Mord hat Hauptsaison
Ich wollte, es wäre Nacht
Personenverzeichnis
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Archibald Duggan und der schnelle Tod
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Der Abgrund so nah
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Der Autor Horst Bosetzky
Krimi-Sonderedition Band 1
3 Romane in einem Band
von Horst Bosetzky
IMPRESSUM
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
© Roman by Author
© Cover: unsplash und Kathrin Peschel, 2019
Korrektorat, Zusammenstellung: Kerstin Peschel
© dieser Ausgabe 2019 by Alfred Bekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
www.AlfredBekker.de
postmaster@alfredbekker.de
Dieser Band beinhaltet folgende Krimis:
Ich wollte, es wäre Nacht
Archibald Duggan und der schnelle Tod
Der Abgrund so nah
***
Klappentext:
Man will es nicht glauben: Gottfried und Joana sitzen ganz schön in der Tinte, denn sie hatten sich bei dem pensionierten Beamten Dolgenbrodt eingenistet und ihm bei seinen alltäglichen Beschäftigungen geholfen. Seine Rente reichte glatt für drei Personen. Und nun liegt er tot am Fuße der Aluleiter. Das sieht verdammt nach einem Mord aus. Natürlich wird der Verdacht sofort auf sie fallen. Aber was noch schlimmer ist: Ihr Leben wie die Maden im Speck ist damit abrupt zu Ende!
Also beschließen sie, seinen Tod zu vertuschen, um weiter die Pension kassieren zu können.
Aber einen Toten am Leben zu erhalten kann schwerer sein, als einen Lebenden zu töten. Diese Erfahrung bringt beide in arge Bedrängnis – besonders wenn sich eine ältere Dame in den Kopf gesetzt hat, den pensionierten Beamten Dolgenbrodt zu heiraten …
***
Herbert Dolgenbrodt – stirbt zum völlig falschen Zeitpunkt
Joana und Gottfried Mörz – graust vor nichts mehr als vor Arbeit
Gerda Großmann –möchte eine alte Liebe neu entfachen
Hagen Plottka – unterwandert die Bürokratie mit Menschlichkeit
Verena Zietz – hilft ihm dabei, so gut sie kann
Ulli Witt und Waltraud Terletzki – leiden still vor sich hin
Krücken-Kutte, Zwiebel-Else, Mi-mi-mi, Trabbi, Pizza, Schulle mit der Ratte – kämpfen einfallsreich ums Überleben
Gisela Roggensack – ist die Schikane in Person
Thomas Hundt und Petra Zechow – agieren als dynamisches Duo der Polizei
***
Es war ein Mittwoch im September und noch immer Sommer in Berlin. Wer Zeit und Muße hatte, Wessis, Ossis, Rentner, Hedonisten, und einen Zwanzigmarkschein in der Tasche, konnte draußen auf den nachgemachten Bistrostühlen hocken und den Ku’damm pur genießen, brauchte nicht die infrarotbeheizten Schankveranden mit ihren Filtern aus Glas.
Gottfried ließ seinen Beaujolais, Saint-Etienne-de-la-Varenne, Bonbonlange im Mund, ehe er den letzten Schluck runter in die Kehle rinnen ließ, hob das leere Glas gegen die Gedächtniskirche und sagte mit schönster Schaubühnenstimme: „Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein! / Du strahlst mir, durch die Binde meiner Augen, / Mir Glanz der tausendfachen Sonne zu! / Es wachsen Flügel mir an beiden Schultern / Durch stille Ätherräume schwingt mein Geist; / Und wie ein Schiff, vom Hauch des Winds entführt / Die muntre Hafenstadt versinken sieht / So geht mir dämmernd alles Leben unter …“
„Na, hoffentlich nicht!“, lachte Joana und prostete ihm mit ihrer eisgekühlten Coca-Cola zu. „Der Prinz von Homburg, na … Nieder mit dieser Dekadenz, es lebe die imperiale Kraft Amerikas. Coke – is it!“
Sie schwiegen, als ahnten sie, dass dies die Ouvertüre ihres nächsten Lebensabschnitts war und als solche schon die großen Themen offenbarte.
„Warum lieben wir es so, hier am Ufer des Kurfürstendamms zu hocken?“, fragte Gottfried und versuchte, die angefeuchtete Kuppe seines rechten Zeigefingers so über den Rand des Rotweinglases streichen zu lassen, dass ein durchdringend hoher Ton entstand. „Alles strömt an uns vorbei, und wir verharren im wohligen Stillstand. Nicht ganz im Stillstand, nein, aber unsere Uhren gehen doch um ein Vielfaches langsamer als die der meisten anderen …“
Joana legte ihre Hände auf die seinen. „Muss ich nun über deine Reflexion reflektieren …?“
Er beugte sich über den kleinen Tisch hinüber, dass er mit der Brust die Karaffen und Gläser verschob, und küsste sie. „Musst du.“
„Der Kurfürstendamm: Urbanität, New York, das sorgt ein jedes Mal für eine hübsche Endorphin-Ausschüttung.“
„Was ist das?“
Joana liebte das Dozieren. „Endorphin, das ist inneres, körpereigenes Morphium, das, was uns die großen Glücksgefühle schenkt: beim Orgasmus, beim Marathonlauf, beim Zocken, beim Bergsteigen – und beim Sterben …!“
„… was wir uns bitte bis zum Schluss aufheben wollen!“ Gottfried schnipste mit den Fingern. „Frau Oberin, wir hätten gerne gezahlt.“
„So schnell schon …?“ Joana sah auf die Uhr. „Ach Gott, ja, gleich fünf …!“
„Und wir müssen noch zum Heidelberger Platz, sehen ob wir die Zange für Onkel Herbert kriegen.“
Onkel Herbert war kein leiblicher Onkel, sondern ihr „Wohnungsgeber“ Herbert Dolgenbrodt, und bei der besagten Zange handelte es sich auch um keine Kneif-, Flach- oder Rohrzange, ein Werkzeug also im engeren Sinne, sondern um ein wichtiges Requisit des Berliner S-Bahn-Betriebes früherer Jahre: die Knipserzange, an jedem Bahnhofzugang von blauberockten Beamten in ihren vieleckigen hölzernen Verschlägen, den sogenannten Wannen, in der Hand gehalten, um damit in die zugereichten gelben Pappfahrkarten zwecks Entwertung den Bahnhofsnamen zu stanzen; so zum Beispiel: Ah für Anhalter Bahnhof, So für Sonnenallee oder Ni für Nikolassee. Wer über eine solche Zange verfügte, war insofern Herr über das Schicksal anderer Menschen, als er ihnen das Reisen gestatten oder aber auch schnauzend untersagen konnte. Bei vielen der Berliner Jungen hatte der majestätisch-hoheitsvolle Akt des Knipsens einen derart starken Eindruck hinterlassen, dass sie sich noch Jahrzehnte später den Besitz einer solchen Zange erträumten; so auch Herbert Dolgenbrodt, der sich anschickte, Anfang Oktober dreiundsechzig zu werden.
