Siebenundzwanzig Jahre waren seit meiner Korrespondenz verflossen, und ich hatte den Zeitreisenden, die Zeitmaschine, Mr. Transic und das sonderbare Protokoll beinahe vergessen. Da stieß ich eines Tages, als ich in alten Schubladen stöberte, wieder auf den Faszikel. Und da kam mir der Gedanke, ob ich es nicht vielleicht doch der Öffentlichkeit übergeben sollte? Es gewährt doch immerhin einen nicht uninteressanten Einblick in die Schicksale eines originellen Forschers und seiner kühnen Versuche. Und auch aus mißglückten Experimenten kann die Wissenschaft mancherlei profitieren. Und deshalb scheint mir Mr. Mortons ›Reise in die Vergangenheit‹ der Beachtung derer nicht unwürdig, die die nüchterne und bisweilen fast lederne Schilderung der Abenteuer, denen ein wissenschaftlicher Gedanke ausgesetzt ist, für ein fruchtbringenderes Lesestück halten als so manches kunstvolle Luftgewebe aus ›Dichter‹-Phantasien, hinter denen nichts steckt als die Zügellosigkeit eines überreizten Vorstellungslebens. In diesem Punkte bin ich sogar mit der unausstehlichen Miss Hamilton einer Meinung.
Auch die ungeschickte Form scheint mir keinen beachtenswerten Einwand zu bilden. Es ist wahr: der gute Mr. Transic ist nicht einmal ein begabter Reporter, geschweige denn ein Erzähler. Und auch Mr. Mortons Bericht ist keine aufgebaute und abgestufte Darstellung, sondern der wirre Monolog eines in fixen Ideen denkenden Spezialisten. Aber sowohl er wie Mr. Transic haben vor vielen Erzählern, die zu glänzen und zu spannen verstehen, eine große Tugend voraus: sie lassen nichts aus und flicken nichts ein, sie verschieben und vertuschen nichts. Das ist für Zwecke der Erkenntnis völlig ausreichend; und mehr wäre hier sogar weniger. Wem dies nicht genug dramatisch ist, der gehe ins Kino.
Aber bin ich berechtigt, Tatsachen preiszugeben, die geeignet sind, Personen von ernstem Wollen und edler Gesinnung in bedenklicher Weise bloßzustellen?
Von den Beteiligten scheint mir Mr. Wells die wenigste Rücksicht zu verdienen, und zwar aus mehreren Gründen. Erstens hat er den groben Brief der Miss Hamilton veranlaßt. Zweitens hat er eine ›Weltgeschichte‹ geschrieben und ich eine ›Kulturgeschichte‹. Aus diesem Anlaß hat ein englischer Kritiker geäußert, ich sei der deutsche Wells. Wenn Mr. Wells das gelesen hat – und Menschen, die etwas drucken lassen, lesen alles, was über sie gedruckt wird, auch wenn sie das Gegenteil beteuern –, so ist er natürlich seitdem mit jenem Flegel von Kritiker verfeindet. Und seine Animosität hat sich – obgleich ich bloß die passive Zufallsursache dieses Affronts war, aber so sind nun einmal die Menschen – sicher auch auf mich übertragen. Ferner ist die deutsche Übersetzung seines Geschichtswerks miserabel und die englische Übersetzung des meinigen ausgezeichnet, so ausgezeichnet, daß ich sogar schon daran gedacht habe, sie ins Deutsche zurückzuübersetzen; und auch das dürfte ihn gereizt haben. Da spielt es also schon gar keine Rolle mehr, ob ich ihn noch etwas mehr gegen mich einnehme. Endlich drittens: Mr. Wells hat den Ehrgeiz, Geschichte »von einem Laien für Laien« zu schreiben, und ich ebenfalls, indem ich der Ansicht bin, daß das bisherige geringe Interesse für Kulturgeschichte hauptsächlich daher kommt, daß sie von Kulturhistorikern verfaßt wurde. Nun kann es aber – und ich bin neidlos und objektiv genug, dies einzuräumen – keinem Zweifel unterliegen, daß das Geschichtswerk des Mr. Wells noch unwissenschaftlicher ist als das meinige und sich bei mir trotz ehrlichem Streben nach Ungeschichtlichkeit mehr Sachliches und Fachliches eingeschlichen hat als bei ihm; daher er auch den weitaus größeren Erfolg hatte. Er ist also auf einem engbegrenzten Spezialgebiet: dem der dilettantischen Geschichtsschreibung, mein Konkurrent, und noch dazu der siegreiche. Da hat er wirklich auf zarte Behandlung keinen Anspruch.
