Dr. Norden Bestseller
– Box 1 –

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Patricia Vandenberg

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-661-9

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Dr. Daniel Norden

Roman um einen Arzt aus Berufung

»Insel der Hoffnung«, sagte Dr. Johannes Cornelius zu seiner Begleiterin, »nun geht Friedrich Nordens Traum seiner Erfüllung entgegen.«

»Ein recht kostspieliger Traum«, sagte Anne Fischer gedankenvoll. Mit ihrer schmalen Hand strich sie sich eine aschblonde Haarsträhne aus der hohen Stirn. Sie war Mitte vierzig und noch immer eine anmutige Frau. Ihre Stimme war weich und melodisch.

»Friedrich Norden dachte nur an die Genesungsuchenden«, sagte Dr. Cornelius.

Anne Fischer errötete leicht. »Ich wollte keine Kritik üben«, sagte sie entschuldigend, »ganz im Gegenteil. Ich finde diese Anlage wundervoll. Man denkt dabei nicht an Krankenhaus oder Sanatorium. Eine Oase des Friedens ist diese Insel der Hoffnung.«

»Den Namen hat ihr auch mein Freund Friedrich gegeben«, erklärte Dr. Cornelius. »Wollen wir hoffen, daß er zu einem Symbol wird, und daß hier viele Leidende gesunden, wie es sein Wunsch war. Es ist ein Jammer, daß er selbst es nicht mehr erleben konnte.«

»Und sein Sohn hat keine Neigung, hier mitzuarbeiten?« fragte Anne Fischer. »Das ist mir nicht ganz begreiflich.«

»Daniel will seine Praxis in München noch behalten«, erklärte Dr. Cornelius. »Wir werden dennoch Hand in Hand arbeiten.«

»Und Ihre Tochter, Johannes?«

»Felicitas wird mich unterstützen. Einen Arzt habe ich auch schon gefunden, der viel Idealismus mitbringt, den wir hier brauchen werden.«

Anne Fischer warf ihm einen gedankenvollen Blick zu. »Könnten Sie vielleicht auch mich brauchen, Johannes? In Büroarbeiten bin ich perfekt. Und Idealismus würde ich auch mitbringen. Ich brauche jetzt so nötig eine Lebensaufgabe und –«, sie unterbrach sich und errötete leicht.

»Und Katja könnten wir auch hierherholen«, vollendete Dr. Cornelius verständnisvoll ihren angefangenen Satz. »Daran dachten Sie doch, Anne.«

»Betrachten Sie mich bitte nicht als aufdringlich«, flüsterte sie.

»Aber ganz im Gegenteil. Ich habe auch schon daran gedacht. Ich wollte Sie nicht so direkt fragen, Anne. Wenn alle Spezialisten für Katja nichts tun können, könnten wir hier gemeinsam versuchen, in ihr wieder neuen Lebenswillen zu wecken.«

»Danke, Johannes.« Ihre Augen waren tränenfeucht. »Es war alles zu schrecklich.«

Jetzt wollte Dr. Cornelius nicht über die harten Schicksalsschläge sprechen, die Anne Fischer hatte hinnehmen müssen. Man sollte mit Worten nicht Wunden aufreißen die noch nicht vernarbt waren.

»Dann überlasse ich Ihnen die Verwaltungsarbeiten«, sagte er aufmunternd, »und damit können Sie schon bald beginnen. Am Wochenende werden wir die Insel der Hoffnung offiziell ihrer Bestimmung übergeben. Dann werden Sie Daniel Norden kennenlernen.«

»Und wann kommen die ersten Patienten?«

»Später, so nach und nach«, erwiderte Dr. Cornelius. »Wir wollen alles ganz langsam anlaufen lassen. Daniel will nicht, daß die Reklametrommel gerührt wird. Neugierige wollen wir nicht heranlocken, auch nicht nur solche mit dicken Bankkonten. Die Insel der Hoffnung soll vor allem jenen offenstehen, die sich in der lauten Welt nicht mehr zurechtfinden und ihren inneren Frieden verloren haben.«

»Wenn sie diesen hier nicht finden, wo sonst?« bemerkte Anne Fischer gedankenverloren. »Sie haben sich ein großes Ziel gesetzt, Johannes.«

»Das ist mir von Friedrich und Daniel Norden gesetzt worden«, sagte der Arzt.

*

Dr. Daniel Norden hatte wieder einmal einen turbulenten Vormittag in seiner Praxis fast hinter sich gebracht.

»Wen haben wir jetzt noch, Molly?« fragte er seine tüchtige Sprechstundenhilfe.

Helga Moll ließ sich von ihm gern Molly nennen, obgleich sie eher mager war. Sie hatte sehr viel übrig für ihren jungen Doktor, ohne daß man ihr mißverständliche Absichten nachsagen konnte.

»Frau Seidel wartet noch«, erwiderte sie. »So was liebes und bescheidenes wie dieses alte Mütterchen gibt es nicht noch einmal.«

Doch Molly wußte, daß Dr. Norden auch mit der alten, bescheidenen Frau Seidel richtig umzugehen verstand.

»Ja, wen haben wir denn da?« begrüßte er die alte Frau herzlich. Sie war vor drei Jahren seine allererste Patientin gewesen und immer noch von einer rührenden Anhänglichkeit.

Er umfaßte die schmalen Schultern der alten Frau. »Wie fesch sie wieder ausschaut, unsere gute Frau Seidel«, sagte er lächelnd.

Ein Leuchten ging über das verhutzelte Gesicht. Auf schneeweißem Haar thronte ein Kapotthütchen, das gut und gerne ein halbes Jahrhundert miterlebt haben mochte, aber kein einziges Stäubchen aufwies.

Mit liebevollem, mütterlichem Blick hingen die immer noch lebhaften Augen hinter der Nickelbrille an dem markanten Gesicht des jungen Arztes. Er wurde immer ein bißchen verlegen, wenn sie ihn so anschaute.

»Na, wo fehlt es denn heute?« fragte er. »Wo tut es weh?«

Er wußte, daß sie sich manchmal mit schrecklichen Schmerzen plagte, für die er ihr nur vorübergehend Linderung verschaffen konnte, aber sie war unglaublich tapfer, und er bewunderte die Zähigkeit dieser fast achtzigjährigen Frau.

