Römerblut

Inhaltsverzeichnis

Wenn Ihr in Rom gewesen seid, so sind Euch gewiß die kleinen Landgüter vor der Stadtmauer aufgefallen. Man hat ein paar Hufen Land, auf denen man Artischocken, Erbsen und Blumenkohl zieht, je nach der Jahreszeit. Man hat ein paar niedrige strohbedeckte Wohnhäuser, einen Eselstall, einen großen, gemauerten Brunnen und ein paar Hühnersteigen. Man hat natürlich eine Menge Federvieh und nicht nur Hühner, Truthähne, Enten, sondern auch Pfauen und Fasane.

Und dann schafft man sich, um ein bißchen besser zu leben, denn Grünzeug und Hühner werfen keinen glänzenden Gewinn ab, ein paar große Fässer römischen Schloßwein an und legt sie in eine der langen Hütten, die jede nicht mehr als ein Gelaß haben; dahin stellt man auch einen Ladentisch und ein Wandbrett mit Gläsern und Literflaschen, aber draußen auf dem Hof, rings um den Brunnen und die Hühnersteigen, ordnet man lange Bänke und feste Tische. Doch es weht von der Campagna, und der Wind streicht scharf und ungehemmt hier vors Stadtthor her. Darum bringt man kleine Schutzdächer über den Bänken an und umgiebt sie mit Schilfwänden, durch die die Sonne, gelb wie Gold, hereinrieselt. Zuletzt denkt man auch daran, ein Schild zu malen und hängt es über das kleine Mauerpförtchen, das nach der Straße und der Stadt führt. Und die Osteria ist fertig.

Nino Beppone war nun zehn Jahre in solch einer kleinen Osteria Kellner gewesen, man darf jedoch nicht glauben, des Lohnes und der Trinkgelder wegen, oder weil Nino zu nichts anderem taugte. Nino war ein prächtiger, ja ein gebildeter junger Mann; wenn er Jahr um Jahr Kellner in einer Osteria vor dem Stadtthor blieb, geschah es, weil er in Teresa, die älteste Tochter des Hauses, verliebt war.

Ah, wie Nino sie liebte! Sie war so schön. Sie war gerade in der Art schön, wie Nino es haben wollte, mit großen starken Zügen und warmen klaren Farben. Sie ging, sie ging wie eine Königin. Sie sprach mit einer hellen, klingenden Stimme, und keine Silbe ihrer Worte konnte verloren gehen. Sie lachte so rein, wie eine Silberglocke läutet. Ihre Hände waren schön, weiß und fest, und ihr Händedruck stärkend wie ein Segen.

Alle, die in die Osteria kamen, wollten bei ihr bestellen und wollten, daß sie immer hinter dem Schanktisch zur Hand sei. »Wo ist Teresa?« fragten sie ganz gewiß, wenn sie sie nicht sahen. Und das begriff Nino sehr wohl. Wußte er nicht selbst, um wie viel besser die Suppe schmeckte, wenn sie sie aus dem Kochtopf schöpfte, als wenn die Schwestern es thaten? War es nicht schon eine Freude, im selben Raume zu weilen wie sie?

Die Leute kamen nicht so sehr herein, um Wein zu trinken, als um Teresa alle ihre Sorgen erzählen zu können. Sie mußte hören, daß der Esel gestorben war, daß man sie im Ballspiel besiegt hatte, oder daß der tolle Pietro wieder jemandem das Messer in den Leib gestoßen. Nino wußte, daß junge, frische Bursche, die gar keine Sorgen hatten, zuweilen dasaßen und sich lange traurige Geschichten ausdachten, nur damit sie ein Weilchen bei ihrem Tische stille stand, ihnen zuhörte und sich ein wenig ihrer annahm. Ach nein, sie waren nicht in sie verliebt, sie wollten nur, daß sie den Wein in ihr Glas goß, oder ihnen eine Mandarine zusteckte, wenn sie gingen, oder sagte, daß sie in ihren Gebeten sich ihrer erinnern wollte.

Die anderen Schwestern verheirateten sich, sobald sie ihr sechzehntes Jahr erreicht hatten; eine zog fort, und eine blieb mit Mann und Kindern daheim. Aber Teresa wollte sich nicht verheiraten, und Nino wußte schon, warum. Sie wollte weder ihn noch irgend einen anderen aus dem Landvolk, einen Signor wollte sie.

Du lieber Gott, ja, sie war so stolz. Das sah man schon an der Art, wie sie das Haar aufsteckte, ganz wie eine Signorina, und an ihren Sonntagskleidern. Zuhause trug sie eine grüne Schürze und ein rotes Tuch um den Hals, aber wenn sie nach Rom ging, war sie schwarz gekleidet. Und sie hatte einen großen Hut mit vielfach gebogener Krempe und einen Federkragen um den Hals, so lang, daß er bis zum Kleidersaum reichte.

Eigentlich war es Nino nicht unerwünscht, daß sie keinen Tampagnolo nehmen wollte. Er, Nino, hatte keine Hoffnung, sie je zu bekommen. Er war dick und rund wie ein Mehlsack, und er hatte auch solch eine graue Müllerhaut. Und nur ein paar kleine Striche, anstatt Augen, rein ohne Farbe. Er war zu häßlich für sie. Aber da es nun seine guten Wege hatte, bis ihr Signor kam, und kein anderer den Versuch wagte, sie fortzunehmen, konnte Nino wenigstens Jahr aus Jahr ein als ihr Kamerad umhergehen. Und das war kein geringes Glück.

Natürlich sagte es ihr zu, eine Signora zu werden. Das einzige Unnatürliche war bloß, daß sie nicht einsah, daß sie schon eine war.

Die Tage draußen aus dem Meierhof dünkten Nino voll Seligkeit. Des Morgens, wenn Teresa ihre Vögel betreute, trug Nino ihr die Schale mit dem Mais. Vormittags half er ihr, das Unkraut ausjäten oder das Gemüse in Ordnung bringen, das auf den Markt geschickt werden sollte. Und abends, wenn die Arbeitsleute auf ihrem Heimweg eintraten, um ein Glas goldgelben Castello romano zu trinken, da stand sie am Fasse und füllte in die Maße ein, und er nahm sie aus ihrer Hand. Wenn es ein großer Tag war, Festtag oder Markttag und das Volk war zusammengeströmt, so daß alle Bänke übervoll waren und der ganze Hof von Drehorgelspielern und Verkäufern von gebratenen Äpfeln und Kastanien wimmelte, und er und sie atemlos und heiß zwischen den Tischen mit ihren Flaschen und Gläsern hin-und hereilen mußten, dann nickten sie einander zu, wenn sie zusammentrafen. Da fühlten sie sich so kameradschaftlich wie Soldaten, die in den Kampf ziehen.

An anderen Abenden, wenn keine Gäste kamen, saß Nino da und erzählte ihr aus Büchern, die er gelesen hatte. Sie wollte von nichts anderem hören, als vom alten Rom und am liebsten vom Aufstand der Plebejer gegen die Patrizier und von den mächtigen römischen Matronen. Nino wußte wohl, warum. Dasselbe Blut, sie fühlte sich vom selben Blut. Am nächsten Tage trug sie den Kopf noch viel stolzer, als früher. Nino wußte, daß er wie ein Tollhäusler handelte. Jedesmal, wenn er von Cornelia, der Mutter der Gracchen erzählte, entfernte er sie weiter von sich. Warum konnte er diese Erzählungen nicht sein lassen? Warum liebte er sie am Allermeisten, wenn sie den Nacken so hoch hob, und wenn ihre Augen blitzten?