„Dieser Automat hier ist doch lächerlich dagegen“, sagte Joana, als sie auf dem U-Bahnhof unten ihre Sammelkarte in den Entwerterschlitz steckte und das grelle Plink vernahm. „Kein Kind wird das später mal nachspielen wollen.“
„Damit haben wir nicht nur Hunderte von Arbeitsplätzen verloren, sondern auch ein Stückchen Kultur.“
„Wenn Betriebswirte herrschen, kannst du halt nichts anderes erwarten!“
Sie fuhren S- und U-Bahn nicht nur, weil sie sich kein Auto leisten konnten oder wollten, sondern vor allem auch aus Überzeugung: Da konnten sie in aller Ruhe sitzen und schauen, lesen oder schlafen.
Schon auf der nächsten Station, Spichernstraße, verließen sie die nüchtern-moderne Linie 9 und stiegen um zur Linie 2, dem Prunkstück des Berliner U-Bahn-Netzes, prunkvoll schon lange vor der Metro in Moskau, Grundsteinlegung 1909, als die damals noch selbständige Gemeinde Wilmersdorf mal so richtig protzen wollte und dem armen Berlin zeigen, was ’ne Harke ist, aber auch deswegen so ins Monumentale geriet, um gutbetuchte Bürger in die neu entstehenden Stadtviertel zu locken. Hohenzollern-, Fehrbelliner und Breitenbachplatz: teure Natursteine mussten es sein, Muschelkalk, Granit und Marmor sogar, Riesenportale mit Adlern darauf, Stuckdecken, kunstgeschmiedete Tore und Mosaik, wo immer es ging.
Heidelberger Platz. An der pompösesten aller Stationen stiegen sie aus, fühlten sich von der U-Bahn wie in einen Rats- oder Weinkeller versetzt, wenn nicht gar in einen Dom: So gewaltig wirkte hier das Kreuzgratgewölbe, doppelt noch, mit seinen gedrungen-massigen Pfeilern, und wie ein Spielzeug erschien in dieser Kulisse ihr dottergelber Zug.
„Wir hätten gleich bis Thielplatz weiterfahren sollen“, sagte Joana. „Der von Struppe & Winkler hat vorhin angerufen, dass das Buch da ist.“
„Was’n für ’n Buch?“, fragte Gottfried.
„Dittberner: FDP-Partei der zweiten Wahl …“
„Fährst du morgen hin. Ob du nun dein Referat in diesem Semester nicht hältst oder im nächsten, kommt doch aufs selbe raus …“ Dies sagte er ohne jeden Spott und ohne jede Schärfe so nebenher, denn schon längst stand er fasziniert vor der museumsalten „Personenwaage“, die hier auf dem Bahnhof Heidelberger Platz zwei Weltkriege, eine Art Revolution, die Weltwirtschaftskrise, die Nazis, die Nachkriegsnot, die Berliner Blockade und die Beutezüge der Nostalgie-Sammler unbeschadet überstanden hatte. „Auf der wollt ich mich schon lange mal wiegen …“
„Mit Sachen an bringt das doch nichts …“
„Wenn’s weiter nichts ist …“
Und Gottfried zögerte keine Sekunde, sich sämtliche Kleidungsstücke vom Körper zu reißen und die hingestreckten Arme seiner Frau als Kleiderständer zu verwenden. Splitterfasernackt stand er dann auf dem geriffelten Tritt, steckte seine zwanzig Pfennig in den Schlitz, vernahm voller Entzücken das Rattern, Dröhnen und Rauschen im Innern des Monstrums, sah, wie sich das blitzende Gestänge hob und senkte, in Zahnräder griff, Gewichte in Bewegung setzte und zuletzt zornig rumpelnd in einen Blechkasten fuhr, den Drucker, nur damit der dann ein kleines Pappkärtchen ausspucken konnte. „77 Kilo …“
Joana schüttelte den Kopf. „Du bist und bleibst ein Kind …!“
„Na, Gott sei Dank“, erwiderte Gottfried. „Lass mich der neuen Freiheit genießen / Lass mich ein Kind sein, sei es mit!“ Währender noch darauf hinwies, dass das aus Schillers „Maria Stuart“ sei, beeilte er sich schon, wieder in Slip sowie Hemd und Hose zu schlüpfen, denn nun kam der Stationsvorsteher angestürmt, von einer Wilmersdorfer Witwe mit dem Schreckensruf in Bewegung gesetzt, dass da in seinem Revier ein Exhibitionist sein Unwesen triebe.
„Ich soll Sie wohl zur Anzeige bringen!“, schnauzte der Beamte.
Gottfried breitete die Arme aus. „Bruder, lass uns lernen, einander so anzunehmen, wie wir sind. Versuche nicht, uns Fahrgäste nach deinem Bilde umzuformen! Denn siehe: Wer die Nase hart schnäuzt, zwingt Blut heraus; und wer den Zorn reizt, zwingt Hader heraus! Salomo 30, 33 …“
Der Mann murmelte: „… wieder ’n Irrer …!“ und floh in sein Häuschen zurück.
„Nun aber los!“, mahnte Joana, und sie liefen zum Ausgang.
Oben in der Mecklenburgischen Straße wohnte Speiche, ein spindeldürrer Eisenbahnfreak, an die fünfzig schon, der Gefühlsorgasmen bekam, wenn er die 01 x 100, eine der wenigen betriebsfähigen Lokomotiven der Deutschen Bundesbahn, einmal streicheln durfte. Bei dem nun hatte sich Herbert Dolgenbrodt schon vor Langem eine alte Knipserzange bestellt, wenn irgend möglich sogar noch mit der Kennung Fh (Frohnau), seinem Heimatbahnhof“. Nun endlich hatte Speiche sie im „Fahrgastforum Beusselstraße“ einem anderen Fan abtauschen können, und da die veranschlagten 570 DM schon auf sein Konto überwiesen worden waren, stand der feierlichen Übergabe nichts mehr im Wege.
„Da kommta ja endlich anjedampft!“, rief Speiche, im Hauptberuf Vervielfältiger beim Senator für Inneres. „Ewije Studenten und nie Zeit ham …! Wie jet det’en Herberten nach seine Pensionierung? Kanna wieda bessa loofen …?“
„Nein, eigentlich nicht. Er geht selten raus, und wenn er das Haus verlässt, dann nur mit einer Gehstütze aus Stahl.“
„Na, zum Jlück hatta euch beede ja. Ihr habt euch ja ooch jesucht und jefunden!“ Speiche schlug Gottfried so gewaltig auf die Schulter, dass der eine halbe Stunde lang Rückenschmerzen hatte.“Könnta ja noch ’n Weilchen studieren … Langer Rede, kurza Sinn: Hier habta die Zange, und im Winta, wenn ick mein Boot einjemottet habe, komm ick ma selba raus.“
Damit waren sie entlassen und machten sich mit dem inzwischen gut eingewickelten Geburtstagsgeschenk auf den Weg zur nahebei gelegenen Haltestelle des 6ers, um mit dem Bus schnell zum Bahnhof Schöneberg zu fahren, von wo die S-Bahnlinie 1, der pinkfarbene Strich im Streckennetz, nach Norden führte, in 40 Minuten hinauf nach Frohnau.
19 Uhr 13. Von Friedenau her schob der Zug, inzwischen über fünfzig Jahre alt, aber im vorletzten Jahre noch einmal kräftig geliftet, mit abschwellendem Fahrgeräusch sein kantiges Nietengesicht dicht an der Bahnsteigkante entlang, das trübe Khaki zum Sandgelb aufgehellt und rot wie ein Rubin nun das alte Ochsenblut, und sie ließen sich auf die angenehm geschwungenen Holzbänke fallen.
