprechung. Wir können gern ein Foto schießen, danach würde ich Sie bitten …«

»Ich bin ein so großer Fan«, unterbrach ihn der Mann. »Seit Jahrzehnten.«

»Das ist schön«, murmelte Hubert genervt. »Würden Sie uns jetzt …«

Unaufgefordert setzte sich der Kerl auf den Stuhl neben Caroline.

»Hallo?«, entfuhr es ihr empört. »Das ist jetzt ziemlich dreist.«

»Ich heiße übrigens Christoph. Wissen Sie, wann ich Fan geworden bin?«

Plötzlich fühlte sich Hubert unfassbar müde. Er hatte keine Lust, eine große Szene zu veranstalten. Einige Gäste schauten schon zu ihnen herüber. Wenn er den Mann stärker bedrängte, sie in Ruhe zu lassen, würde das garantiert in den sozialen Netzwerken landen. Früher war es deutlich angenehmer, ein Star zu sein, dachte er.

»Keine Ahnung.«

»Es war Ihre Rolle in diesem Kinofilm Ende der Neunziger. Wie hieß der gleich? Mir liegt der Name auf der Zunge. Verdammt! Das gibt’s nicht. Vor Aufregung fällt er mir nicht ein. Dabei habe ich den Film als DVD und Blu-Ray zu Hause.«

»Semmler und …«, begann Hubert.

»Die Suche nach dem Sinn«, fuhr die Nervensäge fort. »Richtig. Dafür haben Sie den deutschen Filmpreis gewonnen, oder?«

»Ja.«

»Hochverdient.«

»Danke.«

»Was machen Sie in Köln?«, erkundigte sich der Mann aufdringlich.

»Wie gesagt, eine geschäftliche Besprechung, die ich gern fortsetzen würde.«

»Bitte«, beharrte Christoph. »Nur ein paar Minuten. Davon kann ich später meinen Kindern erzählen. Der große Hubert Scherer und ich trinken einen Kaffee zusammen. Darf ich Sie zu etwas einladen? Die haben tolle Muffins hier.«

»Nein danke. Nicht nötig.«

Hubert konzentrierte sich auf Caroline, die ziemlich genervt wirkte, jedoch nichts unternahm, um den lästigen Fan loszuwerden.

»Das ist schade«, sagte Christoph. »Die Blaubeermuffins sind echt lecker.«

Er drehte sich halb zur Seite und schaute in Richtung Theke.

Unwillkürlich folgte Hubert dem Blick. Im ersten Moment glaubte er, seine Augen würden ihm einen Streich spielen.

Der Mann, der ihm vorhin beim Betreten des Cafés zufällig aufgefallen war, zog aus seiner Sporttasche eine Maske, die aussah wie die Muppets-Figur Waldorf, und stülpte sie sich rasch über.

»Caroline!«, wisperte Hubert. »Es gibt Ärger! Wir müssen abhauen! Schnell!«

»Was?«, fragten Caroline und der unerwünschte Dritte zeitgleich.

Fassungslos sah Hubert, wie zehn Meter entfernt der inzwischen Maskierte eine Pistole aus der Tasche nahm. Furcht lähmte den Schauspieler. Er schaffte es nicht, aufzustehen, um der drohenden Gefahr rechtzeitig zu entkommen.

»Keine Bewegung!«, schrie der Bewaffnete. Er sprang auf und stellte sich breitbeinig in den Gang. Die Waffe schwenkte er ziellos hin und her.

Erst jetzt wurden die anderen Gäste auf die bedrohliche Lage aufmerksam. Panik brach aus. Einige der Anwesenden schrien, andere krochen unter die Tische oder hoben ihre Arme in die Höhe.

Eine Frau, die in der Nähe des Eingangs saß, nutzte ihren günstigen Platz und hechtete hinaus.

»Verdammt! Niemand rührt sich!«, brüllte der mit der Waldorf-Maske. Er zielte mit der Pistole der flüchtenden Person hinterher, schoss jedoch nicht.

Zwei Angestellte rannten durch eine hölzerne Schwingtür in einen nicht einsehbaren Raum im hinteren Teil des Cafés.

Der Kopf des Maskierten ruckte herum. »Warum hört ihr nicht? Der Nächste, der sich bewegt, stirbt.«

Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, feuerte er eine Kugel in die Decke; der Lärm drang durch die geöffnete Tür bis nach draußen. Hubert sah, wie Passanten ihre Handys zückten. Ein paar von ihnen schienen zu telefonieren, während sie sich langsam zurückzogen, andere harrten aus und machten ganz offensichtlich Filmaufnahmen. Hoffentlich rief irgendjemand die Polizei, um den Wahnsinn schnellstmöglich zu beenden.

»Du!«, schrie der Mann.

Er richtete seine Waffe auf einen Angestellten, der bis vor wenigen Augenblicken damit beschäftigt gewesen war, Tische mit einem feuchten Lappen abzuwischen, inzwischen allerdings die Hände hochhielt. Das Tuch umklammerte er immer noch, sodass ihm Wasser auf die Stirn tropfte.

»Nicht schießen«, flehte der junge Mitarbeiter.

»Was ist dahinter?« Waldorf deutete zur Holztür.

