Dr. Norden Bestseller
– Jubiläumsbox 4 –

E-Book 17-22

Patricia Vandenberg

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-906-0

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Wenn Dr. Norden Urlaub macht

… ist er auch dort vor keiner Aufregung sicher

Roman von Patricia Vandenberg

»Herr Doktor, was soll ich denn nur machen, wenn Sie nicht da sind?«, jammerte Frau Krollmann. »Wer soll mir denn meine Spritzen geben?«

Solche und ähnliche Worte hatte Dr. Daniel Norden während der letzten Tage oft zu hören bekommen, und er hatte immer wieder geduldig die gleiche Antwort gegeben.

»Dr. Ziemann wird das genauso gut machen, Frau Krollmann. Ich werde Sie nachher gleich mit ihm bekannt machen.«

Dr. Norden und seine Frau Fee wollten endlich einmal richtig Urlaub machen, und es war längst beschlossen, dass der erste Geburtstag ihres Söhnchens im Familienkreis auf der Insel der Hoffnung gefeiert werden sollte. Die Anhänglichkeit seiner Patienten in allen Ehren, das hatte auch sein Schwiegervater Dr. Cornelius gemeint, aber denen war auch nicht gedient, wenn dann Daniel eines Tages mal zusammenklappte.

Er hatte mit einer verschleppten Erkältung zu kämpfen, die er immer wieder mit Medikamenten unterdrückt hatte, doch nun fühlte er sich selbst urlaubsreif. Nur immer mal ein verlängertes Wochenende, damit war es nicht abgetan.

Er hatte nun auch in Dr. Werner Ziemann einen Vertreter gefunden, dem er vertraute. Das war heutzutage gar nicht mehr so einfach, denn meist sprachen sich die Ärzte untereinander ab mit ihrer Urlaubseinteilung.

Doch hier in dem Neubauviertel war das nicht so einfach. Weit und breit war Dr. Norden der einzige Arzt für Allgemeinmedizin. Die anderen waren Fachärzte, die nur in Notfällen mal Hausbesuche machten.

Ja, eigentlich war der junge Dr. Norden so gesehen ein altmodischer Arzt, immer zu erreichen, immer und zu jeder Stunde zur Stelle, wenn man ihn brauchte. Allerdings hatte er auch einen Patientenkreis, der dies nicht schamlos ausnützte, ihn andererseits aber auch schwer vermisste, wenn er mal nicht da war.

Er war mit Leib und Seele seinem Beruf ergeben, in früheren Zeiten oftmals verkannt worden, weil er so gut aussah, dass die überwiegende Anzahl seiner Patienten aus Frauen bestand, aber das hatte sich mit den Jahren mehr und mehr gegeben, und seit er mit Fee verheiratet war, blieben jene weg, die den »schicken« Dr. Norden gar zu gerne für sich interessiert hätten.

Frau Krollmann kam dreimal die Woche zu ihm. Sie war von schweren Arthrosen geplagt und deshalb mit ihren fünfundsechzig Jahren schon ein richtiges verhutzeltes Weiblein.

Dr. Norden war der erste Arzt, der ihr geholfen hatte. Er hatte sie zum Sanatorium Insel der Hoffnung geschickt und setzte nun die Nachbehandlung fort.

»Nächstes Jahr fahren Sie wieder zur Insel«, versprach er, »aber sie müssen jetzt auch zu Dr. Ziemann gehen, und wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, dann sagen Sie auch anderen Patienten, dass sie Vertrauen zu ihm haben können. Er braucht es nämlich«, fuhr er leise fort. »Er hat seine Frau verloren und muss allein für zwei Kinder sorgen.«

Frau Krollmann war zugänglich gestimmt, weil Dr. Norden sie ins Vertrauen zog.

Sie fühlte sich sehr geschmeichelt und erhob nun keinen Widerspruch mehr, als Dr. Ziemann hereingebeten wurde.

Er war mittelgroß, schlank und sicher nicht viel älter als Dr. Norden, aber er hatte bereits fast ergrautes Haar. In seinem Gesicht hatten sich tiefe Kummerfalten eingegraben, aber gerade das machte ihn Frau Krollmann so sympathisch. Sie hatte in ihrem Leben selbst viel durchgemacht, und sie vermochte den Menschen ins Herz zu sehen.

Dr. Norden zeigte ihm das Krankenblatt und wechselte ein paar lateinische Worte mit ihm.

»Immer ganz feine Nadeln nehmen, unsere Frau Krollmann ist sehr empfindlich«, sagte Dr. Norden schmunzelnd. »Aber sonst ist sie sehr tapfer.«

Er wusste ganz genau, wie er seine alten Leutchen behandeln musste, die doch noch bedeutend empfänglicher für eine persönliche Anteilnahme waren als die Jüngeren.

»Ich hoffe, dass sich Frau Krollmann nicht über mich beklagen muss«, sagte Dr. Ziemann.

»Wir werden uns schon zusammenraufen«, sagte Frau Krollmann. »An die Billie habe ich mich auch gewöhnt, nachdem Molly uns verlassen hat.«

Dr. Norden lächelte versteckt. Er nahm Frau Krollmann diese Vertraulichkeit gewiss nicht übel, und es hatte sich so manch einer daran gewöhnen müssen, dass nicht mehr Helga Moll im Vorzimmer saß. Mit ihren Nachfolgerinnen hatte er ein bisschen Pech gehabt, weil sie seinen Anforderungen entweder nicht entsprachen oder aus privaten Gründen wieder weggingen.

Aber Billie Meißner war eine Perle, jung, resolut, unverdrossen und auch überaus tüchtig. Sie machte auch ihre Späßchen, genauso wie Molly, und auch das alles in allem war Anlass für die Nordens gewesen, ihren Urlaub beruhigt planen zu können.

Frau Krollmann hatte versprochen, pünktlich zur nächsten Spritze zu kommen und sich dann wortreich und mit den besten Wünschen für einen schönen Urlaub verabschiedet. Sie war für heute die letzte Patientin.

