Der Abbé Jérôme Coignard

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Der Herr Abbé Jérôme Coignard war Professor der Beredsamkeit am Colleg von Beauvais, Bibliothekar des Herrn Bischofs von Séez, Sagiensis episcopi bibliothecarius solertissimus, wie seine Grabschrift besagt, später Schreiber am Beinhaus Saint-Innocent und zuletzt Konservator der Astaraciana, jener Königin der Bibliotheken, deren Untergang ewig zu beklagen ist. Er wurde auf der Straße nach Lyon von einem kabbalistischen Juden namens Mosaides ermordet (Judaea manu nefandissima) und hinterließ mehrere unvollendete Werke und die Erinnerung an schöne vertraute Gespräche. Ich brauche sein Leben hier nicht von neuem zu schildern. Alle Umstände seines eigenartigen Daseins und seines tragischen Todes sind uns berichtet von seinem Schüler Jacques Ménétrier mit dem Beinamen Tournebroche, das ist »Bratenwender«, denn er war der Sohn eines Garkochs in der Rue Saint-Jacques. Dieser Tournebroche, der ihn seinen teuren Lehrer zu nennen pflegte, bezeigte ihm lebhafte und zärtliche Bewunderung. »Er war«, sagte er, »der liebenswürdigste Geist, der je auf Erden erblüht ist.” Mit Treue und Bescheidenheit verfaßte er die Memoiren des Herrn Abbé Coignard, der in diesem Werke weiterlebt, wie Sokrates in den Memorabilien des Xenophon.

Aufmerksam, gewissenhaft und wohlmeinend, entwarf er ein lebensvolles Bild von ihm, das von liebender Treue erfüllt ist, ein Werk, bei dem man an die Bilder des Erasmus von Holbein denkt, die sich im Louvre, im Museum von Basel und in Hampton-Court befinden und deren Feinheit man nie müde wird zu bewundern. Kurz, er hinterließ uns ein Meisterwerk.

Man wird sicher überrascht sein, daß er nicht für dessen Drucklegung sorgte, obwohl er selbst Buchhändler in der Rue Saint-Jacques geworden war, im Laden »Zur Heiligen Katharina«, den er von Herrn Blaizot übernahm. Vielleicht fürchtete er, der unter Büchern lebte, dem furchtbaren Haufen geschwärzten Papiers, der bei den Buchhändlern im Dunkeln verschimmelt, auch nur ein paar Blättchen hinzuzufügen. Wir teilen seine Abneigung, wenn wir auf den Seinequais an den Ständen der Antiquare vorübergehen, wo Sonne und Regen langsam die Werke verzehren, die für die Ewigkeit geschrieben waren. Wie die ergreifenden Totenköpfe, die Bossuet dem Abt von La Trappe zur Unterhaltung in seine Einsamkeit sandte, ist auch dieser Umstand geeignet, einem Schriftsteller die Eitelkeit aller Schreiberei nahezulegen. Ich wenigstens wage zu behaupten, daß ich auf dem Quai zwischen dem Pont-Neuf und dem Pont-Royal diese Eitelkeit in vollstem Maße verspürt habe. Ich bin versucht zu glauben, daß der Jünger des Abbé Coignard sein Werk nicht drucken ließ, weil er als Schüler eines so guten Lehrers den Schriftstellerruhm richtig einschätzte, das heißt als so gut wie nichts. Er kannte ihn als ungewiß, launisch, allen Wechselfällen unterworfen und von Umständen abhängig, die selbst klein und kläglich sind. In der Einsicht, daß seine Zeitgenossen dumm, verleumderisch und mittelmäßig waren, fand er keinen Grund zu der Hoffnung, daß ihre Nachkommen urplötzlich weise, gerecht und zuverlässig sein würden. Er sah nur das eine voraus, daß die Zukunft, unsern Kämpfen entrückt, uns in Ermangelung von Gerechtigkeit ihre Gleichgültigkeit schenken würde. Wir sind fast sicher, daß sie uns, Große wie Kleine, in das gleiche Vergessen einschließen und über uns alle die friedliche Gleichheit des Schweigens breiten wird. Sollte diese Aussicht uns jedoch durch ein Wunder des Zufalls täuschen, sollten kommende Geschlechter einige Erinnerung an unsern Namen oder unsre Schriften bewahren, so ist vorauszusehen, daß sie unserm Denken nur infolge des segensreichen Mißverstehens und der falschen Auslegung Geschmack abgewinnen werden, wodurch allein die Werke der Genies die Zeiten überdauern. Das lange Leben der Meisterwerke beruht auf höchst kläglichen geistigen Prozeduren, wobei das Gefasel der Schulfüchse mit den treuherzigen Narrenspossen der Künstlerseelen Hand in Hand geht. Ich wage zu behaupten, daß wir zurzeit keinen Vers der Ilias oder der göttlichen Komödie in dem Sinne verstehen, wie er ursprünglich gemeint war. Leben heißt sich wandeln; und das Nachleben unsrer geschriebenen Gedanken ist von diesem Gesetze nicht frei; sie werden nur um den Preis weiterleben, daß sie von dem ursprünglichen Sinn, den sie beim Verlassen unsrer Seele hatten, immer mehr abkommen. Was man künftig an uns bewundern wird, das wird uns ganz fremd sein.

Möglich, daß Jacques Tournebroche, dessen schlichte Einfalt man kennt, sich angesichts des Büchleins, das aus seinen Händen hervorging, nicht alle diese Fragen stellte. Es hieße ihn kränken, wenn man ihm irgendwelche Selbstüberschätzung zutraute.

Ich glaube ihn zu kennen. Ich habe über sein Buch nachgedacht. Alles, was er sagt, und alles, was er verschweigt, verrät die hervorragende Einfalt seiner Seele. Wenn er trotzdem wußte, daß er Talent besaß, so wußte er auch, daß dieses am allerwenigsten verziehen wird. Gern sieht man hervorragenden Menschen niedrige Gesinnung und Erbärmlichkeit des Herzens nach. Man duldet es, daß sie feig oder boshaft waren, und selbst ihr Glück schafft ihnen nicht allzuviel Neider, wofern man nur erkennt, daß es unverdient war.

Die Mittelmäßigen dagegen werden von der umgebenden Mittelmäßigkeit, die sich in ihnen selbst ehrt, sofort emporgehoben und getragen. Der Ruhm eines Durchschnittsmenschen verletzt niemand. Er ist vielmehr eine geheime Schmeichelei für die große Masse. Im Talent jedoch liegt eine Unverschämtheit, die nur durch dumpfen Haß und abgründige Verleumdungen gesühnt wird. Wenn Jaques Tournebroche weislich auf die schmerzliche Ehre verzichtete, die Menge der Dummen und Boshaften durch eine beredte Schrift zu reizen, so kann man seinen gesunden Verstand nur bewundern und ihn für den würdigen Schüler seines Lehrers halten, der die Menschen kannte. Wie dem aber auch sei: das Manuskript des Jacques Tournebroche blieb unveröffentlicht und war über ein Jahrhundert verloren. Ich hatte das seltene Glück, es bei einem Althändler auf dem Boulevard Montparnasse wiederzufinden, der hinter seinen schmutzigen Ladenfenstern Orden aus dem ancien regime, napoleonische Medaillen und Auszeichnungen der Julimonarchie feilhält, ohne sich klarzumachen, daß er der Menschheit auf diese Weise eine schwermütige Lehre der Resignation gibt. Dieses Manuskript habe ich im Jahre 1893 unter dem Titel: »Die Bratküche zur Königin Gänsefuß« veröffentlicht und verweise den Leser darauf. Er wird hier mehr Neuigkeiten finden, als man insgemein in einem alten Buche sucht. Doch es handelt sich hier nicht um dieses Werk.