»Die Küche.«

»Auch ein Ausgang?«

»Der Notausgang«, bestätigte der Mann.

»Du verriegelst beide Ausgänge. Wenn du Scheiße baust, knall ich dich ab.«

»Ich mache keinen Scheiß!«

»Erst die Vordertür.«

Waldorf trat zwei Schritte zurück und winkte den Unglückseligen mit dem Pistolenlauf herbei. »Kannst du die Tür verriegeln?«

»Ich hab keinen Schlüssel.«

»Wer hat ihn?«

»Die sind gerade abgehauen.«

»Fuck! Zumachen und Stühle davorstellen.«

Der Angestellte nickte zaghaft und ging in größtmöglichem Abstand an dem Maskierten vorbei.

»Feigling«, flüsterte Christoph.

Hubert sah ihn fragend an.

»Warum hat er ihn nicht angegriffen?«

Weil er nicht lebensmüde ist, dachte Hubert. Trotzdem forderte er den Mann an seinem Tisch mit einem Stirnrunzeln auf, weiterzusprechen. Der Geiselnehmer war abgelenkt und achtete derzeit nur auf eine Person.

»Ich bin Kampfsportler.« Christoph beugte sich zu Hubert hinüber und bewegte kaum hörbar die Lippen. »Man müsste ihn bloß ins Stolpern bringen. Dann hätte er keine Chance.«

»Er ist bewaffnet«, zischte Caroline. »Denken Sie erst gar nicht daran!«

Christoph zuckte mit den Achseln und fixierte Hubert.

In den Augen des Mannes stand die Bereitschaft, eine Heldentat zu begehen. Oder würde er ihr Todesurteil provozieren?

Um ihn nicht zu bestärken, konzentrierte sich Hubert auf das Geschehen an der Tür. Der Angestellte hatte den Eingang inzwischen zugezogen und einen Stuhl davorgestellt.

»Noch zwei!«, befahl Waldorf.

Sobald die Aufgabe erledigt war, dirigierte er den jungen Mann bis zu dem Durchgang, der in die Küche führte.

»Bleib dort stehen.« Waldorf schaute sich um. Zum wiederholten Mal schwenkte er die Waffe, um alle Anwesenden gleichzeitig zu bedrohen. »Ihr rührt euch nicht!«

Der Maskierte folgte dem Mitarbeiter und stieß ihn unsanft in den hinteren Teil des Cafés. Er selbst verharrte an der Türschwelle, von der aus er beide Räume überblicken konnte.

»Schon wieder eine Gelegenheit verpasst«, raunte Christoph.

»Seien Sie still!«, forderte Caroline.

Christoph achtete nicht auf sie. »Helfen Sie mir, Hubert?«

»Nein!«, bat ihn seine Agentin.

»Wir wären Helden!«, entgegnete der Mann.

»Warten wir ab, was er vorhat«, entschied der Schauspieler.

Unzufrieden schüttelte Christoph den Kopf. »Dann beten Sie zu Gott, dass er Sie nicht erkennt. Immerhin sind Sie die wertvollste Geisel.«

Überrumpelt sah Hubert Caroline an. Daran hatte er bislang keinen Gedanken verschwendet.

»Zurück zu den anderen«, befahl der Geiselnehmer nach einer Weile.

Der Angestellte stolperte an ihm vorbei und entschied sich für einen Platz an der Wand. Unterdessen ging Waldorf zu seiner Tasche. Ohne die Geiseln aus den Augen zu lassen, holte er vier Dosen daraus hervor.

»Ein paar von euch werden jetzt die Fenster besprühen. Das muss erledigt sein, bevor die Bullen auftauchen. Ihr sprüht das Glas komplett ein.«

Wahllos suchte er sich vier Leute heraus, die in der Nähe der Glasfront saßen. Zu ihnen gehörte die Frau, die in dem Buch geschmökert hatte. Er warf ihnen die Sprühdosen zu, doch lediglich einer Person gelang es, die auf sie gezielte Dose aufzufangen.

»Zack! Zack!«

Verdammt kluger Schachzug, dachte Hubert anerkennend. Der Polizei wurde es auf die Art unmöglich gemacht, den Verbrecher von außerhalb des Gebäudes auszuschalten.

Der erste Sprühstoß der schwarzen Farbe landete auf dem Fenster.

»Beeilung!«, trieb der Mann die Leute an.

2

Stefan Trapp saß am Schreibtisch und schrieb die Rechnung für einen Auftraggeber, den er in der vergangenen Woche bei zwei öffentlichen Veranstaltungen begleitet hatte. Als er die Gesamtsumme zusammenrechnen wollte, griff er mit der rechten Hand ins Leere. Er lächelte amüsiert über dieses Missgeschick. In seiner alten Wohnung hatte sich der Rollcontainer rechts vom Stuhl befunden, aber in Evas ehemaligem Gästezimmer stand er aus Platzgründen links. Stefan öffnete die oberste Schublade und entnahm ihr den Taschenrechner. Rasch hatte er die einzelnen Posten addiert und die Summe ins Dokument übertragen. Er druckte die Rechnung aus, um sie spätestens morgen zur Post zu bringen.