Als sie vierundzwanzig Jahre alt war, hörte Nino die Leute sagen, daß es bald zu spät für sie sein würde, einen Mann zu bekommen. Sie war nicht mehr schön. Nino konnte nicht begreifen, was sie meinten. War sie nicht schön?

Eines Tages jedoch merkte er, daß sie recht gehabt hatten. Sie war wirklich im Begriff gewesen, alt zu werden. Sie mußte ganz verblaßt gewesen sein, obgleich er es nicht gemerkt hatte. Nun merkte er es daran, daß sie wieder aufzublühen anfing. Ihre frische Jugendschönheit kam aufs neue unter irgend einer grauen Hülle hervor. Was war das für ein Wunder? Nino erschrak beinahe, als er es sah.

Beinahe jeden Abend erschien jetzt ein kleiner Leutnant in der Osteria. Ach, ach, Nino konnte nicht leugnen, daß er das Niedlichste war, was man sehen konnte. Er hatte eine Uniform in Schwarz und Silber und ein weiches kindliches Gesicht. Und er war verliebt vom ersten Augenblick, da er sie sah. Und sie, war ihre Schönheit um seinetwillen wiedergekommen? Gefiel ihr der kleine Leutnant? War der Signor nun endlich erschienen?

Nino begann den Krieg und die Krieger zu hassen. Italien führte jetzt Krieg mit Abessinien, und es war Elend genug, daß man ein fremdes Volk angriff, das nichts Böses gethan hatte, es war Elend genug, das, was die Kriegsleute dort draußen anrichteten, hier zu Hause konnten sie es doch lassen, die Leute ins Unglück zu bringen.

Nino suchte Gleichgesinnte auf und kam in Friedensvereine. Hier trat er als Redner auf und forderte gebieterisch die Abschaffung des Kriegsheeres. Italien sollte nicht mehr als Land des Streites groß sein, sondern als ein Land des Friedens. Nino legte Ziffern vor, er tummelte sich mit Statistik und anderen wunderbaren Wissenschaften. Er merkte, daß man sich darüber wunderte, daß er nicht mehr war, als Bursche in einer Campagna-Osteria.

Bei diesen Versammlungen stellte Nino seinen Mann. Er beschloß Adressen an die Minister und Adressen an den König. Und in seinen Reden widerlegte er die kriegsfreundlichen Zeitungen Punkt für Punkt. ›Laßt uns diesem afrikanischen Unfug ein Ende machen, wir wollen unsere Soldaten wieder haben, um sie in die landwirtschaftlichen Schulen zu schicken!‹ das waren Ninos Worte.

Aber wenn Nino von solch einer Friedensversammlung nach Hause kam, bei der er den Krieg und die Kriegsheere abgeschafft hatte, ging Teresa ihm entgegen. Sie blieben bei dem Brunnen stehen, wo sie immer zu sitzen und zu plaudern pflegten, und Teresa wollte vom Krieg sprechen. Um den jetzigen Krieg kümmerte sie sich nicht, aber sie wollte wissen, was die Römer in früheren Tagen ausgeführt hatten. Nun war es Scipio, von dem er erzählen sollte. War es nicht Scipio, der nach Afrika gezogen war und die Schwarzen besiegt hatte? Und Nino mußte von ihm berichten. Nino mußte die halbe Nacht aufsitzen und von Krieg, Krieg, Krieg sprechen.

Während er davon sprach, wurde sie so strahlend schön. Die Laterne, die auf dem Brunnenstaket hing, zeigte sie Nino wunderbar schön und mit einem geheimnisvollen Lächeln um die Lippen. Nino begriff, daß sie nur einen Helden lieben konnte. Und was war er? Er, der es ihr nicht einmal abschlagen konnte, von diesen verabscheuungswürdigen Gemetzeln zu erzählen. Wenn sie einen Nero geliebt hätte, wäre Nino gezwungen gewesen, die Tyrannen zu preisen. Nino war gewiß kein Held.

Als sie sich mit Leutnant Ago verlobte, beschloß Nino sich frei zu machen und einen anderen Dienst zu suchen, aber er konnte nicht. Sie war gerade da so gut gegen ihn. Er mußte wohl bis nach der Hochzeit warten. Sie vergaß Nino keinen Augenblick. Sein Geburtstag kam, am Tage nach der Verlobung, und Nino war am Morgen düster und glaubte, dies würde der traurigste Tag seines Lebens werden. Aber er war noch nie vorher so gefeiert gewesen. Sie hatte ihm Taschentücher gestickt, mit Monogrammen, die über das halbe Tuch reichten. Sie hatte ihm auch eine Torte gebacken und bei ihrem Schutzpatron für ihn gebetet. Sie scherzte mit ihm. Nino mußte sich froh zeigen. Er mußte den ganzen Tag lachen, weil sie es wollte. Jetzt sollten alle glücklich sein. Aber bei Nacht konnte Nino nicht umhin zu weinen. Er hatte gemerkt, daß sie in diesen Tagen den Vögeln doppelte Rationen gab, der Esel hatte frisches Stroh bekommen, und die Katze durfte auf ihrer Schulter sitzen, so lange sie wollte. Nie hatte sich Nino so gleich gestellt mit der Katze, dem Esel und den Hühnern gefühlt.

Wie sie sich darüber freute, daß ihr Bräutigam Offizier war! Nächst dem, daß er ein Signor war, gefiel ihr sein militärischer Beruf. Als man sie einmal fragte, ob sie nicht Angst hätte, daß er nach Afrika geschickt würde, hörte Nino, wie sie antwortete:

»Wollte Gott, er könnte fahren. Dann würdet ihr sehen, wie alles anders werden würde,« denn dies war im Winter 1896, und da sah es aus, als sollte aus diesem Kriege mit Menelik und seinen Schoanern nichts rechtes werden. Man schickte nur Schiffe auf Schiffe mit Truppen aus. Die Truppen lagerten sich dort in der Aduagegend, aber man hörte nie, daß es zu etwas kam. Es war so, wie wenn Bienen aus dem Korbe fliegen und außerhalb des Fluglochs in einem großen Beutel hängen bleiben, und man geht jeden Tag hin und sieht sie an und ärgert sich, daß sie nicht schwärmen wollen.

Sie benahm sich auch großartig, als sie gegen Ende Februar erfuhr, daß er nach Afrika abgehen mußte. Nino sah keine Thräne in ihren Augen. Sie dachte nur daran, daß es nun endlich zu Schlachten und Siegen kommen würde. Jetzt sollte ihrem armen Italien geholfen werden.

Sie gab ein Abschiedsfest für ihn und seine Kameraden. Es war ein herrliches Fest. Der Castello Romanowein floß in Strömen. Sie hatte ihre fettesten Truthühner geschlachtet und die ersten Artischocken gepflückt. Und sie hatte Torten und Zuckerwerk bis in die Unendlichkeit gebacken.