Jacques Tournebroche begnügte sich nicht damit, die Taten und Meinungen seines Lehrers in einer fortlaufenden Erzählung niederzulegen. Er befliß sich auch, verschiedene Reden und Unterhaltungen des Herrn Abbé Coignard zu sammeln, die in den Memoiren (denn dies ist der wahre Name, welcher der »Bratküche zur Königin Gänsefuß« gebührt) keinen Platz gefunden hatten, und er vereinigte sie zu einem kleinen Hefte, das mir mit seinen Papieren in die Hände fiel.

Dieses Heft veröffentliche ich heute unter dem Titel: »Meinungen des Herrn Jerome Coignard«. Die gute und freundliche Aufnahme, die das Publikum dem früheren Werke des Jacques Tournebroche bereitet hat, ermutigt mich, ihm diese Dialoge folgen zu lassen, welche den einstigen Bibliothekar des Bischofs von Séez von neuem in seiner nachsichtigen Weisheit und in jener Art von großmütigem Skeptizismus zeigen, welche seine Betrachtungen über die Menschen, dieses Gemisch von Verachtung und Wohlwollen, auszeichnen. Für die Gedanken dieses Philosophen über verschiedene politische und moralische Fragen kann ich keine Verantwortung übernehmen. Meine Pflicht als Herausgeber nötigt mich nur, die Gedanken meines Autors ins günstigste Licht zu stellen. Sein unabhängiges Denken trat die vulgären Anschauungen mit Füßen und pflichtete der landläufigen Meinung nie vorurteilslos bei, ausgenommen in Dingen des katholischen Glaubens, dem er unerschütterlich anhing. Im übrigen scheute er sich nicht, seinem Jahrhundert die Stirn zu bieten. Und das allein sichert ihm unsere Achtung. Den Geistern, welche die Vorurteile bekämpft haben, sind wir Dank schuldig. Aber es ist leichter, sie zu loben, als es ihnen nachzutun. Die Vorurteile bilden sich und verändern sich unaufhörlich, mit der ewigen Beweglichkeit der Wolken. Es liegt in ihrer Natur, erhaben zu scheinen, bevor sie der Verachtung verfallen; und selten findet man Menschen, die den Aberglauben ihrer Zeit nicht teilen und dem, was die große Masse nicht zu sehen wagt, ins Gesicht blicken. Der Herr Abbé Coignard war in seiner bescheidenen Lage ein freier Mann, und das reicht nach meiner Meinung hin, um ihn weit über Bossuet und all die großen Gestalten zu stellen, die im herkömmlichen Aufzuge der Sitten und Glaubensmeinungen an ihrem Platze glänzen.

Doch wenn man es schon achten muß, daß der Herr Abbé Coignard frei und unabhängig von den allgemeinen Irrtümern lebte und daß die Gespenster unserer Leidenschaften und Befürchtungen keine Macht über ihn hatten, so muß man erst recht anerkennen, daß dieser erlesene Geist eigne Ansichten über Natur und Gesellschaft besaß, und daß ihm nur eines fehlte, um die Menschen durch ein schönes und mächtiges Gedankengebäude in Erstaunen und Entzücken zu versetzen: nämlich die Geschicklichkeit oder der Wille, die großen Lücken zwischen den Wahrheiten mit Sophismen zu verkitten. Denn nur so erbaut man die großen philosophischen Systeme, die bloß durch den Mörtel der Sophistik zusammenhalten. Ihm fehlte der systematische Sinn oder, wenn man will, die Kunst der symmetrischen Anordnung. Ohne diese erscheint er als das, was er ist, nämlich als der weiseste der Moralisten, als eine wunderbare Mischung von Epikur und dem heiligen Franz von Assisi.

Diese beiden sind ja, wie ich meine, die besten Freunde, welche die leidende Menschheit auf ihrem Irrwege noch getroffen hat. Epikur befreite die Seelen von den nichtigen Ängsten und lehrte sie ihre Glücksvorstellung ihrer kläglichen Natur und ihren schwachen Kräften anpassen. Der gute heilige Franz, zärtlicher und sinnlicher, führte sie zum Glück durch träumerisches Sinnen und wollte, daß die Seelen sich nach seinem Vorbild fröhlich in die Abgründe einer zaubervollen Einsamkeit versenkten. Sie waren alle beide gut, der eine, weil er trügerische Illusionen zerstörte, der andere, weil er Illusionen erweckte, aus denen man nicht mehr erwacht.

Doch man soll nichts übertreiben. Der Herr Abbé Coignard kam sicherlich weder in seinem Tun noch selbst in seinem Denken dem Kühnsten aller Weisen und dem Glühendsten aller Heiligen gleich. Er verstand es nicht, sich in die Wahrheiten, die er entdeckte, wie in einen Abgrund zu stürzen. Auch in seinen verwegensten Gedankengängen bewahrte er die Haltung eines friedlichen Spaziergängers. Von der allgemeinen Geringschätzung, die ihm die Menschen einflößten, nahm er sich selbst nicht genügend aus. Ihm fehlte jene wertvolle Selbsttäuschung, durch die sich Baco und Descartes hochhielten, der Glaube an sich selbst, verbunden mit dem Unglauben an alle ändern. Er zweifelte an der Wahrheit, die er in sich trug, und verstreute die Schätze seines Geistes ohne jede Feierlichkeit. Ihm fehlte jenes Selbstvertrauen, das allen Gedankenfabrikanten gemein ist: sich selbst für mehr zu halten als die größten Genies. Das ist ein Mangel, der nie verziehen wird, denn der Ruhm wird nur denen zuteil, die sich darum bewerben. Bei dem Herrn Abbé Coignard war es zudem eine Schwäche und eine Inkonsequenz. Da er die philosophische Kühnheit bis zu ihren letzten Grenzen trieb, so hätte er keine Bedenken tragen dürfen, sich für den größten Menschen zu erklären. Doch sein Herz blieb einfältig und seine Seele lauter, und der Mangel an geistiger Überhebung über die Welt setzte ihn für immer in Nachteil. Trotzdem muß ich gestehen, daß er mir so lieber ist.

Ich stehe nicht an zu behaupten, daß der Herr Abbé Coignard, Philosoph und Christ zugleich, das Epikuräertum, das uns vor Schmerz bewahrt, mit der heiligen Einfalt, die uns zur Freude führt, unvergleichlich zu vereinen wußte.