»Gar nichts tut mir weh, wenn ich Sie anschaue, Herr Doktor«, sagte sie verschmitzt. »Das Herz hüpft mir vor Freude. Ich darf es wohl sagen. Mir wird man doch nicht mehr nachreden können, daß ich es auf den Dr. Norden abgesehen habe.«

»Weiß man es?« ging er auf ihren Ton mit einem Schmunzeln ein. »Aber Sie kommen doch nicht nur her, um mich anzuschauen und festzustellen, wie ich mich so herausmoppele?«

»Na ja, das Wetter macht mir schon zu schaffen, und mit dem Laufen wird es auch immer schlechter. Aber wer weiß, wie lange ich überhaupt noch gehen kann, und Sie haben doch mehr zu tun, als zu mir zu kommen, um mir die Spritzen zu verpassen. Und ich schaue mir auch gern mal die Leute an, die in Ihrem Wartezimmer sitzen.«

»Sind Sie zufrieden mit meinen Patienten, Frau Seidel?« fragte Dr. Norden.

»Staunen muß ich immer wieder, daß Sie so gar keine Ausnahmen machen wie die anderen Ärzte. Und nie sind Sie grantig. Sie sind sogar nett zu einem alten Mutterl, von dem niemand mehr was wissen will, das niemand mehr anschaut. Daß mir die Medikamente nicht mehr helfen können, weiß ich doch selbst, wenn Sie sich auch noch so viel Mühe geben. Wenn man so alt geworden ist, ist jeder Tag ein Geschenk, und wenn Sie so nett zu mir sind, geht es gleich wieder viel besser.«

In diesem Augenblick kam Dr. Norden blitzartig ein Gedanke.

»Wissen Sie was, Frau Seidel, es gibt auch andere nette Menschen. Sie sollen solche kennenlernen, wenn Sie sich zutrauen, eine kleine Reise zu machen.«

»Eine Reise?« fragte sie staunend. »Dazu habe ich doch gar kein Geld.«

»Es kostet Sie auch nichts. Ich werde Sie mitnehmen zur Insel der Hoffnung, wenn ich am Samstag zur Eröffnung fahre.«

»Zur Insel der Hoffnung?« fragte sie staunend.

»So soll unser Sanatorium heißen. Es sind nur zwei Stunden Fahrt. Willigen Sie ein?«

»Mich wollen Sie dorthin mitnehmen, Herr Doktor?« fragte sie mit Tränen in den Augen. »Ausgerechnet mich?«

»Sie sind mein Talisman«, sagte Daniel lächelnd. »Sie waren hier meine erste Patientin und sollen es dort auch sein. Es wird uns Glück bringen. Und so wäre es ganz im Sinne meines Vaters.«

Ja, dachte er für sich weiter. So hätte Vater es gewollt. Einem armen Menschen, der immer auf der Schattenseite des Lebens gestanden hatte, eine Freude zu bereiten.

»Das kann ich gar nicht glauben«, murmelte Frau Seidel mit erstickter Stimme.

»Ich hole Sie ab«, sagte er. »Sie werden ganz bequem sitzen. Molly kommt auch mit. Soll sie Ihnen beim Kofferpacken helfen?«

»Das kann ich schon allein«, stammelte Frau Seidel. »Ich darf wirklich mitfahren?« Immer noch schaute sie ungläubig drein.

»Abgemacht«, sagte Dr. Norden aufmunternd. Molly wischte sich ganz geschwind und unauffällig ein paar Tränen aus den Augen. Er hat genau solch ein gutes Herz wie sein Vater, dachte sie.

Molly mußte es wissen. Als junges Mädchen war sie Sprechstundenhilfe bei Dr. Friedrich Norden gewesen. Sie hatte diesen wunderbaren Arzt und Menschenfreund in all seiner Seelengröße kennengelernt.

Sie hatte auch Daniel schon als Jungen gekannt, der nur ein Lebensziel hatte: Arzt zu werden, wie sein Vater.

Molly hieß damals noch Helga Schneider. Sie hatte geheiratet und war Mutter von drei Kindern geworden, aber ihre Ehe mit Heinz Moll war nicht von Bestand gewesen. Wieder mußte sie Geld verdienen, weil ihr Mann seine Familie nicht ernähren konnte. Wieder kam sie zu Dr. Friedrich Norden und mußte es nun miterleben, daß auch diesem gütigen Mann Schicksalsschläge nicht erspart blieben. Seine von ihm so sehr geliebte Frau litt an einer unheilbaren Krankheit. Für ihn, den Arzt, der immer nur helfen und heilen wollte, war es entsetzlich, dem liebsten Menschen, den er besaß, nicht helfen zu können.

Nach dem Tode seiner Frau zog er sich auf die kleine Roseninsel zurück, in das alte Bauernhaus, das schon seine Großeltern bewohnt hatten. Auf der Insel im Rosensee kam Dr. Friedrich Norden die Idee, hier ein Sanatorium zu erbauen, in dem Kranke und am Leben Verzweifelte Genesung finden könnten, jene, die die Hoffnung verloren hatten und solche, die unglücklich waren.

Insel der Hoffnung, dieser Begriff hatte Dr. Friedrich Norden fasziniert.

Alles durchdachte er in seiner Einsamkeit, und er plante und plante, wobei sein Herz jedoch müder und müder wurde.

Der junge Daniel Norden, der nun seine eigene Praxis eröffnet hatte, stand den Plänen seines Vaters anfangs skeptisch gegenüber. Auch das wußte Helga Moll, denn jetzt war sie seine Sprechstundenhilfe, geschieden von ihrem Mann, mußte sie allein für ihre Kinder sorgen.

Indessen hatte Friedrich Norden in seinem langjährigen Freund, Dr. Johannes Cornelius, einen Partner gefunden, der mit der gleichen Intensität und Leidenschaft an die Verwirklichung dieser Idee ging. Und als Friedrich Norden starb, war auch Daniel bereit, das Vermächtnis seines Vaters zu erfüllen.

Nun kam der Tag heran. Die Pforten zur Insel der Hoffnung sollten sich öffnen. Für sich aber hatte Daniel Norden eine eigene Entscheidung getroffen.