Nachdem er von dem Serienmörder, der es auf Eva abgesehen hatte, niedergeschossen worden war, hatte er zwei Monate lang nicht arbeiten können. Für diese Zeit war er bei ihr eingezogen. Sie hatte sich rührend um ihn gekümmert – teilweise aus schlechtem Gewissen, hauptsächlich jedoch, weil sie ihn liebte.

Mit jedem gemeinsam verbrachten Tag hatten sie vermehrt festgestellt, wie gut sie miteinander klarkamen. So war aus einem vorübergehenden Arrangement ein dauerhaftes geworden, und Stefan hatte seine eigene Mietwohnung gekündigt. Finanziell kam ihm das sehr entgegen, denn die eingesparte Miete kompensierte einen Teil der weggefallenen Honorare. Trotzdem war er froh gewesen, als er die ersten neuen Aufträge hatte annehmen können.

Er drehte die Sitzfläche des Bürostuhls halb herum und schaute sich um. Sie hatten das Gästebett weggeräumt, damit er genug Platz hatte, da er neben der Büroarbeit hier gern sein Training absolvierte; deswegen lag auch eine dunkelblaue Matte auf dem Fußboden. Der Raum war etwas kleiner als sein früheres Arbeitszimmer, doch die fehlenden Quadratmeter hatten ihn bislang nicht gestört. Momentan gab es nichts, was ihm an seinem Leben nicht gefiel.

Fast nichts.

Obwohl seine Exfreundin Sophie mit ihrem erpresserischen Versuch, ihn als Partner zurückzugewinnen, gescheitert war, hatte sie ihre Drohung, die Schwangerschaft abzubrechen, nicht wahrgemacht. Sie war gegen Ende ihrer gemeinsamen Zeit schwanger geworden, hatte das aber erst bemerkt, nachdem sich Stefan von ihr getrennt hatte. Regelmäßig schickte sie ihm nun E-Mails, an die sie Ultraschallbilder anhängte und in denen sie ihn aufforderte, die richtige Wahl zu treffen. Nämlich Eva zu verlassen und zu ihr zurückzukehren. Ein Wunsch, den er abstrus fand. Schließlich liebte er Eva. Dennoch beschäftigte ihn die Frage, welche Kontaktmöglichkeiten Sophie ihm später zu seinem Kind einräumen würde.

Er wandte sich wieder dem Schreibtisch zu, um seine E-Mails zu checken. Insgeheim hoffte er, eines Tages eine Mitteilung zu erhalten, in der sie ihm gestand, dass er gar nicht der Vater des Kindes sei. Eva hatte ihm den Rat gegeben, die Belästigungen ungelesen zu löschen, wozu er sich jedoch nicht in der Lage fühlte. Immerhin ging es hier aller Voraussicht nach um sein Baby. Ehe Stefan den Nachrichteneingang überprüfen konnte, sprang ihm auf der Startseite seines Computers eine Schlagzeile ins Auge: Geiselnahme in Kölner Café. Bewaffneter Gangster fordert zehn Millionen Euro Lösegeld.

»Oh Shit!«, flüsterte Stefan.

Ohne den Computer auszuschalten, verließ er den Raum und lief nach oben. Eva saß an ihrem Schreibtisch. Stefan wusste, dass der Abgabetermin für einen längeren Zeitungsartikel unmittelbar bevorstand. Sie bemerkte ihn und schenkte ihm ein Lächeln, das er flüchtig erwiderte.

»In der Innenstadt hat jemand Geiseln genommen.«

»Was?«, fragte sie völlig perplex.

Stefan ging ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Auf dem ersten Nachrichtenkanal in der Senderliste wurde live über die Geschehnisse berichtet. Im zweigeteilten Bild war links ein Reporter zu sehen, der anscheinend am Ort des Geschehens eingetroffen war. Rechts befand sich die Moderatorin, die ihren Kollegen befragte.

»Gerüchten zufolge hat der Geiselnehmer der Polizei ein Ultimatum gestellt. Können Sie uns etwas darüber sagen?«

Eva war Stefan gefolgt und starrte ihrerseits auf den Bildschirm. Unterdessen war die Einstellung in den Vollbildmodus gewechselt. Nun erkannte Stefan, dass sich der Reporter in einer der großen Kölner Einkaufsstraßen aufhielt, die wie ausgestorben wirkte.

»Schrecklich!«, entfuhr es Eva. »Das ist doch das …«

»Ja«, bestätigte er und legte den Finger auf die Lippen, weil er das Folgende mitbekommen wollte.

»Der Sprecher der Kölner Polizei hat das Ultimatum bestätigt, nachdem der Geiselnehmer eine Facebook-Nachricht gepostet hat, die in Windeseile tausendfach geteilt wurde«, sagte der Mann. »Die Kontaktaufnahme zur Polizei fand um dreizehn Uhr zwanzig statt. In dem Telefonat teilte der Unbekannte mit, dass er zweiunddreißig Personen in seiner Gewalt habe, für die er insgesamt zehn Millionen Euro Lösegeld fordert. Das Geld soll auf ein Bankkonto auf den Cayman Islands transferiert werden. Zudem hat er eine Frist von zwei Stunden gesetzt, nach deren Ablauf er halbstündlich eine Geisel erschießen will.«

»Wie realistisch ist es, dass die Polizei darauf eingeht?«, ertönte aus dem Off die Stimme der Nachrichtenmoderatorin.

