Und Jermak?
Während unsere Freunde so schleunig, als es anging, dem Burukanwalde zustrebten und denselben, wie wir gesehen haben, auch glücklich erreichten, während unten im Thale das Kleingewehrfeuer an Heftigkeit zunahm, lag der Polizeimeister besinnungslos auf dem Schnee zwischen den Felsen. Ihm zur Linken war der Block herabgestürzt, ohne ihn auch nur zu berühren – verwundet und betäubt von dem jähen Sturze lag er im Schnee, bis ihn die Kälte weckte und allmählich zur Besinnung brachte.
Alles still um ihn herum. Wo steckten seine Gefährten?
Er horchte und spähte – kein Laut traf sein Ohr.
Dann sammelte der unbeugsame Mann, was er an Kräften noch besaß, und arbeitete sich aus der Felsenwildnis heraus bis zu jener Stelle, von wo er vorhin so plötzlich in die Tiefe stürzte. Ein Mann hatte ihn hinabgeworfen, der Tanzlehrer, jetzt entsann er sich des schrecklichen Augenblickes – die Angreifer da unten im Thale mußten also doch andere gewesen sein, Gott mochte wissen, welche, aber keinesfalls die verfolgten Flüchtlinge.
Diese steckten im Burukanwalde. Je länger er überlegte, desto sicherer und unumstößlicher erschien es ihm. Ein böses Lächeln umspielte seine Lippen; – sie sollten ihn kennen lernen.
Zunächst ging er in das Thal hinab, um die Kosaken zu suchen. Den ersten derselben sah er mit durchschossener Brust schon nach wenigen Schritten im Felspasse liegen, dann weiter unten die übrigen, alle tot, beraubt, schrecklich verstümmelt; neben ihnen die erschossenen Pferde. Es mußte eine Schlacht geliefert sein, aber mit wem, das blieb vorläufig ein Rätsel, obwohl eine schlimme Ahnung die Seele des alten Mannes umfaßt hielt – er dachte an die Golddiebe, die Bande, zu der auch sein Sohn gehörte.
Schaudernd wandte er sich ab.
Aber im Augenblick gab es für ihn keine Zeit, um an Privatangelegenheiten zu denken – er mußte vor allen Dingen den Burukanwald erreichen. Ein tiefer Seufzer hob seine Brust.
Was sollte er beginnen, um die Flüchtlinge aufzuspüren? Und welche Aussicht auf Sieg gab es für den einzelnen, alten, noch dazu verwundeten Mann, einer Gruppe Verzweifelter, zum Ärgsten Entschlossener gegenüber?
Seine Gedanken wanderten. Wenn das Rotwild im Dickicht lagert und sich nicht heraustreiben lassen will, dann hilft zuweilen ein sehr einfaches, obwohl grausames Mittel. Man setzt den ganzen Forst in Brand.
Weshalb nicht hier das Gleiche thun?
Vier Menschen konnten dabei eines entsetzlichen Todes sterben, aber – sie waren Verbrecher, Hochverräter in den Augen des Polizeimeisters, sie hatten eine scharfe Züchtigung verdient. Überdies retteten sie sich doch vielleicht noch, kamen heraus und konnten in aller Form verhaftet werden.
Einmal bis zu diesem Gedanken vorgedrungen, hatte Jermak auch den Entschluß schon gefaßt, er suchte nur noch die passende Stelle, um ihn auszuführen.
Waren denn nicht die Leute, welche er verfolgte, Mörder? Wirkliche Mörder? – Ganz gewiß, da Hermann einen gegen seinen, des Polizeimeisters, Kopf abgefeuerten Schuß auf dem Gewissen hatte, der Wiener sogar den Angriff am Felsabhang.
Sie sollten sterben, wenn sie es nicht vorzogen, sich zu ergeben.
Zwei gewaltige Gebirgspässe umschlossen von beiden Seiten den Wald. Gegen Osten konnte niemand das steil abfallende Gestein passieren, es blieb also nur die Nordecke, und an dieser wollte der eigensinnige Beamte Posto fassen.
Er schlug Feuer. Seine Hand bebte, als er den brennenden Schwamm auf das harzreiche Geäst legte und als die erste Flamme gierig züngelnd um sich griff. Sollte wirklich der Wald, der königlich stolze Wald mit allem, was in ihm lebte und atmete, dem würgenden Feuer zum Opfer fallen?
Jermak atmete schwer. Wirklich.
Ja, ja, es mußte sein. Die da drinnen waren Mörder und Hochverräter, sie verdienten keine Schonung, keine Gnade.
Er blies in die Flamme. Rote Schleier, rauchverhüllt, auf- und absteigend, legten sich über die Umgebung, es knisterte und brauste, der Wind fuhr hinein – jetzt hätte keines Menschen Macht die Gluten wieder löschen können. Der Wald brannte lichterloh.
Jermak sah sich um nach seinem Pferde, aber das Tier war verschwunden, es mußte sich losgerissen haben, während der Reiter das Zerstörungswerk vollbrachte – jetzt flüchtete es jedenfalls, vom Feuer erschreckt, in entgegengesetzter Richtung davon.
Der Polizeimeister schnitt sich einen tüchtigen Stock und begann die neue Wanderung, nicht ohne sich zu gestehen, daß dies die schrecklichste Nacht seines Lebens sei. Hinter ihm loderten die Feuersäulen zu Hunderten zum Himmel empor, ein betäubender Geruch brennenden Harzes erschwerte das Atmen, eine unwillkürliche Unruhe ließ alle Pulse höher schlagen. Weshalb zögerten die Flüchtlinge, sich zu retten, weshalb blieben sie immer noch beharrlich inmitten des furchtbaren Glutmeeres?
Ein Schatten, langgestreckt, flog über die freie Fläche. Ein Pferd – zwei, drei – waren es die der Entflohenen?
Jermak horchte und spähte. Ohne Zweifel – jetzt mußten die Gesuchten selbst in kurzer Frist nachfolgen, oder das riesige Flammengrab hatte alle verschlungen. Er zitterte, ohne es zu wissen, bei diesem grauenhaften Gedanken.
Dann erschien vor seinen Blicken in weiter Entfernung die Gestalt eines Mannes; eiligst prüfte er die Waffen, welche ihm zu Gebote standen und hob dann abermals den Kopf, jetzt in der sicheren Überzeugung, die Gesuchten vor sich zu haben – aber wie erstaunte er, als nacheinander sieben Personen zum Vorschein kamen, lauter Männer in der bekannten Kleidung der Steppenräuber. Das waren also die Golddiebe!