Es ist beachtenswert, daß er den Gottesgedanken, so wie der katholische Glaube ihn darbot, nicht nur hinnahm, sondern auch versuchte, ihn durch Vernunftgründe zu stützen. Nie ahmte er die Fingerfertigkeit der berufsmäßigen Deiisten nach, die sich einen moralischen, philanthropischen und schamhaften Gott nach ihren Bedürfnissen zurechtmachen, einen Gott, mit dem sie zu ihrer Genugtuung in völligem Einvernehmen stehen. Die engen Beziehungen, die sie zu ihm herstellen, verleihen ihren Schriften viel Ansehen und ihrer Person große Bedeutung beim Publikum. Und dieser gouvernementale, gemäßigte, ernste, weltmännische Gott, dem jeder Fanatismus fernliegt, empfiehlt sie in den Versammlungen, Salons und Akademien. Der Herr Abbé Coignard stellte sich keinen so nützlichen Herrgott her. Doch da es nun einmal unmöglich ist, die Welt anders als denkend zu erfassen, und man den Kosmos für gedanklich erfaßbar halten muß, und wäre es auch, um seine Sinnlosigkeit zu beweisen, so nahm er als erste Ursache einen Geist an, den er Gott nannte, indem er diesem Ausdruck seine unendliche Unbestimmtheit ließ und sich im übrigen an die Theologie hielt, die bekanntlich das Unerkennbare mit peinlichster Genauigkeit erörtert.

Diese Zurückhaltung, welche die Grenzen seines Geistes bezeichnet, war glücklich; sie ersparte ihm, wie ich glaube, die Versuchung, auf irgendein leckeres philosophisches System anzubeißen, und bewahrte ihn davor, in eine jener Mausefallen zu geraten, in denen die freien Geister sich voreilig zu fangen pflegen. In der großen alten Rattenfalle heimisch, fand er mehr als einen Ausschlupf, um die Welt zu entdecken und die Natur zu beobachten. Ich teile seine religiösen Ansichten nicht und meine, daß sie ihn täuschten, wie sie die Menschen so manches Jahrhundert lang zu ihrem Glück oder Unglück getäuscht haben. Doch es scheint, als wären die alten Irrtümer weniger ärgerlich als die neuen und als wäre es – da wir ja doch irren müssen – das Klügste, uns an die abgenutzten Irrtümer zu halten.

Zum mindesten steht eines fest: wenn der Herr Abbé Coignard die Grundsätze des katholischen Christentums auch vertrat, so erlaubte er sich doch die eigenartigsten Schlüsse daraus zu ziehen. In der Orthodoxie wurzelnd, blühte seine üppig wuchernde Seele in Epikuräertum und Demut. Wie ich schon sagte, trachtete er stets danach, die nächtlichen Spukgestalten und die eitlen Schrecknisse zu verscheuchen, oder wie er sie nannte, die gotischen Teufeleien, die das religiöse Leben des schlichten Bürgersmannes zu einer Art von täglichem und kläglichem Hexensabbath machen. Moderne Theologen haben ihn bezichtigt, daß er übermäßige, ja ausschweifende Hoffnungen auf die göttliche Gnade setzte. Diesen Vorwurf finde ich auch in der Feder eines hervorragenden Philosophen wieder. Herr Jean Lacoste schreibt in der »Gazette de France«: »Der Herr Abbé Coignard ist ein Priester voller Gelehrsamkeit, Demut und Glauben. Ich behaupte freilich nicht, daß sein Wandel stets seine Bäffchen geehrt habe und daß seine Soutane nicht manchmal hängengeblieben sei … Doch wenn er der Versuchung unterliegt, wenn der Teufel in ihm eine leichte Beute findet, so verliert er doch nie das Vertrauen; er hofft durch Gottes Gnade nicht wieder zu fallen und in die Herrlichkeit des Paradieses einzugehen. Und in der Tat bietet er uns das Schauspiel eines erbaulichen Todes. So verschönt denn ein Fünkchen des Glaubens das Leben, und die christliche Demut steht den menschlichen Schwächen wohl an … Der Herr Abbé Coignard ist kein Heiliger; er verdiente vielleicht das Fegefeuer. Er verdiente es sogar sehr lange und er hat Gefahr gelaufen, in die Hölle zu kommen. Denn zu seinen Akten der Demut trat fast nie die Reue. Er baute zu sehr auf Gottes Gnade und gab sich nicht die geringste Mühe, ihr den Boden zu bereiten. Deshalb fiel er auch stets in seine Sünden zurück. So diente ihm der Glaube zu nichts, und er war fast ein Ketzer, denn das hl. Konzil von Trient hat in den Kanons VI und IX seiner sechsten Session den Bannfluch über alle verhängt, welche behaupten, ›daß es nicht in der Macht des Menschen stehe, seinen schlechten Wandel aufzugeben‹, und die solches Vertrauen auf die Gnade Gottes haben, daß sie sich einbilden, sie allein könne den Menschen retten, ›ohne jegliche menschliche Willensregung‹. Darum ist die Ausdehnung der göttlichen Gnade auf den Herrn Abbé Coignard wahrhaft wunderbar und liegt außerhalb des gewöhnlichen Heilsweges.«

Ich weiß nun freilich nicht, ob der Herr Abbé Coignard allzusehr auf die göttliche Gnade baute. Doch es steht fest, daß er die Gnade in weitem und natürlichem Sinne faßte und daß die Welt in seinen Augen weniger den Einöden der Thebaïs als den Gärten Epikurs glich. Und er lustwandelte in ihr mit der kecken Harmlosigkeit, die der Hauptzug seines Charakters und der Grundsatz seiner Lehre war.

Nie war ein Geist von gleicher Kühnheit so friedfertig und dämpfte seine Menschenverachtung mit gleicher Milde. Seine Moral vereinigte die Geistesfreiheit der zynischen Philosophen mit der Lauterkeit der ersten Mönche des heiligen Franziskus. Er verachtete die Menschen mit Zärtlichkeit. Er versuchte ihnen beizubringen, daß sie nur etwas einigermaßen Großes besäßen, nämlich ihre Leidfähigkeit, und daß sie sich folglich nichts so Nützliches und Schönes zulegen können als das Mitleid; daß sie nur groß seien im Wünschen und Leiden und daß sie sich folglich nachsichtige und freudenbringende Tugenden aneignen müßten. So gelangte er dahin, den Stolz als Quelle der größten Übel und als einziges widernatürliches Laster anzusehen.

Es scheint in der Tat, daß die Menschen durch die übertriebene Vorstellung, die sie von sich und ihresgleichen hegen, sich unglücklich machen, und daß sie bei einer bescheidneren und wahreren Auffassung der menschlichen Natur milder gegen sich wie gegen ihre Mitmenschen wären. Sein Wohlwollen also war es, das ihn dazu trieb, seine Nächsten in ihrem Empfinden, ihrem Wissen, ihrer Philosophie und ihren Einrichtungen zu demütigen. Es lag ihm am Herzen, ihnen zu zeigen, daß ihre blöde Natur nichts ersonnen noch erbaut hat, was sich kräftig zu verteidigen oder anzugreifen verlohnte, und daß sie bei einiger Einsicht in die gebrechliche Dürftigkeit ihrer größten Schöpfungen, als da sind Gesetze und Staaten, sich um ihretwillen nie ernstlich bekämpfen würden, sondern nur zum Spiel und zum Spaß, wie Kinder, die am Meeresstrande Schlösser von Sand bauen.