Als sie anfuhren, machte Gottfried nach, wie die Motoren aufbrummten, erst dumpf, dann immer heller wurden. „Ööööhhh …“
Keiner drehte sich um. Das war das Schöne an Berlin, wie beide fanden.
„Mythos S-Bahn“, sagte Joana. „Hat denn der RIAS schon was verlauten lassen …? Von deinem Hörspiel, mein ich …“
Gottfried kratzte am Schildchen „Nicht hinauslehnen“ herum. „Sie haben es weder gut noch schlecht gefunden. Keine Zeile von ihnen …“
„Das ist doch aber ’ne Unverschämtheit!“, erregte sich Joana.
„Wieso …?“
„Dass man ’nem jungen Autor nicht mal ’n paar Zeilen schreibt.“
„Konnten sie doch gar nicht“, wandte Gottfried ein.
„Wieso konnten sie nicht?“
„Weil ich’s noch gar nicht abgeschickt habe, Feigling ich …“ Fr verbarg sein Gesicht hinter dem Kragen seiner Jeansjacke. „Solange ich ein Manuskript noch zu Hause liegen habe, bin ich der Größte, voller Hoffnung, voller Zuversicht … Und das ist doch ein herrlicher Zustand, oder? Schick ich’s aber weg, kommt es zurück, und ich stürze in ein Schwarzes Loch hinab.“ Dieses Bild kam ihm wohl, weil sie gerade in den legendären Nord-Süd-Tunnel hinunterglitten. „Was ist nun klüger? Liegen lassen natürlich, denn: Schön ist die Welt doch immer nur als Vorstellung … Aua, aua – Schopenhauer!
„S-Bahn ist doch immer wieder ’n schönes Thema, und die Idee, dass sich einer den berühmten S-Bahn-Mörder von damals zum Vorbild nimmt, die ist doch prima, das Nebeneinander der beiden Ebenen …“
Iglu-weiß und in gletscherschimmerndem Türkis die Pfeiler, so hatten sie den Anhalter Bahnhof, das heißt: die unterirdische S-Bahn-Anlage, wieder instand zu setzen gewusst, einschließlich des Stationsnamens an den Wänden in schwarzer Nazi-Fraktur; eröffnet worden war ja nun mal im Jahre 1939.
Gottfried lenkte vom Thema ab, indem er ihr erklärte, dass sie gerade eben die am Ende des Kriegswahnsinns gesprengte Unterführung des Landwehrkanals passiert hätten („Der ganze Tunnel voller Wasser, viele ertrunken; siehe Wolfgang Staudtes Rotation …“), kehrte aber im selben Atemzug auch wieder zum Thema seiner Schreibsucht zurück: „Hier oben hab ich mal bei Siemens angefangen. Und nur davon geträumt, den Schreibtisch mal mit ’ner Schreibmaschine zu vertauschen …“
„Du bist doch auch ’n großes Talent, und solange die Symbiose mit Onkel Herbert noch hält, hast du ja Zeit für deinen großen Roman …“ Joana, die neben ihm saß, rückte ihm die Nickelbrille gerade und küsste ihn zärtlich. „Ein bisschen siehst du aus wie Dschingis-Khan und ein bisschen wie Rilke – das muss doch was geben!“
„Na, du erst: halb Rita Süssmuth, halb Sophia Loren!“ Er küsste zurück.
„Warte mal ab!“
„Sag ich ja immer: Warten ist alles, am Ziel sein ist nichts!“
Das Vier-Wagen-Züglein mühte sich weiter, stieß furchtlos in den ungepflegten Stollen hinab, um – bis auf den Potsdamer Platz – alle diejenigen Stationen in der Ehemals-DDR anzufahren, die vor Kurzem noch als sogenannte Geisterbahnhöfe gottverlassen dagelegen hatten, von Friedrichstraße abgesehen, dem Grenzübergang, um sich dann am unsprengbaren Bunker im Humboldthain mit lautem Hupton am Tageslicht zurückzumelden.
„Schön gruselig ist es hier …“ Joana schüttelte sich. „Und das erst im Kriege, als sie alles total verdunkelt hatten. So der richtige Tatort für den S-Bahn-Mörder: mit ’nem Bleikabel auf die Frauen los und sie dann aus’m Zug gestoßen …“
„Das war nicht hier“, belehrte Gottfried sie. „Das war doch auf der Strecke nach Erkner, so zwischen Karlshorst und Köpenick. Hier aber, nächste Station, Gesundbrunnen, wäre unser lieber Onkel Herbert beinahe Opfer geworden …“
„Des S-Bahn-Mörders doch nicht …?“
„Nein, der schnell schließenden Tür. Vor vierzig Jahren, ’n junger Spund ist er noch gewesen, kommt er mit seinem Verein vom Fußballspiel zurück, ziemlich besoffen, weil sie wieder mal gesiegt hatten … Hat er dir die Geschichte nie erzählt?“
„Nein.“
„Na, kein Wunder. Muss er dringend pinkeln, das viele Bier, will aber nicht aussteigen und die Mannschaft verlassen, reißt er also die Tür auf der vom Bahnsteig abgewandten Seite auf … Ein wahrer Wasserfall, es nimmt kein Ende mehr. Da knallen die Türen plötzlich zu. Abfahren! Und er wird eingeklemmt: rechte Hand und Pimmel.“
„Gott, darum hat er also keine Kinder!“
„Weiß ich nicht. Lag wohl eher an seiner Frau, der lieben, die partout keine wollte.“
„Die hat dann ’71 das Zeitliche gesegnet …?“
„Ja. ‚Heißa, rief da Sauerbrod, heißa, meine Frau ist tot!‘ Aber statt nun auf lustigen Witwer zu machen, ist er eher ’n Sonderling geworden, ’n Einzelgänger. Kam das mit der steifen Hüfte dazu.“
„Wär’s nicht so gekommen, hätten wir uns kaum bei ihm einnisten können“, hob Joana hervor.
Gottfried wurde plakativ. „Mit null Bock und hohen Mieten wirste schnell zum Parasiten!“
Joana hatte in der BZ ihres Gegenübers mitgelesen. „Heute Abend gibt’s ’n Film mit Bud Spencer …“
„Bad Segeberg wäre mir lieber: Karl May mit Winnetou, Winnethree, Winnefour und den andern Apalachen …“
19 Uhr 55 war es geworden, und sie hatten nicht mehr als zwei Minuten Verspätung.
„Sei froh now“, sagte Gottfried. „Laufen wir nach Hause.“
Trotz des lieblichen Herbstabends war es in der Gartenstadt, zu Beginn des Jahrhunderts vom Fürsten Donnersmarck als Reißbrettarbeit in Auftrag gegeben, so still und einsam, dass Joana erschrak. „… als hätten sie gerade ’ne Neutronenbombe …“
„Der Eremit gern hierherzieht …“, sagte Gottfried.
Inzwischen wurden sie aber auch schon von etlichen Hunden verbellt, und aus einer Ballettschule drang ein monotones Plimmplimm auf die Straße hinaus.
