Mit kurzen, schnellen, energischen Schritten schob sich „der Alte“ durch das große Contor, ohne sich aufzuhalten, ohne die ehrfurchtsvollen Grüße der Schreiber und Buchhalter zu beachten. Der Oberkörper mit dem vollen, strengen Gesicht schien den Beinen vorauszustreben, bis die ganze Erscheinung hinter der Polsterthür verschwand, durch die man ins Allerheiligste trat. Kaum war er durch, als Scherbeck sich zu Thiebold hinüberbeugte und wichtigthuerisch flüsterte: „Heut hat er was!“
Segonda betrachtete drinnen mit Mißbehagen die Säule von Briefen, Postkarten und Drucksachen, die auf seinem Schreibtisch errichtet stand. „Wenn es noch wenigstens Alles Bestellungen wären!“ murmelte er und begann, sich in den krachenden Sessel werfend, Lage um Lage von der Säule abzutragen, um sie unter verächtlichem Zucken der Mundwinkel zur Seite zu werfen.
Der alte Petrick erschien, mit gekrümmtem Rücken, die große schwarze Mappe unterm Arm; auf ein Haar glich er jenen eisgrauen Buchhaltern, wie man sie in deutschen Lustspielen aus der vormärzlichen Zeit noch heut über die Bühne humpeln sieht. Statt ihn heranzurufen, als er drei Schritte nach der Thür in Kommahaltung wartete, winkte Segonda ab. „Auf Morgen! Nur das dringendste Nachmittags!“
Der Alte blickte wie entsetzt auf. „Der Herr Prinzipal fühlen sich nicht wohl?“
„Doch! Fischgesund! Aber zur Bahn muß ich; denn mit Gottes gnädigem Willen wird meine Tochter heut ins Vaterhaus zurückkehren.“
Der Purpur persönlicher und pflichtschuldiger Freude legte sich über des Alten Wangen. „Das gnädige Fräulein sind also völlig wieder hergestellt?“
„Sie schreibt es. Ja, sehen Sie, die Riviera! So etwas haben wir in Deutschland doch nicht. Gott hat seine Wunder über die ganze Welt verstreut. Denn unser gutes Görbersdorf ...“ Die harten, hellblauen Augen nahmen einen höhnischen Ausdruck an. „Geld hat es freilich gekostet! Zehn Jahre könnten Sie davon leben, Petrick! ... Na, nun keine Zeit verlieren ... die Minuten kommen nicht wieder! Adjeu.“
Draußen harrten schon einige Kollegen, jüngere Leute, mit großen Mappen der Rückkunft Petricks — zwei vorgestreckte Finger der Rechten hin und herschüttelnd wehrte dieser ihnen den Eintritt. Im Nu hatte sich der Grund des außergewöhnlichen Vorfalls durch das ganze Contor verbreitet. „Denken Sie, die Wachsmaske kommt heut zurück!“ flüsterte Scherbeck seinem Gegenüber zu. Thiebold zupfte an seinem Knebelbart und hauchte ganz leise: „Da kann ich mir die Neugier von dem Alten vorstellen, ob er die Unmasse Geld nicht zum Fenster 'nausgeworfen hat.“
„Was meinen Sie“, fragte Scherbeck, die Lippen nur ganz wenig bewegend, „ob das nicht der Augenblick wäre, ihm wegen Zulage zu kommen?“
„Warten Sie, bis die Maske da ist!“ hauchte Thiebold zurück.
Segonda hatte gerade wieder ein halb Dutzend Briefe geöffnet, durchflogen, fortgelegt, als ein lauter Streit draußen im Hofe ihn in der Schnellarbeit störte. Er vernahm die heiser krähende, hohe Stimme seines Sohnes: „Mehr Rosen! — Lange nich genug! ... Ganze Wagen muß von starren! Ein großes Rosenbett sein ... Is ja gar nischt! ...“ Dazwischen das breite, gemächliche Platt des Gärtners: „Sei'n Se ock ni biese, Herr Leitnant ... 's sein halt do ni' meh' ... 's halt no a wing ze friehe ... hie 'ei de Berge ... 's do ni wie ei de Stoadt ...“
„Sollen doch die Pauern hergeben!“ raunzte Aribert. „Die Bande hat die ganzen Vorgärten voll.“
„Namen Ses ock ni iebel, Herr Leitnant, aber de Pauern soagt me suwoas ni gerne ... suste oder se schrein glei: ,ni moal de poar Rosla gennt er ei'm oba eim Schlussa ... nu schneidt' er eim do glei de Haare vum Kuppa' ... Und was de ruppigsten sein, die bitten eim de Brännnesseln oan ...“
„Was?“ wüthete der junge Segonda, „auch schon angesteckt? Sozialdemokraten — was? In Fichtenbrück? Theilen? Wie?“
Segonda öffnete das Fenster und rief hinaus, man möge warten, bis er käme. Dann trat er in den Hof und ordnete so geschickt die Vertheilung der vorhandenen Rosengewinde an, daß Räder, Sitz, Bock, Zügel — kurz der ganze Wagen fast lückenlos von ihnen bedeckt schienen. Vater und Sohn machten sich eben bereit abzufahren, denn es war höchste Zeit, wollte man noch rechtzeitig zu dem fast eine Stunde weit, am unteren Ende des langgestreckten Dorfes gelegenen Bahnhofe gelangen, als der Kutscher den Postboten bemerkte, der schwitzend herankeuchte. „Wenn er so rennt, kommt er zu uns,“ meinte der Diener.
Segonda legte die Hand auf die Schulter des Sohnes: „Tiele wird doch nichts passiert sein!?“
Inzwischen war der Stephansjünger heran. „Eine dringliche Depesche!“ ächzte er devot, dann empfahl er sich mit vielen Bücklingen: „Scheensten Gruss ooch, Herr von Segonda — scheensten Gruss, Herr Leutnant!“
Der Fabrikherr hatte die Depesche aufgerissen. „Verflucht!“ rief er. „Gerade den Tag muß er sich aussuchen! Gerade heute!“ Er reichte die Depesche seinem Sohn. Sie enthielt die Nachricht, daß der Fabrikinspektor mit dem bevorstehenden Zuge eintreffen werde. „Paul heute! Argus.“ „Paul“ bedeutete den Inspektor, „Argus“ bezeichnete seinen Schreiber, der, ein armer Teufel, gegen eine geringe, regelmäßige Vergütung den Fabrikanten benachrichtigte, wenn er einen Besuch seines Vorgesetzten bevorstehend erfuhr. Das war strafbar — aber wie sollte er bei fünfzig Mark monatlichen Gehalts Frau und Kinder ernähren?