Man sollte sich deshalb auch weder wundern, noch daran Anstoß nehmen, daß er alle jene Vorstellungen herabsetzte, auf welche der Mensch seinen Ruhm und seine Ehre auf Kosten seiner Ruhe begründet. Die Majestät der Gesetze imponierte seinem klarblickenden Geiste nicht, und er beklagte die Unglücklichen, die so vielen Pflichten unterworfen seien, deren Sinn und Ursprung sich zumeist nicht ergründen läßt. Alle Grundsätze schienen ihm gleich anfechtbar. Er war daher zu der Annahme gelangt, daß die Staatsbürger eine so große Anzahl von ihresgleichen nur deshalb zur Ehrlosigkeit verdammen, um die Freuden der Achtung als Gegensatz zu genießen. Infolge dieser Ansicht zog er die schlechte Gesellschaft der guten vor, nach dem Vorbilde dessen, der unter Zöllnern und Buhlerinnen gelebt hat. Er bewahrte sich dabei die Reinheit des Herzens, die Gabe des Mitgefühls und die Schätze des Erbarmens. Ich rede hier nicht von seinen Handlungen, die in der »Bratküche zur Königin Gänsefuß« verbucht sind. Ich frage nicht danach, ob er besser war als sein Leben, wie man es von Madame de Mouchy gesagt hat. Unsre Handlungen sind nicht ganz unser; sie hängen weniger von uns als vom Zufall ab. Sie werden uns mit vollen Händen gegeben. Wir verdienen sie nicht immer. Unser unfassliches Denken ist alles, was wir wirklich besitzen. Daher die Nichtigkeit der Urteile der Welt. Immerhin stelle ich mit Genugtuung fest, daß alle geistreichen Menschen den Herrn Abbé Coignard ausnahmslos liebenswürdig und scherzhaft gefunden haben. Man müßte denn auch ein Pharisäer sein, wollte man in ihm nicht ein schönes Geschöpf Gottes sehen. Nachdem dies gesagt ist, kehre ich unverzüglich zu seinen Lehren zurück, auf die es hier allein ankommt.

Was er am wenigsten besaß, das war der Sinn für Verehrung. Den hatte die Natur ihm versagt, und er tat nichts, um ihn zu erwecken. Er fürchtete, indem er die einen zu hoch stellte, die andern herabzusetzen, und sein allgemeines Mitleid erstreckte sich ebensosehr auf die Niedrigstehenden wie auf die Stolzen. Den Opfern wandte er sich besonders liebevoll zu; doch auch die Henker erschienen ihm zu mitleidswürdig, um Haß zu verdienen. Er wünschte ihnen nichts Schlimmes und beklagte sie nur, daß sie böse seien.

Er glaubte nicht, daß die Gegenrache, gesetzliche oder persönliche, etwas andres täte, als Böses zum Bösen fügen. Ihm gefiel weder die pikante Schlagfertigkeit der Privatrache, noch die majestätische Grausamkeit der Gesetze, und wenn er gelegentlich lachte, weil man die Polizei durchprügelte, so war dies eine rein instinktive Regung angeborener Gutmütigkeit.

Das macht: er hatte sich vom Bösen eine einfache und greifbare Vorstellung gebildet. Er ging dabei lediglich von den Organen des Menschen und seinen natürlichen Empfindungen aus, ohne sie mit all den Vorurteilen zu verquicken, die in den Gesetzbüchern eine künstliche Wesenheit annehmen. Wie ich sagte, hatte er sich kein System gebildet, da er wenig geneigt war, Schwierigkeiten durch Sophismen zu lösen. Offenbar hemmte sogleich eine Schwierigkeit den Lauf seiner Gedanken über die Mittel, das Glück oder auch nur den Frieden auf Erden zu begründen. Er war überzeugt, daß der Mensch von Natur ein sehr boshaftes Tier sei und daß die Gesellschaften nur deshalb abscheulich wären, weil er sie aus seinem eignen Geiste geschaffen hat. Folglich erwartete er sich von einer Rückkehr zur Natur kein Heil. Ich zweifle, ob sein Empfinden sich geändert hätte, wenn er lange genug gelebt hätte, um Rousseaus »Emile« zu lesen. Als er starb, hatte Jean Jacques die Welt noch nicht durch die wahrste Empfindsamkeit und die falscheste Logik in Aufruhr versetzt. Er war damals erst ein kleiner Landstreicher, der zu seinem Unglück andere Abbés als den Herrn Jérôme Coignard auf den Bänken der menschenleeren Promenaden von Lyon traf. Man kann es bedauern, daß Herr Coignard, der alle Arten von Menschen kannte, dem jungen Freunde der Frau von Warens nicht zufällig begegnet ist. Doch das hätte nur eine amüsante Szene, ein romanhaftes Bild gegeben. Jean Jacques hätte an der enttäuschten Weisheit unsres Philosophen wenig Gefallen gefunden. Nichts gleicht der Philosophie Rousseaus weniger als die des Herrn Abbé Coignard. Die letztere ist durchtränkt mit wohlwollender Ironie. Sie ist nachsichtig und heiter. Auf die menschliche Schwäche begründet, hat sie eine solide Grundlage. Der Rousseaus fehlt der glückliche Zweifel und das leichte Lächeln. Da sie auf der imaginären Grundlage der natürlichen Güte unsres Geschlechtes fußt, so befindet sie sich in einer peinlichen Lage, deren ganze Komik sie selbst nicht empfindet. Sie ist eine Lehre von Menschen, die nie gelacht haben. Ihre Verlegenheit verrät sich durch schlechte Laune. Sie ist ohne Anmut. Das hätte freilich noch nichts auf sich; doch sie führt den Menschen zum Affen zurück und entrüstet sich über Gebühr, sobald sie sieht, daß der Affe nicht tugendhaft ist. Und darin ist sie widersinnig und grausam. Man erfuhr es bald, als die Staatsmänner den »Contrat social« auf die beste der Republiken anwenden wollten.

Robespierre verehrte das Andenken Rousseaus. Den Abbé Coignard hätte er für einen bösen Menschen gehalten. Ich erwähnte diesen nicht, wenn Robespierre ein Ungeheuer wäre. Doch für den Weisen gibt es keine wirklichen Ungeheuer. Robespierre war ein Optimist, der an die Tugend glaubte. Staatsmänner von dieser Gemütsart tun so viel Böses wie möglich. Wenn man es unternimmt, die Menschen zu lenken, so darf man nicht aus den Augen verlieren, daß sie boshafte Affen sind. Nur unter dieser Bedingung ist man ein menschlicher und wohlwollender Politiker. Der Wahnsinn der Revolution bestand darin, daß sie die Tugend auf Erden begründen wollte. Wenn man die Menschen gut und weise, frei, maßvoll und hochherzig machen will, so kommt man notwendigerweise dahin, sie alle zu töten. Robespierre glaubte an die Tugend: er führte die Schreckensherrschaft ein. Marat glaubte an die Gerechtigkeit: er forderte zweihunderttausend Köpfe. Von allen Geistern des 18. Jahrhunderts ist der Abbé Coignard vielleicht der, dessen Grundsätze denen der Revolution am meisten zuwiderlaufen. Er hätte keine Zeile von der Erklärung der Menschenrechte unterschrieben, und zwar wegen der übertriebenen und ungerechten Trennung, die darin zwischen dem Menschen und dem Gorilla vollzogen wird.