Zum Franziskanerweg waren es knappe zehn Minuten, vorbei an stattlichen Landhäusern und Villen, schließlich war man von Senatens Seite gerade mit dem Prädikat gesegnet worden, als bevorzugte Wohnlage zu gelten, aber auch übler Pappkartonschrott dabei, auf kleinen Hammergrundstücken, und steingewordener Kuharschgeschmack von Architekten, die ohne jedes Gefühl für die alte Mark Brandenburg waren und das, was in ihren Orten möglich war, dies hier für Los Angeles oder Hamburg-Wellingsbüttel hielten.
Herbert Dolgenbrodts Haus dagegen, aus handgeformten Ziegelsteinen in einen Sandhügel gebaut und weiß gestrichen, passte zu den Kiefern und den Birken, die es reichlich rahmten, stand im hinteren Teil eines langgestreckten Grundstücks von zwölfhundert Quadratmetern Größe, das weithin naturbelassen war, Park und Wald, Dschungel fast, etwas für Dornröschen.
Vom schwarzen Eisenzaun an der Straße hatten sie über einen ziemlich zugewachsenen Weg an die vierzig Meter zu laufen, ehe sie die Haustür erreichten, aufgehalten noch von einer Grube und aufgeworfenem Sand; der Hinterlassenschaft ihres Klempnermeisters.
Man betrat das Haus quasi durch den Keller, denn den eigentlichen Eingang, auf der straßenabgewandten Seite gelegen, konnte man nicht mehr benutzen, seit Dolgenbrodt dort einen Anbau hatte hochmauern lassen.
Gottfried schloss auf und sagte, dass man die Knipserzange erst einmal verstecken sollte, „… wir sagen, wir hätten sie noch nicht gekriegt, dann ist am Geburtstag wenigstens noch ’ne gewisse Überraschung da …“ Sodann, kaum in den Vorraum eingetreten, schrie er ein so kräftiges „Halloooo!“ nach oben, als gelte es, einen mehrere hundert Meter höher gekletterten Bergsteigerkollegen zu grüßen.
Doch das Echo blieb aus.
„Wird er wieder vorm Fernseher hocken und eingeschlafen sein“, meinte Joana und versteckte die Knipserzange unter alten Schals im Kleiderschrank.
Gottfried stieg die schmale Treppe hinauf, die viel zu steil war für Dolgenbrodt und seine steife Hüfte, doch er hatte Jahr für Jahr den Umbau gescheut: zu viel Lärm und zu viel Dreck. Und außerdem erinnert mich das immer an Holland; da bin ich doch als junger Mensch so gerne gewesen.
„Herr Dolgenbrodt, hallo …!“ Nur intern war er ihr Onkel Herbert, dies auch seiner Ähnlichkeit mit dem barschen Grunzer Herbert Wehner wegen, offiziell aber war es stets beim Sie geblieben. „Wir sind wieder da.“
Wieder keine Antwort.
„Er scheint doch weggegangen zu sein“, rief Gottfried nach unten.
Joana kam nun ebenfalls nach oben in die Diele. „Ach, war er doch schon seit Wochen nicht mehr. Das ist ja ’ne richtige Phobie bei ihm geworden, vor Straßen und Plätzen …“
Sie machten sich daran, in Bad, Küche und Esszimmer nach ihm zu suchen.
„Nichts …“
„Sitzt er sicher wieder ganz versunken bei sich im Museum drin …“ So Gottfrieds Vermutung.
Als Museum bezeichneten sie vom Tage ihres Einzugs an, fünf Jahre waren es nun bald, Dolgenbrodts Anbau, an der Rückfront des alten und ererbten Hauses, Baujahr 1938, auf die Kuppe des Hügels gesetzt und von ihm anfangs auch durchaus, wie dem Finanzamt annonciert, als Arbeitszimmer genutzt, nach und nach aber immer mehr zur Sammelstelle seines Altberliner Trödelkrams geworden, von zerschlissenen Straßenbahnsitzen bis hin zum echten Leierkasten. Von diesem Raum, immerhin an die 38 Quadratmeter groß, konnte man mithilfe einer zumeist eingezogenen Aluminiumleiter ins „Archiv“ hochklettern, in die geräumige Dachschräge, wo ein Besucherbett stand und sich neben alten Zeitungen, Magazinen, Speisekarten, Programmheften und dergleichen in langen Regalen alles an Briefen und Postkarten fand, die die Dolgenbrodts seit der Inbesitznahme dieses Hauses je erhalten hatten.
Die Tür zu Museum und Archiv war eingeklinkt, und Joana klopfte leise an, denn Onkel Herbert, immer cholerischer, je älter er wurde, konnte furchtbar los toben, wenn man ihn durch unverhofftes Eintreten erschreckte und zusammenfahren ließ.
Erst als sich auch jetzt nichts rührte, zog sie die Tür, als ehemaliger Eingang richtig schwere Eiche, vorsichtig auf und fragte noch einmal tastend: „Herr Dolgenbrodt …“
Wieder nichts, sodass Gottfried, der kurz hinter ihr war, nun draußen auf der Diele einen uralten elektrischen Schalter herumdrehte und damit die Neonleuchte im Türrahmen oben, die beide Räume ausreichend erhellte, zum Aufflammen brachte.
Sie fuhren zurück, denn Herbert Dolgenbrodt lag gleichermaßen zusammengekrümmt wie hingestreckt am Fuße seiner Aluleiter, und man brauchte nicht studierter Mediziner zu sein, um zu erkennen, dass hier nichts mehr zu machen war.
„… ermordet …!“, stieß Joana hervor.
Hagen Plottka wälzte sich grunzend herum und ging mit einem kleinen Aufschrei über Bord, fiel aber nicht, wie in Traum und Halbschlaf erhofft, in champagnergleich aufspritzendes Mittelmeerwasser, sondern knallte mit Kopf und Becken auf harten Beton, fuhr hoch und erschrak nun erst recht, denn der gespenstergrün strahlende Radiowecker auf einem Schränkchen hoch über ihm zeigte statt der Zeit ein Datum an: 7.5.55
Das war genau ein Jahr vor seiner Geburt, und sein Organismus reagierte auf diese Nachricht mit Herzrasen, Schweißausbruch und Atemnot.
7.5.56
Einleitung der Geburt, Abgang des Fruchtwassers. Er flutschte ins Leben hinaus und schrie aus Leibeskräften, als man ihn abzunabeln begann.
Er sprang auf, stieß sich den Kopf an einer tiefhängenden Lampe, sah, wie durch ein schwervergittertes Fenster, hinten, oben, an der Decke, verstaubte Sonnenstrahlen nach ihm suchten, und glaubte plötzlich ganz genau zu wissen, wo er war: in einer Zelle!
Justizvollzugsanstalt Moabit, U-Haft.
„Wie auch anders …“
Draußen kicherten mehrere Frauen. Wie das, im Männerknast? Er stürzte zum Fenster, blinzelte nach oben und konnte zwei mallorcabraune Beine hochverfolgen bis zum schön geblümten Slip. Fast hätte er an ein Arbeitstreffen von Psychologinnen mit Sozialarbeitern und weiblichen Anstaltsbeiräten geglaubt, wenn da nicht auch … Ein gelber Doppeldeckerbus der Linie 22 dröhnte schwer wie eine Diesellok vorbei, ließ alles vibrieren. Vorschulkinder spielten Einkriegezeck. Zwei kloßdicke Rentnerinnen ließen ihre Dackel gesetzeswidrig auf den Bürgersteig kacken.