»Nun schauen Sie nicht so skeptisch drein, lieber Ziemann«, sagte Dr. Norden aufmunternd. »Es steht nichts zu fürchten.«

»Das sagen Sie«, meinte Dr. Ziemann. »Für Ihre Patienten sind Sie einfach nicht zu ersetzen.«

»Ach was, machen wir kein Drama aus meinem Urlaub. Wir freuen uns darauf. Wie ist es, essen Sie heute mit uns?«

Daniel wollte gern, dass auch Fee seinen Vertreter ein bisschen näher kennen lernte. Bisher war dazu noch keine Zeit gewesen. Seit drei Tagen war Dr. Ziemann erst hier, und er hatte sich sehr gewissenhaft auf seine Pflichten vorbereiten wollen. Daniel fand nichts an ihm auszusetzen. Für ihn war der Kollege ein tragischer Fall, schuldlos in ein Schicksal verstrickt, das wohl auch ihn aus der Bahn geworden hätte.

Er hatte von diesem Schicksal durch seinen Freund Dr. Dieter Behnisch erfahren, in dessen Klinik Veronika Ziemann vor einem Jahr an den Folgen eines schweren Autounfalls gestorben war.

Auf der Fahrt zu ihren Eltern, bei denen die beiden Kinder Sascha und Annette zu Besuch weilten, war ihr Wagen von einem Lastzug, der von einem betrunkenen Fahrer gesteuert wurde, überrollt worden. Ein junges Leben war vernichtet, eine glückliche Familie zerstört. Dr. Ziemann, Oberarzt an einem Krankenhaus im Rheinland, war monatelang nicht mehr fähig gewesen, seinen Beruf auszuüben. Er war auch jetzt noch nicht fähig, als Chirurg im Operationssaal zu stehen, sonst hätte Dieter Behnisch ihm selbst eine Chance gegeben.

Langsam nur hatte Dr. Ziemann sein seelisches Gleichgewicht wiedergewonnen. Er konnte nicht einfach auf einen anderen Beruf umsatteln. Er war Mitte Dreißig und seine Kinder sieben und neun Jahre alt. Jetzt wurden sie von seinen Schwiegereltern versorgt. Sein Schwiegervater war ein pensionierter Beamter, der im Vorgebirge ein Häuschen besaß. Reichtümer hatte er nicht sammeln können, und Dr. Ziemann als Oberarzt auch nicht. Das Leben zwang ihn, zurückzufinden zu seinem Beruf, zu sich selbst, denn die Kinder brauchten ihn.

Er hatte nun die Möglichkeit, in einigen Monaten die Praxis eines alten Landarztes übernehmen zu können, der sich nach einem arbeitsreichen Leben zur Ruhe setzen wollte, aber dazu musste er nun erst noch Erfahrungen in der Praxis eines Arztes sammeln, der sich in allen Krankheiten auskannte. Klipp und klar hatte ihm der gute Dr. Hofstetter gesagt, dass er ihn nicht als »Lehrbuben« seinen kritischen Landleuten vorstellen könne, sonst wären sie gleich misstrauisch. Es war ein gut gemeinter Ratschlag gewesen. Dr. Ziemann bekam jetzt schon einen Vorgeschmack, wie schwer es war, den vertrauten Arzt ersetzen zu wollen. Und auf dem Lande war man noch skeptischer. Gewiss war das auch ein Grund, dass so wenige Ärzte sich bereit fanden, sich auf dem Lande niederzulassen, obgleich sie dort rar waren und wirklich ganz dringend gebraucht wurden. Nicht der einzige Grund gewiss, denn die meisten wollten die Annehmlichkeiten der Stadt nicht entbehren.

Ihm würde das nicht schwerfallen. Er war jetzt schon entschlossen dazu, und er wollte in den vier Wochen, in denen er Dr. Norden vertrat, so viel wie nur möglich lernen.

Hoffentlich würden ihm da die Patienten keinen Strich durch die Rechnung machen.

Er hatte die Einladung zum Essen angenommen. Es gab doch noch so manches zu besprechen, denn schon am späten Nachmittag wollten die Nordens ihre Fahrt zur Insel antreten.

Billie Meißner räumte ihren Schreibtisch eben gewissenhaft auf. Sie war ein schlankes, gut gewachsenes Mädchen, nett und ansehnlich, ohne ausgesprochen hübsch genannt werden zu können.

»Dann machen Sie es gut, Billie. Sie wissen ja schon überall Bescheid«, sagte Dr. Norden. »Und wenn was nicht klar ist, rufen Sie an.«

»Wird gemacht, Herr Doktor«, erwiderte sie munter. »Wir werden schon klarkommen. Dr. Ziemann hat ja Erfahrung.«

»Sie ist ein nettes Mädchen«, sagte Dr. Norden, als sie im Lift aufwärts fuhren. »Ich bin sehr zufrieden mit ihr. Und so schwierig wie Frau Krollmann sind auch nicht alle Patienten. Aber Sie werden mit ihr auch schon zurechtkommen. Reden Sie nett mit den Leuten, hören Sie sich auch ein bisschen Klatsch an. Das mögen sie. In solch einer Praxis wollen sie nicht eine Nummer sein. Im Krankenhaus kommen und gehen sie, und selten sieht man sie wieder. Bei uns ist es so, dass ein paar nette, verständnisvolle Worte oft mehr helfen als das beste Medikament, oder sagen wir besser, dass es dann erst seine Wirkung tut. Ich weiß, dass es eine große Umstellung für Sie ist, Herr Kollege.«

»Aber eine, die sich lohnt. Ich habe schon sehr viel von Ihnen gelernt, und Sie haben mir sehr geholfen«, erwiderte der andere.

»Sie verhelfen uns zu unserem Urlaub«, sagte Daniel lächelnd. »Was meinen Sie, wie dankbar Ihnen meine Frau ist.«

Und gleich darauf standen sie Fee gegenüber, dieser hinreißend schönen, natürlichen, liebenswerten Ehefrau des Dr. Norden.

Selbst Ärztin mit eigenem Doktortitel, hatte Fee ihre Berufstätigkeit weitgehendst eingeschränkt, seit der kleine Daniel, Danny genannt, auf der Welt war. Ab und zu sprang sie schon mal in der Praxis ein, wenn der große Daniel durch Hausbesuche überlastet war, aber ihr lebhafter Sohn beanspruchte sie doch sehr, und das zweite Kind war bereits unterwegs.