Jene kamen unterdessen näher, und zwei Büchsenkugeln pfiffen rechts und links um die Ohren des Polizeimeisters. »Eine Kriegserklärung!« dachte der unerschrockene Mann; »die Spitzbuben glauben sich umzingelt und wollen ihr Leben teuer verkaufen. Das Gleiche beabsichtige ich auch.«
Eine für den Augenblick ausreichende Deckung war hinter dem nächsten Gebüsch bald aufgetrieben, dann antwortete ein Doppelschuß aus dem Gewehr des Belagerten den Angreifern.
Diese zerstreuten sich wie wohlgeschulte Soldaten, indem alle zugleich in das Versteck des Polizeimeisters hineinschossen, freilich ohne zu treffen, denn ein Erdwall, hinter dem er lag, fing wie eine Schanze sämtliche Kugeln auf. Dennoch aber konnte der Kampf des einen gegen sieben nicht mehr lange unentschieden bleiben. Sie rückten von allen Seiten vor, sie fanden bald einen Baum, bald einen Felsen, der ihnen als Schutzwall diente und zogen so den Kreis um das Versteck des Beamten immer enger, dabei von diesem unausgesetzt beobachtet und zu passender Zeit erschreckt. Fünf Schüsse aus Jermaks Kugelbüchse hatte der Körper des einen unter ihnen bereits aufgefangen, obwohl sämtliche Wunden nur mehr oder weniger bedeutende Schrammen zu nennen waren, dann änderte sich plötzlich der Vorgang.
Der Polizeimeister sah einen der Räuber hinter einem Felsen hervorschleichen, um in ein näher an seinem eigenen Versteck liegendes Gebüsch zu gelangen, und mitten auf dem Wege dahin erschoß er ihn. Die Kugel ging durch die Brust des Mannes; er schrie hell auf und stürzte dann im Todeskampfe schwer zu Boden.
Ein Wutgeheul der ganzen Bande begleitete seinen Fall, ein Kugelregen überschüttete von allen Seiten Jermaks Versteck.
»Nun bin ich verloren«, dachte der tapfere Mann. »Sie werden mich mit dem Kolben ihrer Gewehre gleich einem tollen Hunde erschlagen.«
Wie groß aber war sein Erstaunen, als plötzlich der Kommandoruf des einen Räubers die übrigen in ihrem Angriff innehalten ließ. Wenige Minuten lang stritt die ganze Schar auf das lebhafteste miteinander, gestikulierte und schrie, dann schien eine Einigung erzielt zu sein, und alle bis auf den, welcher zuerst Ruhe geboten hatte, verschwanden in der Richtung der entflohenen Pferde – jener aber warf seine Waffen in den zerstampften, blutbedeckten Schnee und ging festen Fußes auf das Versteck des Polizeimeisters zu; etwa drei Schritte vor demselben machte er Halt und horchte.
Jermak hatte ihn, während er die Büchse schußgerecht hielt, unausgesetzt mit wachsendem Interesse beobachtet. Der Räuber war ein junger schlanker Mensch, dessen Gesicht schöne, aber verhärmte Züge aufwies. Aus großen, schwarzen Augen sprach eine ruhelose Seele, die Hände zitterten, in den Schläfen pochte wie gejagt das rote Blut. Als er so stillstand und mit scheuen Blicken das Innere des Gebüsches zu durchdringen suchte, da ließ der Polizeimeister das Gewehr fallen und schlug beide Hände vor sein Gesicht. »Allmächtiger Gott!« rief er halblaut, kaum verständlich.
Der junge Mann seufzte, er fuhr mit dem Taschentuch mehreremal über das blasse Gesicht. »Vater!« stammelte er; »o Gott, Vater, sprich freundlich mit mir, ich bin so unsagbar elend!«
Der Polizeimeister hatte sich wieder gefaßt, er trat jetzt hervor und nahm auch das Gewehr vom Boden auf. Im roten, weithin flackernden Lichte des brennenden Waldes, allein in der schauervollen Wildnis sahen Vater und Sohn einander zum erstenmal nach langer Trennung fest ins Auge. Der jüngere Mann ächzte leise, er senkte, wie von einer schweren Hand gebeugt, die Stirn.
In den Zügen des Polizeimeisters kämpften Trauer und Zorn. »Dimitri«, sagte er, »mein Sohn, mein Erstgeborener, Du unter Mördern und Räubern? Geh, ich verachte Dich, Du hast die frevelnde Hand gegen das Eigentum anderer erhoben, Du –«
»Vater, um Gottes willen, halt ein!« rief zitternd vor Aufregung der Sohn. »Von allem, was Du da sagst, ist kein Wort wahr. Wir suchen das Gold und die Diamanten, welche diese unermeßlichen Einöden bergen, wir schießen das Wild und –«
Jermak lachte bitter. »Ist das alles kein Raub?« rief er. »Gehören die Goldkörner in Deinen Taschen etwa Dir oder dem Zaren? Gehören die Hirsche ihm oder Dir? – Und endlich, bist Du nicht ein Vatermörder, indem Du es wagst, mir in solcher Gesellschaft, vielleicht gar als der Anführer des Diebsgesindels, vor die Augen zu treten?«
Der Sohn zuckte die Achseln. »Ich habe viel gefehlt, Vater, ich mißbrauchte Deine Güte, ich entfernte mich vom rechten Wege, ja, ja, Du zürnst mit Grund, aber dennoch solltest Du mich keinen Räuber nennen. Vergieb mir, Vater!«
»Nie!« rief der Polizeimeister; »nie! Du hast auf meinen ehrlichen Namen Schmach und Schande gehäuft, Du hast die Gesundheit Deiner bedauernswerten Mutter gebrochen und Jahre lang aller meiner Bitten, meiner Ermahnungen gespottet – Dein Maß ist gerüttelt voll! Ich befehle Dir, auf geradem Wege zum nächsten Wachtposten zu gehen und Dich dem Gesetze zu stellen. Wenn Deine Strafe verbüßt ist, wenn Du reuig und demütig in die Gesellschaft achtbarer Menschen zurückkehren willst, dann soll Dir auch meine Verzeihung zu teil werden, aber früher nicht.«
Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Du möchtest mich zum Sklaven erniedrigt sehen, Vater?« rief er ganz entsetzt.