Da machte es bei Hagen Plottka endlich klick. Nicht in einer Zelle war er hier, sondern im Keller seiner Lieblingskneipe, Gerhards Gruft. War er also wieder voll gewesen, total, und der liebe Gerhard hatte ihn bei Ladenschluss hier unten abgelegt, war dann mit seiner neuen Tussi nach Hause abgebraust.
Der Wecker zeigte nun 7.59, und als er in der nächsten Sekunde auf 8.00 sprang, hatte Plottka auch begriffen, dass er eben mit seinen verquollenen Augen und seinem verkaterten Hirn bei 7.55 und 7.56 die eine Fünf doppelt wahrgenommen haben musste. Daher also das Datum seiner Geburt.
Schrecklich! Er machte Licht und besah sich in einem Sperrmüllspiegel.
Wie der Kohlenklau auf den alten Zweite-Weltkrieg-Plakaten. Stoppelhaar und unrasiert, ein Pflaster am Kinn, eine Gaunervisage.
„Ein Schwein bist du …!“ Er klopfte sich auf seinen Wahnsinnsbauch und fand, dass er langsam alle Chancen hatte, bei den Fatboys mitzumachen, „… der letzte Arsch!“
Es stank furchtbar nach ausgeschwitztem Bier.
„Plottka, du Penner!“
Ohne sich irgendwie zu waschen („Fällt ja doch nicht auf …!“) oder nach einer Rasiergelegenheit zu suchen, zog er Jeanshose und –jacke über seine schmuddelig weiße Unterwäsche, hievte sich stöhnend am Treppengeländer zur Schankstube hinauf und zapfte sich ein Bier. Zigaretten hatte er selber, zwei Buletten lagen auch noch herum; welch ein Frühstück wieder einmal!
Gerhard, der Engel der, hatte auf einen Bierdeckel „Vergiss nicht abzuschließen!“ geschrieben und den Schlüssel durch den Filz gepiekt. Plottka suchte nach einem Kugelschreiber, quittierte das mit einem dicken „Danke!“ und verließ dann Gerhards Gruft in Richtung S-Bahn, schnürte immer am Rande des Märkischen Viertels entlang, bis er vor einem Imbissstand, die Bierpullen zur Begrüßung geschwenkt, Krücken-Kutte neben Zwiebel-Else entdeckte. Umarmungen, Wange an Wange gepresst.
„Schlürfste ooch noch eene mit?“
„Aba nur weil ihr’t seid …“ Plottka machte Frieda drinnen ein Zeichen, indem er drei Finger hob, ließ zugleich Münzen in ausreichender Menge auf dem abgegriffenen Zahlteller tanzen, nahm die eine Krücke seines Freundes Kurt und zielte damit auf die Elster dichte bei im Baum, die nach irgendeiner Beute gierte. „Peng!“
Frieda musste, ehe sie das Bier herausreichen konnte, erst einige Kästen umstapeln, und Zwiebel-Else nutzte die Chance, ihr einen Riegel Lila Pause zu klauen, ließ ihn schnell in einer ihrer aufgebauschten Plastiktüten verschwinden.
„Wohin willste’n umziehen?“, fragte Plottka mit Blick auf ihr gesamtes Hab und Gut.
„Heut Abend nach Lodz, bis zum letzten Zug lassen sie einen da ja sitzen. Dann weeß ick nich … Irgendwo Platte machen.“
„Ick jeh arbeeten jetze“, erklärte Krücken-Kutte. „Mal sehn, wat abfällt dabei …“ Wollte sich zum Betteln vor der Deutschen Bank am Ku’damm niederlassen.
Das Bier kam, und sie stießen an. Gleich gegenüber befand sich eine Bushaltestelle, und Plottka verfolgte mit Spannung die Versuche einiger jüngerer Leute, die vorbeihuschenden Autofahrer derart anzumachen, dass sie anhielten und sie einsteigen ließen. Die Mädchen zumeist in Sexy-Pose, wenn auch leicht ins Lächerliche gewendet, die Knaben, indem sie auf lieb und harmlos machten und sich als Partner für intelligente Gespräche anboten, beispielsweise Computerhefte schwenkten. Offenbar waren ein, zwei Busse ausgefallen.
Plottka setzte seine leer gezischte Flasche ab und lachte. „Mal testen, wat ick für Chancen habe … Tschüs!“ Schon hatte er sich unter die Schar der Anhalter gemischt.
Und siehe da, nach knappen fünf Minuten hielt der Lieferwagen eines Baustoffhändlers neben ihm, und der Fahrer beugte sich nach draußen. „Wo willste’n hin?“
„Zum Sozialamt, Farchanter Straße …“
„Dacht ick mir doch!“ Der Mann, stellte sich heraus, kam aus einer WG, Kreuzberg, Skalitzer Straße, klärte Plottka über die schändliche Politik von IWF und Weltbank auf, dass die das Elend in der Dritten Welt verursachen täten, und auch er die verdammte Pflicht und Schuldigkeit hätte, bei den Demos dagegen wirksam mitzumachen.
„Da trägste bei mir offne Türen nach Athen“, lachte Plottka und zeigte sich an Ort und Stunde äußerst interessiert.
Es war 9 Uhr 11, als der nette Agitator ihn direkt vorm Sozialamt aussteigen ließ, einem zur Abrissreife gealterten Backsteinbau aus Kaiser-Wilhelm-Zeiten, Gesindehaus eines verlorengegangenen Gutes, zur Außenstelle geworden, als in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre die Zahl der Berliner Sozialhilfeempfänger auf 170000 angestiegen war, die neue Armut jeden zwanzigsten Bürger der sogenannten freien Welt zum „Klienten“ werden ließ.
Plottka stieg ein paar Stufen hinauf, drückte die schlichte Holztür nach innen und kam in einen schlecht beleuchteten Flur, auf dessen Holzbänken schon so viele Leute hockten, dass er unwillkürlich stehen blieb. Auf dem Boden standen leere Coca-Dosen, die als Aschenbecher dienten und aus denen der Rauch herausquoll wie aus kleinen Vulkanen, hochzog zu den handgemalten Schildern „Rauchen nicht gestattet!“. Schlecht gezielte Kippen hatten schwarzumrandete Löcher in den flaschengrünen Linoleumboden gebrannt, der an einigen Stellen so aufgeworfen war, dass er Plottka des Öfteren an Landschaftsformen denken ließ, zum Beispiel an die Holsteinische Schweiz. Die durchgetretenen Stellen hatten zufälligerweise auch Form und Größe des Plöner und Eutiner Sees, nur der Dieksee war zu klein geraten. Er sah in den eigentlichen Warteraum hinein, aber da lehnten sie schon an den Wänden. Mi-mi-mi, der Stotterer, tigerte wie ein eingesperrtes Tier zwischen Kellertreppe und Warteraum umher und machte auch den Ruhigsten nervös. Ein türkisches Baby protestierte gegen diese Welt bis fast hin zum pseudokruppschen Husten. Auf der Treppe zur oberen Etage hockten junge Türken und redeten ganz offensichtlich über den Fußball in Berlin, denn öfter hörte er das Wort „Türkiyemspor“, den Namen des Vereins, der ihre ganze Hoffnung war. Nichts dagegen verstand er von dem, was die Deutschen polnischer Zunge an der Tür zum Chefzimmer hinten zu schimpfen hatten. Trabbi, klein wie Norbert Blüm und zumindest ebenso umtriebig, saß lauernd hinter seiner Morgenpost getarnt. Auch Pizza war schon da, kein Italiener, sondern nur so genannt wegen der teils aufgeplatzten Eiterpickel im Gesicht, und schlug sich mit geballten Fäusten immer wieder rhythmisch auf die Oberschenkel.