Und schließlich: wir leben in einem skeptischen Zeitalter. Es wird viele Menschen geben, die das Ganze überhaupt für einen albernen Scherz oder eine frivole Verleumdung halten werden. Sie werden behaupten, daß Mr. Morton London nicht am Himmel erblickt haben konnte, weil sie dort bisher nur Lichtreklamen für Schokoladenkrem und Schuhkrem bemerkt haben, daß es keine Seleniten gibt, weil sie noch mit keinem von ihnen Mondschweine gehütet haben, und daß man nicht zweimal dieselben sechzig Flaschen Burgunder trinken kann, weil sie es selbst nicht einmal fertiggebracht haben. Und auch bei denen, die nicht so mißtrauisch veranlagt sind, kann es Mr. Morton gleichgültig sein, was sie von seinen Zeitreisen denken, da er doch längst keine mehr unternimmt.
Aber seien wir ehrlich: Vertrauliche Mitteilungen bleiben vertraulich, auch wenn sie ein Menschenalter erreicht haben, und ›kompromittierende Enthüllungen‹ sind einem Gentleman niemals gestattet, auch wenn ihr Gegenstand noch so weit zurückliegt. Auch die Wahrscheinlichkeit, ja sogar die Gewißheit, daß man sie ihm ohnehin nicht glauben würde, gibt ihm keinen Freibrief. Genug, daß er sie glaubt. Dergleichen wäre höchstens bei einem zünftigen Historiker entschuldbar. Denn dieser könnte zu seiner Rechtfertigung zweierlei anführen: daß das Aufschnüffeln verflossener Blamagen sein Beruf sei und daß seine Bohrresultate nur immer wieder zur Kenntnis seiner Kollegen gelangen. Aber ich bin ja leider kein Historiker.
Meinem genialen
Schauspielerkollegen
Max Gülstorff
gewidmet
Wien, am 3. Februar 1908
Hochgeehrter Meister!
Ein begeisterter Verehrer, ja Verschlinger Ihrer sämtlichen Werke gestattet sich, eine bescheidene Anfrage an Sie zu richten, die Sie hoffentlich nicht allzusehr belästigt. Sie haben in Ihrem vor längerer Zeit erschienenen prachtvollen Roman Die Zeitmaschine einen Gelehrten geschildert, der mit einem Apparat seiner Erfindung in die vierte Dimension, nämlich in die Zeit, zu reisen vermag. Er versucht es zunächst nach vorne: in die Zukunft, und die Schicksale, die ihm dabei widerfahren, sind von Ihnen mit einer dichterischen Phantasie ausgesponnen, die jeden Leser entzücken muß. Er kehrt zurück, erzählt seine Erlebnisse, besteigt bald darauf wieder den Apparat, um in die Vergangenheit zu reisen und hier bricht der Roman ab. Sie sagen: »Der Zeitreisende verschwand. Und, wie jedermann heute weiß: er ist niemals zurückgekehrt. Wir können nichts tun als uns darüber wundern. Wird er jemals wiederkommen? Vielleicht ist er, als er in die Vergangenheit zurückwirbelte, unter die blutdürstigen behaarten Wilden der frühen Steinzeit geraten oder in die Tiefen des Kreidemeers oder unter die grotesken Saurier, die riesigen Eidechsenungetüme der Jurazeit. Vielleicht promeniert er eben jetzt – wenn ich mir überhaupt eine Vermutung erlauben darf – auf einem von Plesiosauriern bevölkerten Korallenriff oder am Ufer eines einsamen Salzsees der Triasperiode.« 2 Nun aber sind seit dem Erscheinen des Romans bereits einige Jahre verflossen, während deren ich oft und angestrengt über jene Reise in die Vergangenheit gegrübelt habe. Es gibt meiner Ansicht nach hier nur zwei Möglichkeiten. Entweder: in Ihrem Bericht steckt ein Körnchen Wahrheit: in diesem Falle wäre es doch immerhin denkbar, daß man von dem seltsamen Manne inzwischen Nachricht bekommen hätte. Oder aber: er ist überhaupt eine freie Erfindung Ihrer genialen Feder – warum zögern Sie dann solange mit der Fortsetzung der Erzählung, die doch nur von Ihrer Willensentschließung abhängt? Und es spricht alles dafür, daß diese letztere Annahme die zutreffendere ist: sogar das Verhalten des Zeitreisenden selber und noch mehr das seiner Umgebung. Der Zeitreisende sagt einmal: »Wenn Sie die ganze Wahrheit wissen wollen... ich glaube selber nicht recht an alle diese Dinge«, und ein andermal: »Nein, ich kann nicht verlangen, daß Sie das alles glauben. Nehmen Sie es für eine Lüge – oder eine Prophezeiung. Denken Sie: ich habe es in meinem Laboratorium geträumt. Kurz: nehmen Sie es als Roman; aber was halten Sie davon?« Und der ›Herausgeber‹ Mr. Blank (allem Anschein nach der klügste und seriöseste des Kreises) erwidert seufzend: »Wie schade, daß Sie kein Romanschreiber sind!