Er wollte seine Praxis behalten und die Leitung des Sanatoriums Dr. Cornelius überlassen. Daniel hatte seine Gründe dafür, denn er dachte realistischer als sein Vater. Der Unterhalt eines Sanatoriums verschlang viel Geld. Wollte man die Idee seines Vaters verwirklichen, auch mittellosen Patienten eine Kur zu ermöglichen, brauchte man andere, denen es nicht schwerfiel, ihre Rechnungen zu bezahlen. Er hatte solche Patienten. Er hatte gute Verbindungen. Er galt sogar als Modearzt. Dr. Daniel Norden wollte vor allem nicht, daß Dr. Cornelius seine Freundschaft und Loyalität mit einem Defizit büßen mußte.

Darüber verlor er kein Wort. Er schluckte es sogar, daß Felicitas Cornelius, die bildhübsche Tochter des väterlichen Freundes, ihn verächtlich einen Playboy schalt, der nicht auf das Großstadtleben verzichten wolle.

»Wir wissen, daß es Vaters Vermächtnis ist«, hatte er zu Dr. Cornelius gesagt, als sie ihre Vereinbarungen trafen. »Ich will mein Bestes tun, daß alles so wird, wie er es sich vorstellte, aber es soll nie ein Wort darüber fallen, was ich dazu beitrage.«

Mit einem Handschlag hatten sie dieses Übereinkommen besiegelt.

Wird alles so werden, wie Vater es sich vorgestellt hat? Ich will mein Bestes tun, Vater, sagte er leise vor sich hin. Den Anfang habe ich gemacht, indem ich dieser armen alten Frau noch ein wenig Freude in den Lebensabend bringe.

Es tat ihm weh, daß sein Vater die Verwirklichung seines Wunschtraumes nicht mehr erleben konnte. Er dachte auch an seine Mutter, der alle ärztliche Kunst keine Hilfe bringen konnte. Er dachte aber auch an die vielen anderen, denen noch zu helfen war.

Jetzt gönnte er sich ein paar Minuten der Besinnung und ließ seinen Blick auf der Fotografie seines Vaters ruhen, die auf seinem Schreibtisch stand. Dann kam Molly.

»Sie haben Frau Seidel eine große Freude bereitet«, sagte sie. »Sie haben ein gutes Herz. Sie sollten es nicht immer verleugnen.«

»Nun stimmen Sie nur nicht in Mutter Seidels Lobgesänge ein, Molly. Sie hat einen Narren an mir gefressen und ich mag sie auch. Es war doch eine gute Idee? Sind Ihre Kinder gut untergebracht über das Wochenende?«

»Meine Mutter kommt«, erwiderte Helga Moll. »Jedenfalls ist sie energischer als ich.«

»Und Ihnen tut es gut, wenn Sie mal Tapetenwechsel haben«, sagte Dr. Norden.

Helga Moll wollte ihm jetzt nicht mit ihren Sorgen kommen, denn frei von solchen würde sie an diesem Wochenende gewiß nicht sein, obgleich sie ihre drei Kinder in der Obhut ihrer resoluten Mutter zurücklassen konnte.

Sabine, die Älteste, war achtzehn und hatte seit einem Jahr einen festen Freund. Er war ein netter Junge, aber er ging noch zur Schule, und für Helga Moll, die geschiedene Frau, die allein für ihre Kinder sorgen mußte, gab es da schwere Bedenken. Dazu gesellten sich andere, doch Dr. Norden entriß sie diesen Gedankengängen.

»Na, Molly, dann wollen wir mal die Bude zumachen«, sagte er. »Ich gehe heute abend ins Konzert. Vorher muß ich noch ein paar Krankenbesuche machen. Kann ich Sie ein Stück mitnehmen?«

»Iwo, mit der S-Bahn ist es viel bequemer«, erwiderte sie. »Lassen Sie sich von Frau Brehmer nicht zu lange aufhalten, sonst verpassen Sie die Hälfte vom Konzert.«

Sie sagte es mit einem hintergründigen Lächeln, und er erwiderte es mit einem spöttischen.

»Was uns nicht umbringt, macht uns stärker«, sagte er heiter. Dann winkte er ihr zu und verschwand.

Ein Wunder ist es ja nicht, daß die Frauen hinter ihm her sind, dachte Helga Moll.

Marion Brehmer hegte allerdings ähnliche Gedanken. Sie litt nicht umsonst in letzter Zeit so häufig an Magenbeschwerden. Sie hatte eine fast erwachsene Tochter. Allerdings war Kirsten selbst für einen so attraktiven Mann wie Dr. Norden nicht zu begeistern und ganz so selbstlos war Marion Brehmer als Mutter auch nicht.

Sie hatte es zwar ganz geschickt zu verbergen vermocht, aber sie hätte durchaus nichts dagegen gehabt, mit Dr. Norden einen heftigen Flirt anzufangen, wenn sie die geringste Resonanz gespürt hätte. Die jedoch blieb aus.

Marion Brehmer war mit ihren achtunddreißig Jahren noch immer eine recht verführerische Frau. Eine gute Kosmetikerin und ein sehr gekonntes Make-up machten sie sogar noch um einige Jahre jünger, wenn man ihr Geburtsdatum nicht kannte. Kirsten dagegen war alles andere als reizvoll. Sie war ein supermodernes Mädchen, und sie fand es »in«, so lässig wie nur möglich zu wirken.

In verwaschenen Jeans und viel zu weitem Pullover lehnte sie an der Tür zum Schlafzimmer ihrer schönen Mutter.

»Ich würde an deiner Stelle ein Bein herausstrecken, Mama«, sagte sie anzüglich, »und dann die Bettdecke noch etwas weiter herabziehen, damit dein Dr. Norden auch gleich deinen Busen sieht. Und dann –«

»Sei nicht so unverschämt«, fiel ihr Marion heftig ins Wort. »Wenn du nur ein wenig mehr Wert auf dein Äußeres legen würdest, müßte ich nicht –«

»Müßtest du nicht in ständiger Sorge leben, daß ich eine alte Jungfer werde«, wurde sie jetzt von ihrer Tochter unterbrochen. »Aber sei unbesorgt, das kann ich gar nicht mehr werden. Wenn du jedoch nicht willst, daß du bald Großmutter wirst, könntest du mir mal von deinem Leib- und Magenarzt Antibabypillen für mich verschreiben lassen.«

»Kirsten«, schrie Marion Brehmer auf, »das ist unerhört. Wenn das dein Vater wüßte.«

»Sag es ihm doch«, sagte Kirsten frech. »Ich sehe ihn ja kaum.«

Die Debatte wurde unterbrochen. Es hatte geläutet. Kirsten ging zur Tür, da das Hausmädchen Ausgang hatte.