„Frecher Dachs!“ krähte der junge Segonda. „Frecher Dachs! Gerade zu Tielens Ankunft!“
„Das konnte er schließlich nicht wissen“, fiel der Alte ein. „Aber gerade am Sonnabend, wo man Lohnauszahlung und Maschinenreinigung hat! Der Vorige war doch noch ein Mensch, der auf sowas Rücksicht nahm!“
„Streber!“ schrie der Sohn. „Alle Streber, die jungen Assessoren!“
„Und dieser Schubert!“ raunzte der Alte. „Immer erst im letzten Augenblick! Er soll sich doch darum kümmern! Soll nichts übernehmen, was er nicht leisten kann!“
„Wenn nach Breslau komme, schneide ihm die Ohren ab.“
„Ich kürze ihm einfach seinen Bezug.“
„Was machen wir nu?“ Der junge Segonda lief erregt hin und her, sein Blick fiel auf eine Gruppe halbwüchsiger Burschen, die — es war gerade Arbeitspause — in scheuer Ferne standen und den geschmückten Wagen, die feurigen Füchse bestaunten. Er stürmte auf sie zu, die Jungens legten, wie er es vorgeschrieben, militärisch grüßend die Rechte an die Schläfe. „Was hier zu gaffen? Ohren abschneiden! Wie?“ Die Jungens standen vorschriftsmäßig starr wie aus Erz gegossen. Die Glocke schrillte. „Marsch, an die Maschinen! Kehrt!“ Als er sich umwandte, nahm die Schaar Reißaus, mit verhaltenem Kichern. Segonda hatte die Uhr gezogen. „Drei Minuten zu früh!“ murmelte er sichtlich unangenehm berührt. Der Sohn lief noch immer unschlüssig umher: die grelle Ton der raschen Glocke, das Wiehern der Hengste, das Peitschenklatschen des Kutschers, das Schnauben der Maschine deren dumpfe Stöße durch die dichte, grüne Kastanienwand bis hierher in den Hof des Wohnhauses brummten, hinderten die Kristallisation seiner Gedanken.
Der Diener näherte sich, um seinen Platz neben dem Kutscher einzunehmen. Segonda gab ihm den Auftrag, Fräulein Ottilie entschuldigend mitzutheilen, warum Vater und Bruder sie nicht selbst vom Bahnhof abholen könnten. In demselben Augenblick sah er den Spinnereidirektor über den Hof schreiten, um sich nach der Fabrik zu begeben, und ging auf ihn zu ohne sich weiter um den abfahrenden Wagen zu kümmern. Segonda Sohn lief schnell voraus. „Der Tippelgucker kommt, Herr Henning!“ schrie er, „der Tippelgucker kommt! Halten Sie die Pfanne blank!“
Der Spinnereidirektor kam besonnenen Schrittes heran, ohne seinen Gang zu beschleunigen. „Was ich zu vertreten habe, ist Alles in Ordnung,“ sagte er ruhig und langsam. „Wenn wir gefaßt werden, so ists nicht in meinem Ressort, das wissen Sie, Herr von Segonda.“ Er nannte ihn bei seinem Namen, denn es widerstrebte ihm, „Herr Leutnant“ zusagen, obwohl er Ariberts Vorliebe für diese Anrede kannte — was hatten die Militärpapiere mit der Fabrik zu thun? Für ihn, den Sohn eines Ländchens, in dem man das Militär nur als Spielzeug kannte, hatte der Titel etwas unsagbar Lächerliches.
„Die Kinder müssen aus dem Hechelsaal — nicht? Wie?“
„Vielleicht haben Sie die Liebenswürdigkeit, das selbst anzuordnen? Ich habe sie nicht eingestellt—“
Der Alte war indessen herangekommen. Draußen am Fabrikthor rollte der Wagen des Inspektors vor. „Du hast ganz Recht, Aribert. Ich bin immer gegen die Kinder beim Hecheln gewesen. Es bleibt stets Werg unter dem Flachs. Wir wollen sie auch abschaffen ... Nicht wahr, Herr Henning, Sie gehen schnell hinauf und lassen die Burschen abtreten? ... Aribert, geh' in die Küche und sorge für ein anständiges Frühstück ...“ Und mit behender Wendung eilte er in seinem kurzen, derben Tritt dem eben aussteigenden Beamten entgegen.
Henning strich sich den vollen, röthlich blonden Bart, ließ Aribert stehen und ging mit gewohnter Ruhe unter den Kastanien hindurch über den breiten Hof nach dem langgestreckten, eintönig grauen Spinnereigebäude. Ueber die gemauerte Treppe stieg er bis zum zweiten Stock empor und durchschritt die Karderie und die weiten Spinnsäle, die engen Gänge zwischen den fließenden Riemen, den Gestängen der Transmissionen, den klappernden, stampfenden, knirschenden, kratzenden Maschinen hindurch unbeirrt durch den pochenden Lärm und die Staubwolken in der Luft, die sich in seine Kleider, in seine Athmungskanäle wühlten. Die Männer und die Frauen nickten kaum leise mit dem Kopfe, denn er liebte es nicht, wenn sie von der Arbeit aufsahen. Jenseits eines Querganges öffnete er die große eiserne Thür und dicht an eines der kreisenden, schleifenden Eisenungethüme herantretend, schrie er — denn ein Sprechen hätte das Gepolter der Maschinen übertönt — den gerade mit doppeltem Eifer Flachs in die Zähne der Maschine steckenden Knaben zu: „Aufhören! Feierabend für heute!“ Die Jungen sahen sich erst erstaunt an, dann warfen sie die gelbgrauen Bündel, die sie noch eben zur Hand genommen, zurück in die halbgefüllten Säcke und sprangen von den erhöhten Plätzen zur Erde. Auch denen, die ein paar Schritte weiter mit der Hand durch Stahlkratzen Flachspäckchen zogen, winkte er ab, und sie sprangen so hurtig auf, daß die wirbelnden Staubwolken noch höher flogen, bis gegen die Decke. Kopfschüttelnd betrachtete der breitschultrige Riese diese bleichen, blutarmen, mageren Knaben, deren jeden sein körperlicher Fehl zeichnete: den ein Buckel, jenen ein Klumpfuß, den dritten ein Wasserkopf. Einen Blick zum nahen Fenster hinunterwerfend bemerkte er, daß der Inspektor mit dem Alten eben in die Spinnerei trat. Es war zu spät — die Knaben konnten nicht mehr über die Haupttreppe hinaus.
Die kleine Schaar hatte sich inzwischen zu einem Haufen geballt und der Stärkste und Gesundeste, die Veranlassung der plötzlichen Freigabe errathend, rief: „Der Herr Inspektor soll leben!“
„Ruhig, Gebitz Karl!“ verwies ihn Henning, aber die Jungen fielen in gedämpftem Chor ein: „Und der Herr Direktor daneben.“
Henning bedachte, was zu thun? Die Herren mochten schon die Treppe heraufkommen. Es blieb nichts Anderes übrig: die Knaben mußten über die Rettungsstiege, die schmale, eiserne Leiter, welche für den Fall eines Feuers, an der Außenwand hinunter führte. Den Knaben war die Turnübung ein Fest, aber Henning ergriff ein heftiger innerer Zorn, die Ungesetzlichkeiten, die Andere um der Ersparniß einiger Groschen willen verübten, verdecken und vertuschen zu müssen.