Am Brunnenstaket hatte sie eine Fahnenstange errichtet und die italienische Flagge gehißt, und der arme Nino mußte ihr behilflich sein, Transparente zu verfertigen, auf denen zu lesen war: ›Es lebe die Armee! Sieg unseren tapferen Soldaten! Für Italien!‹ und andere hochgestimmte Worte. Er hatte ihr helfen müssen, farbige Lampions unter den Strohdächern zu befestigen, Sänger zu mieten, die die neuen Kriegslieder singen konnten; aber er hatte geschworen, daß sie ihn nicht dazu bringen würde, eine Rede zu halten. Armer Nino, sie forderte ihn nicht dazu auf, sie wagte es nicht, ihm etwas so hochwichtiges anzuvertrauen.

Aber abends, als die kleinen Feuerwerkskörper zu den Füßen der Gäste knallten, und als nicht nur die Strohdächer über den Bänken, sondern auch die Hühnersteigen, das Wohnhaus und der Brunnen von grün-rot-weißen Lampions strahlten, und als Nino drüben zwischen den Artischocken bengalische Feuer entzündete, da sah er, wenn sonst niemand, was sie eigentlich meinte. Es war, als wollte sie mit jedem Glas Wein, das sie den Soldaten kredenzte, sagen: ›Gehet hin und machet Ernst aus diesem. Roms Frauen wollen neue Triumphzüge hinauf gen Campidoglio schreiten sehen!‹

Niemand wußte besser als Nino, wie sehr Teresa diesen zierlichen kleinen Mann liebte, der gegen die Barbaren ausziehen sollte. Und als er sah, wie sie ihn gehen ließ, ohne zu klagen, ohne einen Augenblick schwach zu werden, mußte er sie fast gegen seinen Willen bewundern. Sie hätte eine der Matronen des alten Rom sein können, dachte Nino. Es rollt echtes Römerblut in ihren Adern.

Als Leutnant Ago mit seiner Truppe nach Neapel abreiste, von wo aus sie sich nach Afrika einschiffen sollte, begleitete Nino sie zur Eisenbahnstation.

Es war Nacht. Die Soldaten kamen in raschem Takt heranmarschiert, rings um sie schwärmten Gassenjungen, Verwandte und Kriegsenthusiasten. Unten an der Station war Roms Sindaco und mehrere Generale. Es wurden Reden gehalten, man rief: ›Es lebe Italien,‹ man küßte sich und man warf Blumen. Teresa stand bleich vor Begeisterung da und klagte nicht mit einem Worte. Es waren feine Damen da, die an die Soldaten Blumen verteilten. Das that sie nicht.

Sie dachte nur an einen, und sie gab ihm keine Blumen, aber er mußte ihr versprechen, Meneliks Hauptstadt zu erobern. Leutnant Ago versprach, mit der Krone der abessinischen Kaiserin zu ihr zurückzukommen. Und so schieden sie.

Aber Leutnant Ago war noch keine zwei Tage fort, er war noch gar nicht nach Afrika abgereist, als die Nachricht eintraf, daß der große Schwarm, der in Adua gelagert war, sich zu rühren anfing, er zog gegen die Abessinier und wurde geschlagen und zerstreut.

Das war gerade um die Zeit, als niemand an etwas anderes dachte, als den Sieg, der dort drüben erkämpft werden müßte, nachdem man so unerhört viele Menschen hingeschickt hatte. Der König selbst hatte sich nach Neapel begeben, um die Abfahrt der letzten Truppen anzusehen. An einem Tage sprach er ihnen von dem Ruhme, den sie dem geliebten Italien erringen würden, am zweiten Tage kam ein Telegramm, das von verlorener Schlacht, zerstreutem Heer, Flucht und Panik erzählte.

Ganz wunderlich, wie die Telegramme in diesen Tagen trafen. Meneliks Kugeln hatten nur etwa siebentausend Mann fällen können, aber die Depeschen nahmen das Werk der Kugeln auf, sie kamen von der Hochebene Aduas, passierten das Mittelmeer und erreichten ihr Ziel. Ach, kein italienisches Herz kam unversehrt davon!

Teresa kam ganz vernichtet zu Nino. »Was ist dort geschehen, Nino? Wie konnte es so schlecht gehen?«

Nino erzählte ihr, daß die Italiener nicht so sehr von ihren menschlichen Feinden geschlagen worden waren, als von der übermächtigen Natur. Dort mußte man Berge erklimmen, von denen die niedrigsten höher waren, als das Sabiner-und Albanergebirge aufeinander gelegt. Da gab es keinen Weg, sondern man zog über Halden, die mit so steifen und dornigen Disteln bewachsen waren, daß nicht einmal ein Esel sie fressen konnte. Mit der Nahrung war es so schlimm bestellt, daß die Soldaten sich über die Maultiere warfen, die auf dem Wege zusammengebrochen waren, und die Fleischstücke an sich rissen.

Aber das war doch nichts, um Menschen hinzuschicken! Ein Land, wo man Maulesel essen mußte!

Nein, das meinte Nino eben auch.

Nun konnte er frei von der Leber reden, endlich durfte er ihr sagen, wie gräßlich der Krieg war. Sie lasen die Zeitungen zusammen. Sie lasen, daß man fürchtete, daß die Truppen, die jetzt auszogen, Menelik und die Schoaner im Hafen von Massaua treffen würden; die jetzt fuhren, zogen dem sicheren Tod entgegen.

Sie las auch, daß die Barbaren vor Allem auf die Offiziere schossen. Sie lagen da und zielten auf ihr blaues Rangzeichen und holten sie von den Hügelabhängen herab, wenn sie mit ihren Soldaten vorrückten.

Und es gab so viel Grausamkeiten und Entsetzlichkeiten, die diese Schwarzen begingen; ihre Weiber plünderten die Toten und zerstückelten sie.

Da war es um sie geschehen. Sie bebte vor Entsetzen und wagte nicht mehr zu lesen.

Nino schob seine Mütze zurück und fragte, was sie eigentlich geglaubt habe, was die Leute im Kriege anfingen? Hatte sie sich nicht gedacht, daß sie sich dort töteten? Nein, sie wußte nicht, was sie geglaubt hatte. Das hatte sie nicht gedacht.

Da kam ein Brief vom Leutnant Ago, in dem er Abschied von ihr nahm. Das Dampfschiff, das ihn nach Afrika führen sollte, ging am nächsten Abend ab. Am Abend waren sie und Nino auf dem Wege nach Neapel. Was wollte sie dort? Nino glaubte, sie wolle ihren Bräutigam noch einmal sehen, bevor er abreiste. Selbst hatte sie sich es nicht so klar gemacht, warum sie fuhr, aber sie konnte es nicht lassen. Und keinen anderen als Nino hatte sie zur Begleitung haben wollen.

Als sie morgens in Neapel angelangt waren, suchte sie ihren Leutnant in der Kaserne auf.

Er kam ihr entgegen, verwirrt und hastig, aber sichtlich geschmeichelt und gerührt, daß sie gekommen war, um ihm Lebewohl zu sagen. Aber Teresa wurde totenbleich, als sie ihn erblickte. Er trug jetzt eine helle Uniform aus gelblich-grauem Leinen mit einem blauen Bande über der Brust. Das war das blaue Band, das die Schwarzen sich zur Schießscheibe nahmen.

Er mußte gleich wieder zu seinen Soldaten zurück. Konnte sie denn den ganzen Tag über nicht mit ihm zusammentreffen? Ja, sie wollten gegen ein Uhr miteinander frühstücken. Er konnte zwei Stunden abkommen. Sie besprachen den Ort, und er eilte weg.