»Na, da ist ja der Heißersehnte«, begrüßte sie Dr. Norden in frivolem Ton und so laut, daß auch ihre Mutter sie hören konnte. »Mama leidet schon Höllenqualen.«

Dr. Daniel Norden kannte Kirsten Brehmer. Er nahm ihren Ton nicht tragisch. Er war noch nicht so weit von dieser Generation entfernt, daß er sie in Grund und Boden verdammt hätte. Er wußte nur zu gut, daß die Teenager ihre Aggressionen auf verschiedene Weise abreagierten.

Durch einen Tränenschleier hindurch blickte Marion Brehmer ihn an. Die Tränen waren sogar echt. Kirsten brachte sie zur Verzweiflung. Sie hätte so

gern eine Tochter gehabt, mit der sie in der Gesellschaft Furore machen könnte.

»Ich komme mit diesem Kind einfach nicht mehr zurecht«, stöhnte sie. »Da muß man ja magenkrank werden.«

»Kirsten ist kein Kind mehr, aber auch noch nicht erwachsen, Frau Brehmer«, sagte Daniel Norden. »Sie ist einfach unreif, weil noch nie Anforderungen an sie gestellt wurden. Nehmen Sie es nicht gar so tragisch. Sprechen Sie lieber mal im gleichen Ton mit ihr.«

»Im gleichen Ton?« fragte Marion empört und ganz vergessend, daß sie ihre dekorative Haltung aufgab. »Jetzt verlangt sie schon, daß ich mir Antibabypillen verschreiben lasse. Für sie natürlich, nicht für mich«, fügte sie pikiert hinzu.

»Dann verschreiben wir ihr eben welche«, erklärte er. »Allerdings müßte sie sich dazu lieber von einem Gynäkologen untersuchen lassen, damit es nicht die falschen sind.«

»So einfach sagen Sie das?« stöhnte Marion Brehmer.

»Kirsten ist doch achtzehn, soviel ich weiß. Anbinden können Sie sie nicht mehr und vorschreiben läßt sie sich sowieso nichts. Antibabypillen sind noch das kleinere Übel. Sind damit Ihre Magenschmerzen wenigstens teilweise behoben?«

Er hatte seine eigene Art, mit seinen Patientinnen umzugehen. Frau Brehmer kannte er jetzt schon ziemlich genau. Er mokierte sich nicht darüber, daß sie so jugendlich wie nur möglich wirken wollte. Er mochte das sogar, denn ihm waren gepflegte Frauen lieber als solche, die sich gehenließen.

»Wenn ich mit meinem Mann doch sprechen könnte, wie mit Ihnen«, sagte Marion Brehmer seufzend.

»Versuchen Sie es mal. Vielleicht ist es ihm lieber, als wenn Sie ihm etwas vorjammern. Nehmen Sie sich nicht alles so zu Herzen«, fuhr er dann besänftigend fort, denn er wußte genau, wann der Zeitpunkt kam, daß er den verständnisvollen Arzt herauskehren mußte. »Sonst bekommen Sie wirklich noch Magengeschwüre, und damit kann man sich verflixt herumplagen. Das gibt auch Falten, und das wollen wir doch nicht.«

Sein Charme war faszinierend. Man konnte ihm nicht widerstehen. Allerdings wußte er auch in solchen Augenblicken Distanz zu wahren.

»Sie meinen also, daß man Kirsten wirklich Antibabypillen geben soll?« fragte Marion Brehmer.

»Vorbeugen ist besser, als ein Fiasko«, erklärte er. »Ich werde nachher selbst mal mit ihr sprechen.«

Nebenbei hatte er ihren Puls gefühlt und den Blutdruck gemessen. »Temperatur haben wir auch nicht«, meinte er lächelnd. »Ich bin drei Tage abwesend. Falls etwas sein sollte, müßten Sie mit Dr. Feldmann vorliebnehmen.«

»Fahren Sie weg? Ach ja, ich habe gelesen, daß das Sanatorium eröffnet wird. Insel der Hoffnung, das klingt vielversprechend. Vielleicht kann ich meinen Mann auch mal zu einer Kur bewegen.«

»Das wäre gar nicht schlecht«, sagte Dr. Norden freundlich.

Dieser Besuch war harmloser verlaufen, als er erwartet hatte, und er hatte nicht lange gedauert. Heute schien Marion Brehmer tatsächlich mehr mit ihrer Tochter beschäftigt zu sein, als Eindruck auf ihn machen zu wollen.

Draußen flegelte sich Kirsten in einem Sessel, die Füße auf den kostbaren Marmortisch gelegt.

»Eigentlich sind Sie in Ordnung«, sagte sie lässig. »Verraten Sie mir mal, wie Sie mit allen Versuchungen fertig werden?«

»Mit welchen Versuchungen?« fragte er gleichmütig. »Ich bin Arzt. Die Anatomie des weiblichen Körpers birgt keine Rätsel für mich.«

»Haha«, machte sie.

»Und auf die Verpackung kommt es auch nicht an«, fuhr er gleichmütig fort. »Ihre Mutter sagte mir, daß Sie Antibabypillen haben wollen. Gehen Sie doch in den nächsten Tagen mal zu Dr. Kent. Wenn Sie wollen, melde ich Sie an.«

Kirsten wurde knallrot. Mit einem Ruck nahm sie die Beine vom Tisch.

»Können Sie mir denn keine verschreiben?« fragte sie mit sehr gekünstelter Forschheit.

»Das überlasse ich lieber dem Facharzt. Er kann besser entscheiden, welches Medikament angebracht ist. Da gibt es nämlich auch verschiedene Sorten, und jeder Körper reagiert verschieden.«

»Ich mag mich aber nicht ausziehen«, stieß Kirsten hervor.