Danny schrie auch jetzt sogleich nach seinem Papi. Papi war das erste Wort, das er sprechen konnte, und da er noch kein Jahr alt war, musste man es schon gebührend zur Kenntnis nehmen, wie deutlich er es sagte und dabei auch genau wusste, wen er meinte.

Während Daniel Norden sich diesem Temperamentsbündel widmete, überspielte Fee geschickt Dr. Ziemanns Verlegenheit.

Der Tisch war hübsch gedeckt. Lenchen, die sich Danny zuliebe ganz an ihren Hörapparat gewöhnt hatte und nicht mehr lautstark angeredet werden musste, servierte das Essen.

Sie war schon ein bisschen aufgeregt, denn natürlich musste sie mit zur Insel der Hoffnung fahren. Man hätte sie ja nicht vier Wochen allein lassen können.

Allerdings hatte Lenchen da ihre Bedenken geäußert, denn die Blumen mussten versorgt werden und überhaupt würde alles verstauben, wenn sich niemand kümmerte. Doch das wollte Billie gern besorgen. Sie hatte sich dazu bereit erklärt, als Dr. Norden über diese Notwendigkeiten gestöhnt hatte.

Nachdem man sich nun bei Tisch und einem sehr guten Essen, das nichts von Lenchens Nervosität ahnen ließ, unterhielt, kam Fee ein anderer Gedanke.

»Eigentlich wäre es doch sehr praktisch für Sie, Herr Ziemann, wenn Sie während der Zeit Ihr Quartier hier aufschlagen würden«, bemerkte sie nebenbei. Sie warf ihrem Mann einen schrägen Blick zu und wusste, dass er ihren Vorschlag billigte. Sie brauchten sich nur mit Blicken zu verständigen.

»In der Praxis drunten ist es wahrhaft ein bisschen nüchtern«, meinte auch Daniel, der schon den gleichen Gedanken wie Fee gehegt hatte, ihr aber nicht vorgreifen wollte.

»Sie sind sehr entgegenkommend, aber das kann ich nicht annehmen«, erwiderte Dr. Ziemann.

»Und warum nicht? Ich vertraue Ihnen meine Patienten an, warum dann nicht auch die kleinen Annehmlichkeiten, die Ihnen die Wohnung bietet, damit Sie sich auch mal entspannen können. Ab und zu werden Sie ja wohl zum Schlafen kommen«, sagte Daniel.

»Es wäre schon recht, wenn immer jemand da ist«, mischte sich Lenchen ein. Damit allerdings wollte sie bloß ihr Einverständnis kundtun.

Sie verschwand gleich wieder. »Unser Lenchen ist schon in der zweiten Generation bei uns«, erklärte Daniel.

»So was gibt es heute auch noch«, sagte Dr. Ziemann, der jetzt schon nicht mehr ganz so gehemmt war.

Sie sprachen noch über manches, was die Praxis anbetraf und auch über die Insel der Hoffnung.

Natürlich hatte Dr. Ziemann darüber schon genug gehört und gelesen. Schließlich war Dieter Behnisch lange Jahre mit Dr. Norden befreundet.

»Vielleicht sollten Sie auch mal ein paar Wochen dort sein, bis Sie den letzten Anlauf für die Landpraxis nehmen«, sagte Daniel.

»Im Herbst ist das leicht mal einzurichten.«

»Paps freut sich immer, wenn er Kollegen von seinen Heilmethoden überzeugen kann«, warf Fee lächelnd ein.

»Die man sich wohl zu eigen machen sollte«, sagte Dr. Ziemann gedankenvoll.

»Wie wollen unsere Insel nicht immer selbst hochloben, Fee«, sagte Daniel.

»Warum nicht? Propaganda brauchen wir keine zu machen. Wir haben doch selber nicht glauben wollen, dass diese Idee so Zuspruch findet. Wir wären doch gar nicht böse, wenn es viele kleine Inseln der Hoffnung gäbe. Anfangs dachten wir, dass der Name überhaupt nicht ankommen würde. Man ist in der heutigen Zeit doch geneigt, Namen zu finden, die exotisch klingen, möglichst kurze, die einem gleich im Ohr haften bleiben. Aber wie es scheint, setzen die geplagten Menschen doch sehr viel auf die Hoffnung.«

»Was bleibt schon, wenn man die nicht mehr hat«, sagte Dr. Ziemann mit schwerer Stimme.

Ein paar Sekunden trat Schweigen ein. Da saß ein Mann an ihrem Tisch, der das Schlimmste erfahren hatte, was einem Menschen widerfahren konnte. Er hatte einen über alles geliebten Menschen auf grausame Weise verloren. Er war Arzt und hatte nicht helfen können. Fee strömte alles Blut im Herzen zusammen, als sie auf seinen gesenkten, früh ergrauten Kopf blickte.

»Sie werden in vierzehn Tagen ein freies Wochenende haben«, sagte sie weich. »Vielleicht möchten Sie Ihren Kindern dann einmal München zeigen. Wir haben nichts dagegen, wenn die Kinder auch hier wohnen, Herr Ziemann. Es ist Platz genug.«

»Sie sind zu gütig, gnädige Frau«, sagte er mit gepresster Stimme.

Wieder sah Fee ihren Mann an, dann stand sie auf. »Red ihm seine Bedenken aus, Daniel«, sagte sie. »Von Mann zu Mann geht das besser.«

Während sie die letzten Sachen zusammenpackte, gelang es Daniel, Werner Ziemann davon zu überzeugen, dass er gern das freundschaftliche Angebot annehmnen könnte.

Daniel fühlte sich ihm gegenüber mehr als Arzt als Kollege. Auch dieser Mann brauchte Lebenshilfe, Beweise des Vertrauens, Freunde.

»Vielleicht verstehen Sie mich nicht«, sagte Werner Ziemann gequält. »Ich wollte an diesem Wochenende mit meiner Frau fahren, aber da stand die Chance für mich auf dem Spiel, Chefarzt werden zu können, und die wollte ich nützen. Veronika hatte mir zugeredet. Sie wissen ja, wie dünn gesät solche Chancen sind, wenn man im Krankenhaustrott ist. Ich ließ sie allein fahren, weil die Ferien zu Ende gingen. Ich werde es mir immer zum Vorwurf machen.«

»Haben Sie nie daran gedacht, dass andernfalls Ihre Kinder beide Eltern verloren haben könnten?«, fragte Daniel heiser.