»Die verantwortlichen Beamten wollen sich natürlich nicht in die Karten schauen lassen und verweigern ein klares Statement. Derzeit versuchen sie offenbar, erneut mit dem Geiselgangster in Kontakt zu treten, was ihnen seit der Fristsetzung nicht mehr gelungen ist.«

Die Kamera fuhr über die Schulter des Journalisten hinweg und zoomte das Café näher heran.

»Sind die Fenster schwarz, oder sieht das nur so aus?«, wunderte sich Eva.

»Das hat bestimmt mit der Geiselnahme zu tun«, vermutete Stefan.

»Was wissen Sie bisher über die Geiseln? Gerüchten zufolge befindet sich auch ein Prominenter unter ihnen?«, fragte die Sprecherin.

Das Bild wechselte wieder in den Splitscreen. Der Reporter wirkte noch eine Spur betrübter, während er langsam nickte.

»Leider gibt es Anzeichen dafür, dass sich der Schauspieler Hubert Scherer in dem Café aufhält. In den sozialen Netzwerken ist nämlich um kurz nach eins ein Bild aufgetaucht, das ihn zusammen mit seiner Agentin dort zeigt.«

Das besagte Foto wurde für ein paar Sekunden eingeblendet.

»Sind die bescheuert?«, ärgerte sich Stefan. »Warum zeigen die das? Wenn der Geiselnehmer das mitbekommt, gefährden sie Scherers Leben.«

»Zwei Angestellte, die rechtzeitig fliehen konnten, haben laut Polizeiangaben nicht bestätigen können, dass Scherer zu den Geiseln gehört. Versuche, die Agentin zu erreichen, schlugen allerdings fehl, was wir als schlechtes Zeichen deuten müssen.«

»Stimmt es, dass der Verkehr in der Kölner Innenstadt zum Erliegen gekommen ist?«

»Zumindest ist er stark eingeschränkt, denn Polizeikräfte haben das Gebiet großräumig abgesperrt.«

»Vielen Dank für den Bericht. Sobald es Neuigkeiten gibt, schalten wir zu Ihnen zurück.«

Nun fing die Kamera einen Mann ein, der links neben der Moderatorin saß.

»Im Studio begrüße ich den Kriminalpsychologen Werner Fischer. Guten Tag, Herr Fischer.«

Stefans Handy signalisierte piepsend einen E-Mail-Eingang. Abgelenkt griff er nach dem Telefon und öffnete die entsprechende App.

Wie fühlt es sich an, bald Papa zu sein? Ein Papa, der keinen Kontakt zu seinem Kind haben wird, wenn er weiter so feige ist.

Kopfschüttelnd legte er das Gerät beiseite.

»Von ihr?«, vermutete Eva.

»Irgendwann kommt sie hoffentlich zur Vernunft«, erwiderte er.

Währenddessen erklärte der Psychologe im Studio, weshalb die Geiseln in größter Gefahr schwebten.

3

»Die Zeit ist um!«, brüllte Waldorf. »Und von den Bullen kommt nichts.«

Obwohl die Stimme durch die Maske gedämpft wurde, hörte Hubert die Frustration des Mannes. Hatte er ernsthaft mit einem komplikationslosen Verlauf der Geiselnahme gerechnet? Bei einer Zehn-Millionen-Forderung und einer lächerlichen Frist, in der es der deutsche Beamtenapparat wahrscheinlich gerade eben so schaffte, genügend Personal aufzutreiben, um angemessen auf die Situation reagieren zu können. Falls er tatsächlich so naiv war, könnte das gefährlich für sie alle werden.

Der Geiselgangster schwenkte die Waffe. »Wen soll ich zuerst erlösen?«

Er hatte nur wenige Lampen einschalten lassen, nachdem die Fenster komplett besprüht worden waren. Die unnatürliche Düsternis verstärkte zumindest bei Hubert das Gefühl einer herannahenden Katastrophe.

Waldorf machte zwei Schritte in den Raum hinein und blieb bei einer jungen Frau stehen.

»Dich?«, schrie er.

»Bitte nicht!«, flehte sie. »Ich kann doch nichts dafür.«

»Kann ich denn was dafür?«, keifte er.

Wer sonst?, dachte Hubert.

Nach dieser kurzen Konfrontation ging der Maskierte weiter. Plötzlich trafen sich ihre Blicke. Der Schauspieler schaute schnell auf die Tischplatte, aber es war zu spät.

»Was glotzt du mich an?« Mit drei großen Schritten überbrückte der Geiselnehmer die Distanz, bis er ihren Tisch erreicht hatte.

»Willst du was von mir?«

»Nein«, entgegnete Hubert. »Alles ist gut.«

»Nichts ist gut!«, erwiderte Waldorf zornig. »Guck mich an, wenn ich mit dir rede.«

Zögerlich hob Hubert den Kopf. Wegen der verdammten Maske konnte er in den Augen des Mannes nicht lesen, ob der ihn erkannt hatte. Viel schlimmer war jedoch die Pistole, die nun auf ihn gerichtet war.

»Dich habe ich doch schon mal gesehen«, murmelte der Geiselnehmer. »Wer bist du?«

»Niemand.«

»Ich kenne dich.«

»Verschonen Sie bitte meinen Mann«, mischte sich Caroline ein.