Dr. Norden lächelte. »Dann brauchen Sie ja auch keine Antibabypillen«, sagte er gelassen. »Wiederschauen, Fräulein Brehmer.«

*

Dr. Norden kam eben noch rechtzeitig zum Konzert. Die Türen wurden gerade geschlossen. Aber er hatte ohnehin seinen Platz ganz am Rande, weil er meist zu spät kam und manchmal auch mitten aus einem Konzert herausgeholt wurde. Aber wenn es nur irgendwie möglich zu machen war, ließ er sich keines mit einem guten Solisten entgehen.

Der Saal verdunkelte sich schon. Eine schmale gepflegte Hand legte sich auf Daniels Arm, als er sich niederließ.

»Hast es ja gerade wieder mal geschafft, Dan«, raunte ihm eine weibliche Stimme zu.

Er nahm die Hand und drückte sie flüchtig. Er hatte gewußt, daß Isabel Guntram neben ihm sitzen würde. Das war schon seit mehr als sieben Monaten so.

Er sah nur ganz rasch zu ihr hinüber.

Sie sah apart aus wie immer. Er kannte dieses herbe, eigenwillige Gesicht ganz genau. Isabel war Journalistin, ganz eine Frau dieser Zeit, ohne Sentimentalität mitten im Leben stehend, emanzipiert und nicht darauf bedacht, die Bewunderung der Männer zu erregen. Sie hatten sich im Tennisklub kennengelernt und auf Anhieb gemocht. Intime Beziehungen gab es zwischen ihnen nicht.

Jetzt ließ Daniel sich von den Tönen einfangen und die Umwelt mitsamt Isabel war für ihn versunken. Die Liebe zur Musik hatte er von seinem Vater mitbekommen. Wenn ihm Zeit blieb, setzte er sich auch gern selbst an den Flügel, der in seiner modernen Penthousewohnung einen besonderen Platz einnahm.

Der Solist dieses Abends, der junge Pianist David Delorme, übertraf alle seine Erwartungen. Hingerissen lauschte ihm Daniel, nicht ahnend, wie bald er ihm in einer ganz anderen Situation begegnen sollte.

Die Pause kam, und eigentlich wollte Daniel jetzt gar nichts anderes mehr hören. Er war noch immer völlig in der Faszination dieses jungen Genies gefangen.

»Er ist wirklich phantastisch«, sagte Isabel. »Hoffentlich wird man ihn nicht bald zu Tode managen.«

»Ich möchte gehen«, sagte Daniel rauh.

»Habe ich deine empfindsame Seele verletzt, Dan?« fragte Isabel.

»Den Rest kann ich mir schenken. Das Orchester habe ich schon besser gehört. Gehen wir noch ein Glas Wein trinken?«

»Unter Menschen?« fragte sie mit leichtem Spott.

»Wir können auch zu mir fahren, wenn du willst.«

Sie war überrascht. Diesen Vorschlag hatte er noch nie gemacht, und sie war schon lange neugierig, wie er lebte.

»Wenn nicht eine andere bereits sehnsüchtig wartet«, sagte sie burschikos.

»Sei doch nicht albern. Wer sollte denn warten? Ich habe keinen Harem.«

Nicht um die Welt hätte Isabel es zugegeben, aber sie hatte sich oftmals Gedanken gemacht, mit wem er seine freien Abende verbringen mochte. Gleichgültig war Daniel ihr nämlich nicht, aber sie war nicht die Frau, die sich einem Mann anbot. Sie war viel zu selbstbewußt und zu klug, um sich eine Freundschaft zu verscherzen wegen einer augenblicklichen Stimmung.

Sie fuhren in seinem Wagen. Sie fuhr bei Nacht grundsätzlich nicht, weil sie nachtblind war.

Niemand begegnete ihnen, als sie das moderne Hochhaus betraten.

»Ein Riesenhaus und keine Menschenseele«, bemerkte Isabel, als sie mit dem Lift aufwärts fuhren.

»Ärzte und Büros«, erklärte Daniel in seiner knappen Art. So leger er sich mit seinen Patienten unterhielt, so lakonisch war er im persönlichen Gespräch.

Doch seine Wohnung war hinreißend gemütlich, wie Isabel schnell feststellen konnte.

»Du hast Geschmack«, stellte sie fest.

Daniel lächelte. »Hast du daran gezweifelt?« fragte er.

»Nein, aber ich habe dich in eine kühlere Umgebung hineingedacht.«

»Die habe ich in der Praxis«, lachte er.

Sein Lachen war bezwingend, mitreißend. Isabel hätte auf der Stelle schwach werden können. Sie mußte sich arg zusammennehmen, um ihm nicht um den Hals zu fallen und diesen lachenden Mund mit den schneeweißen gleichmäßigen Zähnen zu küssen.

»Machen wir uns ein bißchen was zu essen«, sagte Daniel. »Ich hatte vorhin keine Zeit mehr.«

Die Küche war supermodern und blitzblank.

»Du scheinst eine Perle zu haben«, stellte Isabel fest. »So ordentlich sieht es bei mir nicht aus.«

»Ich habe mehrere Perlen«, sagte Daniel. »Lenchen, die Papa schon versorgt hat, für die Wohnung, und Molly für die Praxis. Lenchen wohnt auf der anderen Seite.«

Er deutete über den Gang.

»Kann sie uns hören?«

»Nein, sie ist schwerhörig. Du hast doch nicht etwa Komplexe?«

»Vielleicht ist sie eifersüchtig«, scherzte Isabel.

»Da magst du nicht so unrecht haben. Sie wacht wie ein Zerberus über meine Unschuld«, spottete er. »Mosel- oder Rheinwein?«

»Das überlasse ich dir. Kann ich was herrichten?«

»Mach ein paar Toasts«, sagte er. »Schinken, Käse, Ananas. Wenn du was anderes möchtest, bediene dich.«

»Ich bin eine ganz schlechte Köchin«, sagte Isabel kleinlaut.

»Dann mache ich es selbst. Ich bin ein guter Koch.«

Sie sah sich in der Wohnung um. Schöne, wertvolle Teppiche, wenig Bilder an den Wänden, dafür aber um so kostbarere. Die Möbel waren modern, aber ebenso individuell, der Eßraum war jedoch mit herrlichen alten Bauernmöbeln ausgestattet.