Vergangene Woche empfing ich den Besuch eines Anarchisten, der mich mit seiner Freundschaft beehrt und den ich liebe, weil er an der Regierung seines Landes noch keinen Anteil nimmt und sich daher viel Unschuld bewahrt hat. Er will nur deshalb alles in die Luft sprengen, weil er glaubt, daß die Menschen von Natur gut und tugendhaft seien. Er glaubt, wenn sie erst von ihrem Eigentum befreit, von den Gesetzen erlöst sind, so würden sie ihre Selbstsucht und ihre Bosheit abtun. So hat ihn der zärtlichste Optimismus zur brutalsten Wildheit geführt. Sein ganzes Unglück und Verbrechen besteht darin, daß er zum Berufe des Kochs, zu dem er verdammt war, eine paradiesische Seele mitbrachte, die für das goldene Alter gemacht war. Er ist ein sehr schlichter und ehrbarer Jean Jacques, der sich weder durch den Anblick einer Frau von Houdetot irreführen, noch durch die Herzenshöflichkeit eines Herzogs von Luxemburg erweichen ließe. Seine Lauterkeit überantwortet ihn seiner Logik und macht ihn blutdürstig. Er versteht das Beweisen besser als ein Minister, doch er geht von einem unsinnigen Prinzip aus. Er glaubt nicht an die Erbsünde, und doch ist dieses Dogma eine so feste und beständige Wahrheit, daß man darauf alles bauen konnte, was man wollte.

Warum waren Sie mit ihm nicht in meinem Arbeitszimmer, Herr Abbé Coignard, um ihm die Verkehrtheit seiner Doktrin begreiflich zu machen? Sie hätten mit diesem hochherzigen Utopisten nicht von den Wohltaten der Kultur und von den Staatsinteressen gesprochen. Sie wußten, daß dies Scherze sind, die man mit Unglücklichen anständigerweise nicht machen darf. Sie wußten, daß die öffentliche Ordnung nichts ist als die organisierte Gewalt und daß ein jeder den Anteil, den er daran nehmen soll, selbst zu bestimmen hat. Doch Sie hätten ihm ein wahres und furchtbares Bild von der Ordnung der Natur entworfen, die er wiederherstellen will; Sie hätten ihm statt des Idylls, das er träumt, eine Unmenge von blutigen Tragödien gezeigt und seine glückverheißende Anarchie als den Anfang einer furchtbaren Tyrannei offenbart.

Dies führt mich zur näheren Beleuchtung der Stellung, die der Herr Abbé Coignard in der Schenke »Zum Bacchusknaben« den Regierungen und Völkern gegenüber einnahm. Er achtete weder die Grundlagen der Gesellschaft, noch die Arche des Staates. Selbst die Kraft des heiligen Salbgefäßes zu Rheims, das zu seiner Zeit oberstes Staatsprinzip war, wie es heutzutage das allgemeine Stimmrecht ist, war für ihn dem Zweifel unterworfen und ein strittiger Gegenstand. Diese Freiheit des Denkens, die damals alle Franzosen verletzt hätte, erregt bei uns keinen Anstoß mehr. Doch es hieße unsern Philosophen mißverstehen, wollte man die Heftigkeit seiner Kritiken über die Mißstände im ancien régime entschuldigen. Der Herr Abbé Coignard machte keinen großen Unterschied zwischen den sogenannten absolutistischen und den sogenannten freien Regierungen; und hätte er in unsern Tagen gelebt, so dürfen wir annehmen, daß er auch in ihnen eine starke Dosis jener hochherzigen Unzufriedenheit bewahrt hätte, deren sein Herz voll war.

Da er auf die Prinzipien zurückging, so hätte er ohne Zweifel die Eitelkeit der unsrigen entdeckt. Ich folgere dies aus einer seiner Bemerkungen: »In einer Demokratie«, sagte er, »ist das Volk seinem eigenen Willen unterworfen, und das ist eine harte Knechtschaft. In der Tat ist ihm sein eigner Wille ebenso fremd und zuwider wie der des Fürsten. Denn der Wille der Gesamtheit ist im einzelnen Menschen wenig oder gar nicht vorhanden, und doch muß sich der einzelne seinem Zwange voll und ganz fügen. Und das allgemeine Stimmrecht ist nur ein Köder für Dumme, genau wie das heilige Salbgefäß von Rheims, das eine Taube im Schnabel vom Himmel herabtrug. Die Volksherrschaft beruht ebenso wie die Monarchie auf Fiktionen und lebt von Kunstgriffen. Es kommt lediglich darauf an, ob die Fiktionen anerkannt werden und ob die Kunstgriffe gelingen.«

Dieser Grundsatz genügt uns zu der Annahme, daß der Abbé auch in unsern Tagen jene lachende, stolze Freiheit bewahrt hätte, die seine Seele zur Zeit der Königsherrschaft zierte. Trotzdem wäre er nie zum Revolutionär geworden. Dazu besaß er zu wenig Illusionen, und er glaubte nicht, daß die Regierungen durch etwas andres als durch die blinden und tauben, langsamen und unwiderstehlichen Kräfte zerstört werden sollen, die alles mit sich fortreißen.

Er war der Meinung, daß ein Volk zu einer bestimmten Zeit nur eine bestimmte Regierungsform haben kann, und zwar deshalb, weil die Völker Körper sind und ihre Funktionen somit vom Bau ihrer Glieder und der Struktur ihrer Organe abhängen, d.h. vom Boden und von der Rasse, aber nicht von den Regierungen, die dem Volk angezogen sind wie die Kleider dem Menschen.

»Das Unglück«, setzte er hinzu, »liegt darin, daß es mit den Völkern geht wie mit dem Hanswurst auf dem Jahrmarkt. Sein Kleid ist zumeist zu weit oder zu eng, unbequem, lächerlich, milbig, voller Flecken und Ungeziefer. Man kann dem abhelfen, indem man es vorsichtig ausschüttelt und hier und da die Nadel und im Notfall auch die Schere anwendet, doch sehr behutsam, um nicht ein andres, ebenso schäbiges, anschaffen zu müssen. Andrerseits soll man das alte auch nicht um jeden Preis retten wollen, nachdem der Körper mit den Jahren seine Form verändert hat.«

Man ersieht hieraus, daß der Herr Abbé Coignard Ordnung und Fortschritt zu vereinen wußte und daß er im ganzen kein schlechter Staatsbürger war. Er stachelte niemand zur Empörung auf und wünschte mehr, daß die staatlichen Einrichtungen sich durch steten Gebrauch abnutzten und abrieben, als daß sie umgestürzt und mit groben Schlägen zertrümmert würden. Unaufhörlich wies er seine Schüler darauf hin, daß die rauhsten Gesetze sich durch den Gebrauch wundersam glätten und daß auf die Gnade der Zeit mehr Verlaß ist als auf die der Menschen. Weder hoffte noch wünschte er, daß das plumpe Corpus juris mit einem Schlage erneuert würde, denn er erwartete wenig von den Wohltaten einer plötzlichen Gesetzgebung. Bisweilen fragte ihn Jacques Tournebroche, ob er nicht fürchtete, daß seine philosophische Kritik gegen notwendige und von ihm selbst als notwendig anerkannte Institutionen nicht das unerwünschte Ergebnis hätte, das zu erschüttern, was erhalten werden muß.