»Und was bist Du jetzt, Elender? Ein Dieb und Diebsgenosse!«
Dimitri stampfte mit dem Fuße. »Es ist nicht wahr!« rief er leidenschaftlich, »es ist tausendmal nicht wahr! – Der Zar erklärt das Gold in diesem Boden und die Tiere, welche darüber hin laufen, für sein Eigentum, aber sind sie es darum auch in Wirklichkeit? Die Gesellschaft unserer Tage giebt dem einen alles auf Kosten von Millionen anderer, das muß endlich ein Ende nehmen. Ich räche die Unterdrückten, indem ich mich gegen die Machthaber und ihre unberechtigten Ansprüche auflehne!«
Der Polizeimeister lächelte finster. »Also Empörer!« sagte er. »Es fehlt wahrhaftig nichts mehr, um Dich in meinen Augen zum Schurken zu stempeln. Man rächt sich, indem man sich wieder zu Ehren bringt, denen gegenüber, die da behaupten, daß man schuldig sei!« fuhr er mit Nachdruck fort. »Du gehst zum Wachtposten, ich habe es Dir schon einmal gesagt – oder was sollte etwa sonst aus Dir werden, he?«
Dimitri seufzte. »Ja, was sollte aus mir werden?« wiederholte er. »Vater, es giebt da nur einen – einen einzigen Weg für mich!«
»Den zum Esa-ul, ja!«
»Laß das, Vater, ich könnte es niemals, nie, so wahr ich lebe, ausführen. O, Du weißt ja auch ganz gut, was ich meine! Gieb mir Geld, um in das Ausland zu gehen, und ich bin gerettet!«
Jermak nickte. »Die alte Geschichte!« sagte er im bitteren, traurigen Tone. »Die alte, trostlose Geschichte. Gieb mir Geld, Vater! – O hätte ich nein sagen können, als Du ein Knabe von sechzehn Jahren warst, hätte ich niemals nachgegeben! Was ich erwarb, was Deine unglückliche Mutter ersparte, das Erbe Deiner Geschwister hast Du verpraßt und immer noch, trotz alledem, immer noch glaubte ich an Dich! Mein Sohn konnte ja seiner Ehre nicht vergessen, konnte nicht fallen! Du warst nur leichtsinnig, nur jugendlich übermütig, die Jahre würden von selbst den Ernst des Mannes mit sich bringen. O wie entsetzlich habe ich mich getäuscht! – Als alles verschleudert war, da machtest Du Schulden, da liehst Du auf meinen Namen Gelder von Wucherern, und endlich und zuletzt bist Du ein Spitzbube, ein Dieb geworden. Aber nicht zum zweitenmal gelingt es Dir, mich zu hintergehen, dessen sei sicher, Du begiebst Dich entweder von hier zum Esa-ul oder –«
Er zögerte, aber in seinen Augen brannte ein trotziger Entschluß. Er nickte nur kurz vor sich hin.
Der Sohn sah ihn an. »Oder?« wiederholte er.
»In den Tod!« sagte fest der Polizeimeister. »Zu der Räubergesellschaft lasse ich Dich auf keinen Fall zurückkehren!«
Ein trübes Lächeln umspielte die Lippen des jüngeren Mannes. »Du willst mir nicht helfen, Vater«, fragte er halblaut, »Du willst mir kein Geld geben? – Nur so viel, um nach Amerika zu kommen, dort werde ich arbeiten, ehrlich arbeiten, und sei es als Lastträger!«
Der ergrimmte, alte Herr sah ihn an. »Zum wievielten Male versprichst Du das in diesem Augenblick?« fragte er spöttisch.
Der Sohn senkte den Kopf. Er wagte es nicht, seinem Vater zu antworten.
»Du sollst sterben!« wiederholte der Polizeimeister, auf dessen Stirn große Tropfen standen. Die Nerven des alten Mannes mochten durch alles, was er in der jüngsten Vergangenheit ertragen mußte, dermaßen überreizt sein, daß ihm der klare Blick verloren ging. Er sah nur seinen Sohn als gebrandmarkt, als überführten Genossen von Verbrechern und dieses Unglück raubte ihm den Verstand. Wenn Dimitri im Grabe lag, so konnte keines Menschen Stimme ihn anklagen, so war die Gefahr, ihn eines Tages mit gebundenen Händen zwischen Kosaken in das Gefängnis geschafft zu sehen, für immer beseitigt – dieser Gedanke verdrängte und beherrschte alle übrigen.
»Ich werde das Urteil an Dir vollstrecken!« sagte der Polizeimeister.
»Ein Vater – seinen Sohn töten?«
»Es giebt hier weder Vater noch Sohn, sondern nur den Beleidiger und den Beleidigten, oder besser gesagt, den Verletzer des Gesetzes und den Vertreter des Gesetzes. Folge mir!«
Der junge Mann sprach keine Silbe. Das Leben, in welches ihn sein Leichtsinn hineingetrieben, das trostlose Leben unter dem Auswurf der menschlichen Gesellschaft war ihm längst eine Last geworden, er wagte es, erdrückt vom Schuldbewußtsein, nicht, dem bestimmten Befehl seines Vaters zu trotzen, aber dennoch schwankten seine Füße, dennoch war er so blaß, als habe ihn bereits der Tod erfaßt.
»Muß es sein?« murmelte er, als der Polizeimeister an einem stärkeren Baumstamm Halt machte. »Vater – muß es sein?«
»Unweigerlich, da Du selbst die strengere Strafe der milderen vorziehst. Oder versprichst Du mir, den nächsten Wachtposten aufzusuchen und –«
»Nie, nie, so wahr ich an Gott glaube!«
»Gut, dann gieb mir Deinen Gürtel!«
»Wozu das, Vater?«
»Um Dich festzubinden! Das geschieht mit allen Verurteilten.«
»Aber bei mir ist es unnötig. Diese unerwartete Begegnung mit Dir hat meine letzten Hoffnungen zerstört, mir so zu sagen den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich will sterben – fürchte keinen Fluchtversuch, Vater!«
»Einerlei – die Fessel ist eine Demütigung, welche Du erdulden mußt.«
Der Polizeimeister befestigte mit bebender Hand den Gürtel, so daß nun sein Sohn vor ihm wehrlos stand, jetzt nickte er langsam. »Wenn Du gestorben bist, Dimitri, wenn Du gebüßt haben wirst, dann soll Dir verziehen sein. Ach – an diesem Orte also muß ich mit meinen eigenen Händen Dein Grab graben – das meines ältesten, einst geliebten Kindes! – O Dimitri, Dimitri, wenn ich es verstanden hätte, Dich mit Strenge zu behandeln, als Du noch ein unschuldiger Knabe warst! Jetzt ist es zu spät – ach, wer mir das am Tage Deiner Geburt vorausgesagt hätte! – Dimitri, versöhne Dich im Geiste mit Deiner unglücklichen Mutter, befiehl deine Seele dem ewigen Erbarmen. Bete, mein Kind, bete!«
Kalter Schweiß perlte auf der Stirn des Polizeimeisters. In diesem Augenblick trat doch der Strafrichter in ihm gegen den Menschen, den Vater zurück.