Das war ein Tag! Nino und sie gingen hinab in die »Villa« und setzten sich auf eine Bank um zu warten. Sie that nichts anderes, als daß sie unaufhörlich Nino fragte, wie viel es auf seiner Uhr war. Und als sie nun allein mit Nino blieb, da war ihr Gesicht starr und bleich, wie das der Statuen, die rings um sie standen, und ihre Augen schienen nicht mehr zu sehen, als die steinernen. Nino fragte sie, warum sie so wunderlich vor sich hinstarre. Sie sagte, sie säße da und sähe seine Leiche an. Die ganze Nacht hatte sie ihn tot in einer Bergkluft liegen sehen, und auch die alten Weiber der Schwarzen waren ihr erschienen, wie sie herbeieilten, um zu plündern und zu zerstückeln. Nino hatte ja gesagt, daß sie dort die Leichen zerstückelten.

Nino versuchte, etwas Tröstliches zu sagen. Alle würden ja nicht fallen, meinte er, und Leutnant Ago, der so tapfer war, konnte sich der Barbaren schon erwehren.

Was half es, tapfer zu sein, sagte sie, wenn der Feind in Schlupfwinkeln verborgen lag und auf das blaue Band zielte. Hatte Nino das blaue Band bemerkt? Warum war es blau, das Todesband, warum war es nicht rot wie Blut?

Sie nahm Nino das Versprechen ab, daß er sie nicht verlassen würde. Sie nicht verlassen, den ganzen Tag.

»Nein, nein, Teresa.«

Er war auch mit beim Frühstück. Leutnant Ago bestellte ein Zimmer, und so aßen die drei zusammen.

Im Anfang war Teresa munter, sie zeigte sich ebenso sorglos, als säße sie daheim in der Osteria. Nino dachte; daß sie für diese zwei Stunden allen Kummer von sich werfen und einzig und allein glücklich sein wollte. Sie war sogar viel munterer, als gewöhnlich, sie kokettierte mit Leutnant Ago, bis er ganz toll war. Und sie ließ es zu, daß er sie küßte.

Nino sah in seinen Teller, aber er merkte es doch. von Zeit zu Zeit sah er sie an, und seine kleinen grauen Äuglein bettelten, gehen zu dürfen. Aber da kam ihre Hand, die ganz eiskalt und zitternd war, unter dem Tisch herangeschlichen und legte sich auf die seine und hielt ihn zurück. Der Leutnant fand ihn wohl höchst überflüssig, aber sie wollte ihn offenbar da haben.

Es gab sowohl Asti spumante, als Lacrimae Christi, und Nino trank, wie er nie zuvor getrunken hatte. Aber es gelang ihm nicht, sich taub oder blind zu machen.

Plötzlich, als Nino sich dachte, daß Leutnant Ago ganz berauscht von ihren Blicken und ihren Küssen sein müßte, neigte sie sich zu ihm und fragte schelmisch, ob er es nicht lassen könnte, zu reisen. Könnte er es nicht so einrichten, daß er daheim bleiben konnte?

Er lachte. Nein, er konnte nicht entrinnen.

Konnte er nicht krank werden? Sich krank stellen? Nein, nein, das konnte er nicht.

Aber hatte er denn daran gedacht, wie lange es dauern würde, bis sie ihre Hochzeit feiern konnten?

Der Leutnant glaubte kaum, daß sie im Ernst sprach. Gewiß hatte er daran gedacht, aber das ließ sich ja nicht ändern.

Teresa lächelte nicht mehr, sondern sprach mit einer Stimme, die vor Rührung bebte.

Sie bekannte, daß sie sich furchtbar gesehnt hatte, seit er abgereist war. Sie konnte keinen Tag ohne ihn sein. Könnte er sich nicht irgend einen Vorwand ausdenken, um bleiben zu können?

»Teresa,« sagte er, »ich wäre ja ein ehrloser Mann. Bitte mich nicht!«

»Ehrlos,« sagte sie mit schmeichelnder Stimme. »Wie kannst Du so etwas sagen? Du würdest ja nicht hier bleiben, weil Du feig bist, sondern weil ich Dich so liebe, daß ich Dich nicht ziehen lassen kann.«

Und sie lächelte und bat, aber Leutnant Ago war unbeweglich.

Da fing sie mit etwas anderem an. Wenn es nun zur Schlacht käme, und die Schwarzen zu schießen begännen? Wollte er ihr da versprechen, das blaue Band fortzunehmen?

Nein, das wollte er nicht. Er durfte es nicht.

Überhaupt glaubte der Leutnant eigentlich, daß sie im Grunde nur scherzte.

Nino sah sie, wie ermattet, den Kopf sinken lassen.

Als sie aufblickte, war jede Spur von Heiterkeit aus ihrem Antlitz verschwunden. Sie war so, wie sie am Vormittag gewesen.

Nun begann sie, ihm mit Heftigkeit alles zu erzählen, was sie von dem fremden Lande und der Kriegsführung der Schwarzen gehört hatte. Sie sprach von den Bergen und den Distelgewächsen und der Hungersnot. Als sie von den Mauleseln erzählte, lachte er und sagte, das sei nicht wahr.

Sie sprach vom Leutnant Petrini, der von den Weibern der Schoaner verbrannt worden war. Wußte er das, ja, wußte er das? Und was für eine Ehre war es, im Kampf mit den Barbaren zu siegen? Und sie schossen alle Offiziere nieder, wußte er das? Sie zielten auf die blauen Bänder und schossen auf die Offiziere.

»Ah, Teresa,« sagte er, »willst Du mich erschrecken? Sind das Worte für eine Römerin?« »Ja, ja gerade für eine Römerin. Roms Frauen hatten nie zugelassen, daß man ihnen raubte, was sie liebten.« Und sie war nur gekommen, um ihm zu sagen, sie wüßte bestimmt, daß er fallen würde, wenn er jetzt reiste. Sie sah ihn tot vor sich. Sie sah seinen Körper zerstückelt und blutig. Und nachdem sie dies gesagt hatte, war es mit aller Beherrschung vorbei, und sie zeigte ihm ihre ganze Verzweiflung. Sie warf sich vor ihm auf die Knie, bettelte, weinte, flehte.

Er war sehr gerührt, aber auch befangen. Einen Augenblick sah er zu Nino hin, gleichsam unschlüssig, was er beginnen sollte. Nino zog seine Uhr hervor. Ja gewiß, das war das Einzige, was er thun konnte. Sagen, daß die Zeit abgelaufen war, und dann gehen.

»Was willst Du?« sagte er. »Was willst Du, daß ich thun soll? Ich kann mich nicht losmachen.«

»Stelle Dich krank. Es reisen ohnehin so viele. Es ist unrecht, zu reisen. Die dort drüben verteidigen nur Haus und Heim. Sage, daß Du nicht gegen sie kämpfen willst.«

»Dann ist es um mich geschehen.«

»Du wirst dort sterben. Das ist nichts, um dafür zu sterben. Die Schwarzen haben uns nichts gethan. Laß sie in Frieden. Sie wollen uns ja unser Land nicht nehmen, warum sollen wir ihres rauben?«

»Teresa,« sagte Leutnant Ago, »sage mir jetzt mutig Lebewohl, so wie in Rom. Nun muß ich gehen.«

»Du mußt?«

»Ja.«

»Nun so geh!«

»Teresa!«

»Geh doch. Ich werde versuchen, nicht an Dich zu denken. Du bist für mich tot.«

Sie stand nicht auf, sondern blieb auf dem Boden liegen. Sie sah ihn nicht einmal an. Er strich über ihr blauschwarzes Haar. Sie rührte sich nicht. Er seufzte tief, wußte nicht, was er sagen oder thun sollte, und ging wirklich.