« und erklärt auf dem Heimweg das Ganze für eine »amüsante Lüge«. Und ein Journalist, »ein ernster schüchterner Mann mit einem Bart, der den ganzen Abend lang den Mund nicht auftut« (Sie verschweigen seinen Namen leider ebenso wie den des Zeitreisenden), hüllt sich in vielsagendes Schweigen. Aber selbst gesetzt, es gäbe den Zeitreisenden, was ja trotz allem immer noch möglich ist, und er hätte seine Zeitreise wirklich vollführt, was mir nach allem mehr als unwahrscheinlich vorkommt: dann hätten Sie erst recht die Obliegenheit, alles, was Sie über ihn in Erfahrung bringen konnten, genau zu berichten, und wenn Sie nichts in Erfahrung bringen konnten, wenigstens dies zu berichten. Es ist das ganz einfach eine Pflicht gegen Ihre unzählbaren Bewunderer, zu denen ich zu zählen bitte
Ihren sehr ergebenen
Egon Friedell
P.S. Bei dieser Gelegenheit erlaube ich mir, Sie auch um ein Autogramm zu ersuchen. Aber bitte keinen bloßen Namenszug, sondern einen schönen, recht langen Sinnspruch, der noch nicht im Druck erschienen ist.
London, am 11. Februar 1908
Mein Herr!
Ihre Hoffnung war trügerisch: Mr. Wells, in dessen Auftrag ich Ihnen schreibe, fühlt sich durch Ihre Anfrage sogar sehr belästigt. Er hält sie für nichts weniger als »bescheiden«. Gibt es etwas Anmaßenderes (als weibliches Wesen kann ich keinen stärkeren Ausdruck gebrauchen) als den Versuch, unter dem Deckmantel der Verehrung fremde Geheimnisse auszuspionieren? Und noch dazu in so manierloser Form! Denn die ebenso unüberlegten wie ungehobelten Ausdrücke: »bewundernswerte Phantasie«, »geniale Erfindung« und dergleichen, mit denen Sie im Zusammenhang mit Mr. Wells um sich zu werfen belieben, kann dieser doch nur als grobe und aufreizende Beleidigungen empfinden. Selbst wenn sie nicht von boshafter Absicht diktiert sein sollten, was ich in Ihrem Interesse annehmen will, zeugen sie von einer blamablen Verständnislosigkeit und sind jedenfalls geeignet, Mr. Wells aufs tiefste herabzusetzen. Auf solche Verehrer verzichtet Mr. Wells! Wofür halten Sie ihn eigentlich? Sie verwechseln ihn offenbar mit einem Politiker. Deren Beruf ist es, Tatsachen zu erfinden. Und wer erlaubt Ihnen, sein wissenschaftliches Protokoll einen Roman zu nennen? Da verwechseln Sie ihn mit seiner Köchin: die hat Phantasie, wie alle undisziplinierten Gehirne. Mr. G. B. Shaw, der ja bei Euch in Deutschland so beliebt ist, hat allerdings die traurige Kühnheit gehabt, Mr. Wells einen Romantiker zu nennen; er weiß aber nicht, daß er selbst ein unheilbarer Phantast und Lügenverbreiter ist, der unter der täuschenden Emballage des ›Realismus‹ eine neue Ideologie in unsere Literatur geschmuggelt hat. Oder vielleicht weiß er es sogar: das spräche für seine Intelligenz, aber auch für seine besondere Gefährlichkeit! Aber wie dem auch sei: Mr. Wells läßt Ihnen sagen, daß alle Dichter der Teufel holen soll! Poesie ist etwas für Kinder und Naturvölker, und selbst die Kinder sollte eine vernünftige Erziehung vor solchem Gift bewahren. Poesie verleitet zur Ungenauigkeit, zur Denkfaulheit, zur Unsittlichkeit. Wer sich systematisch daran gewöhnt hat, nicht bei der Stange der Wahrheit zu bleiben, ja wohl gar einen Ruhm darin erblickt, sie möglichst kühn zu überspringen, wird sehr bald auch in allen andern Dingen des Lebens die Gewissenhaftigkeit verlieren. »Wer lügt, der stiehlt« lautet ein altbekanntes Sprichwort; und in der Tat sehen wir, daß alle Dichter stehlen. Eure Klassiker haben unsern Shakespeare bestohlen, und er selber war der König der Diebe. Aber selbst wenn die Dichter gelegentlich einmal ihre eigenen Gedanken abschreiben, ist das noch immer ein sehr billiges Geschäft. Denn etwas zu erdichten ist hundertmal leichter als etwas zu entdecken, und etwas auszuspinnen ist hundertmal bequemer als etwas nachzuprüfen. Daher hält es Mr. Wells mit Plato, der die Lektüre Homers verbieten wollte, und mit unserem großen Philosophen Mr. Hume, der gesagt hat: Alle Bücher, die keine Angaben über Experimente oder Zahl, Maß und Gewicht enthalten, gehören ins Feuer! Mr. Wells findet die trockenen, aber soliden Ausgrabungsberichte Schliemanns unvergleichlich spannender als die temperamentvollen, aber unsachlichen Faseleien der Ilias und eine Logarithmentafel bedeutend origineller als die ganze Göttliche Komödie.