»Bete!« wiederholte er mit erstickter Stimme.
Der Sohn schloß die Augen. »Ich sterbe reuig«, flüsterte er. »Grüße die Mutter und die Geschwister, Vater – es ist am besten so!«
Jermak nahm drei Schritte Abstand, dann erhob er die Pistole und zielte auf das Herz seines Sohnes. Dieser ganze furchtbare Vorgang wurde erhellt von dem blutroten Leuchten des brennenden Waldes, von den rieselnden Feuertropfen, welche an jedem Stamme herabrannen und aus allen Zweigen hervorquollen.
Der Polizeimeister legte den Finger an den Drücker, im gleichen Augenblick aber taumelte er und sank rücklings zu Boden, so daß die Waffe aus seiner Hand fiel. Er blieb wie tot auf dem Schnee liegen.
»Vater!« rief Dimitri voll ausbrechender Angst; »Vater!«
Der Polizeimeister antwortete nicht, hatte überhaupt den Schreckensschrei von den Lippen seines Sohnes nicht mehr gehört. Die aufgeregten, erschütterten Nerven versagten den Dienst, er lag mit entstelltem Gesicht und geschlossenen Augen ohne Besinnung da.
»Vater! – Ach um des guten Gottes willen, Vater!«
Und Dimitri zerrte mit aller Macht an seinen Banden, um sich derselben zu entledigen, aber vergeblich; dann, einen plötzlichen Entschluß fassend, steckte er zwei Finger in den Mund und pfiff dreimal in kurzen Zwischenräumen auf besondere Weise.
Das Zeichen rief die Golddiebe herbei. Sie näherten sich mit schnellen Schritten.
»Mein Verhängnis!« dachte schaudernd der junge Mann. »Mein Verhängnis! Gott wollte mich nicht retten!«
»Helft meinem Vater!« bat er; »ich kann es nicht!«
Einer der Leute beugte sich über den Körper des Polizeimeisters, ein anderer zerschnitt Dimitris Bande. »Was ist denn hier vorgegangen?« sagte er voll Erstaunen. »Bist Du toll geworden, Freund Dimitri?«
»Laßt das, laßt das – helft nur meinem Vater!«
»Der ist tot«, bemerkte ein anderer. »Ihn hat der Schlag gerührt, er wird schon kalt.«
»Das weißt Du ganz gewiß, Koskintin?«
»Ganz gewiß.«
Sie näherten sich alle dem unglücklichen, vor Schreck fast erstarrten jungen Manne. »Bekümmere Dich nicht mehr um Deinen Vater, Dimitri«, sagte einer, »es ist Zeit an wichtigere Dinge zu denken. Du sollst unser Anführer werden!«
Der junge Mensch erschrak heftig. »Ich kann es nicht«, stammelte er. »Laßt mich, wählt einen Besseren, Älteren, ich kann es nicht.«
»Du mußt«, beharrte Koskintin. »Dein Vater hat unseren tapferen Anführer erschossen, es ist daher Deine Sache, ihn zu ersetzen. Überdies bist Du ein Studierter, Gebildeter – es bleibt dabei, wir ernennen Dich zu Nikitas Nachfolger.«
»Obwohl er von allen der jüngste ist?« fragte eine brummende Stimme.
»Ja! Wir wollen es, und die Sache wird ausgeführt werden.«
Dimitri schüttelte den Kopf. »Wählt Euch einen anderen, Kameraden, ich kann der Führer Eurer Truppe unmöglich sein. Wenn mein Vater zum Leben erwacht, so –«
»So wird er Dich töten, ja. Er ist nicht der Mann, um Gnade zu üben! Aber beruhige Dich, Dimitri, er ist tot, ganz tot – komm Du nur mit uns.«
»Nein, nein, ich will nicht!«
Koskintin ballte die Faust. »Du willst nicht, Bursche? Ich sage Dir, Du sollst!«
»Ja, ja, er soll!«
Sie zogen ihn trotz seines Widerstandes mit sich fort, aber doch nicht früher, als bis der Körper des Polizeimeisters mit einigen Ästen und Zweigen notdürftig bedeckt war. Zwanzig Schritte von dieser Stelle entfernt lag der nackte Leichnam des erschossenen Anführers; die Golddiebe hatten ihn in aller Eile seiner Pelzkleidung beraubt.
In ziemlicher Nähe brannte der Wald. Da und dort erhoben sich Rauchsäulen, die wie breite Bänder flatternd durch das rote glühende Luftmeer zogen, hinter ihnen erschien das junge Tagesgestirn, es wurde Morgen, und an der dem Feuer entgegengesetzten Seite regte sich allmählich das Leben der Wildnis. – – – –
Während aller dieser, eine Reihe von Stunden ausfüllenden Vorgänge hatten sich die Flüchtlinge von ihrer beschwerlichen Reise durch den brennenden Wald einigermaßen erholt und gelangten nun auf dem Wege, der sie dem vorausgeschickten Tekel näher führen mußte, langsam vorwärts. Auch ihnen waren die fliehenden Pferde begegnet, und zwei derselben hatte Hermann glücklicherweise einfangen können; das sämtliche gerettete Eigentum wurde daher zusammengeschnürt und einem der Tiere auf den Rücken gepackt, während Emma das zweite ritt. Die beiden, Männer und der Knabe gingen schweigend voraus.
Etwa eine Stunde nach der seltsamen Bestattung des Polizeimeisters kamen sie an den Ort, wo der Kampf mit den Golddieben stattgefunden hatte – sie sahen die verschiedenen großen Blutlachen und blieben starr vor Schreck stehen, während die Pferde unruhig wieherten und nicht von der Stelle zu bringen waren.
Otto bemerkte, nach Knabenart umherspähend, zuerst eine leichte Blutspur, welche den Schnee färbte, und er teilte diese Entdeckung sogleich den übrigen mit. »Hier muß ein Verwundeter in der Nähe sein!« rief er.
Hermann sah auf. – »Kommen Sie, mein guter Bochner«, sagte er »vielleicht ist noch ein Menschenleben der Vernichtung zu entreißen.«
Der Tanzlehrer war sofort bereit, die Pferde wurden an der Hand geführt, und vorsichtig, die geladenen Kugelbüchsen schußbereit in den Händen haltend, drangen alle Teilnehmer der kleinen Gesellschaft Schritt um Schritt gegen die Baumgruppe und den frisch aufgeworfenen Hügel vor, wobei Hermann den Zug eröffnete und Herr Bochner denselben beschloß; in der Mitte gingen Otto und das junge Mädchen.