Mit einem angstvollen Griff drückte er Ninos Hand. Es war, als vertraute er Teresa ihm an. Abends, gegen zehn Uhr, standen Nino und Teresa am Hafen. Ein paar große Dampfer lagen da, bereit, abzugehen, und eine Menge Boote wartete darauf, die Soldaten hinzubringen. Einige tausend Menschen standen auf dem Quai, um die Abfahrt anzusehen.

Aber das war ein Unterschied, jetzt nach der Niederlage! Früher im Winter hatte man nicht genug jubeln können, als die Truppen an Bord geführt wurden. Jetzt lag nichts als Düsterkeit über den Wartenden. Man würde am liebsten die Boote und die Dampfer versenkt haben, damit sie keinen Sohn Italiens nach dem verfluchten Barbarenland führen konnten. Die Soldaten kamen so still, als wollten sie sich fortschleichen. Keine Musik, keine Schüsse, keine Hochrufe. Aber aus der wartenden Menge stieg ein dumpfes Murren der Empörung auf, und man beschleunigte die Einschiffung so viel, als nur denkbar. Man war nicht ganz sicher, daß das Volk nicht auf den Gedanken verfiel, die Abfahrt zu verhindern.

Teresa schien etwas Ähnliches zu hoffen. »Sie werden es nicht zulassen, Nino,« sagte sie. »Alle diese Männer werden es nicht zulassen, daß man ihre Söhne fortführt, damit sie von den Barbaren geschlachtet werden.«

Aber ein Boot voll nach dem anderen wurde weggebracht, und die Menge ließ es geschehen. Einige Menschen brachen in die Reihen der Soldaten ein, aber nur um zu küssen und Abschied zu nehmen. Nino sah Leutnant Ago am Quai stehen und das Einsteigen in die Boote überwachen.

Ah, wo war Teresa? Eben erst hing sie an Ninos Arm, aber jetzt sah er sie unten am Landungsplatz. Sie schlang die Arme um Leutnant Ago. Er küßte sie, dann wollte er sich aus ihrer Umarmung lösen. Es war nun die Reihe an ihm, einzusteigen.

Sie schien sich zurückzuziehen, aber da sah Nino etwas Blankes in ihrer Hand leuchten. Sie schien den Leutnant noch einmal umarmen zu wollen. Im selben Moment wankte dieser und schrie auf.

Nino war dort unten. Er riß Teresa an sich. Er zog sie in den Volkshaufen, in das heißeste Gedränge.

»Stehe stille hier.«

Sie lachte beinahe irrsinnig. »Jetzt wird er nicht reisen, Nino,« sagte sie.

Nino packte sie beim Handgelenk. »Schweig,« sagte er und drückte, so daß es schmerzte.

»Meinethalben können die Gendarmen …«

Nino drückte mit eiserner Faust zu, und sie schwieg.

Das war ein Drängen, ein Hin-und Herstoßen. Nino blieb gelassen in dem dichtesten Getümmel. Er versuchte nicht zu fliehen.

»Recht so,« flüsterte ein Neapolitaner Nino zu. »Nur stille stehen, so daß die Gendarmen keinen Verdacht schöpfen. Kein Neapolitaner wird Euch verraten.«

Teresa begann plötzlich zu schluchzen.

»Laß das sein,« sagte er, »Du darfst nicht.«

Und ihre Thränen versiegten. Sie stand stumm und still da, so lange Nino es wollte. Er hatte sie ganz in seiner Gewalt.

Leutnant Ago wurde fortgetragen, die Polizei begann nach der zu forschen, die ihn verwundet hatte. Nino und Teresa hörten, wie man der Menge Fragen stellte. »Wohin war sie geflohen? Wer hatte sie gesehen?«

Es war eine große Signorina – nein, eine kleine. – Hier hatte man sie gesehen – nein, hier. Sie hatte den Weg zur Station genommen – nein, nach Santa Lucia. Und die Polizisten zerstreuten sich nach rechts und links.

Nino führte Teresa zur Eisenbahnstation, und sie reisten kühn nach Hause. Er verließ sich darauf, daß Leutnant Ago sie nicht angeben würde.

In der Zeitung las er auch am nächsten Tag, daß der Leutnant erklärt habe, er kenne die Frau nicht, die ihn verwundet hatte.

Er war verwundet, aber nicht gefährlich. In der nächsten Woche kam ein Brief von ihm an Teresa.

Seit der Reise nach Neapel ließ sie sich in Allem von Nino lenken und leiten. Nun kam sie auch mit dem Briefe zu ihm.

»Lies ihn, Nino,« bat sie.

Er erbrach das Couvert, sie stand zitternd daneben.

»Ist es aus, Nino?« fragte sie.

Nino antwortete ja, so angstvoll, als verkündete er ihr ein Todesurteil.

»Laß mich hören,« sagte sie und richtete sich auf. Nino las ihr vor, daß Leutnant Ago sie nicht mehr liebte. »All meine Liebe ist tot,« schrieb er, »meine arme Liebe ist tot.«

Sie zuckte verächtlich die Achseln.

»Die Liebe eines Signor verträgt es wohl nicht, Blut zu sehen,« sagte sie.

»Du, Teresa,« schrieb Leutnant Ago, »Du warst für mich des Vaterlandes Stolz, Du warst das wiedergeborene Rom, Du warst das starke Weib der Vorzeit. Du warst die, die die Römer einst zu Helden machen sollte, Du solltest Seelenstärke genug haben, um uns hinauszuschicken, um die Welt zu erobern. Vergieb mir, daß ich mich täuschte. Nun weiß ich, daß die alten Römerinnen tot sind, die Töchter des neuen Rom senden keinen Mann hinaus, um Ehre zu erringen, sie haben nur den Mut, ihn zu hindern, seine Pflicht zu thun.«

Teresa legte ihre Hand auf die Ninos. »Ich will nicht mehr hören,« sagte sie.

Nino schwieg.

»Wenn ich es nicht gethan hätte, Nino,« sagte sie, »würde er jetzt tot sein. Ich verstehe nicht, was er meint. Ich sah ihn tot in einer Bergschlucht liegen. Da läge er jetzt, wenn ich nicht gewesen wäre. Wie konnte ich ihn da ziehen lassen?«

»Findest auch Du, Nino, daß ich feige bin?« fragte sie. »Bin ich entartet? habe ich keinen Tropfen Römerblut in meinen Adern?«

Nino sah zu ihr auf, wie sie da schön und stolz und trotzig vor ihm stand. Er liebte sie, so wie er sie immer geliebt, und er sah seine ganze Zukunft vor sich. Sie würde nie heiraten, er würde sie nie verlassen können, und sie würden das Leben zusammen leben, sie als Herrscherin, er als Knecht. Die Zeit, die nun vorbei war, in der er beinahe Herrscher gewesen, die kehrte nicht zurück. Sie nahm bald wieder die Zügel der Gewalt an sich.