Plottka nickte ihnen zu, zählte insgesamt 26 wartende Bürger, davon mindestens 10 Ausländer und gut die Hälfte unter 30 Jahre alt.
Nachdem er das erledigt hatte, riss er an der ersten Tür, drückte die Klinke mit Karacho nach unten, warf sich schließlich mit all seiner Masse gegen das Holz.
„Mann, mach keenen Terror hier!“, rief eine Frau mittleren Alters, die sich bislang ganz ruhig auf ihren Strickstrumpf konzentriert hatte. „Zieh dir ooch ’ne Nummer!“
„Die zieh ick mir nie, die mach ick!“, sagte Plottka und löste damit Lachstürme aus, zumal er nun ins Zimmer der bekanntermaßen sehr attraktiven Gruppenleiterin stürmte.
„StOI Plottka meldet sich zur Stelle und bedauert seine geringfügige Verspätung zutiefst: Dringender Fall von Selbstverwirklichung hat wieder einmal angelegen.“
Verena Zietz lehnte sich zurück und musterte ihn. „StOI heißt ja wohl nicht nur Stadt-Oberinspektor, sondern – auf Russisch – meines Wissens auch so viel wie: Halt, Stopp! Wenn ich dich so sehe, dann möchte ich dir das doch schon mal ganz leise zurufen, lieber Hagen … Deine Anpassung an unsere Klienten ist vielleicht doch schon ein wenig zu weitgehend …“
„Du, so kann ich wirklich am besten mit ihnen!“, rief Plottka mit aller Emphase, die er aufbringen konnte. „Ich hab nur leider heute Morgen nicht mehr gewusst, wo ich gestern Abend meinen Wagen abgestellt hatte …“
Verena, vom geradezu idyllischen Amt für Bürgersorgen vor nicht allzu langer Zeit hierher befördert worden, verhinderte Verhaltensforscherin, Zoologin und so weiter, sah auf ihr mitgebrachtes Aquarium hinüber. „Wenn’s mir um meine Fische nicht zu leid täte, würd ich dich mit dem Kopf da reinstecken und …“
„Gerne, solange du keine Piranhas drin hast. Aber gib mir vorher bitte noch den Ersatzschlüssel fürs Zimmer nebenan; meinen hab ich irgendwie zu Hause liegen lassen …“
Plottka machte eine artige Verbeugung in Richtung Vorgesetzte, bat noch einmal darum, dass ihm die kleine Kernzeitverletzung doch bitte gütigst vergeben werde, und trat dann wieder auf den Flur hinaus, konnte aber vor Aufnahme seiner Dienstgeschäfte nicht umhin, noch den beiden Kollegen im Zimmer 2 ein fröhlich rituelles „Guten Morgen!“ zuzurufen: Ulli Witt und Waltraud Terletzki.
Als er Witt erblickte, verspürte er sofort wieder die anfallartige Angst vor gewissen Formen des Delirium tremens: Das konnte doch nicht sein, dass der …! Ein Traumgespinst, eine Halluzination, die kleinen grauen Zellen aufgefressen … Denn da, wo der jetzt saß, auf dem schönen Platz am Fenster, hatte jahrelang die Roggensack gehockt, die Gisela. Zuletzt ein mehr als problematischer Fall. Von einer faszinierenden Frau zur wahren Furie geworden. Hatte nun gekündigt, alles hingeschmissen. Gestern war ihr letzter Tag gewesen, und er hatte noch immer das Bild vor Augen, wie sie dabei war, dem armen Ulli Witt zu zeigen, was hier Sache war, einen schon ganz klein gewordenen Punker fürchterlich zusammenschiss, weil der nicht ordnungsgemäß auf dem angesagten Friedhof angetreten war, um seinem Staate beim Gräberschaufeln und anderen gemeinnützigen Arbeiten zu helfen. Sie war fürchterlich im Brast gewesen, hatte den Kollegen genauso angefaucht wie den buntgefärbten Antragsteller. „Natürlich gibt es bei der ‚Pflicht zur Arbeit‘ ’ne Rechtsgrundlage, und zwar ist das der § 25 des BSHG: ‚Wer sich weigert, zumutbare Arbeit zu leisten, hat keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt…‘„ Am liebsten, so war es Plottka vorgekommen, hätte sie dem anderen auch noch eine runtergehauen. Er hatte noch immer ihre Stimme im Ohr, vorgestern beim total misslungenen Ausstand in Gerhards Gruft: „Ich hasse dieses Scheißsozialamt, ich hasse euch alle! Jahrelang mein Leben vergeudet mit euch.“
Plottka riss sich wieder ins Hier und Heute zurück.
Die verbliebene Kollegin im Zimmer, die Waltraud Terletzki, wie der Ulli Witt um die vierzig herum, pfannikloßdick und immer wieder mit dem Titel „Miss Phlegma“ ausgezeichnet, hatte bei den Ausbrüchen der Roggensack nur still vor sich hin leiden können, war im Augenblick gerade damit beschäftigt, einer jungen Türkin das Prinzip „Erst fragen, dann kaufen“ mit Gestenhilfe zu erklären. „Schulden übernehmen wir grundsätzlich nicht!“
Derart eingestimmt, konnte er nun selber mit der Arbeit beginnen, natürlich nicht, ohne seine Klienten vorher noch ein wenig um Geduld und Verständnis gebeten zu haben. „Kinder, ich muss mir erst mal aus’m Keller Wasser holen und meine Kaffeemaschine anwerfen.“
Nur Trabbi protestierte. „Über fünfzehn Minuten schon von der Kernzeit vergangen, und noch immer keinen Handschlag getan …! Ich sage nur eins: Dienstaufsichtsbeschwerde!“
Pizza trat ihm so heftig gegen die Kniescheibe, dass der Reflex seine helle Freude daran hatte. „Weeßte nich, det det Selbstmord is, äh!?“
Plottka grinste und wollte seinen Weg fortsetzen, ebenso un- wie doch gerührt, Mi-mi-mi kam aber, Michael Minzel, um ihm die Plastikkanne abzunehmen. „La-la-lassen Sie mi-mi-mich das ma- ma-machen.“
„Schleimer!“, sagte Pizza, da ganz der große Autonome, ließ den andern aber ziehen.
So konnte sich Hagen Plottka nun endlich hinter seinen Schreibtisch zwängen und die erste Nummer in Flur und Warteraum rufen.