Werner Ziemann sah ihn bestürzt an. »Nein, daran dachte ich nie.«

»Dann denken Sie jetzt daran. Das Schicksal mag unerbittlich und vorbestimmt sein. Ich kann Ihre Gewissensqualen verstehen. Aber Ihnen ist es bestimmt gewesen, weiterzuleben. Sie haben Ihre Kinder und eine große Aufgabe. Ich bin nicht für große Worte, aber es würde mich unendlich freuen, wenn wir ein bisschen dazu beitragen könnten, Sie mit diesem schrecklichen Schicksal zu versöhnen.«

Werner Ziemann war aufgestanden und ging hinaus auf den Dachgarten.

Er drehte sich zu Daniel um. »Ich wollte diesen Mann umbringen, Herr Kollege. Diesen gewissenlosen, betrunkenen Mann. Ich war blind vor Hass, dass er mir meine Frau und meinen Kindern die Mutter genommen hat.«

»Aber Ihnen wären höchstenfalls auch nur mildernde Umstände zugesprochen worden, wie ihm vermindert Zurechnungsfähigkeit«, sagte Daniel ruhig. »Und weder Ihnen noch Ihren Kindern wäre damit gedient gewesen.«

»So deutlich hat seither niemand mit mir gesprochen. Alle haben mich behandelt wie einen Irren«, sagte Dr. Ziemann. »Aber ich war bei klarem Verstand. Ich dachte nur daran, wie ich Veronika rächen könnte. Ich habe gar nicht zugehört, wenn sie alle auf mich einredeten. Ich habe nur an sie gedacht, der ich doch nicht mehr helfen konnte.« Er machte eine kleine Pause. »Sie lieben Ihre Frau. Sie können mich verstehen. Wir haben eine wunderbare Ehe geführt. Ein Stück von mir selbst ist von mir genommen worden.«

»Ich verstehe Sie, Herr Ziemann. Vielleicht hilft Ihnen die Zeit, vielleicht helfen Sie sich selbst, wenn Sie anderen helfen. Was soll ich viel sagen. Sehen Sie es bitte so, dass wir Ihnen gerne helfen möchten.«

Fee hatte ein bisschen gelauscht. Sie tat das manchmal, nicht aus Neugierde, sondern nur deshalb, um sich selbst einstellen zu können, wenn Daniel etwas entschied. Jetzt war sie innerlich ganz ruhig, denn sie wusste, dass sie in einer ganz schwierigen Situation wieder einer Meinung waren.

Es war nicht immer so. Manchmal behielt sie recht, manchmal Daniel. Es war selten, aber es geschah doch, aber das war schließlich nur der Beweis, dass sie ihre eigene Persönlichkeit behielten und unterschiedliche Ansichten auf einen Nenner bringen konnten, und das geschah immer.

Als jetzt das Telefon läutete, trat sie schnell in Erscheinung. Bevor Daniel den Telefonhörer aufheben konnte, sagte sie: »Walten Sie Ihres Amtes, Herr Kollege. Wir sind schon nicht mehr da.«

Ein bisschen Anspruch auf Privatleben hatten sie schließlich auch. Die Koffer waren gepackt. Lenchen hatte in der Küche Ordnung gemacht. Dr. Ziemann war bereit, um für Daniel einzuspringen.

»Dr. Norden ist im Urlaub?«, hatte die weibliche Stimme gefragt.

»Ja, ich bin die Vertretung«, erwiderte er zögernd.

»Wenn es möglich ist, kommen Sie bitte sofort. Mein Vater hat hohes Fieber«, vernahm er.

Dr. Ziemann sah Daniel an. »Meyen, Tulpenstraße«, sagte er.

»Ist mir nicht bekannt, aber wie es scheint, ein guter Anfang für Sie. Auf Wiedersehen, Herr Ziemann.«

»Auf Wiedersehen«, sagte auch Fee, »und das Gästezimmer steht für Ihre Kinder bereit.«

*

Putzmunter saß Danny in seinem Autositz, aber dem traute Lenchen nicht, und so hielt sie ihn auch noch krampfhaft fest.

»Es kann nichts passieren, Lenchen«, sagte Daniel schmunzelnd, als er in den Rückspiegel blickte.

»Ich traue dem modernen Zeug nicht«, brummte sie.

Danny schaute interessiert zum Fenster hinaus. Er sah Kühe auf der Weide.

»Kuhlemuhle«, sagte er. Daniel und Fee staunten. »Er nimmt wahr, was er sieht«, sagte Daniel.

»Ich habe ihm bloß Bilder gezeigt«, sagte Fee. »Du, er ist intelligent.«

»Nun schnapp nicht gleich über«, lachte Daniel. »Sein Lernprozess beginnt erst …«

»Du hast Recht. Mami sagt er noch nicht«, seufzte sie. »Vielleicht gefällt ihm nur, was er selten sieht.«

»Mami«, sagte Danny. »Mami, Mami, Mami.«

Lenchen strahlte übers ganze Gesicht.

»So gescheit waren Sie nicht, Doktor«, erklärte sie. »Sie haben erst geredet, als Sie fünfzehn Monate alt waren.«

»Jung«, brummte Daniel. »Vater hat gesagt, dass ich alles gespeichert habe und plötzlich reden konnte wie ein Buch.«

»Das stimmt schon«, sagte Lenchen, »aber Danny redet schon, bevor er noch ein Jahr ist.«

Sie war fast noch stolzer als die Eltern.

Für Danny schien diese Fahrt überaus anregend zu sein, die er zum ersten Mal sitzend verbrachte und hellwach. Sonst hatte er meistens geschlafen, wenn sie zur Insel fuhren, oder in seinem Wagenbett gelegen.

»Hottehotte«, kreischte er, und tatsächlich konnte man Pferde sehen. Sein Temperament kannte jedoch keine Grenzen mehr, und es war gut, dass Lenchen eingriff, sonst wäre er doch noch aus dem Sitz gehopst.