»Warum,« fragte sein treuer Schüler, »warum denn, o bester aller Lehrer, die Grundlagen von Recht, Gerechtigkeit und Gesetz und allen bürgerlichen und militärischen Einrichtungen in den Staub zerren, da Sie ja doch zugeben, daß Recht und Gerechtigkeit, Heer, Beamte und Polizei nötig sind?« –

»Mein Sohn,« antwortete der Herr Abbé Coignard, »ich habe stets bemerkt, daß die Übel der Menschen aus ihren Vorurteilen stammen, wie die Spinnen und Skorpione aus dem Dunkel der Keller und der Feuchtigkeit der Gärten hervorkriechen. Es ist gut, mit Wischer und Besen in diesen dunklen Winkeln herumzufahren. Es ist sogar gut, hier und da etwas mit der Hacke an die Keller-und Gartenmauern zu klopfen. Das erschreckt das Ungeziefer und bereitet den notwendigen Einsturz vor.« –

»Das gebe ich gern zu,« antwortete der sanfte Tournebroche, »aber wenn Sie alle Grundsätze zerstört haben, o mein Lehrer, was bleibt dann übrig?«

Worauf der Lehrer erwiderte:

»Nach der Zerstörung aller falschen Grundsätze bleibt die Gesellschaft übrig, denn sie ist auf die Notwendigkeit gegründet, deren Gesetze, älter als Saturn, auch dann noch regieren werden, wenn Prometheus den Zeus entthront hat.«

Seit den Tagen, wo der Abbé Coignard also sprach, hat Prometheus den Zeus mehrfach entthront, und die Prophezeiungen des Weisen haben sich so buchstäblich erfüllt, daß man heute zweifelt – so ähnlich ist die neue Weltordnung der alten – ob die Herrschaft nicht dem alten Zeus verblieben ist. Manche leugnen sogar die Heraufkunft des Titanen. »Man sieht ihn, sagen sie, nicht mehr mit der Wunde auf der Brust, durch die ihm der Adler der Ungerechtigkeit das Herz ausriß und die ewig bluten sollte. Er weiß nichts mehr von den Schmerzen und dem Grimm der Verbannung. Er ist nicht der Gott der Arbeit, der uns verheißen ward und den wir erwarteten. Er ist der fette Zeus des alten, lächerlichen Olymp. Wann wird er erscheinen, der kraftstrotzende Menschenfreund, der Entzünder des Feuers, der Titan, der noch an seinen Felsen geschmiedet ist? Ein furchtbares Getöse, das vom Gebirge herschallt, verkündet, daß er seine zerfleischten Schultern von dem ungerechten Felsen erhebt, und wir fühlen über uns die Glut seines fernen Atems.«

Den Geschäften fernstehend, neigte Herr Coignard zu reinen Spekulationen und erging sich gern in allgemeinen Ideen. Diese Geistesrichtung, die ihm bei seinen Zeitgenossen schaden konnte, gibt seinen Gedanken nach anderthalb Jahrhunderten einigen Wert und eine gewisse Nützlichkeit. Wir können an ihnen unsre eignen Sitten besser kennenlernen und das Üble, das sie enthalten, leichter herausfinden.

Ungerechtigkeit, Dummheit und Grausamkeit fallen nur dann in die Augen, wenn sie allgemein sind. Wir sehen die unsrer Vorfahren, aber nicht unsre eigne. Nun aber gibt es keine einzige Epoche der Vergangenheit, wo der Mensch uns nicht unsinnig, ungerecht und roh erschiene; es wäre also wunderbar, wenn unser Zeitalter das besondere Privileg hätte, jeder Dummheit, Bosheit und Roheit bar zu sein. Die Meinungen des Herrn Abbé Coignard könnten uns zu unsrer Gewissensprüfung frommen, wenn wir nicht jenen Götzenbildern glichen, deren Augen nicht sehen und deren Ohren nicht hören. Bei einiger Ehrlichkeit und Selbstlosigkeit sähen wir sehr bald, daß unsre Gesetzbücher noch Brutstätten der Ungerechtigkeit sind, daß wir in unsern Sitten die ererbte Härte des Geizes und des Hochmuts bewahren, daß wir allein den Reichtum schätzen und die Arbeit nicht ehren. Unsre Gesellschaftsordnung erschiene uns als das, was sie wirklich ist: als unsichre und klägliche Ordnung, die, wo nicht durch die menschliche Gerechtigkeit, so doch durch die Gerechtigkeit der Dinge verurteilt wird und die schon zu wanken beginnt. Unsre Reichen erschienen uns ebenso stumpfsinnig wie die Maikäfer, die fortfahren, ein Blatt zu fressen, während der kleine Käfer, der in ihren Körper eingedrungen ist, bereits ihr Inneres zernagt. Wir ließen uns nicht mehr durch die falsche und platte Schönrednerei unsrer Staatsmänner täuschen; wir bemitleideten unsre Volkswirtschaftler, die sich über den Preis des Hausrates in dem brennenden Hause streiten. Die Aussprüche des Herrn Abbé Coignard zeigen uns eine prophetische Verachtung der großen Grundsätze der Revolution und der Volksrechte, auf die wir seit hundert Jahren, unter allen möglichen Gewalttaten und Rechtsbrüchen, eine unzusammenhängende Reihe von revolutionären Regierungen gegründet haben, die mit ernster Miene die Revolution verurteilten. Wenn wir diese scheinbar erhabenen und bisweilen blutigen Torheiten belächeln lernten, wenn wir inne würden, daß die modernen Vorurteile, genau wie die alten, in ihren Wirkungen lächerlich oder verächtlich sind; wenn wir die einen wie die andren in mitleidiger Skepsis richteten, so wären die inneren Kämpfe im schönsten Lande der Welt nicht so heftig und der Herr Abbé Coignard hätte für sein Teil an der allgemeinen Wohlfahrt mitgewirkt.

Die Ostereier

Inhaltsverzeichnis

Mein Vater hatte eine Bratküche in der Rue Saint-Jacques gegenüber der Kirche Saint-Benoît Ich behaupte nicht, daß er die Fastenzeit liebte; dieses Gefühl wäre bei einem Bratkoch unnatürlich gewesen. Doch er beobachtete die Fastenregeln als guter Christ, der er war. Da er zu arm war, um sich im erzbischöflichen Palast Dispense zu kaufen, so aß er an Fasttagen zum Abendbrot Stockfisch mitsamt seiner Frau, seinem Sohn, seinem, Hund und seinen Stammgästen, deren treuster mein teurer Lehrer, der Herr Abbé Coignard war. Meine fromme Mutter hätte es nicht gelitten, daß Miraut, unser Wachhund, am Karfreitag einen Knochen benagte. An diesem Tage gab sie dem armen Tier weder Fleisch noch Fett in seinen Brei. Umsonst stellte der Herr Abbé Coignard ihr vor, daß dies unrecht wäre und daß Miraut, der an den heiligsten Mysterien der Erlösung keinen Anteil hätte, seine Portion gerechterweise nicht geschmälert werden dürfte.