Kaum war der letzte der Knaben hinter dem Fenstersims verschwunden, als der Inspektor eintrat. Henning schämte sich fast vor ihm, er wandte das Gesicht und wie besorgt sah er den Knaben nach. Eine Sprosse der Leiter mochte vom Rost zermorscht sein: sie brach unter dem Fuße des letzten, der etwa vier Meter tief hinabstürzte und schreiend am Boden liegen blieb, unfähig sich aufzurichten. Das fehlte noch, daß das Kind sich ein Glied verletzt hätte! Er entschuldigte sich und eilte hinunter.
Inzwischen hatte der Fabrikinspektor, vom altem Segonda und Aribert gefolgt, die anstoßenden Säle durchschritten. Jetzt standen sie wieder in einem der Säle der Karderie. Die Streckmaschinen klapperten und scharrten, wüthend faßten die eisernen Zungen den breiten Flachsstrom, der auf sie zuschoß, um Welle auf Welle gegen die Kämme, die Stachelbürsten, die Walzen zu werfen, welche sie zerfetzten, zerquetschten, zerrissen und mit rasender Eile einander in die Rachen spielten. Wolken eines harten, graugelben, trockenen Staubes flogen auf und hüllten den Inspektor ein, der, in seinem Berufe noch jung und in Spinnereien noch nicht Stammgast, hustete, nieste, sich die Augen rieb. Erst mit gewöhnlicher Stimme, dann, als er sich nicht verstanden merkte, schreiend versicherte er seinen Begleitern, daß das ein unangenehmer Betrieb sei, und daß er die Anlage einer Turbinenvorrichtung zur Absaugung des schlimmsten Staubes für nöthig erachte. Segonda sah große Kosten, zum mindesten endlose Schreibereien voraus und bemühte sich unter Beistand Ariberts, der jedes väterliche Wort mit Kopfnicken und Handerheben bekräftigte, dem Beamten zu beweisen, daß der Staub nur den Ungewohnten belästige. „Die Frauenzimmer spüren gar nichts mehr davon“, schrie er ihm ins Ohr.
„Weshalb tragen sie denn dann die breiten Flachsbinden vor dem Munde?“ schrie jener zurück.
„Eben dadurch schützen sie sich genügend!“ Und er winkte ein altes Weib herbei, das ganz in schmutzige braune Säcke gehüllt, eine Sackkapuze über dem Haare, vor dem Munde einen breiten Flachsstreifen, irgend einem Feuerländerstamme anzugehören schien. „Spüren Sie irgend welche Nachtheile von dem Staube, Gustel?“ Die Gefragte schnaubte einige unentzifferbare Laute hinter der Flachsbinde vor. „Sehen Sie!“ triumphirte Segonda. „Dreißig Jahre ist die Frau bei mir und hat Lungen wie ein Walroß!“ —
Henning hatte den Knaben nach Hause schaffen und den Fabriksarzt benachrichtigen lassen. Jetzt schritt er über den Hof dahin, um sich in seine Arbeitsstube, neben dem Contor zu begeben, für den Fall, daß Segonda ihn irgend einer Erläuterung wegen rufen lassen sollte. Im übrigen ließ er dem Chef gern die Ehre der üblichen Glückwünsche seitens des Inspektors zu den musterhaften Einrichtungen der Fabrik, mit denen der frühere, seit drei Monaten versetzte Beamte nicht gekargt hatte. Wußte er doch ganz genau, wie das Musteretablissement hinter den Coulissen aussah!
Im gemächlichen Schreiten versäumte Henning nicht einen Blick nach dem Fichtenkamm zu richten, der wie eine gewaltige dunkelgrüne Mauer das Thal gegen Südwesten abschloß. Der Spinnereidirekter zwinkerte mit den Augen und schüttelte den Kopf: der graue, blasse Schleier gefiel ihm nicht, der sich von einer Baumspitze zur andern wob und in dem Bäume und Sonne den Firniß verloren und stumpf, wie abgerieben aussahen.
Ein schnell sich verstärkendes Rollen lenkte sein Auge ab. Ein Ruf, ein scharfer Ruck — und im Vorhofe, am Eingang der Villa hielt ein Rosenwagen. Eine schlanke graue Gestalt beugte sich dem Bock zu, der Diener schwang sich hinunter und verschwand. Nach kurzer Zeit kam er wieder, richtete irgend einen Auftrag aus, worauf die Dame sich wie unwillig in die Kissen zurückwarf, und Rosse, Wagen, Insassen, Kutscher, Diener hielten eine geraume Weile stumm, bewegungslos, unschlüssig als ständen sie lebendes Bild oder sollten photographirt werden. Der Diener schien endlich Henning zu bemerken, er kam unsicher auf ihn zu und sagte: „Denken Sie Herr Direktor, das gnädige Fräulein wollen nicht aussteigen, und die Herren können sie doch nicht empfangen, von wegen dem Inspektor —“
Henning zögerte einen Augenblick, dann schritt er nach dem Wagen, zog die Mütze und sagte zu Ottilie, die ungeduldig mit dem Sonnenschirm die Rosenpolster zerstieß: „Ich schätze mich glücklich, daß ich der Erste sein darf, der Sie an der Schwelle Ihres alten Heims begrüßt, gnädiges Fräulein!“
Ottilie wandte sich lebhaft zu ihm: „Oh, Sie sind noch hier, Herr Henning? Das freut mich. Die früheren Direktoren hielten selten lange aus.“
„Ich bin glücklich, daß ich mich mit dem Herrn von Segonda in den meisten Punkten verstehe. Das giebt mir vielleicht das Recht, ihn bei Ihnen zu entschuldigen. Er ist wirklich in diesem Augenblick unabkömmlich —“
„Wenn ihm schon der Staat mehr gilt als seine Tochter — kann sich denn meine brüderliche Liebe nicht aufrappeln?“
„Schwerlich, gnädiges Fräulein ... die Herren Inspektoren wollen immer so viele Auskünfte ...“
„Das finde ich aber komisch, offen gestanden.“ Henning zuckte die Achseln, Ottilie fuhr nach einer Pause fort: „Lassen Sie sich durch mich ja nicht aufhalten. Ich warte bis mein Papa oder mein Bruder die fünf Minuten Zeit findet, mich in unser Haus hineinzuführen.“
„Es ... könnte aber noch lange währen ...“ sagte Henning gedehnt.
„Ich habe ja Zeit.“ Sie zuckte die Achseln und blickte gerade aus, nach dem Gebirge. Die grauen Schleier verschlangen sich dichter und dichter, die einzelnen Bäume waren nicht mehr zu erkennen, der ganze Rücken schien nur noch eine flache Bleiwand. Ottiliens kleine Füße stampften ärgerlich den Boden des Wagens. Die Pferde scharrten und zogen an, nur mit Mühe beruhigte sie der Kutscher. Henning wandte den Kopf dem düsteren Horizonte zu. „Die heitre Sonne des Südens werden Sie hier vermissen, Fräulein!“ sagte er.
„Dafür ist man zu Hause und kann sich Alles einrichten wie man will. Und alle Tage Frühlingswetter erweckt zuletzt die Sehnsucht nach der Eisbahn.“
Ein längeres Schweigen folgte. „Aber ich halte Sie zurück!“ — Die Gebäude, die Bäume verloren den Schatten, von den Bergen war nichts mehr zu sehen, ein großer, graublauer Vorhang schien die Welt einzuschlagen. „Fräulein, wollen Sie nicht doch —“ meinte Henning.