»Das Letzte an Sicherheit ist das auch nicht«, stellte Fee fest, als Daniel anhielt und sie mit Lenchen den Platz tauschte, um ihren Sohn bändigen zu können.

»Unser Sohn reißt auch ein stabiles Auto auseinander«, lachte Daniel. »Na, jetzt sind wir bald da, und dann kann ihn der Opi zur Räson bringen.«

»Oder die Omi ihn verwöhnen«, seufzte Fee.

»Opi, Omi«, echote Danny sogleich und machte damit seine Eltern sprachlos.

Daniel fing sich zuerst.

»Da sieht man mal, wie gut Luftveränderung ist«, stellte er fest.

»Für dich hoffentlich auch«, sagte Fee. »Du schnaufst manchmal schon richtig asthmatisch.«

»Das sind ja seltsame Komplimente«, brummte er.

»Gar keine«, erwiderte Fee. »Das ist die mahnende Stimme einer besorgten Ehefrau. Wehe, wenn du dich nicht schonst, Daniel.«

»Recht hat sie«, sagte Lenchen. »In meinen Ohren pfeift es, wenn Sie atmen.«

»Ihr macht einem ja richtig Angst«, sagte Daniel.

»Als Ärztin verordne ich eine strenge Kur, mein Lieber. Jetzt mache ich es mit dir mal genauso wie du mit deinen Patienten.«

»Wir werden kuren, Fee. Ich betone ›wir‹«, sagte Daniel. »Du brauchst Erholung genauso sehr wie ich.«

»Es ist schon ein Fortschritt, wenn du zugibst, dass du sie brauchst«, lächelte Fee. »Ich lasse mich gern mal wieder so richtig verwöhnen. Und Lenchen wird keinen Strich tun.«

»Ihr wollt mich wohl umbringen?«, fragte Lenchen.

»Nein, wir wollen dich noch lange behalten«, sagte Fee herzlich.

»Mir fehlt nichts«, sagte Lenchen. »Ich habe nur Appetit auf Schinken, und wenn ich einen Schluck von der Quelle getrunken habe, bin ich gleich noch mal zehn Jahre jünger.«

»Trink fünf Schluck, Lenchen«, sagte Daniel.

»Mehr helfen wird es auch nicht«, sagte sie, »aber noch ein paar Jahre lang mitmachen, das möchte ich schon.«

»Schön wäre es, wenn wir die Zeit jetzt anhalten könnten. Was meinst du, Fee?«

Sie lachte leise. »Ich weiß nicht, ob ich mich damit begnügen würde, dass unser Sohn nur Papi, Mami, Omi, Opi, Hottehottee und Kuhlekuhle sagt!«

Aber nun waren sie schon am Ziel angelangt, und alle, die sie liebten und die zu ihnen gehörten, standen bereit, um sie zu empfangen.

Dr. Johannes Cornelius und seine zweite Frau Anne, Dr. Jürgen Schoeller und seine Frau Isabel, Katja, Annes Tochter aus erster Ehe, diese kam wie eine Elfe über den Rasen gelaufen, und Fee stellte fest, dass sie immer schöner wurde, aber viel Zeit zum Nachdenken hatten sie nicht. Sie wurden umarmt und geküsst, und begrüßt, als kämen sie von einer jahrelangen Weltreise zurück.

Für die Großeltern war dann Danny der Mittelpunkt, und für Daniel und Fee der kleine Mario, Dr. Cornelius’ Adoptivsohn, der aber sehr schnell Lenchen nachlief, die sich diskret zurückziehen wollte.

Sein Lenchen konnte Mario doch nicht so gehen lassen, und ihr runzliges Gesicht war ein verklärtes, als er sich an ihren Hals hängte und sie abküsste.

Isabel nahm Fee in den Arm. »Wir haben tausend Ängste ausgestanden, ob ihr es wirklich möglich machen könnt«, sagte sie.

»Daniel hat eine tüchtige Vertretung gefunden«, erwiderte Fee. »So ein bisschen Angst hatte ich auch, Isabel. Du siehst aber blendend aus.«

»Werdende Mutter, rund und runder werdend«, lachte Isabel. »Herrgott, ich habe ja überhaupt nicht geahnt, was ich versäume, Fee. Ich freue mich ganz irrsinnig auf unser Baby.«

Und wer hätte es der ehemaligen cleveren Journalistin Isabel Guntram zugetraut, dass sie alles aufgeben würde, um nur Ehefrau und Mutter zu werden. Sie hatte doch gemeint, ohne ihren Beruf nicht leben können!

Sie hatte hier den richtigen Mann gefunden und ihre Heimat. Sie war rundherum glücklich.

»Ich kann nur staunen über Isabel«, stellte Daniel fest. »So jung und schön war sie nie.«

»Jetzt würde sie dir wohl auch noch besser gefallen?«, fragte Fee eifersüchtig.

»Gefallen hat sie mir immer, mein Schatz, und das weißt du. Sie ist eine Frau von Format. Aber geliebt habe ich eben immer nur eine, und das bist du!«

Sie wusste es ja, dass eine ganze Anzahl von Frauen seinen Weg gekreuzt hatten, und ganz schuldlos war sie daran selbst nicht. Aber sie war seine große Liebe und allein das zählte. Ihre ehemals kindische Eifersucht war völlig überflüssig gewesen.

Sie hatten sich aufeinander zutasten müssen. Keiner hatte sich des anderen sicher fühlen können, nicht einmal gewusst, ob es eine Chance für ein Miteinander gab. Die zuerst so spröde Fee hatte nur ihr Berufsziel im Auge gehabt, weil sie meinte, dass Daniel sein Herz längst vergeben hätte, und Daniel hatte gemeint, dass Fee überhaupt nichts für ihn übrig hätte. Vergessen war diese Zeit noch nicht. Manchmal sprachen sie noch darüber, aber sie konnten dabei lachen. Und alle anderen, die sie kannten, waren der Meinung, dass es keine glücklichere Ehe geben könnte als ihre, was ja auch stimmte. Aber immerhin konnte es auch noch andere so glückliche Ehen geben, wie Jürgen und Isabel Schoeller ebenso unter Beweis stellten, wie die ältere Generation, die durch Dr. Johannes Cornelius und seine Frau Anne vertreten war.