»Du«, flüsterte der Knabe, »was ist das dort? Ich glaube, der Schneeberg ist kürzlich erst entstanden!«
»Und von blutbefleckten Händen aufgeworfen!«
Sie gingen schneller. »Wenn dort der Verwundete eine Zufluchtsstätte gesucht und gefunden hätte!«
Herr Bochner schüttelte den Kopf. »Gott weiß es«, sagte er.
»Dann wird vielleicht der Anblick ein schrecklicher sein!« flüsterte erbleichend das junge Mädchen.
»Tritt also bei Seite, Emma!«
»Nein, nein – was Ihr könnt, das kann ich auch!«
Herr Bochner und Otto begannen den Schneehügel abzuräumen, während Hermann mit geladenem Gewehr Wache stand. Rings umher lag alles in tiefer Stille, selbst das Rauschen und Knistern der brennenden Zweige hatte aufgehört – nur Haufen schwarzer, stäubender Asche bezeichneten die Stelle, wo gestern noch ein ausgedehnter Wald seine Kronen zum Himmel erhob.
Der Schnee und die Zweige waren bald entfernt – Herr Bochner scharrte von dem Gesicht des Polizeimeisters die letzten Flocken, dann nickte er bedächtig. »Es ist ein Toter, eine, wie es scheint, völlig unversehrte Leiche«, flüsterte er.
»O der Unglückliche!«
»Aber vielleicht ist noch Leben in ihm«, rief Emma. »Sollten wir nicht den armen Mann mit etwas Branntwein reiben, Herr Bochner?«
»Das wird sogleich geschehen, liebes Fräulein.«
Hermann stand immer getreulich Wache, Otto befreite die Füße des Polizeimeisters vom Schnee, und Herr Bochner und Emma knieten am Rande der Grube, um so viel als möglich den Kopf des Verscharrten aufzuheben und sein Blut durch Reiben in Bewegung zu bringen.
»Mir deucht, er atmete eben!« rief das junge Mädchen.
»Mir auch! – Wir retten ihn.«
Die Bemühungen der hilfreichen Samariter wurden emsig fortgesetzt, bis sich langsam alle Zeichen des wiedererwachenden Lebens nacheinander einstellten. Das Herz schlug, und ein Seufzer trennte die farblosen Lippen.
»Gottlob!« rief Emma; »o meine Freunde, wie glücklich sind wir! Gott schenkte uns die Gelegenheit zu einem guten Werke, das ist ein Zeichen Seiner Gnade, Seiner Vergebung. – Es ist verziehen, was Ihr Schreckliches thun mußtet, um Euch unseres Verfolgers zu entledigen – Ihr könnt ein Leben retten für jenes andere dort unten in den Pässen! Vertrauen, Hermann, Vertrauen – was uns jetzt begegnet, das ist eine gute Vorbedeutung für den Erfolg unseres Unternehmens.«
Große Thränen rannen über ihr Gesicht herab, während sie eifrig die Stirn des Vergrabenen rieb, dann hatte Otto den letzten Schnee hinweggeräumt, und Hermann lehnte das Gewehr an einen Baum, um mit anzufassen. Die vereinten Kräfte aller dieser barmherzigen Samariter hoben den Geretteten aus der dunkeln Höhlung hervor ans Tageslicht und legten ihn auf den Schnee. Ein Ruf des Erstaunens brach zuerst über Herrn Bochners Lippen, dann stimmten die anderen mit ein – sie glaubten zunächst sämtlich an eine Sinnestäuschung.
»Der Polizeimeister! Der Polizeimeister!«
Herr Bochner sprang umher wie ein Irrsinniger, er schluchzte und lachte, er schlug die Hände zusammen und tanzte. Jetzt war der Alp von seiner Seele genommen, er brauchte nicht mehr des Nachts zusammenzuschrecken im Schlafe und mit klopfenden Pulsen, gebadet im Schweiß, aufzufahren in Todesangst: »Der Felsblock, der Felsblock, er kommt und trifft meinen Kopf, er erschlägt mich!«
O Gottlob, Gottlob, Jermak lebte, die schaudervolle Erinnerung zerfloß in nichts, er war jetzt erlöst von einem Grauen, das ihn bisher unablässig gewürgt hatte, er war so selig, daß er weinen mußte, um nicht zu ersticken.
»Wirklich«, stammelte Hermann, »er ist es!«
Und unfähig, zu begreifen, sahen alle einander an.
In diesem Augenblick öffnete Jermak die Augen. »Ich danke Euch, Leute«, stammelte er, sogleich mit der Hand das Gesicht bedeckend, um es gegen die Sonnenstrahlen zu schützen, »wer Ihr auch sein mögt, ich danke Euch! – Was lag denn so Schweres auf meiner Brust?«
»Schnee!« antwortete Hermann. »Aber wie derselbe dahinkam, das können wir nicht einmal vermuten!«
Der Polizeimeister war schon bei den ersten Lauten von Hermanns Stimme plötzlich aufgefahren, jetzt erhob er sich und stand, an den Baum gelehnt, vor denen, die er zu verbrennen gedachte und die ihm das Leben erhalten hatten. Die Reihe des Erstaunens war an ihm.
»Herr Brandt«, stammelte er, »und Sie, Herr Bochner!«
»Aber«, fuhr er dann erschreckend fort, »wo ist mein Sohn? Sind die Golddiebe hier gewesen? – Es wurde ganz plötzlich Nacht um mich herum!«
Niemand konnte ihm Auskunft geben; unsere Freunde erzählten, was sie wußten, und boten dann dem unglücklichen Manne eine Erquickung, die er stumm zurückwies. Ihm brach fast das Herz – sein Sohn war wieder bei den Golddieben, das ließ sich nicht länger bezweifeln.