Zwei, drei Tropfen fielen, langsam und schwerfällig. Jetzt raschelte es auf dem Dache, in den Bäumen. Ottilie schaute noch einmal unwillig nach allen Seiten, dann zog sie die Mundwinkel herab und erhob sich. Henning reichte ihr die Hand, und leicht wie eine Feder schwebte sie zur Erde. Zögernd schritt sie die Stufen hinauf, an der Eingangsthür verabschiedete sie sich. „Ich hoffe, Sie jetzt öfter zu sehen, Herr Henning. Ich bleibe ja jetzt wieder dauernd hier. Als ich abreiste, waren Sie erst so kurze Zeit hier, und wir hatten nie Gelegenheit uns näher zu treten. Jetzt, da ich gesund bin, werde ich mich um Alles Mögliche kümmern.“ Und mit einem dankenden Kopfnicken verschwand sie.
Henning vollendete seinen Weg. Die Thür seines Bureaus öffnend, traf er Scherbeck, der eben das Contor verließ. „Wo ist denn der Chef?“ fragte er.
„Die Inhaber der Firma frühstücken mit dem Inspektor“, antwortete der Buchhalter und entfernte sich.
Im Unterrock und Korset stand eine Stunde später Ottilie in ihrem Zimmer, beschäftigt die eben angekommenen Koffer auszupacken und die tausend Kleinigkeiten in Schüben und Schränken unterzubringen, als es an ihre Thür pochte.
„Wer da?“
„Ich.“
„Ach, Papa — bitte — komm' doch in einer Stunde wieder. Ich bin so müde.“
„Zu müde — wenn Dein Vater Dich umarmen will —?—“ Er versuchte die Thür zu öffnen, sie war verriegelt.
„Ich bin eben beim Umkleiden, Papa.“
„Na — Du wirst Dich doch vor deinem Vater nicht zieren?“
Er rüttelte an der Thür, Ottilie warf schnell ein Tuch über die Schultern und öffnete. Er stolperte herein und schloß sie in seine Arme. „Willkommen, Tiele, willkommen! Nu, wie geht Dir's denn? Ist es schön gewesen unten? Gelt, zu Hause ist 's aber doch am molligsten? Biste immer gesund gewesen? Weißt Du, daß Du dick geworden bist, Mädel? Ordentliche Backen hast Du gekriegt — Na — Gott sei Dank —“
Sie ließ sich mit Ergebung kneifen und küssen. „Wenn Du aber zu thun hast, Papa“, entgegnete sie, „laß Dich nicht stören! Geh' nur zum Fabrikinspektor — ich laufe ja nicht weg —“
„Ach, mach nur keine Sachen!“ sagte er schnell, das Gesicht ärgerlich verziehend. „Du weißt ganz genau — Geschäfte sind Geschäfte. Der alte Inspektor ist leider versetzt. Das war ein vernünftiger Mensch. Aber der neue — so ein junger Assessor! Der richtige Streber. Versteht gar nichts. Will mir in aller Geschwindigkeit zehntausend Mark Kosten aufreden. Nachher kann man sich mit der Polizei herumklagen. Mittags will er in seinem Gasthof große Sprechstunde für die Arbeiter halten. Das sind lauter so neue Moden, die Die oben in Berlin machen und damit blos Unfrieden stiften. Ari darf ihn natürlich nicht locker lassen. Er kommt später und sagt Dir Gun'tag. Du entschuldigst ihn schon. Geschäfte sind Geschäfte! ... Also ganz gesund biste wieder? Das ist vernünftig, Mädel! ... Haste schon was gegessen? Nicht? Nu, da mußt Du doch Hunger haben? Reisen macht hungrig. Ich schick' Dir gleich was' rauf. 'n Beefsteak — was? Gleich ... Nur noch 'ne Viertelstunde entschuldige mich ... ich muß blos sehen, ob der Ari ihn fest gekriegt hat.“ Er blieb in der Thür stehen und prüfte ihre Gestalt. „Natürlich biste dick geworden!“ Schon halb draußen wandte er sich noch einmal um. „Biste gleich direkt 'raufgegangen? Das ist vernünftig, Mädel, das seh' ich gern!“ Als Ottilie ihm mittheilte, daß Henning seine Stelle vertreten hatte, wurde er ärgerlich. „Was geht das den Menschen an? Soll sich um seine Maschinen kümmern! Wer braucht mich bei meiner Tochter zu entschuldigen? Das schmier' ich ihm aufs Brot ...“ Und ohne auf ihre Entgegnung zu hören rief er sich selbst beschwichtigend: „Gleich schick' ich Dir was zu essen!“ und verschwand.
Ottilie hatte sich ihren Wiedereintritt ins Vaterhaus doch anders vorgestellt. Den ersten Tag hätten Vater und Bruder ihr mindestens ganz widmen können! Sie verdienten ja wirklich Geld genug, um die geringen Verluste solchen Aussetzens zu verschmerzen! Nur auf einen Sprung kamen sie immer hinauf, zu flüchtigem Austausch einiger Scherze oder Fragen, einander ablösend und an die Erledigung der hängenden Tagesgeschäfte mahnend, auch nach der Entfernung des Fabrikinspektors: der Postabfertigung, der Lohnauszahlung. Ottilie fühlte sich beinah in ihre Kindheit zurückversetzt, wenn sie die geschenkte Düte mit Zuckerwerk sorgsam im Tiefgrund der Kommode versteckte und alle fünf Minuten wieder vorholte, gleichsam heimlich vor sich selbst, um eine der kleinen Süßigkeiten verstohlen zu verschlucken.