»Meine gute Frau,« sagte der große Mann, »für uns Glieder der Kirche ziemt es sich, Stockfisch zu essen; doch es liegt ein wenig Aberglaube, Gottlosigkeit, Vermessenheit, ja Lästerung darin, einen Hund in dieser Weise an Kasteiungen teilnehmen zu lassen, die nur deshalb von unendlichem Werte sind, weil Gott sie will, und die sonst verächtlich und lächerlich wären. Es ist dies ein Mißbrauch, den Ihre Einfalt entschuldigt, der aber bei einem Doktor der Theologie oder bei einem einfachen Christen von verständigem Geiste frevelhaft wäre. Ein solcher Brauch, meine teure Frau, führt gradenwegs zur fürchterlichsten Ketzerei. Er zielt auf nichts Geringeres ab als auf die Behauptung, daß Jesus Christus nicht nur für die Kinder Adams, sondern auch für die Hunde gestorben sei. Und nichts ist der Hl. Schrift mehr zuwider.«

»Mag sein,« antwortete meine Mutter. »Aber wenn Miraut am Karfreitag nicht fastete, so würde ich ihn für einen Juden halten und ihn verabscheuen. Heißt das eine Sünde begehen, Herr Abbé?«

Mein teurer Lehrer erwiderte sanftmütig, indem er einen Schluck Wein trank:

»Ach, teures Wesen, ich will nicht entscheiden, ob Sie sündigen oder nicht; ich sage Ihnen nur, daß Sie wahrlich ohne Arg sind und daß ich an Ihr ewiges Heil fester glaube, als an das von fünf bis sechs Bischöfen und Kardinälen, die ich kenne und die doch so schöne Abhandlungen über kanonisches Recht verfaßt haben.«

Miraut verschlang schnuppernd seinen Brei, und mein Vater machte mit dem Herrn Abbé Coignard einen kleinen Abstecher nach der Schenke »Zum Bacchusknaben«.

Also verbrachten wir die heilige Fastenzeit in der Bratküche »Zur Königin Gänsefuß«. Doch mit dem ersten Ostermorgen, wenn die Glocken von Saint-Benoît die Freude der Auferstehung verkündeten, steckte mein Vater Hühner, Enten und Tauben zu Dutzenden auf den Bratspieß, und Miraut, der im Winkel des hellodernden Herdes hockte, schnupperte den lieblichen Duft des Fettes und wedelte in stiller und nachdenklicher Heiterkeit mit dem Schwanze. Alt, müde und fast blind, genoß er doch noch die Freuden dieses Lebens, indem er seine Leiden mit einer Entsagung hinnahm, die sie ihm weniger schmerzlich machte. Er war ein Weiser; und es verwundert mich nicht, daß meine Mutter eine so vernünftige Kreatur an ihren frommen Werken teilnehmen ließ.

Nachdem wir dem Hochamt beigewohnt hatten, speisten wir in der duftenden Küche zu Mittag. Mein Vater brachte zu dieser Mahlzeit eine religiöse Freude mit. Er hatte zumeist ein paar Gerichtsschreiber und stets meinen teuren Lehrer, den Herrn Abbé Coignard zu Gaste. Zu Ostern im Jahre des Heils 1725 entsinne ich mich, daß mein teurer Lehrer uns Herrn Nikolaus Cerise mitbrachte, den er aus einem Hängeboden in der Rue des Maçons geholt hatte, allwo dieser gelahrte Mann Tag und Nacht für holländische Verleger Nachrichten aus der Gelehrten-Republik schrieb. Auf dem Tische erhob sich ein Berg roter Eier in einem Drahtkorbe. Und als der Herr Abbé Coignard das Tischgebet gesprochen, lieferten diese Eier den Gesprächsstoff.

»Man liest bei Aelius Lampridius,« begann Nikolaus Cerise, »daß ein Huhn, welches dem Vater des Alexander Severus gehörte, an dem Tage, da dieser künftige Kaiser geboren ward, ein rotes Ei legte.«

»Dieser Lampridius, der nicht sehr bei Verstand war,« erwiderte mein teurer Lehrer, »hätte solch eine Geschichte den Klatschbasen lassen sollen, die sie verbreiteten. Sie besitzen zuviel Urteilskraft, mein Herr, um aus diesem unsinnigen Märchen den christlichen Brauch abzuleiten, daß man am Ostertag rote Eier aufträgt.«

»Allerdings«, entgegnete Herr Nikolaus Cerise, »glaube ich nicht, daß dieser Brauch vom Ei des Alexander Severus stammt. Der einzige Schluß, den ich aus der von Lampridius berichteten Tatsache ziehen möchte, ist der, daß ein rotes Ei bei den Heiden eine Vorbedeutung der höchsten Macht war. Übrigens«, schloß er, »muß dieses Ei irgendwie gefärbt worden sein, denn die Hühner legen keine roten Eier.«

»Verzeihen Sie,« sagte meine Mutter, die am Herde stand und die Schüsseln garnierte, »in meiner Kindheit sah ich ein schwarzes Huhn, das bräunliche Eier legte. Ich glaube daher gern, daß es Hühner gibt, deren Eier rot oder von rötlicher Farbe sind, wie z. B. die Ziegelsteine.«

»Das ist wohl möglich,« sagte mein teurer Lehrer, »und die Natur ist in ihren Hervorbringungen viel mannigfacher und abwechslungsreicher, als wir insgemein wähnen. In der Erzeugung der Tiere gibt es Wunderlichkeiten aller Art, und man sieht in den Naturalien-Kabinetten seltsamere Mißgeburten als ein rotes Ei.«

»So gibt es«, fiel Herr Nikolaus Cerise ein, »im Kabinett des Königs ein fünffüßiges Kalb und ein Kind mit zwei Köpfen.«

»Ich sah noch was Besseres in Auneau bei Chartres,« sagte meine Mutter, indem sie ein Dutzend Ellen Wurst mit Kohl auf den Tisch stellte, dessen lieblicher Duft bis an die Deckenbalken stieg. »Ich sah, meine Herren, ein neugeborenes Kind mit Gänsefüßen und einem Schlangenkopfe. Die Wehemutter, die das Kind entband, entsetzte sich so, daß sie es ins Feuer warf.«

»Sehen Sie sich vor,« rief der Herr Abbé Coignard aus, »sehen Sie sich vor! Der Mensch wird vom Weibe geboren, um Gott zu dienen, und es ist unbegreiflich, daß er ihm mit einem Schlangenkopf dienen kann; und folglich gibt es keine Kinder der Art, und Ihre Wehemutter träumte oder hatte Sie zum besten.«