»Mach es dir bequem, Isabel«, sagte Daniel, einen Servierwagen vor sich herschiebend.

»Bist du ein Zauberer?« fragte sie, die appetitlichen Toasts betrachtend.

»Der perfekte Junggeselle«, sagte er.

»Mit Lenchen als Perle.«

»Sie braucht nur aufzuräumen. Sie läßt sich auch gern mal von mir verwöhnen.«

»Das würde wohl manche andere auch gern haben«, sagte Isabel. »An Heiraten denkst du wohl nicht, Dan?«

»Wenn ich mal daran denke, möchte ich mich verwöhnen lassen«, erwiderte er.

Es traf Isabel wie ein Stich. In diesem Augenblick wünschte sie, eine ganz andere Frau zu sein, eine, die seinen Vorstellungen entsprach. Daß dies nicht

der Fall war, wußte sie jetzt ganz genau.

Sie war achtundzwanzig Jahre, erfolgreich im Beruf und nicht unvermögend. Sie konnte sich alles leisten, und sie hätte jeden Mann haben können, der ihr gefiel.

Nur Daniel Norden nicht. Das wurde ihr jäh bewußt.

»Wie stellst du dir deine Frau vor?« fragte sie.

»Gar nicht«, erwiderte er. »Es müßte wie ein Blitz aus heiterem Himmel kommen. Die oder keine! Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe.«

»Und nebenher sammelt man Erfahrungen«, bemerkte Isabel beiläufig.

»Man gibt ab und zu Stimmungen nach«, erwiderte Daniel mit umwerfender Offenheit. »Du bist ein guter Kamerad, wenn ich es so nennen darf. Weißt du, daß du die einzige Frau bist, vor der ich Respekt habe?«

Wenn es ein anderer gesagt hätte, sie hätte sich geehrt gefühlt. Ihr wäre es jedoch lieber gewesen, wenn Daniel keinen Respekt vor ihr hätte.

Er hob sein Glas. »Auf unsere Freundschaft, Isabel. Wenn der Blitz mich nicht trifft, werde ich am Ende meines Lebens wenigstens sagen können, daß ich eine phantastische Freundin hatte. Wird es so bleiben?«

»Okay, Dan«, erwiderte sie, obgleich sie gern etwas anderes gesagt hätte.

»Und wenn du den Mann fürs Leben findest, wird unsere Freundschaft dann auch halten?« fragte er.

»Ich würde ihn nicht heiraten, wenn er etwas dagegen hätte«, sagte Isabel.

Er sah sie nachdenklich an. »Einen anderen Mann würde ich dir auch nicht wünschen. Du brauchst einen, der alles akzeptiert. Einen, der Format hat und dem du doch um einen Hauch überlegen bist. Sonst wärest du nicht glücklich,

Isabel.«

»Meinst du? Du kennst mich anscheinend besser, als ich mich selbst kenne«, sagte sie ironisch. »Vielleicht möchte ich auch nur eine Frau sein.«

»Du bist viel zu gescheit, um nicht alles abzuwägen.«

Ob er jede Frau so nüchtern beurteilt? ging es Isabel durch den Sinn. Gibt es denn wirklich keine, die ihn aus seinem Gleichgewicht bringen kann? Sieben Monate kannte sie ihn nun schon. Sie hatte ihn auf dem Tennisplatz erlebt und manchmal auch auf Parties, umgeben von reizvollen Mädchen und verführerischen Frauen. Er hatte eine ganz besondere Art zu flirten, aber seltsamerweise konnte sie sich ihn nicht als glühenden Liebhaber vorstellen.

Er schien es gar nicht zur Kenntnis zu nehmen, daß sie nun schon geraume Zeit schwiegen.

»Ich werde mir morgen gleich einige Schallplatten von David Delorme kaufen«, sagte er plötzlich unmotiviert, und sie konnte daraus nur entnehmen, daß er mit seinen Gedanken wieder bei dem Konzert war.

»Wenn es schon welche gibt«, sagte sie. »Hoffentlich ist er nicht schon fertig, bevor es überhaupt zu Aufnahmen kommt.«

»Du hast schon vorhin so eine Andeutung gemacht. Worauf spielst du an? Was weißt du von ihm?«

»Ausnahmsweise wohl etwas mehr als du. Sein Aufstieg begann raketenschnell. Das fasziniert natürlich die Zeitungsschreiber. Ich habe in England einige Artikel über ihn gelesen. Er stammt aus kleinsten Verhältnissen. Er hat sich sein Studium mit schwerster Arbeit verdient. Für einen Pianisten nicht so gut, möchte man meinen, aber die Empfindsamkeit seiner Finger scheint darunter nicht gelitten zu haben. Jedenfalls fand er dann eine Mäzenin. Die Frau ist doppelt so alt wie er, und da er nicht nur ein guter Pianist ist, sondern auch ein ganz interessanter Junge, wird sie ihn wohl nicht aus reinster Nächstenliebe an sich fesseln.«

»Sei nicht so frivol, Isabel«, warf Daniel ein.

»Ich nenne die Dinge beim Namen. Meiner Ansicht nach ist der Aufstieg für ihn ein bißchen zu rasch gekommen. Man wird ihn umschwärmen, und Ruhm ist schon manchem in den Kopf gestiegen.«

»Es wäre schade um dieses Talent«, sagte Daniel nachdenklich, »aber du magst recht haben.«

»Und dann ist da noch die Frau, die ihn so ziemlich als ihr Produkt betrachtet. Sie heißt übrigens Lorna Wilding.«

»Der Name sagt mir nichts.«

»Witwe des englischen Stahlmagnaten«, erklärte Isabel, »schwerreich. Es wird ihr aber nicht gefallen, daß sich jetzt auch noch junge, hübsche und reiche Mädchen um David Delorme scharen.«

»Gesellschaftsklatsch«, bemerkte Daniel anzüglich.