Dennoch konnte sie nicht daran zweifeln, daß wenigstens bei dem Vater — Aribert war überhaupt nicht der Mensch tieferer Gemüthserregungen — die Freude über ihre Genesung und Rückkunft aufrichtig, wenn auch nicht ganz eigensuchtsfrei war. „Gottlob, daß du wieder hier bist, Mädel! Jetzt hat man doch wen, mit dem man sich 'mal aussprechen kann“, äußerte er sich. „Es war zum Sterben langweilig hier. Der Ari hat wenigstens seine Gesellschaft in Landeshut — aber ich habe Keinen, mit dem ich umgehen kann oder darf. Nichts hat man hier außer dem verwünschten Geschäft!“ Ottilie konnte sich recht gut in die Verlassenheit des Vaters hineinfühlen, der der einzige Reiche im ganzen Dorfe, der Brotherr und Gebieter fast aller Einwohner Niemanden Seinesgleichen in unmittelbarer Nähe fand und oft nicht einmal einen elenden Skat zu Stande brachte. Es mochte Stunden geben, da er an verschneiten Winterabenden einsam in seinem überhitzten Zimmer fror, als säße er draußen in der Eisluft des Fichtenkammes — da er das Gesinde beneidete, das sich mit lachenden Neckereien unten in dem gemüthlichen Dunst der Küche zusammendrängte. Er hatte keine Liebhaberei, der alte Vater, die ihm über müssige Stunden hinweghalf: Lesen, Studiren, Musiziren, Thiere züchten, Spielen, Jagd — Alles war ihm nur unersprießliche Zeitvergeudung, alle seine Gedanken kreisten nur um das Geschäft, um Verbilligung der Herstellungskosten, Vermehrung des Gewinnes. Poesie, Malerei, Kulturgeschichte, Musik — nichts davon erregte sein Interesse, Ausfahrten ermüdeten ihn; Bauen war noch das Einzige, was ihm lebhaftere Wallungen abgewann: aber davon war in der längsten Jahreszeit keine Rede. Ottilie wußte, daß ihr Vater sie liebte, weil er nichts Anderes außer ihr hatte, da Aribert seine eigenen Wege ging. Sie wußte, daß es keine Komödie war, wenn er sie immer wieder an sich drückte, und sie nach den kleinsten Einzelheiten ihres Aufenthalts im Süden fragte. Sie sollte erzählen, immerfort erzählen, und jäh unterbrach er sein eifriges Lauschen, um sie zu fragen, ob sie eine neue Gesellschafterin wolle, um die alte zu verwünschen, die sich in Nizza mit einem Italiener verlobt und Ottilie allein hatte nach Hause reisen lassen — um sie brüsk zu fragen, ob sie nun, ganz genesen, nicht ans Heirathen denke, und da sie lachte, schnell hinzuzusetzen: „Na, sei nur ruhig, mit Gottes Hilfe werde ich Dir schon eine gute Parthie aussuchen!“
Sie faßte ihn ans Kinn und sagte: „Laß doch Gott aus dem Spiel, Papchen! An den glaubst Du ja nicht mehr.“
Er warf den Kopf zurück. „Wer sagt Dir das? Vielleicht existirt er doch — warum soll ich ihm denn nicht die kleine Konzession machen, ihn von Zeit zu Zeit zu erwähnen? Vielleicht ist er's, der mir Dich gesund gemacht hat!“
„Papchen, um eins bitt' ich Dich. Ich bin jetzt gesund — sprechen wir nicht mehr so viel davon, daß ich's erst geworden bin.“
„Aber — aber! Kann ich mich nicht freuen, daß ich das viele Geld so gut angelegt habe?“
In dem Augenblick polterte Aribert herein. „Papa, unten ist heute der Teufel los. Die Bande macht die unglaublichsten Geschichten. Der Inspektor hat sie aufgehetzt, hat ihnen Flöhe in die Ohren gesetzt. Wenn der Kerl das nächste Mal kommt, schmeiß' ich ihn zum Thor 'naus. Aufreden brauchen wir uns die Leute nicht lassen, davon steht nichts in der Gewerbeordnung ... Sogar die Frauenzimmer werden frech. Die große Lina verführt einen Heidenskandal ...“
Segonda stieg das Blut in die Wangen, er stand vom Sofa auf und sagte: „Ich will doch selber nachsehen —“
„Geht's den Leuten immer noch so schlecht?“ fragte Ottilie. „Verdienen sie noch immer nicht mehr?“
„Mehr verdienen?“ rief Segonda. „Ach du lieber Gott, von Tag zu Tag gehts Geschäft fauler. Die Preise fallen und fallen — so viel können sie überhaupt nie wieder steigen. Nächstens werden die Leute auf ein Schock Leinewand noch einen Brillantschmuck gratis verlangen.“ Er stand schon an der Thür kam aber noch einmal zurück. „Apropos Tiele ... das hätte ich beinah vergessen Dir zu geben — da! Gratulation zur Genesung!“ Er holte ein Etui aus der Tasche und reichte es der Tochter. Sie öffnete: ein Ring mit einem herrlichen taubenblütigen Rubin leuchtete ihr entgegen.
„Papchen —“ sie griff nach seiner Hand, er wehrte ab. „Schon gut. Wenn er Dir nur gefällt. An — komm!“
Drüben im Kontor war es lauter und lauter zugegangen. Der lange schmale Raum war durch einen Tischverschlag in zwei fast gleiche Hälften getheilt. Hinter der Barre befanden sich die Sitze und Pulte der Beamten. Die Zimmerwände, die Barre, die Pulte, die Drehschemel: Alles stand in derselben Farbe, einem verwaschenen, nüchternen, unsauberen Gelb, und auch die blutleeren Gesichter der hockenden Schreiber, die faltigen vergrämten Züge der Arbeiter, ihre mitgenommenen, jeder Mode spottenden Kleider stachen heller oder dunkler ins Gelb, in dem Farbenspiel einer kraftlosen, gleichgiltigen, passiven Armuth zusammenwirkend. Der Kassirer und zwei Buchhalter zählten Jedem auf abgescheuerten Holzbrettern die magren Groschen vor; immer in gleichen Trupps von sechzig Seelen wurden die Abzulohnenden hereingelassen, Männer und Weiber durcheinander, ein hinkender Lagerist mit struppigem Haar und schmutziger Wäsche hielt an der Thür Wacht, daß kein Ueberzähliger die Schwelle gewinne. Das Klappern der Silbe- rund Nickelstücke regte sich ununterbrochen, das metallische Geräusch des Zusammenraffens, ein vorsichtiges Scharren der Füße, halbverschluckte Seufzer, zur Erde niedergebrummte, abgebrochene Sätze, dazwischen Namensaufrufe und das Umblättern großer Folioseiten und die schweren Tritte Ariberts, der mit langen Schritten und vorgestrecktem Kopfe ganz hinten an dem Fenster entlang stelzte.
Der alte Gabitz humpelte eben herein, um den Lohn für seinen des Vormittags verunglückten Jungen und seine noch minderjährige Tochter Gretel in Empfang zu nehmen. Er betrachtete das schmale Silberhäufchen, das der Kassierer vor ihn hinlegte, einige Sekunden lang stumm, schob es dann zurück und sagte langsam und leise: „Doas — stiemmt — niech.“
„Natürlich stimmt's!“ erwiderte der Kassierer kurz. „Der halbe Tag heut wird dem Jungen abgerechnet.“
„Doas — stiemmt — niech!“ wiederholte der Alte, die unförmige Rechte schüttelnd.
„Halten Sie mich hier nicht auf, wir haben keine Zeit. Einwände gegen die Lohnberechnung sind Montags vorzubringen. Marsch, marsch!“
Der Alte rührte sich nicht von der Stelle. „Ich verlange Entschädigung für den Jungen!“ sagte er, sich zur Entschiedenheit zwingend.
„Sie sind wolltälsch?“ polterte ihn der Kassierer an, puterroth im Gesicht.