Eine Neu-Berlinerin mit schwäbischem Akzent, geboren in, wie sich später herausstellen sollte, Fellbach bei Stuttgart, erschien, ihr fünf Monate altes Büble frisch gewickelt im Arm, und sagte, dass sie nicht mehr aus und ein wisse, seit ihr Mann an Krebs gestorben sei, denn a) habe sie das Kind und b) sei sie zu 60 Prozent körperbehindert, könne also keinesfalls einer geregelten Tätigkeit nachgehen. Plottka griff zum ersten Formular und nahm die Daten auf, überschlug dann alles und sagte ihr, dass sie, da die Rente mit der Sozialhilfe verrechnet werde, mit etwa 640 Mark rechnen könne. „Regelsatz für den Haushaltungsvorstand und Regelsatz für das Kind, plus Mehrbedarf, den Sie als Alleinerziehende mit einem Kind unter sieben Jahren bekommen … Ihre Miete übernehmen wir natürlich auch, 300 Mark, zuzüglich der Heizkosten …“
„Danke…“ sagte die junge Frau und: „Ich könnte Sie umarmen!“
Die laufende Nummer 2 hingegen, ein arbeitsloser Trucker, dem der Führerschein entzogen worden war, hätte ihm am liebsten in den Arsch getreten, als er Bargeld für einen neuen Wintermantel haben wollte, stattdessen aber nur einen Wertgutschein bekam. „Ich weiß doch, dass du säufst wie ’n Loch. Eh du bei C&A angekommen wärst, hättste doch schon die ersten hundert Mark versoffen und die zweiten in’n Puff getragen, Mann!“
Die Nummer 3, Schulabgänger ohne Chance und Bock auf eine Lehre, war Legastheniker, und Plottka brauchte eine gute Viertelstunde, um mit ihm zusammen das Formular Soz 3016/10.85 mit Kreuzchen und Daten zu füllen, den Antrag zur Weiterzahlung der HL (Hilfe zum Lebensunterhalt).
Dann kam Schulle mit der Ratte, in seiner Lederrüstung ganz Ivanhoe der Schwarze Ritter, und ließ das liebe Tierchen zu Plottkas Ekel und Entsetzen an seinem blonden Pferdeschwanz schaukeln. Ging dabei leicht in die Hocke, und Plottka hatte schon Angst, dass er ihm nun aus lauter Protest ins Zimmer kacken würde, doch es folgte nur ein Sprung, ein Abheben direkt in die Höhe, um wirksamer auf den hölzernen Besucherstuhl herunterkrachen zu können; wohl in der Absicht, den in vier bis fünf Einzelteile zu zerlegen. Doch das Sperrmüllmöbel hielt.
Plottkas Warnlämpchen aber blieben eingeschaltet, denn Schulles rechte Hand war in die Hosentasche gefahren. Kam sie gleich mit einem Schlagring hervor, ließ sie ein Messer aufschnappen? Roheitsdelikte waren schließlich sein Hobby, und erst am Dienstag hatte er hier furchtbar rumgetobt und Rache geschworen.
Klar zum Gefecht! Plottka zog seine eine Schublade auf, die rechts in der Mitte, wo Gummiknüppel und Tränengassprüher griffbereit lagen, setzte auch die Spitze seines linken Fußes auf den Bodenschalter, der nur so aussah, als könnte man mit ihm die zusätzliche Tischlampe anknipsen, in Wahrheit aber ein Alarmknopf war.
Überraschenderweise aber gab sich Schulle mit der Ratte diesmal sehr bürgerlich und demütig. „Ich bin all hier erst kurze Zeit / Und komme voll Ergebenheit / Einen Mann zu sprechen und zu kennen / Den alle mir mit Ehrfurcht nennen.“ Um dann, als Plottkas Staunen gar kein Ende nehmen wollte, noch hinzuzufügen: „Faust im Mund ist besser als Faust auf’m Tisch!“
Plottka blätterte in der schnell gezogenen Akte und stellte fest, dass sein Klient 1981 das Abitur mit einem Schnitt von 1,9 gemacht hatte, um dann nacheinander als Designer, Schauspieler, Rockmusiker, Fischwarenhändler, Fahrradverleiher und Steinsetzer zu scheitern. Ganz der Typ des neuen Klienten, der ihnen schwer zu schaffen machte. Kein pflegeleichter Rentner, sondern einer, der seine Rechte kannte, viel Beratung brauchte und Ablehnungen nicht mehr klaglos akzeptierte, sondern lieber mal Rabatz machte.
„… also Ärger mit der Roggensack gehabt …?“ Ganz vorsichtig begann Plottka die Partie zu eröffnen. Sehr untertrieben war das natürlich, denn Schulle hatte ihr gedroht, sie zu ermorden, wenn sie ihm weiter Schwierigkeiten machen würde. Dies nicht laut gebrüllt, sondern Stunden nach seinem Besuch am Telefon verkündet. Die Roggensack hatte es jedenfalls ihm und der Terletzki so berichtet.
„Es geht um meinen neuen Wintermantel. Ich hab doch selbst Ihre Verwaltungsvorschriften in der Hand gehabt und weiß, was Sache ist: Nach fünf Jahren haben Männer Anspruch auf ’nen neuen! Und was macht die Roggensack, anstatt mir einen zu bewilligen? Sie schickt mir den Prüfdienst nach Hause und lässt den bei mir im Schrank rumwühlen …! Warum denn das?“
„… kann ich sie leider nicht mehr fragen, weil sie weg ist: Erst noch ’n paar Tage Resturlaub, dann geht sie als Reiseleiterin nach Kenia. Vielleicht findet sie da irgendeinen TUI-Macker zum Vögeln. Eine neue Liebe ist ja wie ein neues Leben …“
„Krieg ich nun den Mantel – oder krieg ich ihn nicht …!?“
Das klang schon wieder ganz nach Drohung, aber so versteckt, dass bei Plottka nicht die Alarmglocken schrillten, sondern ein viel subtileres Gefühl Besitz von ihm ergriff: A faint cold fear thrills through my veins. Und so suchte er zunächst Zeit zu gewinnen. „In der Anlage Soz 3019/11.82 ist aber nur von einer durchschnittlichen Gebrauchsdauer die Rede, das heißt, dass ein Mantel auch sechs, sieben oder acht Jahre halten kann. Da muss ich erst mal mit Ihrer Sozialarbeiterin sprechen. Wenn Sie bitte draußen Platz nehmen würden …“
Schulle mit der Ratte strich zwar wortlos ab, grinste aber derart maliziös, dass Plottka ganz genau wusste: Da ist doch noch was.
Dennoch griff er sofort zum Telefon, fand aber die Dame besetzt, ging auf den Flur hinaus, um Herrn Schulz das anzuzeigen, stieß dabei auf einen gehbehinderten Veteranen und trug den halb ins erste Stockwerk hinauf, wo die Kollegen Niedergesäß und Klinke ihren Dienst am Volk versahen.
Andreas Niedergesäß, teils in Verfremdung seines Namens, teils wegen seiner hinten/unten stets sehr beutelnden Hose im Amtsbereich nur als Tiefarsch bekannt, war gerade dabei, kräftig über die Sozialhilfeempfänger zu schimpfen. „Was die von uns an Geldern und sonstigen Zuschüssen bekommen – Kleidung, Hausrat und so weiter –, kann sich ein schwer arbeitender Familienvater heute kaum noch leisten! Und unsere lieben Sozialarbeiter unterstützen sie in ihren überzogenen Forderungen auch noch!“ Dabei knetete er mit den Fingern seiner rechten Hand jene Fettpartie, die bei ihm das Kinn ersetzte.