»Das bleibt nicht aus, aber zufällig weiß ich ziemlich genau Bescheid. Ich habe es kürzlich in Paris erlebt, wie sie ihm eine Szene gemacht hat. Dieser begabte junge Mann ist ihr in bezug auf Selbstbewußtsein nicht gewachsen. Ich könnte mir auch vorstellen, daß es gewaltig auf die Nerven geht, von einem Konzert zum andern gejagt zu werden. Der englische Konsul gibt übermorgen einen Empfang für ihn. Du könntest kommen und dir David Delorme aus der Nähe begucken. Wie wär’s?«

»Ich fahre zur Einweihung des Sanatoriums«, erklärte Daniel.

»Übermorgen schon?«

»Du bist doch sonst immer bestens informiert«, sagte er lächelnd.

»Ich bin gestern erst aus Paris zurückgekommen, und alles weiß ich eben auch nicht. Die Presse ist wohl unerwünscht?« fragte sie hintergründig.

»Einen Wirbel wollen wir nicht gleich veranstalten. Die Insel der Hoffnung soll kein Treffpunkt der Snobs werden, sondern eine Oase des Friedens.«

Diesmal machte sie keine spöttische Bemerkung.

»Du willst, daß der Lebenstraum deines Vaters verwirklicht wird«, sagte sie, »aber hättest du das nicht besser gekonnt, wenn du die Leitung selbst übernommen hättest?«

»Cornelius hat mehr Erfahrung«, sagte Daniel kurz.

»Wäre es dir unangenehm, wenn ich kommen würde, Dan?« fragte Isabel.

»Durchaus nicht, aber willst du denn auf den Empfang verzichten? Berühmte Leute wirst du bei uns auch nicht antreffen.«

»Immerhin könnte eine diskrete Werbung doch recht nützlich sein. Für wieviel Patienten ist dort Platz?«

»Achtzig, aber es ist kein Sanatorium im üblichen Sinn. Es steht dir frei, es dir anzusehen.«

»Bedarf es denn keiner offiziellen Einladung?« fragte Isabel.

»Doch nicht für die engsten Freunde. Ich nehme Molly und eine Patientin mit.«

Das nahm sie als Hinweis, daß er sie nicht auch mitnehmen könne. Ein diskreter Hinweis. Was für eine Patientin mochte das sein?

Ob er auch Gedanken lesen konnte? »Die Patientin ist übrigens ein altes Mütterchen, achtzig Jahre, und sie war meine erste Patientin«, erklärte er beiläufig.

Unwillkürlich errötete Isabel. »Vormittags könnte ich sowieso noch nicht weg. Vielleicht wird mir die besondere Ehre zuteil, David Delorme interviewen zu dürfen, falls Mrs. Wilding einen weiblichen Journalisten akzeptiert. Mich interessiert unser Genie auch.«

»Der Pianist oder der Mann?« fragte Daniel.

»Der Pianist natürlich. Aber ich denke, daß es jetzt schon reichlich spät ist. Bestellst du mir ein Taxi, Dan?«

»Ich bringe dich selbstverständlich heim.«

»Zum andern Ende der Stadt? Das ist doch Unsinn. Nein, ich fahre mit dem Taxi.«

»Wie du willst«, sagte er.

Wenn er doch nur zu durchschauen wäre, dachte Isabel, als sie auf der Heimfahrt im Taxi über diesen Abend nachdachte.

Dr. Daniel Norden dachte über David Delorme nach, dessen Spiel ihn so ungeheuer beeindruckt hatte. Verinnerlicht hatte dieser junge Mann gewirkt, scheu und ungelenk, jeden Effektes abhold, hatte er sich verbeugt.

Daniel konnte sich nicht vorstellen, daß ein solcher Künstler sich von einer Frau abhängig machte. Mit den berauschenden Tönen in den Ohren schlief er ein. An Isabel dachte er nicht mehr.

*

»Beeilung, Kinder«, rief Helga Moll, »es ist halb acht Uhr. Ihr müßt zur Schule.«

Katrin, die Zwölfjährige, kam kauend in die Diele. Sie aß für ihr Leben gern, was sich auch äußerlich bemerkbar machte, denn sie war ein richtiger kleiner Pummel.

Der fünfzehnjährige Peter dagegen war mager und hoch aufgeschossen. Er maulte vor sich hin.

»Sei doch nicht immer so mürrisch, Peter«, sagte Helga.

»Diese dämliche Schule«, knurrte er. »Wenn ich mir vorstelle, was Oma wieder rummeckern wird, wenn sie erfährt, daß ich in Latein nicht mitkomme. Muß das denn sein, Mutti?«

»Später würdest du mir mal Vorwürfe machen, wenn ich dich nicht auf die Oberschule geschickt hätte«, sagte Helga. »Jetzt jammere nicht herum, sondern geh.«

»Und nimm dir ein Beispiel an mir«, sagte Sabine, »ich habe mein Abi mit achtzehn gemacht. Du bist sowieso schon ein Jahr hinterher.«

»Das gnädige Fräulein«, brummte er, »wenn sie sich bloß nicht so aufspielen würde. Tschüs«, und er war draußen.

»Mach dir nichts draus, Mutti«, sagte Katrin. »Morgens ist er immer ungenießbar.«

Sie war eher phlegmatisch. Sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

»Kommst du heute nicht, kommst

du morgen«, rief Sabine hinter ihr

her, aber Katrin nahm keine Notiz davon.

»Du mußt auch nicht ständig an den beiden herumnörgeln«, ermahnte Helga ihre Älteste, die ein bildhübsches Mädchen war und seit zwei Wochen als Volontärin in einer Zeitungsredaktion beschäftigt war.

»Du bist schon geplagt mit den Kleinen«, sagte Sabine.

»Und du machst mir wohl gar keine Sorgen«, bemerkte Helga leicht gereizt.

»Wenn du wieder auf Lutz anspielst, verziehe ich mich auch schleunigst«, sagte Sabine trotzig.

»Ich fahre heute sowieso nicht in die Praxis«, meinte Helga.

Sonst verließen sie immer gemeinsam das Haus. »Warum nicht?« fragte Sabine überrascht.

»Weil Dr. Norden mir freigegeben hat. Morgen fahren wir doch zur Insel, falls dir das entfallen sein sollte.«

»Es ist mir nicht entfallen«, sagte Sabine spöttisch. »Du freust dich wohl mächtig, daß du uns ein paar Tage nicht zu genießen brauchst.«

Manchmal hatte sie einen Ton an sich, den Helga nicht mochte, aber es war besser, sich mit Sabine nicht anzulegen. Bei ihr wechselten die Stimmungen rasch.