Dankbar lächelte Hubert, während sich Waldorf ihr zuwandte. »Du Bitch sagst mir nicht, was ich zu tun habe. Klar?«

Hektisch nickte sie. »Tut mir leid«, flüsterte sie fast unhörbar.

Die offen zur Schau getragene Demut gefiel dem Verbrecher anscheinend. Er wandte sich einem Pärchen zu, das zwei Tische entfernt saß. »Vielleicht nehme ich auch euch!«

Ehe sie ihn um Gnade anflehen konnten, klingelte das Handy des Entführers, das auf seiner Sporttasche lag.

»Ich lasse euch alle mithören, damit ihr erfahrt, wie viel den Bullen euer Leben wert ist«, kündigte er an. Dann nahm er den Anruf an und schaltete den Lautsprecher ein.

»Die Frist ist um!«, rief er, ehe der Verhandlungsführer ein Wort sagen konnte.

»Wir brauchen mehr Zeit«, ertönte eine männliche Stimme.

»Warum sollte ich mich darauf einlassen? Ich habe genug Geiseln, um meine Drohung wahrzumachen. Bestimmt funktioniert das alles ganz schnell, wenn ich die erste Leiche hinauswerfe.«

»Tun Sie das nicht!«, sagte der Verhandlungsführer eindringlich. »Dadurch würden Sie einen Kreislauf in Gang setzen, den wir …«

»Drohen Sie mir?«

»Nein. Mein Job ist es, Sie und die Geiseln lebend aus dem Café herauszubekommen.«

»Das ist einfach. Erfüllen Sie meine Forderungen.«

»Wir haben alles in die Wege geleitet. Aber wir benötigen mehr Zeit. Eine solche Summe liegt nicht auf einem Konto der Kölner Polizei herum. Und Geldtransfers auf eine Bankverbindung im außereuropäischen Ausland verkomplizieren das Prozedere.«

»Wie lange?«, fragte Waldorf.

»Drei, besser vier Stunden.«

Der Geiselgangster lachte höhnisch. »Besorgen Sie schon mal Leichensäcke. Sie werden dafür Verwendung haben.«

Hubert hörte ein leises Zischen. Statt dem Telefonat weiter zu folgen, blickte er Christoph an.

»Ja?«

»Wir müssen handeln«, flüsterte Christoph. »Der Kerl wird Sie erkennen. «

»Das wissen Sie nicht!«, widersprach Caroline wispernd.

Doch Hubert ahnte, dass sein Gegenüber recht hatte. »Haben Sie einen Plan?«

»Seid ihr wahnsinnig?«, entfuhr es der entsetzten Agentin.

»Ja«, antwortete Christoph unterdessen. »Wenn er noch einmal so nah an unseren Tisch tritt, attackiere ich ihn von der Seite. Sobald ich zuschlage, müssen Sie ihn ebenfalls angreifen. Gemeinsam schaffen wir das.«

Hubert scheute sich, die Entscheidung zu treffen. In seinem Magen rumorte es. Warum hatte Caroline dieses Café vorgeschlagen? Sie hätte einen weniger öffentlichen Ort wählen müssen. Natürlich wusste er, was dahintersteckte. Sie hatte darauf spekuliert, dass Fotos von ihnen in den sozialen Netzwerken auftauchten. Bis der Vertrag mit dem amerikanischen Unternehmen endlich unterschrieben war, fand sie jede Erwähnung des Namens Scherer sinnvoll.

»Zwei Stunden!«, rief Waldorf. »Das ist Ihre letzte Chance. In hundertzwanzig Minuten exekutiere ich die erste Geisel.«

Ohne dem Verhandlungsführer die Möglichkeit zu geben, etwas zu erwidern, beendete der Maskierte das Gespräch.

»Los jetzt!«, drängte Christoph. »Kann ich auf Sie zählen?«

Fast unmerklich nickte Hubert.

Sein Gegenüber lächelte zufrieden.

***

Seit Hubert Scherer sein Einverständnis gegeben hatte, beobachtete Christoph den Geiselnehmer beinahe ununterbrochen. Doch nun lenkte ihn eine verstohlene Bewegung ab.

Der Maskierte hielt sich etwa in der Mitte des Raumes auf und starrte geistesabwesend in Richtung der besprühten Fenster. In seinem Rücken hatte ein Jugendlicher heimlich die Position gewechselt und war einen Tisch näher an den Durchgang zur Küche gerückt.

Plante er, durch den Notausgang zu verschwinden?

Wieder huschte der Typ einen Platz weiter. Nun trennten ihn noch höchstens drei Schritte vom Tresen, den er dann umrunden müsste. Waldorf hatte zwei Kartons vor die Schwingtür geschoben, damit sie nicht zufiel; wahrscheinlich wollte er vorgewarnt sein, falls die Polizei versuchte, auf diesem Weg ins Innere zu gelangen.

Konnte der Fluchtversuch funktionieren? Christoph zweifelte daran. Der Jugendliche müsste unbemerkt die Barrikade entfernen.

Doch was, wenn es klappte?