Katja war derzeit allein. Jung verheiratet zwar und auch glücklich, aber ihr Mann, der berühmte Pianist David Delorme, machte Schallplattenaufnahmen in London, und da war Katja doch lieber daheim auf der Insel der Hoffnung, auf der auch sie Genesung gefunden hatte nach einer unheilbar scheinenden Krankheit.

Wie Glieder einer langen Kette reihte sich alles aneinander. Für jene, die nicht eingeweiht waren mochten die Familienverhältnisse etwas verwirrend sein, da sich aber jeder dafür interessierte, wie das Sanatorium entstanden und zu seinem Namen gekommen war, erfuhren auch viele Patienten die Zusammenhänge zwischen den Nordens und Cornelius’.

Dr. Friedrich Norden, Daniels Vater, und Dr. Johannes Cornelius waren eng befreundet gewesen. Beide hatten ihre Frauen verloren. Friedrich Norden hatte schwer an der seelischen Last getragen, als Arzt seiner Frau nicht helfen zu können, machtlos zu sein gegen bestimmte Krankheiten. Aber er wollte dennoch eine Idee verwirklichen und anderen Menschen Heilung bringen oder wenigstens Erleichterung und neue Hoffnung.

Die Verwirklichung seiner Idee hatte er nicht mehr erlebt, doch sein treuer Freund Johannes Cornelius hatte die Leitung des Sanatoriums übernommen, weil Daniel seine Praxis noch beibehalten wollte. Nicht etwa, um der Stadt nahe zu bleiben, sondern vor allem aus der Überlegung heraus, dass die Insel der Hoffnung auch finanziell so fundiert sein müsse, dass ihr gemeinsames Ziel nicht infrage gestellt werden konnte.

Von Anfang an jedoch erfreute sich die Insel großen Zuspruchs. Fee Cornelius und Dr. Schoeller unterstützten Johannes Cornelius bei der Arbeit. Anne, die die Verwaltungsarbeiten übernommen hatte, holte ihre Tochter Katja, die Schocklähmung erlitten hatte, auf die Insel und durfte erleben, dass Katja auf wunderbare Weise geheilt wurde.

Es blieb auch an diesem Abend nicht aus, dass sie ihre Gedanken zurückschweifen ließen, nachdem Danny endlich zum Schlafen gekommen war. Ihm hatte es natürlich sehr gefallen, von einem Arm auf den andern zu wandern, aber Lenchen hatte dann kurzen Prozess gemacht und erklärt, dass das Kind seine Ordnung haben müsse. Ja, Lenchen hatte schon was zu sagen, auch hier auf der Insel der Hoffnung.

Ganz reizend war das Haus eingerichtet worden, dass hier auf die Nordens wartete, doch an diesem ersten Abend saßen sie in dem großen Wohnraum beisammen, der zum privaten Reich des Chefarztes gehörte.

Mit seinem Schwiegervater hatte Daniel sich immer bestens verstanden, auch damals, als es noch die unterschwelligen Spannungen zwischen ihm und Fee gab, die sich dann doch nur als Eifersucht entpuppten. Für Dr. Cornelius war es die Erfüllung eines geheimen Traums, als Daniel und Fee sich das Jawort gaben. Er selbst hatte an Annes Seite ein spätes Glück gefunden und Katja in ihm einen väterlichen Freund.

Das Schicksal knüpfte seine Fäden und bediente sich dabei der verschiedensten Personen. Isabel Guntram, lange der schuldlose Grund für Fees Eifersucht, brachte den jungen Pianisten David Delorme auf die Insel. Katja verliebte sich in ihn, und was niemand für möglich gehalten hatte, war dann nach einigem Hin und Her doch eingetreten. Auch David hatte sein Herz an sie verloren und heiratete sie.

Zwischen Isabel und Dr. Jürgen Schoeller knüpften sich schon zarte Bande, als Daniel eines Tages den kleinen Mario vor dem Ertrinken rettete, dem Johannes und Anne Cornelius nun die toten Eltern ersetzten, die bei dem Bootsunglück umkamen.

Viele Schicksale unter einem Dach, und hinzu kamen dann die der Patienten, die meistens mit einer Sorgenlast auf die Insel der Hoffnung kamen.

»Wer hier nicht gesundet, ist selber schuld«, hatte einmal ein Patient gesagt, der sich schon aufgegeben hatte. Das hörte man natürlich gern.

Hier gab es keinen Massenbetrieb, kein riesiges Haus mit vielen Gängen und vielen weißen Türen. Verstreut standen kleine Häuser, der zauberhaften Landschaft angepasst, in denen sich immer vier oder sechs abgeschlossene Appartements befanden. Jeder hatte sein kleines Reich für sich, in das er sich zurückziehen konnte, aber auch denen, die Geselligkeit suchten, standen wirklich viel Möglichkeiten offen.

Ein Tennisplatz stand zur Verfügung, Minigolf konnte gespielt werden, wer lieber Kegeln wollte, kam auch auf seine Kosten, geselliges Beisammensein mit Tanz und Spielen war eingeplant, und da konnte man doch so recht sehen, wie viel Freude zur Genesung beitrug.

Ein bisschen betrübt war man nur, dass Daniel und Fee sich noch nicht entschließen konnten, für immer auf die Insel zu kommen.

»Dass euch das Stadtleben so behagt«, sagte Isabel verwundert. »Ich kann dem nichts mehr abgewinnen.«

»Es ist doch nicht die Stadt«, sagte Fee. »Ihr hättet erleben müssen, wie Daniels Patienten jammern, wenn er nur mal ein paar Wochen Ferien macht.«

»Und wie bist du mit der Vertretung zufrieden?«, fragte Dr. Cornelius seinen Schwiegersohn.

»Bestens. Er ist verlässlich und ein guter Arzt.«

Mehr wollte er von Dr. Werner Ziemann noch nicht erzählen. Es war spät geworden. Sie waren müde, aber Daniel und Fee wollten auch noch einen kleinen Abendspaziergang machen. Wunderbar mild war die Luft. Voller Freude konnte Fee feststellen, dass Daniel schon viel leichter atmete.

»Mir gefällt es einfach nicht, dass Danny in einer Stadtwohnung aufwachsen soll«, sagte Anne zu ihrem Mann.