»Herr Abbé,« sagte Herr Nikolaus Cerise mit flüchtigem Lächeln, »Sie sahen so gut wie ich im Kabinett des Königs einen Fötus mit vier Beinen und zwei Geschlechtern, der in einem Glasgefäß mit Spiritus aufbewahrt wird, und in einem andern Glasgefäß ein Kind ohne Kopf mit einem Auge über dem Nabel. Konnten diese Mißgeburten Gott besser dienen als das Kind mit dem Schlangenkopf, von dem unsre Wirtin spricht? Und was sagen Sie zu denen mit zwei Köpfen, von denen man nicht weiß, ob sie auch zwei Seelen haben? Gestehen Sie zu, Herr Abbé, daß die Natur, die an solchen grausamen Spielen Gefallen findet, die Theologen etwas in die Enge treibt?«

Mein teurer Lehrer öffnete bereits den Mund zur Antwort, und ohne Zweifel hätte er den Einwand des Herrn Nikolaus Cerise völlig entkräftet, als meine Mutter, die, wenn sie redselig wurde, sich durch nichts hemmen ließ, ihm zuvorkam und mit lauter Stimme sagte, das Kind aus Auneau sei keine menschliche Kreatur gewesen und der Teufel hätte es mit einer Bäckersfrau gezeugt.

»Und der Beweis ist,« setzte sie hinzu, »daß kein Mensch daran dachte, es zu taufen, und daß man es am Ende des Gartens, in ein Laken gehüllt, begrub. Wäre es eine menschliche Kreatur gewesen, so hätte man es in geweihtem Boden bestattet. Wenn der Teufel einer Frau ein Kind macht, so tut er es in Tieresgestalt.«

»Meine liebe Frau,« antwortete ihr der Herr Abbé Coignard, »es ist seltsam, daß eine Bäuerin besser über den Teufel Bescheid weiß als ein Doktor der Theologie, und ich bewundere es, daß Sie sich in der Frage, ob die Leibesfrucht einer Frau der durch Gottes Blut erlösten Menschheit angehört oder nicht, auf die Alte aus Auneau berufen. Glauben Sie mir: diese Teufeleien sind nichts als schmutzige Wahnbilder, von denen Sie Ihren Geist säubern sollten. Bei den Kirchenvätern steht nichts davon geschrieben, daß der Teufel mit den Frauen Kinder zeugt. Alle diese Geschichten von teuflischer Buhlschaft sind widerwärtige Hirngespinste, und es ist eine Schmach, daß die Jesuiten und Dominikaner Abhandlungen darüber verfaßt haben.«

»Wohlgesprochen, Abbé,« sagte Herr Nikolaus Cerise, indem er eine Wurst von der Schüssel aufspießte. »Aber Sie antworten mir nicht auf das, was ich sagte: daß die Kinder, die ohne Kopf zur Welt kommen, nicht sehr dem Daseinszweck des Menschen entsprechen, der nach der Lehre der Kirche darin besteht, Gott zu erkennen, zu lieben und ihm zu dienen, und daß hierin wie in der Unzahl von Keimen, die verloren gehen, die Natur offen gesagt nicht theologisch und christlich genug ist. Ich möchte hinzusetzen, daß sie in keinem ihrer Akte irgendwie religiös ist und daß sie ihren Gott nicht zu kennen scheint. Das ist es, was mich erschreckt, Abbé.«

»Oh!« rief mein Vater, während er auf der Spitze seiner Gabel eine Geflügelkeule schwenkte, die er eben zerlegte, »oh, was sind das für finstere, garstige und wenig passende Reden am heutigen Feiertag! Die Schuld daran trägt meine Frau, die uns ein Kind mit Schlangenkopf auftischt, als wäre dieses Gericht für ehrbare Gäste erquicklich. Müssen denn aus meinen schönen roten Eiern so viele teuflische Geschichten auskriechen?«

»Ja, lieber Wirt,« sagte der Herr Abbé Coignard, »in der Tat entstehen alle Dinge aus dem Ei. Über diesen Gedanken haben die Heiden sehr philosophische Fabeln ersonnen. Doch daß aus so christlichen Eiern in antikem Purpurgewand, wie wir sie eben verzehrt haben, ein solcher Schwarm wüster Gottlosigkeiten auskriecht, das nimmt mich Wunder.«

Herr Nikolaus Cerise blinzelte meinen teuren Lehrer an und sagte zu ihm mit verkniffenem Lächeln:

»Herr Abbé Coignard, diese Eier, deren Schalen, mit roten Rüben gefärbt, unter unsern Füßen auf dem Boden herumliegen, sind ihrem Wesen nach weder so christlich noch so katholisch, wie Sie anzunehmen belieben. Die Ostereier sind im Gegenteil heidnischen Ursprungs und erinnern zur Zeit der Frühlingsnachtgleiche an das geheimnisvolle Aufblühen des Lebens. Es ist ein altes Symbol, das sich in der christlichen Religion erhielt«

»Man kann mit gleichem Rechte behaupten,« erwiderte mein teurer Lehrer, »daß es ein Symbol der Auferstehung Christi sei. Ich für mein Teil neige nicht dazu, die Religion mit symbolischen Spitzfindigkeiten zu belasten, und ich glaube daher gern, daß die Freude, Eier zu essen, die uns während der Fastenzeit verwehrt war, der einzige Grund ist, weswegen sie am heutigen Tage mit Ehren bei Tische erscheinen und mit dem Königspurpur angetan sind. Doch das ist einerlei, und dies alles sind Nichtigkeiten, mit denen die Gelehrten und Bibliothekare sich die Zeit vertreiben. Was in Ihren Reden von Bedeutung ist, Herr Nikolaus Cerise, das ist, daß Sie die Natur der Religion entgegensetzen und sie beide zu Feindinnen machen wollen. Das ist eine so furchtbare Gottlosigkeit, Herr Nikolaus Cerise, daß selbst dieser biedere Bratkoch erschaudert, ohne sie zu begreifen! Doch mich verwirrt sie nicht, und derartige Argumente können einen Geist, der sich des rechten Wegs bewußt ist, nicht einen Augenblick irreführen.

Sie, Herr Nikolaus Cerise, sind freilich auf dem Wege der Vernunft und Wissenschaft vorgegangen, welcher nur eine enge, kurze und schmutzige Sackgasse ist, an deren Ende man sich ruhmlos die Nase einrennt. Sie urteilten wie ein philosophischer Apotheker, der die Natur zu kennen wähnt, weil er einige ihrer Äußerlichkeiten wittert Und Sie behaupteten, die natürliche Zeugung, welche Mißgeburten hervorbringt, gehöre nicht zu den Geheimnissen Gottes, der die Menschen erschaffen hat, um seinen Ruhm zu künden. Pulcher hymnus Dei homo immortalis. Sie waren so großmütig, nicht von den Neugeborenen zu reden, die noch am selben Tage sterben, von den Irrsinnigen, Blöden und allen denen, die Ihnen nicht – nach dem Ausdruck des Lactantius – als schönes Loblied Gottes, pulcher hymnus Dei, erscheinen. Aber was wissen Sie davon, und was wissen wir