Aribert schoß hinzu. „Was ist denn da für'n Radau? Gleich Ohren abschneiden! Wie?“
Voll Empörung theilte der Kassierer die Aeußerung des alten Gabitz mit. Aribert schlug eine laute Lache auf. „Wohl'n bischen blödsinnig — wie? Erst lauft Ihr Einem das Haus ein und bettelt wie die Hunde, daß man Eure Kinder auch was verdienen lassen soll — schließlich läßt man sich weich flennen, macht sich die größten Unannehmlichkeiten: und hinterher habt Ihr das große Maul. Solche Würschte werden hier nich angeschnitten. Wer den Vortheil hat, muß auch den Schaden tragen. Könnt uns ja verklagen — wißt ja, was dabei heraus kommt.“
Der Alte zitterte und wurde leichenblaß bei dieser Anspielung. Vor sechs Jahren war ihm die Rechte zwischen die Riemen einer Transmission gekommen und zerquetscht worden. Segonda hatte Entschädigung abgelehnt und eigenes Verschulden des Alten vorgeschützt. Die gerichtliche Klage war zurückgewiesen worden, weil der Werkmeister im Sinne des Brotherrn schwor und Gabitz zu arm war, seine Sache einem guten Rechtsanwalt anzuvertrauen.
Aribert hatte sich umgedreht und war wieder zum Fenster gestelzt. „Ich — möchte den Herrn Paron sprechen —“ sagte der Alte schüchtern.
„Ist heute nicht zu sprechen,“ stieß der Kassierer kurz hervor. „Wollen Sie nu nehmen oder nicht?“ Er streckte die Hand aus, um das Geld von der Zahltafel zurückzuziehen.
In dem Alten stieg es mächtig auf, er zitterte am ganzen Leibe, die bebende Linke ballte sich, mit verglasten Augen starrte er auf das Zahlbrett. Zwei große Thränen stürzten ihm hervor, die Finger lösten sich aus ihrem Krampf, langsam strich er mit dem Stumpf das Geld zusammen und schwankte wie betrunken davon. Gretel, die einige Schritte entfernt, an die Wand gedrückt gestanden, ein schmächtiges, blutleeres, kleines Ding, das nach vierzehn, nicht nach siebzehn aussah, trat zu ihm und legte ihren Arm um seine Schultern.
Gleichzeitig trat jener junge Bursche an den Zahltisch heran, der bis dahin sich in gedämpftem Ton mit ihr unterhalten. Karl Schurig war nicht groß, fiel aber vor den andern durch seine Breite auf, denn die meisten jungen Burschen und Mädchen glichen mit ihren schmalen, hängenden Schultern, ihren dünnen Armen und Schenkeln fast halbflüggen Kindern. Diese Breite war in den Schultern freilich die Folge einer körperlichen Mißbildung, welche den Hals stark verkürzte. Er warf einen Blick auf das für ihn bestimmte Häufchen von wenigen Groschen und rief: „Was? den ganzen Vorschuß abziehen?“
Darauf schien Aribert nur gewartet zu haben. Mit hochgezogenen Schultern, die Arme breit schwenkend, stürzte er von hinten wie ein Geier heran. „Ja, den ganzen Vorschuß“ krähte er, während sein Gesicht blau wurde. „Lümmels, die zum Inspektor laufen und klatschen, kriegen keinen Vorschuß!“ Aribert hatte durch einen der Contoristen genau beobachten und eine Liste aufstellen lassen, wer der Besuchsaufforderung des Fabrikinspektors Folge leistete, und angeordnet, Allen die Vorschüsse restlos abzuziehen.
Karl galt im ganzen Dorfe für einen, mit dem nicht gut Kirschenessen wäre. Einen Schritt zurücktretend stemmte er die Arme in die Seite. „Ich bin mei Herr und kann hingehen zu wem daß ich will!“ rief er. „Da hat mir Keener nich Vorschriften zu machen, Herr Leitnant. Die Straße geheert dem Keenig. Und überhaupt, was wissen Sie, daß ich mit dem Herrn Inspekter geredt hab?“
„Interessirt mich auch nich im geringsten!“ näselte Aribert.
„'s is a sehr verninftiger Mann, der Herr Inspekter“, fuhr Karl fort, halb zu seinen Genossen gewendet. „A hat gesagt, daß wir Spinner und Weber do nie meh uf an grünen Zweig kommen werden, und a wullt' uns Alle bei de Regierung ane andere Beschäftigung auswirken.“
Unter den Contoristen wie unter den Arbeitern entstand eine Bewegung, ein Scharren mit den Füßen, ein halblautes Murmeln. Nur eine heulende Weiberstimme war zu verstehen: „Jetzt wolln se uns de paar Brenkel Brot onoch nehma!“
Aribert beugte sich über die Tafel vor. „Rand halten! Oder gleich Ohren abschneiden!“
Karl streckte ihm sein Gesicht mit dem vorgeschobenen Unterkinn, der gebogenen Nase entgegen: „Ich laß mers Maul ni' verbitten! Zum Fressen und zum Reden hat uns der Herrgott geschaffen. Zum nächsten Friehjahr moachen wer Alle weg von hier, da kann sich der Herr Paron pul'sche Ochsen vor seine Klapperstühle sätzen!“
Die einen lachten, die andern murmelten unverständliche Zustimmungen, die älteren Weber wehrten mit den Händen ab. Karl hatte den Arm erhoben, Gretel näherte sich ihm scheu, zog ihn beim Ellenbogen vorsichtig herunter und sagte: „Koarle, sei doch ock ni glei su wild!“
Aribert näselte: „Na, da könnt ihr Euch ja gleich vom Inspektor Vorschuß geben lassen,“ und zog sich unter dem Gelächter der Contoristen nach dem Fenster zurück. Mit einem Ruck strich Karl das Geld zusammen und schob sich weg, indem Gretel noch immer ihn zu beschwichtigen suchte.
Die große Lina kam heran, um sich ihren Lohn zu holen, ein starkes, blondes, pausbäckiges Mädel. Die Contoristen nannten sie unter sich den „Kürassier.“ Mit ihren breiten Schultern, ihrer vollen Büste glich sie einer mecklenburgischen Großmagd eher als einer schlesischen Spinnerin. Sie war eine „drübsche“, das heißt von der anderen, österreichischen Seite des Gebirges, und jede Woche in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag legte sie den vier Stunden weiten Weg über die steile Höhe des Fichtenbrücker Passes zurück, und in der Montagsmorgenfrühe den Herweg, auch im strengsten Winter, wenn Schneelawinen und Eiskrusten den Pfad sperrten und sie über die Kniee in den frischen Massen einsank. Ohne die Spur einer Ermüdung kam sie dann an. Nie geschah ihr ein Leid. Einen Schwärzer, der sie einmal ungebührlich verfolgte, hatte sie braun und blau geprügelt, so daß er acht Tage lang sein Gewerbe vernachlässigen mußte und die Grenzjäger ihn schon ehrlich geworden glaubten.
Mit unbekümmerter, sicherer Miene trat sie an den Ladentisch — ihr sich in den Hüften wiegender Gang, ihr selbstbewußtes Auftreten verriethen die Oestereicherin, ihr lautes plumpes Tapsen die Bäuerin. Sie war erstaunt, als sie ihr Guthaben um eine Mark gemindert fand. Die sollte ihr als Strafe abgezogen werden, weil sie als Vorarbeiterin am Selfaktor ein ihr unterstelltes Mädchen, das den Rahmen nicht rechtzeitig ausgezogen, so heftig an den Haaren gerissen hatte, daß es zwei Tage lang an Kopfweh litt. „Dös nehm' i nit!“ sagte sie kurz entschlossen das Geld zurück schiebend. „I will' mei Gold! I habs verdient. I laß mir kan Abbruch thun, wo i im Intresse der Herrschaft 'handelt hab.“
„Sie haben sich gegen die Fabrikordnung vergangen. Machen Sie hier keine Geschichten!“ schnautzte der Kassirer und wollte sie zur Seite schieben, um den Nächsten abzufertigen.