Hermann legte mitleidig die Hand auf des unglücklichen Vaters Schulter. »Herr Jermak«, sagte er, »in diese ganze Angelegenheit hat eine höhere Macht hineingegriffen. Ich glaube, daß an dieser Stelle alle unsere gegenseitigen Feindseligkeiten ein Ende nehmen werden, wenigstens haben wir Ihnen soeben das Leben gerettet und sind zu jedem ferneren Dienste erbötig. Es ist kein Zufall, daß meine Kugel Ihre Brust fehlte, daß der stürzende Felsblock in den Werchojanskischen Pässen unschädlich an Ihnen vorüberrollte und daß wir im entscheidenden Augenblick hierherkommen mußten, um Sie aus dem Grabe zu befreien – Gott hat gnädig den Mord verhütet, und ich danke ihm dafür aus Herzensgrund. Sie sind ohne Zweifel der gleichen Ansicht.«
Ehe Jermak antworten konnte, nahm Herr Bochner das Wort und deutete auf die traurigen Überreste des ermordeten Räubers; im Verein mit den sonstigen Anzeichen mußten sie dem Polizeimeister genügend erklären, was hier vorgegangen war. Er erkannte es infolge seiner langen Vertrautheit mit den sibirischen Zuständen auch sehr bald selbst, aber obwohl er in höflicher Form dankte, schien er doch schon durch seine Haltung jeden Versuch einer Aussöhnung im Keime ersticken zu wollen.
»Wir sind jetzt quitt, Herr Brandt«, sagte er, »Sie können nicht länger leugnen, daß Sie sich auf der Flucht befinden, Sie, Ihre Fräulein Schwester und Ihr Bruder. Da diese Thatsache erwiesen ist, so erkläre ich Sie kraft meines Amtes für Gefangene.«
Hermann lächelte. »Sie können eine solche Erklärung immerhin abgeben, Herr Jermak, aber das ist auch alles; wir unsererseits sehen die Sache aus anderem Gesichtspunkt an. Sie selbst müssen, ob mit oder ohne Ihren Wunsch, uns bis an die Grenze des russischen Reiches begleiten, damit nicht auf Ihre Anstrengungen hin unsere Flucht noch in der zwölften Stunde vereitelt werde. Sie sind thatsächlich unser Gefangener, mit dem wir zwar alles teilen wollen, was uns eben selbst in dieser Einöde zu Gebote steht, der uns aber nicht verlassen darf, ehe der russische Grund und Boden für immer hinter uns liegt.«
Jermaks Augen schossen Blitze. »Sie pochen auf ihre Übermacht!« rief er erbittert.
Herr Bochner lachte ihn aus. »Mein guter Freund«, sagte er, »Sie können kaum allein stehen und gehen. Sie sind in der Wildnis ohne Lebensmittel, ohne Pferd oder Waffen, verlassener als ein Hiob, und dennoch weisen Sie die einzige Hand, welche sich ihnen bietet, trotzig zurück, dennoch sprechen Sie von Amtshandlungen! Das ist einfach Wahnsinn.«
Der Polizeimeister richtete sich straffer auf. »Meine Person kommt dabei nirgends in Betracht«, sagte er mit dem Tone ruhiger Würde, »ich vertrete nur das immer Heilige, Unantastbare, das Gesetz!«
»Aber Sie können nichts ausrichten, Sie sind machtlos, weil hier keine Kosaken mit geladenen Gewehren hinter Ihnen stehen!«
»Nein, nur weil Sie und Herr Brandt die Kraft des Gesetzes leugnen möchten!«
»Wenn Sie diese Kraft besitzen, so benutzen Sie dieselbe!«
Hermann trat zwischen die Streitenden. »Wissen Sie, weshalb die Kraft, von der Sie sprechen, Ihnen thatsächlich mangelt, Herr Jermak? – Weil Sie schuldlose Opfer vor sich haben, weil wir Märtyrer der Unterdrückung sind. Indem Sie unser Gewissen anrufen, können Sie keinen günstigen Eindruck auf uns hervorbringen, sondern erinnern nur an die Gewaltherrschaft, als deren Vertreter Sie erscheinen. Das ist der Grund, weshalb Sie uns schwach, ja vollständig wehrlos gegenüberstehen.«
Jermak nickte. »Das wollen wir sehen, Herr Brandt. Sie gehen nach Osten, ich nach Westen, möge sich jeder von uns die Zuversicht des Gelingens bewahren.«
Die Blicke der beiden Männer begegneten sich, Herr Bochner und Hermann hatten einander auch ohne Worte verstanden, sie vertraten dem Geretteten zugleich den Weg. »Herr Polizeimeister«, sagte Hermann, »Sie sind in unserer Gewalt, das wissen Sie selbst. Erlauben Sie mir aus diesem Grunde einige Fragen. Wenn wir Sie freiließen und wenn Ihnen auf Ihrem Wege eine Streifpatrouille begegnen sollte, was würden Sie dann thun?«
»Einfach das, was meines Amtes ist!«
»Das heißt doch: uns verfolgen lassen?«
»Ja!«
Hermann bewunderte unwillkürlich den Heldenmut seines Gegners, er war blaß wie ein Schatten, seine Stimme bebte vor Aufregung. Kam jetzt der Augenblick, wo er um der eigenen Sicherheit willen abermals ein schreckliches Verbrechen begehen mußte?
»Herr«, sagte er, »wir könnten Ihnen eine Kugel durch den Kopf schießen, könnten Sie totschlagen, Sie an einen Baum binden und von den Bären zerreißen lassen – wissen Sie das alles?«
»Natürlich. Die Übermacht ist auf Ihrer Seite.«
»Gut. Unterhandeln wir also. Geben Sie Ihr Ehrenwort, nicht zu entfliehen?«
»Auf keinen Fall.«
»Da haben wir es! Sie bleiben also unser Gefangener!«
»Aber ich bin verwundet!«
»Wir werden Sie auf das sorgfältigste pflegen.«
»Besonders ich«, nickte Herr Bochner. »Ich kenne die Sache aus dem Grunde.«
Der Polizeimeister streifte ihn mit einem eiskalten, verächtlichen Blick. Der Flüchtling und dessen Helfershelfer erschienen seiner starren Unbeugsamkeit wie abscheuliche Missethäter und Hochverräter, mit einem einzigen Unterschied jedoch. Für ihn war Hermann ein politischer, Herr Bochner aber ein ganz gemeiner Verbrecher.
»Sie?« sagte er, die Achseln zuckend, »Sie, ein Tanzlehrer, ein Mensch, der künstliche Weine fabriziert und Damenhüte verkauft!«
»Ich, mein Herr Polizeimeister von Jakutsk! Geben Sie mir nur gefälligst Ihren Arm in Behandlung.«
»Einen Augenblick«, bat Hermann. »Besitzen Sie keine Waffen, Herr Jermak?«
»Ich hatte ein Gewehr und zwei Pistolen«, sagte schaudernd der Polizeimeister, indem er hinübersah zu dem Baume, an dem früher sein Sohn gefesselt stand. »Vielleicht sind sie mir gestohlen worden.«
Noch während er so sprach, kam Otto herbei und trug auf der Schulter das Gewehr, im Gürtel die Pistolen des Geretteten. »Das alles habe ich etwas weiter hin am Boden gefunden«, sagte er.