»Sag mir, Nino,« fragte sie, »waren die Frauen des alten Rom wilde Tiere? Gaben sie zu, daß man ihnen das raubte, was sie liebten?«

Nie hatte Nino so wie jetzt begriffen, was das neue Italien von dem alten unterschied, aber er schloß die Augen vor allen Zeugnissen der Geschichte, denn er war aufs neue Teresas Sklave und Knecht geworden und antwortete, so wie sie es wünschte, daß in ihren Adern Römerblut floß, das edelste Römerblut.

Die Grabinschrift

Inhaltsverzeichnis

Jetzt beachtet gewiß keine Menschenseele das kleine Kreuzlein, das in einer Ecke des Svartsjöer Friedhofs steht. Jetzt gehen alle Kirchenbesucher daran vorbei, ohne einen Blick darauf zu werfen. Und es ist ja nicht wunderlich, daß keiner es bemerkt. Es ist so niedrig, daß Klee und Glockenblumen ihm bis über die Arme reichen und Timothé darüber wächst. Auch nimmt sich keiner die Mühe, die Inschrift zu lesen, die da steht. Die weißen Buchstaben sind nun fast gänzlich vom Regen verwischt, und es scheint nie jemandem einzufallen, sie zu Worten zusammenzusetzen.

Aber es ist nicht immer so gewesen. Das kleine Kreuz hat seinerzeit viel Staunen und Verwunderung erweckt. Eine Zeitlang konnte niemand den Fuß auf den Svartsjöer Friedhof setzen, ohne zu dem Kreuze hinzugehen. Und bekommt ein Mensch aus jener Zeit es noch heute zu Gesicht, so sieht er sogleich eine ganze Geschichte vor sich …

Er sieht das ganze Kirchspiel Svartsjö in Winterschlummer versenkt und mit glattem weißen Schnee bedeckt, der eine und eine halbe Elle hoch liegt. So sieht es dort aus, daß es kaum möglich für einen Menschen ist, sich zurechtzufinden. Man muß nach dem Compaß gehen, wie auf dem Meere. Es ist keinerlei Unterschied zwischen Strand und See, das Stoppelfeld liegt ebenso glatt da, wie die Erde, die hunderte Ernten Hafer getragen. Die Köhlerleute, die auf großen Moorflächen und nackten Bergfirsten hausen, können sich einbilden, daß sie über ebenso viel gepflügten und bebauten Boden gebieten, wie der reichste Großbauer.

Die Wege haben ihre sicheren Bahnen zwischen den grauen Zäunen verlassen und abenteuern nun über Wiesen und den Fluß entlang. Selbst drinnen zwischen den Gehöften kann man leicht verwirrt werden, Plötzlich kann man entdecken, daß der Weg zum Brunnen quer über die Spireahecke des kleinen Rosenbeets gelegt ist. Aber nirgends ist es so unmöglich sich zurechtzufinden, wie auf dem Kirchhof. Fürs erste ist die graue Steinmauer, die ihn vom Pfarrhof trennt, ganz überschneit, so daß er jetzt völlig mit diesem zusammenfließt. Fürs zweite ist der Kirchhof nunmehr bloß ein großes weißes Feld, nicht die mindeste Unebenheit in der Schneedecke verrät die vielen Anhöhen und Hügelchen des Totenackers.

Auf den meisten Gräbern stehen Eisenkreuze, an denen dünne kleine Herzen hängen, die im Sommer der Wind bewegt. Jetzt sind sie alle überschneit. Diese kleinen Eisenherzen können nicht mehr ihre wehmütigen Weisen von Schmerz und Sehnen erklingen lassen. Leute, die drinnen in Städten aus Arbeit waren, haben für ihre Toten daheim Trauerkränze mit Blumen aus Perlen und Blättern aus Eisenblech mitgebracht, und diese sind so geachtet, daß sie auf den Gräbern in kleinen Glaskasten liegen. Aber nun sind auch sie unter dem Schnee verborgen und begraben. Nun ist das Grab, das solchen Schmuck trägt, um nichts vornehmer als irgend ein anderes.

Ein paar Schneebeerenbüsche und Syringenhecken ragen aus der Schneedecke empor, allein die meisten sind verborgen. Die nackten Zweige, die aus dem Schnee hervorstechen, sind einander wunderlich gleich. Sie können dem nicht zur Richtschnur dienen, der sich auf dem Kirchhof zurechtzufinden sucht. Alte Mütterchen, deren Brauch es ist, allsonntäglich einzutreten, um einen Blick auf ihr Grab zu werfen, kommen jetzt des Schnees wegen nicht weiter als ein Stück über den Hauptweg. Dort bleiben sie stehen und versuchen zu erraten, wo »das Grab« liegen kann. Ist es bei diesem Busch oder bei jenem? Und sie fangen an, sich nach dem Schmelzen des Schnees zu sehnen. Es ist, als sei der Entrissene so unsagbar weit von ihnen entfernt, seit sie nicht mehr die Stelle sehen können, an der er in die Erde versenkt ward.

Da sind auch ein paar große Steine und Kreuze, die sich über den Schnee erheben. Aber es sind so wenige. Und der Schnee hängt über ihnen, so daß man das eine nicht vom andern unterscheiden kann.

Ein einziger Weg ist auf dem Kirchhof gebahnt. Er führt den Hauptgang entlang zu einem kleinen Leichenhaus hin. Soll jemand begraben werden, so wird der Sarg in das Leichenhaus getragen, und dort hält der Pfarrer die Grabrede und nimmt die Zeremonie der Beerdigung vor. Es ist nicht daran zu denken, daß der Sarg in die Erde kommen kann, solange dieser Winter währt. Er muß im Leichenhause stehen bleiben, bis Gott Tauwetter sendet und die Erde wieder für Hacke und Spaten bearbeitbar wird.

Gerade während der Winter in seiner strengsten Laune ist und der Kirchhof ganz unzugänglich, stirbt ein Kind beim Hüttenherrn Sander auf dem Werke Lerum.

Das ist ein großes Werk, Lerum, und Hüttenherr Sander ist ein mächtiger Mann. Er hat sich jüngst erst ein Familiengrab auf dem Kirchhof herstellen lassen. Man erinnert sich gut daran, wenn es auch jetzt unter dem Schnee verborgen ist. Es ist von einem behauenen Steinrand umgeben und einer dicken Eisenkette; mitten auf dem Grabe steht ein Granitblock, der den Namen trägt. Dort steht das einzige Wort Sander mit großen Lettern eingegraben, die über den ganzen Kirchhof leuchten.

Aber jetzt, da das Kind tot ist und das Begräbnis zur Sprache kommt, sagt der Hüttenherr zu seiner Frau:

»Ich will nicht, daß dieses Kind in meinem Grabe liege!«

Mit einemmale sieht man sie vor sich. Da ist der Speisesaal auf Lerum, und da sitzt der Hüttenherr beim Frühstückstisch und ißt allein, wie er es zu thun pflegt. Seine Gattin Ebba Sander lehnt im Schaukelstuhl am Fenster, von wo sie die Aussicht über den See und die Birkenhaine hat.