Aus alledem werden selbst Sie den Schluß zu ziehen vermögen, welche der zwei von Ihnen angenommenen »Möglichkeiten« allein in Betracht kommt. Von den beiden ist nämlich die letztere (daß es sich um eine freie Erfindung handelt) gar keine; denn ein wissenschaftlicher Berichterstatter, der erfindet, ist ganz einfach unmöglich. Möglich, daß es bei Ihnen zuhause solche unmöglichen Leute gibt; bei uns nicht. Die Gründe, mit denen Sie Ihre Vermutung stützen, zeigen Ihre ganze Ahnungslosigkeit, wie ich es gelinde nennen will. Die zweifelnden Äußerungen des Zeitreisenden sind selbstverständlich alle ironisch gemeint, und zwar von einer Ironie, die jedes bessere Pferd verstehen müßte! Was Mr. Blank anlangt, so ist er mit voller Deutlichkeit nicht als der »klügste und seriöseste«, sondern als der bornierteste und oberflächlichste des Kreises geschildert, wofür allein schon sein Beruf bürgt: haben Sie denn nicht bedacht, daß er Herausgeber einer Zeitung ist, und noch dazu einer großen? Aber Sie scheinen ohne ›Konklusionen‹ zu lesen (wieder einmal weiblich zart ausgedrückt). Und Ihr dritter Kronzeuge, der Journalist Mr. Anthony Transic, schweigt allerdings den ganzen Abend, aber nicht »vielsagend«, sondern aus purer Dummheit!
Aber auch die andere Eventualität, die Sie ansetzen, trifft in der Form, in der Sie es tun, keineswegs zu. Der Bericht über die Zeitreise enthält nämlich nicht etwa »ein Körnchen Wahrheit«, sondern die ganze Wahrheit und nicht ein Körnchen Fiktion. Was für sonderbare Vorstellungen von schriftstellerischer Anständigkeit müssen bei Ihnen verbreitet sein! Sie halten es also allen Ernstes für denkbar, daß ein unbescholtener Autor wie Mr. Wells die Stirne haben könnte, einem Referat über ein wissenschaftliches Experiment von höchster Tragweite etwas hinzuzusetzen oder auch nur wegzunehmen? Ein ingeniöser Gelehrter wie Mr.... (hier war im englischen Originalmanuskript etwas sorgfältig durchgestrichen) hätte seine gefahrvollen Versuche also nach Ihrer Ansicht nur zu dem Zwecke gemacht, um Mr. Wells die Unterlage zu einigen feuilletonistischen Spielereien zu liefern? Sehr gütig, daß Sie die Möglichkeit, es gebe den Zeitreisenden, mit einigem Zögern einräumen; natürlich gibt es ihn. Aber Ihr Betragen ist in jedem Fall unentschuldbar. Denn entweder zweifeln Sie an seinem Dasein: dann ist dieser Zweifel eine kontinentale Ungezogenheit, die mit aller geziemenden Entrüstung zurückgewiesen werden muß; oder Sie glauben an sein Dasein: dann ist Ihre Anfrage eine ebenso ungebührliche Indiskretion, denn nur für den Fall, daß es sich um ein Geschöpf der Phantasie handelt, hätten Sie das Recht, über seine Lebensschicksale Auskunft zu verlangen. Und endlich drittens ist es eine Anmaßung, Mr. Wells über seine Verpflichtung belehren zu wollen. Gerade weil er seine Pflicht gegen den Zeitreisenden und dessen Ruf sehr wohl kennt, verweigert er jede Auskunft. An der Striktheit dieser Ablehnung mögen Sie die geringe Delikatesse Ihrer Anfrage ermessen.
Ihre aufrichtige
Dorothy Hamilton
Sekretärin