„Sakra! Halten 's die Fingern weg. I bin ka Stücken Holz!“
„Sie — Person! Was ist das für ein Ton!“ rief Aribert von hinten. „Ohren abschneiden! werden mir überhaupt zu frech!“
Eine Bombe hätte keinen tolleren Aufruhr erregen können als die Entgegnung, die Lina jetzt mit spitzer Zunge hinwarf: „Sie sein mir viel zu grün, Herr Leitnant, als daß i mi mit Ihn' 'rumdischputier. Ziehn's mir nur die Marken ab, der Herr Baron wird schon so gnädig sein und sie mir z'ruckgeb'n.“ ... Alles drängte sich heran, Männer und Frauen sprachen in sie hinein, sich nicht um den Hals zu reden. Aribert war bleich geworden, seine Wasseraugen schienen auf Stielen hervorzuwachsen.
„'Nausgeworfen werden Sie, Sie — Sie Mensch!“
„Dös wear'n wer holt no se'gen!“
„Das werden wir gleich sehen.“ ... Er stürmte hinüber zum Vater und zog ihn mit sich fort, während Ottilie ihnen nachrief: „Dummer Sonnabend!“ Die Treppe hinunter und über den Hof hinüber schilderte er ihm die Vorgänge. Segonda schüttelte den Kopf. „Die Aufgeregtheit hat keinen Zweck!“ sagte er ruhig. „Die Lina ist unsere beste Vorspinnerin. Sie wird Dich öffentlich um Verzeihung bitten und damit wird's gut sein ... Das mit dem Fabrikinspektor geht mir viel tiefer an die Nieren. Mir wollen Die oben Sperenzien machen? Wofür wählen wir denn immer konservativ? Die sollen Segonda kennen lernen! Ich lege den Leuten was zu und im Herbst bei der Neuwahl müssen sie mir Alle fortschrittlich stimmen.“
Eine apokalyptische Stille entstand, als er eintrat. „Meine lieben Kinder!“ sprach er — er liebte patriarchalische Formen den Leuten gegenüber. „Es sind schwere Zeiten und die Geschäfte gehen von Tag zu Tag zurück. Kaum weiß ich noch, wie ich den Lohn für euch erschwinge. Nur das Mitleid mit euch hält mich ab die Fabrik zu schließen.“ Ein paar alte Weiber begannen zu heulen und ihm den Rocksaum zu küssen. „Aber man muß es nehmen, wie 's der Herr schickt. Er hat mir heut ein großes Glück bereitet, er hat mein Kind gesund ins Vaterhaus zurückgeführt. Und damit ihr Alle Theil nehmt an meinem Glück, damit auch ihr Gelegenheit habt, Gottes Allgüte zu preisen und dieses Tages in Freude gedenkt, so gewähre ich meinem gesammten mechanisch thätigen Personal eine fünf- — eine dreiprozentige Lohnerhöhung. Geht und verkündet das euren Kameraden draußen.“
Wie eine scheu gewordene Hammelherde stürzte die ganze Masse zur Thür. Scherbeck stellte sich ihnen in den Weg. „Unser allverehrter Herr Prinzipal lebe hoch!“ schrie er, und das ganze Gewerk fiel schreiend ein. Mehrere alte Weiber weinten: so weit sie in ihren Erinnerungen zurückgriffen, fanden sie ein solches Ereigniß nicht verzeichnet. Nur Karl der unverbesserliche beugte sich zum alten Gabitz nieder und flüsterte: „A fiert was ei'm Schilde!“ —
„Das war die schönste Willkommensfreude, die Du mir machen konntest, Papchen!“ sagte Ottilie später, als die Drei beim mündlichen Diner saßen und Segonda mit einer gut gespielten Freude die Begeisterung der Arbeiter schilderte. „Die armen Leute können's brauchen.“
„Ich könnt's nicht aushalten, wenn die Flachsernte in Rußland nicht so gute Aussichten böte!“ entgegnete er. Ein so vergnügtes Mahl war schon lange nicht in Fichtenbrück gehalten worden. Immer mehr und immer mehr mußte Ottilie von den Schönheiten der Riviera erzählen, vom Nizzaer Carneval, und die Drei sahen sich fast erstaunt an, als mit einem Male schon der Nachtisch aufgetragen wurde. Wie aus einer Bezauberung erhoben sich Vater und Sohn. „Kinder, was fangen wir nun Abends an?“ fragte Ottilie. Verlegenes Husten der beiden Herren. Der Papa sprach etwas von „noch arbeiten“ und „wichtigen Briefen“,ribert von einer „Sitzung in Landeshut.“ Der Vater suchte Ottilien durchaus einzureden, daß sie reisemüde sei und früh zu Bett gehen müsse, wogegen die junge Dame sich entschieden verwahrte.
Der Diener trat ein und meldete, daß Doktor Fahner nach den Herrn Leutnant frage. „Führen Sie ihn in mein Zimmer und sagen Sie, ich sei gleich reisefertig!“ antwortete Aribert, während Segonda rief: „Nein, hier herein, er soll doch seine alte Patientin begrüßen.“ Aber Ottilie versicherte, sie wolle heute keinen fremden Menschen sehen, und als der Vater entgegnete, der Doktor sei doch kein Fremder, erklärte sie sich als „wirklich müde“ und zog sich auf ihr Zimmer zurück. „Ich merke ja doch, ihr wollt mich los sein,“ sagte sie, und Aribert bei Seite nehmend, fragte sie: „Du verkehrst immer noch mit dem unausstehlichen Menschen?“
„Mein Corpsbruder ist kein unausstehlicher Mensch, sondern der reizendste Kerl auf Gottes Erdboden.“
„Na — Du — wirst den Bruder schon noch kennen lernen. Mir ist das Corps unsympathisch. Gute Nacht!“
Aribert verabschiedete sich von seinem Vater und begrüßte den in seinem Zimmer harrenden Freund mit den Worten: „Na alter Schwede, heute hole ich meine Revanche!“ Dabei schlug er ihn auf die Schulter. Der Doktor verzog sein breites, rothes, schmißzerfetztes Gesicht zu einem Grinsen und erwiderte: „Meine Tante sagt Ja, hoffentlich sagt Deine nicht Nee!“ Aribert lachte und schlüpfte in den Paletot.