Da war sein Gegenüber schon von ganz anderem Format, im American Football aktiv, den Berlin Rambos als Gründungsmitglied zugehörig und in der Berliner Verwaltung als „der Pionier“ bekannt. Dies nun weniger deswegen, weil er am liebsten als Pionier des Wilden Westens am Sacramento eine Ranch gegründet hätte, sondern seines Namensvetters Klinke wegen, jenes preußischen Soldaten, der sich 1864 im deutsch-dänischen Krieg auf den Düppeler Schanzen selbst in die Luft gesprengt hatte, damit seine Kameraden durch die so geschaffene Bresche voran zum Siege stürmen konnten.
Nach kurzem Gruß eilte Plottka wieder nach unten, stieß dabei mit Pizza zusammen, dessen Nummer gerade aufgerufen worden war.
Langsam bekam er Hunger nach etwas Süßem, Schokolade oder Kuchen, hatte aber noch keinen Vorwand gefunden, um bei Verena anzuklopfen und etwas zu schnorren, musste erst noch in den sauren Trabbi beißen. „Bitte sehr, Herr Hahn …“
Trabbi, ihr Diplom-Querulant, mit 55 Jahren und ohne jede Liebe zum Computer als Bilanzbuchhalter dauerarbeitslos, hatte über all die Jahre hinweg mit seinen Widersprüchen schon neun Aktenbände gefüllt, zwei Pappkartons voll, die bei Plottka an der Heizung standen.
Am schönsten waren immer seine einleitenden Sätze. „Im Normalfalle sollte die Bearbeitung eines Antrages drei Arbeitstage dauern, bei Ihnen aber kann man von drei Wochen ausgehen. Ich sage Ihnen das nur in Ihrer Funktion als Erster Sachbearbeiter hier.“
„Wir sind nun mal das Stiefkind der Verwaltung oder ihre Prügelknaben, ganz wie Sie wollen, zweihundertfünfzig neue Stellen fehlen uns, fünfzig Prozent Personal mehr müssten wir haben …“ Plottka versuchte es erst einmal auf die sachliche Tour. „Was ist denn Ihr konkretes Anliegen heute …?“
„Ich habe von Frau Roggensack kein Kohlegeld bekommen, sondern nur jeden Monat Gutscheine …“
„Ist doch schön, kühl genug war der Sommer ja …“
„Ja, aber die Kohlenhändler lösen diese Gutscheine inzwischen nicht mehr ein, weil sie vom Amt erst ein halbes Jahr später abgerechnet werden.“
Plottka sah aus dem Fenster. „Ich sagte doch, dass uns die Leute dazu fehlen: Gehen Sie zum Stadtrat, gehen Sie zum Bürgermeister …“
„Das werde ich auch machen!“ Trabbi sprang auf. „Und unsere Selbsthilfeorganisation werde ich Ihnen auf den Hals hetzen! Das ist doch alles Taktik hier, um uns aus’m Bezirk rauszugraulen!“ Die Tür so zugeknallt, dass Plottka glaubte, das alte Gebäude würde wie ein Glibberpudding wackeln.
Nun konnte er wirklich nicht anders, als eine seiner kleinen Schreibtischschubladen aufzuziehen und nach seinem Flachmann zu greifen. Ein Schluck Gorbatschow ließ ihn alles wieder nüchterner sehen. Er gähnte anhaltend, streckte sich und ging dann auf den Flur hinaus, sich den nächsten Klienten, die nächste Klientin zu krallen.
„Mann, det stinkt ja wie im …!“ Das „Affenkäfig“ ließ er weg, das hätte am nächsten Morgen wieder, je nachdem, in der taz oder der BZ gestanden, aber Zigaretten und Schweiß, Knoblauch und Bier, Urin und Erbrochenes, Fürze und Parfüm, das gab in der Tat eine Duftnote, die es in sich hatte. Er stürzte zur Eingangstür und riss sie auf.
„Füllt den Mief lieber in Flaschen und schickt ihn nach Bonn“, riet ihm Schulle mit der Ratte. „Aufschrift Die neue Armut, Kohls Creation für die neunziger Jahre.“
„Kann ick nich drüber lachen!“, lachte Plottka. „Ick muss ausjewogen sein!“
„Bitte sehr …“
Eine junge Frau, so ansehnlich, dass er sich automatisch seine schwarzen Strubbelhaare glattstrich und mit einer schnellen Handbewegung den bauchbedingt immer etwas offenen Reißverschluss nach oben zog, trat ein, besetzte den Besucherstuhl und offenbarte derart viel an Bein und Oberschenkel, dass er gar nicht anders konnte, als ganz intensiv an das eine zu denken.
Sie hieß Heide Soundso und begann mit einer Suada auf die Roggensack. „… die hat mich Dienstag mit der Bemerkung weggeschickt, ich sollte doch lieber auf’n Strich gehen, so wie ich aussehe, anstatt sie dauernd zu nerven …“
„Tut mir leid“, sagte Plottka. „Die ist ab nach Kenia, und es sieht so aus, als ob sie sich hier mit ’nem fürchterlichen Rundumschlag von all ihren Lieben verabschiedet hat. Worum ging’s denn in Ihrem Falle …?“
„Ich bin Studentin, Chemie, achtes Semester, alleinstehend, ein Kind, und habe eine Zweizimmerwohnung, deren Miete das Sozialamt hier bezahlt. Nun hat mir Ihre Kollegin gesagt, dass ich untervermieten muss, sonst würde sie die Mietkosten nicht mehr übernehmen.“
Plottka nickte. „Das soll es laut Senat nicht geben, Ausnahmefälle aber seien möglich, wobei es dann auf die Wohnungsgröße ankäme …“ Er staunte über sich selber, zu welch schönem Deutsch er fähig war. „Gehn wir mal zur Chefin, die soll das mal selber wieder aus der Welt schaffen.“
Doch der Weg zu Verena war ihm zunächst versperrt, denn ihr jugoslawisches Reinemache-Ehepaar war mit einer großen Tasche gekommen, um die Räucheraale zu bringen, die die Soz-II-Besatzung letzte Woche bei ihnen bestellt hatte. Ein Schwager von ihnen war am Steinhuder Meer sesshaft geworden, und über ihn konnten sie die Tierchen weit unter Marktpreis beziehen.
Er-Saftic hatte sich, um seine Identifikation mit Berlin und den Deutschen voll unter Beweis zu stellen, ein rot-weißes Jersey des hiesigen Eishockey-Bundesligaclubs übergestreift: riesig die Rückennummer 18 Schwindt. Kein Spiel ließen sie aus, und Sie-Saftic bat alle ständig, das Konfetti aus ihren Lochern für sie zu sammeln: Man brauche es, um es bei Berliner Torerfolgen in die Halle zu werfen.
Aber nicht nur mit der Aalverteilung trugen sie zur Verzögerung der Dienstgeschäfte bei, sondern auch noch mit einem Schal, einem Tuch aus buntem Chiffon, das sie gestern Abend im Flur gefunden hatten.
„… das gehört der Gisela!“, rief Verena, der Roggensack also. „Das schicken wir ihr nach Mombasa nach, ich hab die Adresse zu Hause …“
„Quatsch!“ Plottka riss es ihr aus der Hand und schenkte es der jungen Frau, die von der Roggensack am Dienstag so schikaniert worden war. „Eine kleine Entschuldigung von uns allen …“
Damit zog er sich für einige Minuten in sein Kabuff zurück, um sich voller Heißhunger über seinen Aal herzumachen. Als das Telefon jetzt klingelte, konnte er sich die Fettfinger gar nicht so schnell abwischen. „Ja …?“