Hinter der Notausgangstür warteten garantiert Polizisten. Sie würden eine solche Flucht nutzen, um ins Café einzudringen und die Geiselnahme gewaltsam zu beenden. Das Fernsehen würde sich anschließend auf Hubert Scherer stürzen und von ihm hören wollen, wie er die qualvollen Stunden überstanden hatte.

Der Jugendliche machte Anstalten, zum nächsten Tisch zu huschen. In dem Moment wandte sich Waldorf von den Fenstern ab und bemerkte, wie der junge Mann den Tresen erreichte und sich dahinter duckte.

»Was zum Teufel?«, schrie er und rannte zu dem Typen, der versuchte, vor ihm zu fliehen. Der Jugendliche kam jedoch nicht einmal bis zum Durchgang zur Küche.

»Bleib stehen, oder ich knall dich ab.«

Der Überlebensinstinkt des Flüchtenden schien zu siegen, denn er blieb abrupt stehen. Waldorf trat zu ihm und boxte ihm in den Magen. Der Schlag zeigte Wirkung. Der Jugendliche krümmte sich schmerzerfüllt. Aber noch hatte Waldorf nicht genug. Er knallte seinem Opfer den Pistolengriff gegen den Nacken und trat fast gleichzeitig gegen seine Beine. Der Jugendliche verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden.

»Das passiert mit euch, wenn ihr mich verarschen wollt«, brüllte der Geiselnehmer und drückte den Pistolenlauf gegen den Hinterkopf des Gestürzten.

»Nein, nein, nein«, jammerte der. »Bitte nicht.«

Eine ältere Dame erhob sich. »Zeigen Sie bitte Herz und verschonen Sie den Jungen.«

Waldorfs Kopf ruckte hin und her. Die Maske verhinderte, dass sich seine Emotionen einschätzen ließen. Doch schließlich begnügte er sich mit einem Tritt gegen die Rippen des Jungen.

»Zurück ins Café. Setz dich zu der Alten, der du dein Leben verdankst.«

Schwerfällig stand der Jugendliche auf. Gekrümmt und mit schmerzverzerrtem Gesicht schlich er zu dem ihm angewiesenen Platz.

»Danke«, sagte die Seniorin.

»Ein zweites Mal werde ich nicht so großherzig sein.«

4

Kriminalhauptkommissarin Andrea Traunstein saß in einem Mannschaftswagen der Polizei und analysierte die Situation gemeinsam mit dem Verhandlungsführer Rheinberg. Der Polizeipräsident hatte ihr zwar die Leitung zur Beendigung der Geiselnahme übertragen, ihr jedoch gleichzeitig einen in Verhandlungen mit Geiselnehmern geschulten Beamten zur Seite gestellt. Seit vor einigen Monaten der von der Presse Wiederkehrer getaufte Serienmörder enttarnt werden konnte, war sie der heimliche Star der Kölner Polizeibehörde und nicht zuletzt einen Dienstgrad aufgestiegen. Natürlich registrierte sie auch die kritischen Stimmen, die darauf hinwiesen, dass sie den Tod einiger Polizisten zu verantworten hatte. Glücklicherweise waren diese Kritiker in der Unterzahl und spornten sie an, noch härter zu arbeiten, um sie ebenfalls von ihren Fähigkeiten zu überzeugen.

Rheinberg schaute auf sein Handy. Er hatte einen Countdown eingestellt, der in wenigen Minuten ablief.

»Sollten wir uns nicht langsam bei ihm melden, um einen weiteren Aufschub auszuhandeln?«, fragte Traunstein.

»Nein«, entgegnete der Verhandlungsführer, nahm seine Brille ab und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken. »Wenn wir ihn vorher kontaktieren, wirft er uns eventuell vor, nicht alles unternommen zu haben, was in unserer Macht steht.«

»Und wenn er seine Warnung direkt in die Tat umsetzt?«

Rheinberg schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Ein solcher Täter würde das ankündigen und uns zuhören lassen, damit wir uns schuldig fühlen.«

»Sicher?«

»Vertrauen Sie mir.«

Traunstein verzichtete auf eine Erwiderung, obwohl sie sich fragte, wann es die letzte Geiselnahme dieser Art in Köln gegeben hatte. Doch ein Streit mit dem Verhandlungsführer würde ihr keine Vorteile bringen.

»Also rufen Sie ihn erst nach Ablauf des Ultimatums an?«, vergewisserte sie sich.

»Nein. Ich lasse mich anrufen«, sagte er und setzte die Brille wieder auf. »Glauben Sie mir. Er wird sich melden.«

***

Hubert beobachtete Waldorf sehr genau. Der Mann wurde von Minute zu Minute ungehaltener und ängstigte die Geiseln mit seinem Verhalten.

Es gab keinen Zweifel daran, dass er explodieren würde. Zudem blickte er immer öfter zu ihm herüber und hatte sich vor ungefähr einer Viertelstunde längere Zeit mit seinem Handy beschäftigt. Ob er inzwischen ahnte, dass ihm ein prominenter Fisch ins Netz gegangen war?

»Verdammt!«, schrie der Geiselnehmer plötzlich. »Euer Leben ist ihnen offensichtlich nichts wert. Oder fällt euch eine andere Erklärung ein, warum sie meine Forderungen nicht erfüllen?«

Er sprang auf und stellte sich zu einer älteren Dame, der er die Pistole an die Schläfe drückte.