Jermak fuhr freundlich kosend mit seiner bebenden Hand über die Wangen des Knaben. »Ich danke Dir, mein Kind«, sagte der unglückliche Mann, »die beiden Pistolen sollst du behalten.«
Das Gesicht des Knaben erglühte vor Freude. »Wirklich?« stammelte er; »wirklich? Ach, das ist ein schönes Geschenk!«
Der Polizeimeister wandte den Blick. Mit diesen Waffen hatte er das Herz seines geliebten, verlorenen Kindes treffen wollen.
Hermann nahm die Kugelbüchse an sich. »Im Augenblick können wir Ihnen das Gewehr nicht überlassen, Herr Jermak«, sagte er, »aber der Tag wird hoffentlich kommen, wo ich Sie bitte, es zurückzunehmen und unserer in Freundschaft gedenken. Hoffentlich! – Für jetzt müssen wir unsere Reise fortsetzen.«
»Sie entwaffnen mich also, Herr Brandt?«
»Dazu bin ich gezwungen. Wir beide, Herr Bochner und ich, übernehmen es, Sie vor jeder Gefahr nach Möglichkeit zu beschützen.«
Jermak senkte stumm den Kopf; es blieb ihm nur übrig, sich in sein Schicksal ruhig zu ergeben; das erkannte er.
Langsam zog unter dem letzten Verglühen des Waldbrandes die kleine Gesellschaft fürbaß. Der Polizeimeister trauriger als jemals während seines ganzen vergangenen Lebens, Herr Bochner vergnügter als ein Gott. So hatte für ihn die Sonne noch nie geschienen, so federleicht war sein Herz nie gewesen – er sang immer leise vor sich hin, und dann und wann tanzte er oder rieb sich im stillen die Hände.
So nahe, so ganz nahe berühren sich auf dieser Erde die schärfsten Gegensätze.
Herr Bochners freudige Stimmung trieb ihn hinweg, noch einige Schritte allein mit seinen Gedanken zu machen.
Lange blieb er aus, so daß Hermann mit seinem getreuen Hunde sich aufmachte, ihn zu suchen. Bald hatte er denn auch des Vermißten Spur gefunden, als Hilferufe ihn trieben, seine Schritte zu beschleunigen.
Um ein Gebüsch biegend, fand er unseren biederen Wiener eingesunken im Schnee, kaum imstande, seinen Kopf noch frei zu halten. Hermanns kräftige Arme erlösten Herrn Bochner schnell aus seiner gefährlichen Lage, und gemeinsam eilten sie zu den anderen Leidensgefährten zurück.
Die wenigen Stunden der Tageshelle waren bald vorüber, und nun mußte das Nachtlager errichtet werden. Unter beginnendem Schneefall, vom eisigen Wind umtobt, bauten Hermann und Herr Bochner das Zelt, dessen innerer Raum für Emma als Schlafgemach diente, während der äußere, größere, den Männern überlassen blieb. Die Stangen und Eisenhaken, welche früher diese Arbeit erleichterten, waren dahin und selbst von dem Segeltuch nur die Hälfte gerettet, aber ein natürlicher Felsvorsprung half einigermaßen über diese Schwierigkeit hinweg, wie denn auch Herr Bochner alle seine Pelze hergab, um das Dach einigermaßen gegen Sturm und Nässe zu schützen. Was man vor der Wut des Feuers geborgen hatte, das wurde zusammengebunden und -geschoben, um wenigstens ein erträgliches Obdach zu erlangen.
Dann folgte die Abendmahlzeit, welche mehr als spärlich ausfiel. Etwas gebackenes Mehl, in kaltem Wasser verrührt, bildete den ganzen Speisevorrat, von dem jedes Mitglied der kleinen Gesellschaft seinen Anteil erhielt.
Dann wickelten sich alle in die noch übrig gebliebenen Pelze, und während Treu das Zelt bewachte, schliefen sie ruhig trotz aller Aufregungen und Mühsale der letztvergangenen vierundzwanzig Stunden.
Der erste, welcher am folgenden Morgen schon im Dämmergrau erwachte, war Jermak; er suchte seine Genossen, gewissermaßen sogar den unteren Teil seiner eigenen Person, ohne vorläufig etwas anderes entdecken zu können als nur ein riesiges weißes Laken, von dem alles überspannt und verhüllt war. Die rieselnden, sechseckigen Flocken hatten ihren Weg durch so manchen klaffenden Riß, manche unbeschützte Stelle gefunden – unsere Freunde waren eingeschneit.
Herr Bochner erwachte, sobald sich der Polizeimeister nur bewegte. Seine große, wie ein Karfunkel glänzende Nase, seine klugen Augen kamen unter der riesigen Pelzkappe zum Vorschein, er sah erstaunt umher. »Alle Heiligen, was ist denn das?« rief er.
Der Polizeimeister würdigte ihn keiner Antwort.
Herr Bochner befreite mit einiger Mühe seinen Körper von der darauf ruhenden Schneelast und suchte jetzt auch die beiden jungen Deutschen zu ermuntern, was freilich keine ganz leichte Aufgabe war. Sie schliefen wie die Bären im Winter, und auch Emma gab drinnen im Inneren des sonderbaren Baues noch kein Lebenszeichen von sich, nach und nach aber erschienen doch alle, und nun suchte der gutmütige Wiener die Sache ins Spaßhafte zu ziehen, namentlich aber den blassen kummervollen Mann, der so schweigend, so todestraurig zwischen den übrigen dastand, ein wenig zu erheitern.
»Eins ist gut«, sagte er, über dem schnell entzündeten Reisigfeuer die Hände reibend, »daß wir nämlich in keinem civilisierten Lande sind. Die ›eingeschneiten Landstreicher‹ würden sonst gleich von der Polizei ergriffen und in Nummer Sicher gesetzt werden.«
Er blinzelte und nickte, der alte Herr, er wollte so gern den armen Jermak etwas erheitern, aber ebenso gut hätte er glauben können, die Zeltstangen würden auf seinen Scherz eingehen wie der starre, in seiner übertriebenen Beamtenwürde aufs äußerste beleidigte Mann.
Jermaks Gesicht blieb kalt und unbeweglich, auch als Herr Bochner seine Wunde verband, ließ er das geschehen, ohne sich dagegen zu sträuben oder ohne ein Wort des Dankes zu sprechen.
An den jungen Deutschen dagegen wandte er sich in höflichem Tone mit der Frage, wie lange man hier zu bleiben gedenke.