Sie ist dagesessen und hat geweint, aber als der Mann dieses sagt, werden ihre Augen mit einemmal trocken. Die ganze kleine Gestalt zieht sich vor Schrecken zusammen, sie beginnt zu zittern, als fühlte sie starke Kälte.

»Was sagst Du, was sagst Du?« fragte sie. Und sie spricht so, wie wenn man vor Kälte klappert.

»Es widerstrebt mir,« sagt der Hüttenherr. »Vater und Mutter liegen da und es steht Sander auf dem Steine. Ich will nicht, daß dieses Kind dort liege.«

»Ah so, das hast Du Dir ausgeheckt?« sagt sie, fortwährend erschauernd.

»Ich wußte wohl, daß Du Dich einmal rächen würdest.«

Er wirft die Serviette fort, erhebt sich vom Tische und steht breit und groß vor ihr. Es ist gar nicht seine Absicht, seinen Willen mit vielen Worten durchzutrotzen. Aber sie kann es ihm ja ansehen, wie er da steht, daß er seinen Sinn nicht ändern kann. Der ganze Mann ist schwere, unerschütterliche Halsstarrigkeit.

»Ich will mich nicht rächen,« sagte er, ohne die Stimme zu erheben. »Ich kann es nur nicht ertragen.«

»Du sprichst, als handelte es sich nur darum, ihn aus einem Bett in das andere zu legen,« sagt sie. »Und er ist ja tot, ihm kann es wohl gleich sein, wo er liegt. Aber ich bin dann eine verlorene.«

»Ich habe auch daran gedacht,« sagt er, »aber ich kann nicht.«

Zwei Leute, die mehrere Jahre miteinander verheiratet gewesen sind, brauchen nicht viele Worte, um sich zu verstehen. Sie weiß schon, daß es ganz zwecklos wäre, wollte sie versuchen, ihn zu bewegen. »Warum mußtest Du mir damals verzeihen?« sagt sie und ringt die Hände. »Warum ließest Du mich auf Lerum bleiben als Dein Weib und versprachst, mir zu vergeben?«

Er weiß bei sich, daß er ihr nicht schaden will. Er kann nichts dafür, daß er jetzt an der Grenze seiner Nachsicht angelangt ist. »Sag’ den Nachbarn, was Du willst,« sagt er. »Ich schweige schon. Gieb vor, daß Wasser im Grabe ist, oder sage, es sei nicht Raum für mehr Särge, als die von Vater und Mutter und meinen und Deinen.«

»Und das sollen sie glauben!«

»Du mußt Dir helfen, so gut Du kannst,« sagt er.

Er ist nicht böse, sie sieht, daß er es nicht ist. Es ist, wie er selbst sagt. Er kann sich in diesem nicht überwinden.

Sie rückt sich höher in den Stuhl hinauf, verschränkt die Arme hinter dem Kopf und sitzt da und starrt zum Fenster hinaus, ohne etwas zu sagen. Das Entsetzliche ist, daß es so vieles im Leben giebt, das einen überwältigt, vor allem ist es furchtbar, daß in einem selbst Mächte emporsteigen, die man nicht lenken kann. Vor einigen Jahren, als sie schon eine besonnene, verheiratete Frau war, kam die Liebe über sie. Solch eine Liebe! Es war nicht daran zu denken, daß sie sie hätte regieren können. Was nun Gewalt über ihren Mann bekam, war es Rachbegier? Er ist nie böse auf sie gewesen. Er verzieh ihr sogleich, als sie kam und gestand. »Du bist von Sinnen gewesen,« sagte er und ließ sie weiter als seine Gattin leben.

Aber obgleich es ein Leichtes sein kann, zu sagen, daß man vergiebt, mag es schwer genug fallen, es zu thun. Vor allem ist es schwer für einen, der tiefsinnig und schwerblütig ist, der niemals vergißt und niemals aufbraust. Was er auch sagen mag, im Herzen sitzt etwas, das hungert und darnach schreit, sich sättigen zu dürfen an eines anderen Leid. Ein wunderliches Gefühl hat sie immer gehabt, daß es besser wäre, wenn er damals so böse geworden wäre, daß er sie geschlagen hätte. Da hätte er nachher wieder gut werden können. Nun geht er umher und ist mürrisch und verdrossen, und sie ist schreckhaft geworden. Sie geht wie ein Pferd an der Deichsel. Sie weiß, daß hinter ihr jemand sitzt, der die Peitsche in der Hand hält, wenn er sie auch nicht gebraucht. Und nun hat er sie gebraucht. Nun ist sie eine Verlorene.

– – – – – – –

Die Menschen sagen, daß sie nie einen solchen Schmerz gesehen, wie den ihren. Sie sieht aus wie ein Steinbild. In diesen Tagen vor dem Begräbniß weiß man nicht, ob sie wirklich lebt. Es ist unmöglich zu sehen, ob sie hört, was man sagt, ob sie weiß, wer zu ihr spricht. Sie scheint keinen Hunger zu fühlen, sie scheint draußen in der bitteren Kälte gehen zu können, ohne zu frieren. Aber es ist nicht Schmerz, was sie versteinert, es ist Entsetzen.

Sie denkt nicht daran, daheim zu bleiben am Begräbnistag. Sie muß mit zum Friedhof, sie muß mit im Trauergefolge gehen, gehen und wissen, daß alle, die da gehen, glauben, daß die Leiche zu dem großen Sanderschen Grabe geführt wird. Sie denkt, daß sie unter all der Verwunderung und dem Staunen, das sich gegen sie wenden wird, zusammenbrechen muß, wenn er, der an der Spitze des Zuges schreitet, ihn zu einem unbemerkten Grabplatz hinführt. Es wird ein Murmeln der Verwunderung von Reihe zu Reihe gehen, obgleich dies ein Leichenzug ist. Warum darf das Kind nicht in dem Sanderschen Grabe liegen? Man wird sich der ungewissen, unbestimmten Gerüchte erinnern, die einmal über sie im Schwange waren. Es muß wohl irgend einen Anlaß zu diesen Geschichten gegeben haben, wird man sagen. Bevor der Leichenzug vom Kirchhof wiederkehrt, wird sie gerichtet und verloren sein.

Das einzige, was ihr helfen kann, ist: selbst mit dabei zu sein. Sie wird da gehen, mit ruhigem Antlitz, wird aussehen, als ob alles in Ordnung wäre, vielleicht werden sie es dann glauben, das, was sie sagt, um die Sache aufzuklären.

Der Mann fährt auch mit zur Kirche. Er hat alles geordnet, die Begräbnisgäste geladen, den Sarg bestellt und bestimmt, wer ihn tragen soll. Er ist zufrieden und gut, seit er seinen Willen durchgesetzt hat.

Es ist Sonntag, der Gottesdienst ist vorüber, und der Leichenzug stellt sich vor der Gemeindestube auf. Die Träger legen die weißen Tragtücher über ihre Schultern, alle Standespersonen von Lerum gehen in der Prozession mit und ein großer Teil der Kirchenbesucher.

Während die Procession sich aufstellt, denkt sie, daß sie sich jetzt aufstellen, um einen Verbrecher zum Richtplatz zu geleiten.

Wie sie sie ansehen werden, wenn sie zurückkehren. Sie ist gekommen, um sie vorbereiten zu können, aber sie hat kein Wort über die Lippen gebracht. Sie kann nicht ruhig und besonnen sprechen. Was sie thun könnte, wäre, so heftig und laut zu jammern, daß man es über den ganzen Kirchenplatz hörte. Sie wagt nicht, die Lippen zu regen, damit dieser Schrei nicht über sie hereinbreche.