»Mir auch nicht, aber vielleicht überlegen sie auch, dass er hier ein bisschen zu sehr verwöhnt werden könnte«, fügte er verschmitzt hinzu. »Es ist wohl auch schwer, sich von einer Praxis zu trennen, die man so erfolgreich betreibt wie Daniel. Er setzt mich immer wieder in Erstaunen. Er ist reif und verständnisvoll, über seine Jahre.«

Und doch war er irgendwie ein großer Junge geblieben. Jetzt tanzte er übermütig mit Fee über den gepflegten Rasen, ein Paar wie aus dem Bilderbuch, umflossen vom Mondlicht, das silberne Sternchen in Fees herrliches blondes Haar zauberte.

»Ich bin so glücklich, dass ich dich mal ganz für mich habe«, flüsterte Fee.

»Und ich erst«, sagte er zärtlich. »Ein paar Tage gehen wir hinauf in die Berge, Fee, ganz allein.«

»Und Danny?«

»Den können wir doch getrost in Annes Obhut lassen. Katja und Lenchen sind ja auch noch da. Alles vertraute Gesichter.«

»Der Opi wird seine Arbeit vernachlässigen, und Lenchen wird fuchsteufelswild, wenn sie sich zurückgesetzt fühlt.«

»Ach was, in diesem Paradies gibt es keine Eifersüchteleien mehr, seit Fee Cornelius meine Frau ist.«

»Das musstest du mir natürlich mal wieder unter die Nase reiben«, sagte sie neckend.

»Ab und zu muss ich mich doch fragen, warum du mich so lange auf die Folter gespannt hast.«

»Es war gut für uns beide«, erwiderte Fee nachdenklich.

»Inwiefern?«

»Das ist schwer zu sagen. Ich habe es so im Gefühl. Wenn wir auch meinen, unsere Entscheidungen selbst zu bestimmen, Daniel, irgendwie werden wir doch gesteuert. Aber jetzt wollen wir nicht wieder ins Philosophieren kommen. Alles schläft schon.«

»Und ich bin überhaupt nicht müde«, sagte er zärtlich und küsste sie.

*

Dr. Werner Ziemann fand in dieser Nacht zum ersten Mal wieder einen ruhigen, erquickenden Schlaf. Er hatte noch einige innere Hemmungen überwinden müssen, bevor er sich in das breite Bett des Gästezimmers legte, aber dann konnte er dem freundlichen Angebot, das ihm die Nordens gemacht hatten, doch nicht widerstehen.

Hier war es so ruhig, und die Harmonie, die das Ehepaar Norden um sich verbreitete, blieb lebendig in diesen Räumen, obgleich sie nun nicht mehr anwesend waren.

Er war für das Vertrauen, das man ihm entgegenbrachte, unendlich dankbar. Es richtete ihn auf, linderte den Schmerz, der noch immer in ihm brannte.

Würde er seine Vroni auch nie vergessen, so war ihm jetzt doch ein neuer Weg gewiesen worden.

Seit Veronikas Tod hatte es keine Nacht gegeben, in der er nicht, von Angstträumen geplagt, aufgeschreckt worden war, um dann wieder stundenlang zu grübeln.

In dieser Nacht geschah dies nicht. Er schlief, bis der Wecker klingelte, und dann musste er sich erst zurechtfinden.

Es war ein herrlicher, sonnenklarer Morgen. Er trat hinaus auf die Dachterrasse, atmete die klare Luft ein, die der Wind vom nahen Wald herübertrug und dehnte seinen Körper.

Viel straffer als zuvor erschien er dann pünktlich in der Praxis. Überpünktlich, aber Billie war trotzdem schon da, und Dr. Ziemann schnupperte Kaffeeduft.

»Ich muss mich doch ein bisschen kümmern, dass Sie nicht nüchtern an die Arbeit gehen«, sagte sie freundlich, in einer wohltuend unaufdringlichen Art.

»Das ist nett. Dr. Norden hat mir übrigens sein Gästezimmer zur Verfügung gestellt.«

»Und Sie haben gut geschlafen«, stellte Billie fest. »Man sieht es Ihnen richtig an. Die Nordens sind doch wahnsinnig nette Menschen. So was findet man selten.« Sie unterbrach sich und huschte umher. »Brötchen habe ich auch mitgebracht. Steht alles schon bereit. Stärken Sie sich, bevor der Ansturm losgeht.«

Doch der Morgen ließ sich sehr ruhig an, was Dr. Ziemann zu der Vermutung veranlasste, dass man dem Vertreter des so beliebten Dr. Norden doch nicht gleiches Vertrauen entgegenbrachte.

Billie tröstete ihn mit der Bemerkung, dass es auch sonst geruhsame Tage gäbe. Sie hatte es kaum ausgesprochen, als die erste Patientin erschien. Billie kannte sie. Es war Frau Wiener, die nicht weit entfernt wohnte und für Verletzungen jeglicher Art prädestiniert schien. Vorige Woche hatte sie sich in den Finger geschnitten, diesmal hatte sie sich den Knöchel verstaucht.

»Ausgerechnet jetzt, wo Dr. Norden nicht da ist, muss mir das passieren«, begann sie sogleich, aber dann musterte sie schon Dr. Ziemann neugierig und setzte ein liebenswürdiges Lächeln auf.

Gerda Wiener war Ende Dreißig, geschieden, recht hübsch und auch nicht unvermögend. Sie flirtete gern mit jedem halbwegs gut aussehenden Mann und war ständig auf der Suche nach einem geeigneten neuen Ehepartner.

Billie wusste das alles, denn Gerda Wiener war eine mitteilsame Person. Durchaus nicht unsympathisch, aber sie brauchte einfach Ansprache.

Dr. Ziemann war ihr noch nicht begegnet, aber auch er erfuhr sogleich beträchtliches aus ihrem Leben, während er den Fuß untersuchte. Die Schwellung war stark, aber sie war nicht wehleidig.

»Wissen Sie, Herr Doktor, ich bin so was ja gewöhnt«, plauderte sie. »Ich weiß nicht, wie ich es anstelle, aber irgendwie bringe ich es immer wieder fertig, auszurutschen, zu stolpern, oder mich sonstwie zu verletzen. Weiß der Himmel, welche böse Fee mir das in die Wiege gelegt hat«, schloss sie mit einem neckischen Lachen.