»Willst du sterben?«, brüllte er.

»Nein«, wimmerte sie. »Ich habe zwei Enkel.«

»Vielleicht vererbst du ihnen ja was.«

»Wir müssen handeln«, flüsterte Christoph.

»Du hast Glück, Omi, ich habe jemand anderen im Visier, um ihnen klarzumachen, wie ernst ich es meine.«

Betont langsam schritt er in die Mitte des Raumes.

»Ladys und Gentlemen, es ist mir eine große Freude, Ihnen einen der beliebtesten Schauspieler Deutschlands zu präsentieren. Hubert Scherer.«

Hubert schluckte schwer. Seine Vermutung hatte sich bestätigt. Er war erkannt worden. Caroline reichte ihm die Hand, die er dankbar ergriff. Er vermutete, dass sie sich schützend vor ihn stellen würde – wobei das sicher nichts änderte.

Zu seiner Überraschung kam Waldorf nicht näher, sondern blieb, wo er war.

»Weißt du, was ich jetzt mache, Hubert?«

»Leider nicht«, antwortete er.

»Ich rufe bei der Polizei, deinem Freund und Helfer an, und erkundige mich, ob deine Unversehrtheit ihnen zehn Millionen wert ist.«

Mit diesen unheilvollen Worten drehte er sich um und ging zu dem Telefon, das er für die Verhandlungen nutzte.

***

»Ich hab’s Ihnen gesagt«, meinte Rheinberg selbstzufrieden, nachdem das erste Läuten verklungen war.

Toller Hecht!, dachte Traunstein. Die arrogante Art des Verhandlungsführers nervte sie allmählich. Gefährdete er das Leben der Geiseln aus Selbstgefälligkeit? Doch ihr Gesicht glich einer Maske, als sie stumm zum Telefon deutete.

»Nicht so schnell«, widersprach Rheinberg. »Er soll nicht glauben, wir hätten verängstigt darauf gewartet.«

In diesem Moment beschloss Traunstein, den Polizeipräsidenten um Ablösung des Mannes zu bitten, sobald es einen Toten zu beklagen gab. Im schlimmsten Fall müsste halt sie die Gespräche übernehmen.

Endlich nahm er den Anruf an und schaltete gleichzeitig den Lautsprecher ein. »Rheinberg!«

»Ist das Geld überwiesen?«, erklang die Stimme des Geiselnehmers.

»Momentan gibt es noch ein paar Schwierigkeiten, die Überweisung genehmigt zu bekommen. Ich gebe mein Bestes, aber …«

»Sie geben Ihr Bestes?«, wiederholte der Geiselnehmer seelenruhig.

»Das versichere ich Ihnen.«

Traunstein rechnete mit einem emotionalen Ausbruch am anderen Ende der Leitung, zu ihrer Überraschung blieb der jedoch aus.

»Irgendwie habe ich daran meine Zweifel.«

»Hören Sie, Sie verlangen beinahe Unmögliches. Zehn Millionen Euro auf ein ausländisches Konto …«

»Falsch! Es sind jetzt fünfzehn geworden.«

»Wieso meinen Sie …«

»Wissen Sie, wer sich in meiner Gewalt befindet? Hubert Scherer. Sie kennen ihn, oder? Wer kennt ihn nicht? Und fünfzehn Millionen entsprechen wahrscheinlich dem Budget seines nächsten Films. Fragen Sie doch bei den Filmstudios nach, ob die Ihnen das Geld vorstrecken. Oder bei den Öffentlich-Rechtlichen. Die verschwenden die Gebühren eh.«

»Das ist absolut inakzeptabel.«

»Sie haben zwanzig Minuten. Entweder Sie kooperieren, oder die Ehrung für sein Lebenswerk findet posthum statt.«

Das Telefonat brach ab.

»Scheiße!«, fluchte Rheinberg, der schlagartig seine Selbstsicherheit verloren hatte, und fuhr sich durch das dunkelblonde, für einen Mann seines Alters recht füllige Haar.

»Nun bin ich auf Ihre Maßnahmen gespannt«, sagte Traunstein. Sie musste sich zusammenreißen, um keine Schadenfreude zu empfinden, denn immerhin stand das Leben vieler unschuldiger Geiseln auf dem Spiel.

»Keine Ahnung«, gestand er. »Unser erster Plan wäre aussichtsreich gewesen.«

Sie hatten vorgehabt, noch ein oder zwei weitere Fristverlängerungen auszuhandeln, um den Geiselnehmer zu ermüden. Irgendwann hätten sie ihm als Zeichen ihres guten Willens die Übergabe einer Tasche mit Bargeld angeboten. Die Übergabe hätte allerdings ausschließlich dazu dienen sollen, ihn zu überwältigen.

Rheinberg griff zu seinem Handy. »Wir müssen den PP ins Boot holen.«

***

»Jetzt oder nie«, schlug Christoph vor.

Der Geiselnehmer hatte sich von ihnen abgewandt und bekam ihre leise geführte Diskussion nicht mit.

»Ist wahrscheinlich deine beste Chance«, pflichtete Caroline Huberts Fan bei.