Bald rollte der Whisky davon, der Beide dem „Goldnen Löwen“ in Landeshut entgegenführte. —
Segonda saß in seinem Privat-Arbeitszimmer, das mit allen erdenklichen Bequemlichkeiten ausgestattet war, von den weichen Polstermöbeln, den schweren Teppichen, in denen der Fuß geräuschlos versank, bis zu der direkt nach dem Kontor führenden Fernsprechleitung. Der Diener hatte die Vorhänge herabgelassen, die Studierlampe auf den Tisch gestellt, welche über die Möbel, die Bilder, die Decken einen goldigen Hauch goß, und sich auf einen Handwink des Herrn stumm zurückgezogen Segonda ging mit kurzen Schritten im Gemach auf und nieder, die Arme auf dem Rücken, die Stirn gerunzelt. Jetzt zündete er sich eine Cigarre an — er war eigentlich kein Raucher, aber er mußte die Zeit doch mit etwas ausfüllen — und setzte seine Zimmerpromenade fort. Von Minute zu Minute warf er unwillige kurze Blicke nach der Thür. Plötzlich draußen ein scheues zurückhaltendes Klopfen, wie wenn die Fingerkrümmung das Holz kaum berührte, drinnen ein ganz leise knurrendes „Hm!“ — und hinter der von selbst klanglos in's Schloß fallenden niederen Thür erschien Lina im Zimmer. Sie ging bis in die Mitte des Raumes, bis vor den Tisch, fast sicher, ohne Scheu, wie Jemand, der den Ort kennt und an ihm zu verkehren gewohnt ist. Er betrachtete sie von oben bis unten, während sie ihn dreist ansah, seine Züge hellten sich auf, die Falten schwanden von seiner Stirn. Dann ging er bis zum Schreibtisch, stellte sich so, daß er ihr den Rücken wandte und sagte mit tiefer Stimme, fast väterlich, mit der offenkundigen Absicht, jede Härte zu vermeiden: „Ich habe mich heut wieder arg über Dich kränken müssen. Um ein Haar hättest Du Dich verrathen und mich in die größten Schwierigkeiten gebracht. Du mußt Dich zusammennehmen, Kind! Besonders jetzt, wo meine Tochter wieder hier ist. Mein reines, väterliches Interesse an Dir könnte mir falsch ausgelegt werden. Und dann wäre es auch aus mit meiner Theilnahme für Dich!“
Er hielt inne. Lina hatte den Kopf gesenkt und sah zu Boden. Eine ganze Weile schwieg sie, in einer Verlegenheit, die fast wie Trotz aussah, dann murmelte sie: „Nehmen's diesmal nit genau, Herr Baron.“
Segonda trat zu ihr und faßte sie unter's Kinn. „Versprichst Du mir, Dich künftig zusammen zu nehmen, und Dich namentlich im Dienst nie über die Andern zu überheben?“
Sie sah noch immer nicht auf, sondern murmelte in der vorigen Stellung, kaum hörbar: „Ja!“
„Und hast Du auch Dein Versprechen gehalten, Dir keinen Liebhaber anzuschaffen?“
Wie oben: „Ja!“
„Und wirst Dir keinen anschaffen?“
„Naa.“
„Dann bin ich mit Dir zufrieden. Hier hast Du etwas für Deine Sparbüchse.“ Verstohlen, beinahe scheu, steckte er ihr einen Thaler zu, den er zwischen zwei Fingern gehalten hatte, dann trat er, während sie leise dankte, wieder von ihr weg, und winkte mit dem Kopfe nach rechts. Sie schritt zur Wand und öffnete, ohne lange zu suchen, eine Tapetenthür, die sich nur wenig von dem dunkelbraunen Grunde abhob. Während sie dahinter verschwand, setzte er sich auf das Sofa, die Hände in die Hosentaschen, die Beine von sich gestreckt und starrte wie hypnotisirt immer auf den einen Tischfuß, dessen Umrisse sich kaum vom Halbdunkel des Teppichbodens abhoben, der alles Licht einsaugte. Wohl eine Viertelstunde saß er so, unbeweglich, ohne zu denken, als ginge sein Bewußtsein derweil in anderen Erdtheilen spazieren: nur seine Athemzüge verriethen Leben. Plötzlich warf er den Kopf auf, die Augen zwinkerten — und jetzt richtete er sie wie gebannt auf die hohe, derbe Gestalt, die eben durch die Tapetenthür wieder eingetreten war. Ein schneeweißes Faltengewand floß vom Gürtel abwärts, an der linken Seite aufgenommen ließ es hochgeknüpfte gelbe Sandalen über einem kräftigen Beine erkennen. Ein blinkender Panzer umschloß die Brust, die strammen Arme leuchteten bloß und roth, das Haar fiel aufgelöst über den Rücken, fast bis zum Gürtel, über dem Scheitel zitterte ein blitzender Stern.
Segonda erhob sich, ging ihr entgegen, zeigte auf den schön geschnitzten Eichensessel am Mitteltisch und sagte: „Ich danke Dir, daß Du gekommen bist, Brunhilde! Nimm Platz!“
Lina schwieg einen Augenblick, wie der Schatten eines Lachens kräuselte es sich um ihre Mundwinkel, dann senkte sie den Kopf und erwiderte mit dem Schulmädchenton des Eingelernten: „Ich dank' Dir, Gunther!“ und setzte sich. Segonda trat hinter sie, beugte sich nieder und drückte einen kurzen Kuß auf ihr Haar, während seine Hände die Muskeln ihres Oberarms zu erfassen strebten. Er bemerkte dabei nicht, oder wollte nicht bemerken, wie schlecht sie die Schnallen des Panzers auf den Rücken geknüpft, wie ungeschickt befestigt hatte. Sie bog die Arme zur Seite, kehrte sich halb um, wehrte ab und sagte in dem strengen Ton, den er ihr vorgeschrieben: „Gunther!“ Er seufzte, stand eine Sekunde still in sich versunken und drückte dann auf einen Telegraphenknopf an der Wand. Nach einer Pause ließ sich ein Geräusch vernehmen, wie wenn eine Kette gezogen wird, eine Klappe in der Wand öffnete sich und auf einer aus der Küche emporgelassenen Platte erschien eine dampfende Schüssel und eine Flasche Rheinwein im Kübel, und Eßgeschirr. Stumm holte Segonda Alles herbei, setzte Teller und Römer, Rehziemer und Hochheimer vor Lina nieder und sagte: „Erquicke Dich, Brunhilde, denn die Jagd wird Dich ermüdet haben, und gestatte mir in deiner Gesellschaft zu bleiben.“ Dann setzte er sich in die Sofaecke, rückte den grünen Schirm der Lampe so zurecht, daß Alles Licht auf Lina fiel und er selbst tief im Schatten saß. Den Kopf in die Hand gestützt schien er ihre Gestalt, ihre Bewegungen in sich einsaugen zu wollen. Obgleich Lina diese Szenen jeden Sonnabend Abend spielen mußte, war ihr die Bewegung, das ungewohnte Gewand, die ihr unbegreifliche und unverständliche Situation jedesmal von Neuem unbehaglich. Bald ließ sie das Messer zur Erde fallen, bald stieß sie den vollen Römer um, und wie von innerem Schmerz durchwühlt zuckte Segonda jedes Mal zusammen, wenn er aufstehen mußte, um die Folgen ihrer Ungeübtheit zu beseitigen und dann mit vieler Mühe die Fäden des schwachen Zaubers wieder zusammenzuknüpfen, in den sich zu versetzen er so großen Aufwands bedurfte. —