»Vielleicht ist es das Temperament«, meinte er, sich an Dr. Nordens gute Ratschläge erinnernd.

»Ja, das hat mich meine Ehe gekostet«, seufzte sie. »Mein Mann war so ein ganz phlegmatischer. Hundertmal am Tag hat er mir vorgehalten, dass ich enervierend sei, und dann hat es halt Krach gegeben. Übel war der Anton nicht. Wir haben uns auch gütlich getrennt, und gerade gestern hat er mich wieder besucht. Jetzt vermisst er mich doch manchmal.«

Wie ein Wasserfall sprudelte es von ihren Lippen. Dr. Ziemann hörte geduldig zu, während er den Fuß bandagierte. Frau Wiener war zwar nicht wehleidig, aber recht redselig.

»Sie sind ja auch so ein ganz ruhiger«, meinte sie. »Verheiratet?«

Billie sah den Augenblick gekommen einzugreifen, denn Dr. Ziemanns Gesicht erstarrte. Billie warf Frau Wiener einen bedeutsamen Blick zu.

»Ich wollte ja nicht indiskret sein«, sagte sie auch sogleich. »Entschuldigen Sie, Herr Doktor, ich habe halt ein loses Mundwerk.«

Und außerdem verfügte sie auch über Selbsterkenntnis, sogar über eine gewisse Intuition, zu gegebener Zeit den Mund zu halten.

Sie war versorgt. Indessen waren noch ein paar Patienten gekommen.

Frau Wiener konnte es sich nicht verkneifen, Billie zu fragen, ob der Doktor auch geschieden sei.

»Seine Frau ist tödlich verunglückt. Man spricht besser nicht darüber«, erklärte Billie leise.

»Wenn ich es vorher gewusst hätte, hätte ich schon den Mund gehalten«, sagte Frau Wiener. »Der arme Mann. Tut mir sehr leid.«

Das war nicht nur so hingesagt. Frau Wiener hatte auch Gemüt. Man musste sie nur erst richtig kennen. Jeder Mensch hatte seine Eigenarten. Was einem als Vorzug erschien, empfanden andere als Nachteil. Es war nur bedauerlich, wenn eine Ehe daran kaputt ging. Billie sammelte ihre Erfahrungen. Männer spielten in ihrem Leben keine bedeutungsvolle Rolle. Aus ihrem Sportverein, wo sie sich aktiv als gute Leichtathletin betätigte, kannte sie ein paar, mit denen sie hin und wieder beisammen saß, aber ernst wurde es nie. Billie hatte ihre Grundsätze, die in der modernen Zeit durchaus ungewöhnlich geworden waren.

Gegen zwölf Uhr rief ein junges Mädchen an, das Billie wohlbekannt war, aber eine ganz andere Einstellung zum Leben hatte als sie. Deswegen wunderte sich Billie, dass Helga Herolds Stimme so aufgeregt klang.

»Mama ist zusammengeklappt, der Doktor soll schnell kommen«, sagte sie ohne Einleitung und bevor Billie noch etwas erwidern konnte, hatte sie schon wieder eingehängt.

Die Adresse hatte Billie im Kopf. Zum Glück entließ Dr. Ziemann gerade den letzten Patienten, immerhin den zehnten an diesem Vormittag.

»Gartenstraße zweiundzwanzig bei Herold«, sagte Billie rasch zu Dr. Ziemann. »Es ist dringend. Frau Herold ist zusammengebrochen. Nehmen Sie der Verordnungen wegen lieber das Krankenblatt mit. Sie ist nämlich furchtbar allergisch.«

Billie dachte an alles. Während Dr. Ziemann seinen Kittel auszog und seinen Arztkoffer ergriff, erklärte sie ihm auch noch schnell und präzise den Weg. Dr. Ziemann hatte einen neuen Mittelklassewagen. Lange Zeit hatte er gebraucht, um sich überhaupt wieder ans Steuer zu setzen, und das gleiche Modell, mit dem seine Frau verunglückt war, wollte er nicht mehr fahren. Auch jetzt musste er gegen Angst ankämpfen, wenn er einen Laster nur aus der Ferne sichtete. Heute brach ihm wenigstens nicht mehr der kalte Schweiß aus.

Er fand das Haus schnell, ein gelbes Mehrfamilienhaus in einem gepflegten Garten. Ein junges Mädchen öffnete ihm die Tür und wich erst einen Schritt zurück. »Nicht Dr. Norden?«, fragte sie.

»Er ist im Urlaub. Ich bin seine Vertretung.«

»Ob Mama das was nützt in ihrem Zustand?«, meinte Helga Herold zweifelnd. »Warum regt sie sich aber auch immer gleich so auf. Eigentlich bin ich schuld«, räumte sie dann kleinlaut ein.

»Würden Sie mich bitte zu der Patientin führen?«, fragte Dr. Ziemann freundlich.

»Ich muss sie erst vorbereiten, dass nicht Dr. Norden kommt. Sie hängt doch so an ihm. Der kommt gleich nach dem lieben Gott bei ihr.« Das klang sehr sarkastisch.

Helga Herold war ein sehr apartes Mädchen. Große braune Augen beherrschten ein schmales, blasses Gesicht und gaben ihm eine besondere Ausstrahlung, jedoch keine Wärme. Sie schien sehr selbstbewusst, jetzt aber doch ängstlich.

Ihre Mutter nahm zuerst gar nicht wahr, dass nicht Dr. Norden ihren Puls fühlte. Sie war in einem völlig apathischen Zustand.

Dr. Ziemanns Diagnose war schnell gestellt. Totaler Erschöpfungszustand.

»Geh«, stieß Irene Herold zornig hervor, als Helga sich über sie beugte. Das Mädchen zuckte die Schultern und ging.

Irene Herold wendete jetzt Dr. Ziemann ein verweintes, verquollenes Gesicht zu. »Warum kommt Dr. Norden nicht?«, fragte sie tonlos.

»Er ist im Urlaub mit seiner Familie.«

Wie oft würde er diese Erklärung wohl noch wiederholen müssen, ging es ihm durch den Sinn.