Der Schauspieler zog seine Augenbrauen überrascht in die Höhe. Wenn seine Agentin schon so dachte, gab es wohl keinen anderen Ausweg. »Okay. Sobald er Ihnen den Rücken zudreht, greifen Sie ein.«

Christoph nickte entschlossen.

Hubert beobachtete Waldorf, der wieder telefonierte.

***

»Das Zeitfenster ist zu knapp«, beschwor Rheinberg den Geiselnehmer. »Als Zeichen unserer Bereitschaft, eine einvernehmliche Lösung herbeizuführen, möchten wir Ihnen etwas vorschlagen.«

»Ich höre.«

»Falls Sie eine Geisel freilassen, stellen wir Ihnen fünfhunderttausend in bar zur Verfügung.«

»Inakzeptabel«, erklang die völlig ruhige Stimme des Mannes.

Traunstein ahnte Böses.

»Ich biete Ihnen sogar fünf Geiseln an«, sagte der Verhandlungspartner am anderen Ende jedoch unerwartet.

Rheinberg lächelte. »Sehr gut. Was wollen Sie dafür?«

»Eine Kamerafrau. Und eine Live-Übertragung.«

»Ich verstehe nicht.«

»Wenn Sie mir eine Frau mit einer Kamera schicken, deren Bilder live im Fernsehen ausgestrahlt werden, bekommen Sie fünf Geiseln. Allerdings verfällt das Angebot in genau fünf Minuten.«

Mit dieser Ankündigung beendete er das Gespräch abrupt.

»Scheiße!«, fluchte Rheinberg.

»Will der vor laufender Kamera jemanden exekutieren?«, sprach Traunstein ihre Befürchtung aus.

»Den Gedanken hatte ich auch. Wir müssen stürmen.«

»Das wird ein Desaster.«

»Es wird so oder so ein Desaster. Setzen wir den PP über die Entwicklung in Kenntnis. Er soll sein Okay geben.«

***

»Meine Damen und Herren«, sagte Waldorf. »In wenigen Augenblicken wird uns das Fernsehen einen Besuch abstatten. Bringen Sie also Ihre Frisuren in Ordnung. Aufs Nasepudern müssen Sie aber leider verzichten. Was uns diese Ehre verschafft? Es ist die Anwesenheit eines deutschen Superstars. Einer Schauspieler-Ikone. Hubert Scherer. Herr Scherer hat sich bereiterklärt, mir ein Exklusiv-Interview zu geben.«

Langsam näherte er sich ihrem Tisch.

»Ein Interview? Ich verstehe nicht«, meinte Hubert.

Waldorf baute sich direkt vor ihm auf.

»Bevor ich dich erledige«, zischte er leise, »wird die Welt erfahren …«

Christoph stieß einen Schrei aus. Hubert sah aus dem Augenwinkel, wie der junge Mann aufsprang und dem Geiselnehmer kraftvoll gegen die Rippen schlug. Der Maskierte stöhnte schmerzerfüllt auf. Ehe er sich wehren konnte, hatte Christoph mit der anderen Hand seinen Arm zur Seite gerissen, wodurch der Pistolenlauf nicht mehr auf Hubert zielte.

Im Café brach die Hölle los. Einige der Geiseln brüllten panisch, andere hechteten in Richtung der Ausgänge. Hubert wich ein Stück zurück, die Augen auf die Kämpfenden gerichtet.

Glas klirrte. Jemand hatte einen Stuhl durch die Fensterscheibe geworfen.

Christoph trat in die Kniekehle des Verbrechers. Waldorf verlor das Gleichgewicht, und die beiden Männer stürzten zu Boden.

»Warum?«, entfuhr es dem Maskierten.

»Polizei«, erklang gleichzeitig eine herrische Stimme. »Waffe fallen lassen!«

Hubert taumelte nach hinten. Christoph lag obenauf, aber der Geiselnehmer hatte noch nicht aufgegeben. Er richtete die Pistole gegen den Kontrahenten.

»Das wirst du büßen!«

Zwei martialisch ausgerüstete Gestalten stürmten auf sie zu, während Christoph versuchte, den Lauf der Pistole zu drehen.

Plötzlich ertönte ein Schuss.

»Nein!«, stieß der Schauspieler hervor. Hatte sein Retter zu viel riskiert?

Einer der vermummten Polizisten erreichte ihn, packte ihn und riss ihn mit sich. Hubert konnte jedoch den Blick nicht von den beiden Menschen am Fußboden lösen, die mittlerweile reglos dalagen.

Bis Christoph sich ächzend wegrollte.

»Bist du okay?«, rief Caroline.

»Ja«, antworteten zwei Personen gleichzeitig.

Hubert lachte erleichtert. Dann bemerkte er das Blut, das sich auf der Brust des Geiselnehmers ausbreitete.

»Wir brauchen einen Notarzt!«, brüllte der Polizist. Er beugte sich zu dem Maskierten hinunter und begann mit einer Herzmassage.

Wenige Sekunden später kam ein Sanitäter ins Café gerannt und übernahm die Aufgabe.

»Nehmen Sie ihm die Maske ab«, wies er den Polizisten an. »Wir müssen ihn beatmen.«

Doch als Hubert die leblosen Augen sah, wusste er, dass es keine Rettung gab.