»Hoffentlich nur noch ganz kurze Zeit«, antwortete Hermann, »etwa vier oder fünf Tage. Wir erwarteten einen Eingeborenen, welchen wir nach Zaschinersk geschickt haben und der uns von dort zwei mit Renntieren bespannte Noorten (Schlitten) hierherbringen soll.«
»Und das sagen Sie mir?« rief Jermak. »Wahrhaftig, es scheint, Sie wollen mich zum Vertrauten Ihrer –«
»Fluchtpläne machen!« ergänzte Hermann. »Weshalb nicht, Herr Jermak? Daraus kann jetzt kein Schade mehr erwachsen. Überdies aber gewährt mir Ihre tadellose Rechtschaffenheit die vollkommenste Verschwiegenheit nicht wahr? Was dem Menschen gesagt worden ist, das wird der Beamte niemals zu wissen scheinen.«
Jermak wechselte die Farbe. »Sind Sie dessen so gewiß?« fragte er, offenbar nur, um etwas zu sagen.
»Durchaus«, lächelte Hermann.
Auf dem Gesichte des Wieners erschien ein kleiner boshafter Triumph, den der brave Mann nicht unterdrücken konnte. »Dies Vertrauen meines Freundes ist vollständig gerechtfertigt«, sagte er, »denn – Verzeihung! – Sie wissen, daß ohne unsere Dazwischenkunft Ihr Körper jetzt neben jenem anderen liegen würde, den wir an der Unglücksstätte fanden.«
Zum erstenmal antwortete ihm Jermak. »Ja«, sagte er, »ich weiß es. Sie halten mich durch die natürliche Erkenntlichkeit des Herzens für gebunden.«
Hermann beeilte sich, den Gesprächsgegenstand zu wechseln. »Wir müssen aus dem Grunde, welchen ich Ihnen nannte, in dieser Gegend bleiben«, sagte er, »hier, wo der Wald stand und wo uns Tekel verließ. Können Sie sich übrigens erklären, Herr Jermak, durch welches Unglück das Feuer entstand?«
»Ja!« entgegnete ruhig der Polizeimeister. »Ich habe es angelegt!«
»Sie?« riefen wie aus einem Munde die Flüchtlinge.
»Um Sie zu vertreiben, ja. Ich durfte auf keine gütliche Unterwerfung Ihrerseits zählen, wie ich glaube.«
»Aber, Unglücklicher«, rief Hermann, »Sie hätten uns ja beinahe gebraten!«
»Ich wußte, daß ich Sie dem aussetzte – allerdings.«.
Emma sah ihn an. »Und vor einer so furchtbaren Möglichkeit sind Sie nicht zurückgeschreckt, Herr Jermak?«
»Ich befand mich im Dienste Seiner Majestät des Kaisers, mein Fräulein, und konnte infolge dessen auch vor dem Ärgsten nicht zurückschrecken.«
»Nun wohl, Herr Jermak«, nickte lächelnd der Wiener, »ich denke, wir sind miteinander vollständig quitt! Wir waren es schon vor unserer letzten Begegnung. Der Felsblock in den Pässen ist ein Nasenstüber im Vergleich zu den Mitteln, welche Sie anwandten.«
Der Polizeimeister zuckte die Achseln. »Und jener Angriff in den Tundren?« fragte er mit einem bedeutsamen Blick auf den jungen Deutschen.
»Wir sind quitt!« bestätigte auch dieser. »Sie kamen zweimal nur mit knapper Not davon, das ist wahr, aber immerhin nur Sie allein, wir dagegen waren unserer vier. Rechnen Sie also nach, Herr Jermak, Sie schulden uns, was wir kürzlich – mit Vergnügen, wie ich hinzufüge! – für Sie gethan haben,«
»Ist das nicht sehr – geizig berechnet?«
»Keineswegs. Die wunderbare Auferstehung aus dem Grabe ist und bleibt als ›Haben‹ für uns gutgeschrieben.«
»So! so! – Und Herrn Bochners ärztliche Bemühungen?«
»Die gebe ich vollkommen umsonst!« versetzte mit eleganter Bewegung der Wiener.
Dann schlug er die Arme taktmäßig in die Seiten, um sich zu erwärmen. »Unser Frühstück, Fräulein Emma«, sagte er; »hoffentlich ist noch Mehl vorhanden?«
»Noch für mehrere Tage, Herr Bochner, aber ich denke doch, Sie werden uns einige Rehe oder Hasen zu schießen suchen?«
»Ohne Zweifel. Zuvörderst müssen wir uns indessen mit dem Hausbau beschäftigen – vor Abend soll dieser Eispalast eine etwas solidere Bedachung erhalten.«
Als das Frühstück eingenommen, oder besser gesagt, hinabgewürgt war, da verteilte Herr Bochner die Arbeit des Tages an alle Beteiligten. Er selbst und Hermann wollten aus dürren Binsen ein Geflecht herstellen, und Otto sollte aus dem inneren Raume der Hütte den eingedrungenen Schnee entfernen.
»Und ich?« fragte Jermak.
»Sie sind unser Gast, mein Herr. Plaudern Sie mit dem Fräulein!«
»Ich würde es indessen vorziehen, meinerseits zu arbeiten wie Sie!«
»Dann begleiten Sie uns zu den Binsen.«
Alle drei Männer gingen an den Fluß, um die hohen, trockenen Halme zu sammeln und in die Umgebung der Hütte zu befördern. Jermak arbeitete eifrig, er befestigte neue Stangen neben den früheren, flocht unter Herrn Bochners Leitung Matten und band mit den beiden anderen jedes Stück an die besonders gefährdeten Stellen, aber er sprach nicht, er ließ eine gewisse Grenze zwischen sich selbst und den Flüchtlingen immer unberührt, als wolle er zeigen, daß zwar seine Arme mit ihnen schafften, eben um der unabweislichen äußeren Notwendigkeit willen, daß er aber ihr Freund und Genosse weder sei, noch werden könne.
Otto hatte sich unter Emmas Beistand einen mächtigen Reiserbesen angefertigt und sehr bald das Innere des Hauses von allem Ungehörigen gesäubert; jetzt machte er sich auch an die Umgebung, wo ein kleiner überdachter Herd errichtet werden sollte. Herrn Bochners Gewohnheit, jeden Stein aufzuheben und ihn im Interesse seiner Sammlung zu prüfen, nachahmend, bemerkte der Knabe hier und da unter dem Schnee kleine runde oder längliche Steine, die von grüner Farbe waren und wie Glas aussahen. Er brachte eine Hand voll seiner Schwester und diese zeigte sie Herrn Bochner. »Was mag das sein?« fragte sie den freundlichen alten Herrn.