Die Glocken beginnen sich zu rühren droben im Turm, und die Menschen setzen sich in Bewegung. Und jetzt kommt es, ohne alle Vorbereitung! Warum hat sie nicht sprechen können? Sie thut sich Gewalt an, um ihnen nicht zuzurufen, sie mögen nicht auf den Kirchhof gehen mit dem Toten. Ein Toter ist ja nichts. Warum soll sie vernichtet werden, für einen Toten? Sie könnten ja den Toten hinlegen, wohin sie wollten, nur nicht auf den Kirchhof. Sie wird sie vom Friedhof verscheuchen. Er ist gefährlich. Er ist voll Pestansteckung. Man hat Wolfsspuren dort gesehen. Sie will sie schrecken, wie man Kinder schreckt.

Sie weiß nicht, wo das Grab des Kindes gegraben ist. Sie erfährt es zeitig genug, denkt sie. Wie jetzt der Zug hinein in den Friedhof schreitet, blickt sie über das Schneefeld, um ein frischaufgeworfenes Grab zu entdecken …

Aber sie sieht weder Weg, noch Grab. Dort draußen ist nichts als ein ungefurchtes Schneefeld. Und der Zug geht zum Leichenhause hinauf. So viele als können, drängen sich herein, und hier wird die Beerdigungszeremonie vorgenommen. Es ist nicht die Rede davon, zum Sanderschen Grabe zu gehen. Keiner kann wissen, daß der Kleine, der nun zur letzten Ruhe eingesegnet wird, niemals in das Familiengrab gebettet werden soll!

Würde sie das nicht vergessen haben in ihrem Entsetzen, keinen Augenblick hätte sie sich zu fürchten gebraucht. »Im Frühling,« denkt sie, »wenn der Sarg versenkt wird, da ist wohl kaum einer außer dem Totengräber zugegen. Jeder wird glauben, daß das Kind im Sanderschen Grabe liegt.« Und sie begreift, daß sie gerettet ist.

Sie bricht in heftigem Weinen zusammen. Die Leute sehen sie mitleidig an.

»Es ist furchtbar, wie sie es sich zu Herzen nimmt,« sagen sie. Aber sie weiß selbst am besten, daß sie solche Thränen weint, wie eine, die Not und Lebensgefahr entronnen ist …

Ein paar Tage nach dem Begräbnis sitzt sie in der Dämmerung auf ihrem gewohnten Platz im Speisesaal. Während das Dunkel einfällt, ertappt sie sich darauf, daß sie dasitzt und wartet und sich sehnt. Sie sitzt und horcht nach dem Kinde. Jetzt ist ja die Zeit, wo es hereinzukommen pflegt, um zu spielen. Wird es heute nicht kommen? Da fährt sie empor und denkt: »Es ist ja tot, es ist ja tot.«

Am nächsten Tage sitzt sie wieder in der Dämmerung und sehnt sich, und Abend für Abend kommt diese Sehnsucht wieder und wird immer mächtiger. Sie breitet sich aus, so wie das Licht im Frühling, bis sie schließlich alle Stunden des Tages und der Nacht beherrscht.

Es ist ja beinahe selbstverständlich, daß ein solches Kind, wie das ihre, mehr Liebe im Tode als im Leben empfängt. Die Mutter hatte während seines ganzen Daseins an nichts anderes gedacht, als den Mann wieder zu gewinnen. Und für ihn konnte ja das Kind nicht erfreulich sein. Es mußte ferngehalten werden. Es bekam oft zu fühlen, daß es zur Last war. Die Gattin, die ihren Pflichten untreu ward, hat dem Manne zeigen wollen, daß sie doch etwas war. Sie arbeitete unablässig in Küche und Webkammer. Wo konnte sich Platz für den kleinen Jungen finden, mitten in all dem? Und jetzt nachträglich erinnert sie sich, wie seine Augen zu bitten und zu betteln pflegten. Abends wollte er, daß sie an seinem Bette sitze. Er sagte, er sei dunkelscheu, aber nun denkt sie, daß das vielleicht nicht wahr gewesen. Er hat es gesagt, damit sie bei ihm bleibt. Sie erinnert sich, wie er dalag und kämpfte, um nicht einzuschlafen. Nun begreift sie, daß er sich wach hielt, um lange liegen und ihre Hand in der seinen halten zu dürfen.

Er ist ein pfiffiges Kerlchen gewesen, so klein er auch war. Er hat all seinen Verstand aufgewendet, um auch ein bißchen von ihrer Liebe abzubekommen.

Es ist erstaunlich, daß Kinder so lieben können. Sie begriff es nie zuvor, so lange er noch lebte.

Eigentlich fängt sie jetzt erst an, das Kind zu lieben. Jetzt erst fühlt sie sich berückt von seiner Schönheit. Sie kann sitzen und von seinen großen, geheimnisvollen Augen träumen. Es ist nie ein rosiges, rundwangiges Kind gewesen, es war zart und blaß. Aber es war wunderbar schön.

Es steht vor ihr als etwas wunderbar Herrliches, herrlicher mit jedem Tag, der geht. Kinder müssen ja das Köstlichste sein, was die Erde trägt. Man denke nur, daß es kleine Wesen giebt, die jedermann die Hand entgegenstrecken und von allen Gutes glauben, die nicht darnach fragen, ob ein Antlitz schön oder häßlich ist, sondern das eine ebenso gern küssen, als das andere, die alt und jung lieben können, reich und arm. Und zu alledem sind sie wirkliche kleine Menschen.

Sie kommt mit jedem Tage dem Kinde immer näher und näher. Sie wünscht wohl, daß es lebte, doch sie weiß nicht, ob sie ihm da je so nahe gekommen wäre wie jetzt.

Zuweilen gerät sie in Verzweiflung darüber, daß sie den Knaben nicht glücklicher machte, so lange er am Leben war. Um dessentwillen wurde er mir wohl genommen, denkt sie. Doch nur selten trauert sie in dieser Weise.

Sie hat früher vor Trauer zurückgebebt, aber sie findet jetzt, daß Trauer nicht das ist, was sie sich gedacht. Trauer ist ja, wieder und wieder ein Vergangenes zu leben. Trauer ist, sich in das ganze Wesen des Knaben hineinzuleben, ihn nun endlich zu verstehen. Diese Trauer macht sie sehr reich.

Wovor sie sich jetzt am meisten fürchtet, ist, daß die Zeit ihn ihr entführt. Sie hat kein Bild von ihm, vielleicht werden sich seine Züge in ihrer Erinnerung auslöschen. Jeden Tag sitzt sie da und prüft sich: »Sehe ich ihn, sehe ich ihn recht?«

Wie der Winter vergeht, Woche um Woche, überrascht sie sich auf der Sehnsucht, ihn aus dem Leichenhause heraus zu bekommen und in die Erde gebettet, so daß sie zu dem Grabe kommen kann und mit ihm sprechen. Er wird gegen Westen liegen, da ist es am schönsten. Und sie wird den Hügel mit Rosen schmücken. Sie will auch eine Hecke haben und eine Bank. Sie will dort sitzen können, lange, lange.