»Du mußt nicht alles gleich so tragisch nehmen, Mutti«, sagte sie jetzt auch versöhnlich. »Es ist jetzt nun mal anders, als in eurer Jugendzeit.«

Sabine verschwand nochmals im Bad. Als sie wieder erschien, hatte sie Lidschatten und Make-up aufgelegt, die Wimpern schwarz getuscht und eine Parfümwolke umwehte sie.

Sie trug helle Jeans und einen hautengen Pulli, was sie sich allerdings auch leisten konnte, denn sie hatte im Gegensatz zu Katrin eine knabenhaft schlanke Figur. Das hellblonde, seidige Haar fiel weit über den Rücken herab.

Ohne Make-up gefiel sie ihrer Mutter besser, aber Helga hatte es sich abgewöhnt, daran Kritik zu üben.

»Dann ade, Mutti«, sagte Sabine, die wohl doch auf solche Kritik gewartet hatte.

»Komm heute bitte pünktlich«, sagte Helga. »Du weißt doch, daß Omi kommt.«

»Ich weiß, ich weiß«, und dann war auch sie draußen.

Helga war froh, daß sie Zeit zum Aufräumen hatte. In jedem Zimmer herrschte die gleiche Unordnung. Wieder einmal war sie froh, daß die Wohnung wenigstens so groß war, daß jeder seinen eigenen Raum hatte. Dank der großzügigen Unterstützung ihrer Eltern hatte sie die verhältnismäßig teure Wohnung auch nach ihrer Scheidung behalten können.

Sie hätte nicht zu arbeiten brauchen, wenn sie sich bereitgefunden hätte, zu ihren Eltern zu ziehen, die in einem ländlichen Vorort ein sehr schönes, großes Haus besaßen. Aber sie hatte noch weit größere Schwierigkeiten vorausgesehen, wenn sie alle unter einem Dach lebten, ganz abgesehen davon, daß es für die Kinder wegen der Schulen ungünstig gewesen wäre.

Sie wollte auch ihre persönliche Freiheit wahren, nachdem sie damals, vor fünf Jahren, endlich die Konsequenzen aus einer mißglückten Ehe gezogen hatte, in der sie immer draufzahlte, mit Geld und mit Gefühlen. Heinz Moll war ein Traumtänzer gewesen, mit großen, hochfliegenden Plänen, von denen er nie einen verwirklicht hatte. Ohne großen Einsatz schnell zu viel Geld zu kommen, war sein Traum gewesen, für Helga war es ein Alptraum geworden.

Er war nicht ganz aus ihrem Leben verschwunden. Er kam regelmäßig, um die Kinder zu sehen, und manchmal auch, um sie anzupumpen; und sie ärgerte sich, daß sie dann immer wieder nachgiebig wurde und ihm aushalf, ohne jemals einen Pfennig wiederzubekommen.

Bis sie die Wohnung aufgeräumt hatte, war es mittag geworden. Die Kinder mußten bald aus der Schule kommen. Das Essen hatte sie schon vorbereitet.

Mittags war sie immer daheim. Dr. Norden sorgte dafür, daß sie pünktlich heimkam, auch wenn in der Praxis Hochbetrieb war. Er war froh, eine so tüchtige und zuverlässige Kraft zu haben, und er hatte auch Verständnis für ihre häuslichen Sorgen.

Es läutete, und Helga blickte schnell auf die Uhr. Eigentlich war es noch ein bißchen zu früh, als daß es die Kinder schon sein könnten.

Doch vor ihr stand ihr geschiedener Mann. Heinz Moll sah noch immer recht annehmbar aus, und heute auch besonders gepflegt.

»Fein, daß ich dich antreffe«, sagte er. »Sind die Kinder schon zu Hause?«

»Nein, was willst du? Geld kann ich dir nicht geben, diesmal nicht.«

»Sei doch nicht so böse«, sagte er schmeichelnd. »Ich will dir was bringen, Helgalein.«

Sie starrte ihn an. »Bist du schon am Vormittag betrunken?« fragte sie, denn das gehörte auch zu seinen Schwächen.

»Daß du immer nur schlecht von mir denken mußt«, sagte er. »Ich will dir wirklich Geld bringen, Helga.«

»Woher hast du es?« fragte sie mißtrauisch.

»Du wirst zwar wieder was dran auszusetzen haben, aber ich habe es beim Pferderennen gewonnen. Große Dreierwette, über dreizehntausend Mark. Na, ist das was?«

Er war unverbesserlich. Er würde sich nie ändern. Aber was sollte sie ihm Vorhaltungen machen. Sie war geschieden.

»Ich dachte, wir könnten uns ein schönes Wochenende machen, wir alle zusammen«, fuhr er fort.

»Halt das Geld zusammen und fang etwas Vernünftiges damit an«, sagte Helga. »Außerdem bin ich am Wochenende nicht da.«

Er kniff die Augen zusammen. »Hast du dir einen andern angelacht?« fragte er gereizt.

»Das fehlte noch. Ich habe für alle Zeiten genug. Ich fahre mit meinem Chef zur Einweihung des Sanatoriums. Übrigens kommt Mutter. Sie wird bald hier sein.«

Damit konnte sie ihn abschrecken. Vor seiner ehemaligen Schwiegermutter hatte er einen höllischen Respekt.

»Da hast du einen Tausender«, sagte er großmütig. »Kauf den Kindern was Schönes. Ich komme nächste Woche mal vorbei. – Helga, wenn ich nun was auf die Beine bringe, könnten wir es dann nicht noch mal versuchen?«

»Hör auf damit«, sagte sie abweisend. »Wie gewonnen, so zerronnen. Ich kenne dich.«

»Gib mir doch eine Chance«, sagte er kleinlaut.

»Nein!«

Es klang so energisch, daß er zusammenzuckte. »Na dann, ein schönes Wochenende und sag’ den Kindern schöne Grüße.«

Aber die Kinder hatte er dann auf der Straße noch getroffen. Sie kamen mit Verspätung angestürmt. Er hatte jedem zwanzig Mark geschenkt, und das konnten sie nicht fassen.