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Auf den folgenden Blättern wird der Versuch gemacht, Johannes vom Kreuz in der Einheit seines Wesens zu fassen, wie sie sich in seinem Leben und in seinen Werken auswirkt – von einem Gesichtspunkt aus, der es möglich macht, diese Einheit in den Blick zu bekommen. Es wird also keine Lebensbeschreibung gegeben und keine allseitig auswertende Darstellung der Lehre. Aber die Tatsachen des Lebens und der Inhalt der Schriften müssen herangezogen werden, um durch sie zu jener Einheit vorzudringen. Die Zeugnisse kommen ausführlich zu Wort, aber nachdem sie gesprochen haben, wird eine Deutung versucht, und in diesen Deutungsversuchen macht sich geltend, was die Verfasserin in einem lebenslangen Bemühen von den Gesetzen geistigen Seins und Lebens erfaßt zu haben glaubt. Das gilt vor allem für die Ausführungen über Geist, Glauben und Beschauung, die an verschiedenen Stellen eingeschaltet sind, besonders in dem Abschnitt Die Seele im Reich des Geistes und der Geister. Was dort über Ich, Freiheit und Person gesagt ist, stammt nicht aus den Schriften des hl. Vaters Johannes. Es lassen sich bei ihm wohl gewisse Ansatzpunkte dafür aufweisen. Ausführungen darüber lagen seiner leitenden Absicht fern und auch seiner Denkweise. Die Herausarbeitung einer Philosophie der Person, wie in den genannten Stellen angedeutet wird, hat sich ja erst die neuzeitliche Philosophie zur Aufgabe gestellt.
Für die Beibringung der Zeugnisse leisteten gute Führerdienste die Bücher unseres P. Bruno de Jésus-Marie: »Saint Jean de la Croix«, Paris 1929, und »Vie d'Amour de Saint Jean de la Croix«, Paris 1936, sowie Jean Baruzi, »Saint Jean de la Croix et le problème de l'expérience mystique«, Paris 21931. Baruzi hat reiche Anregungen geboten. Im Verhältnis dazu ist wenig angeführt, weil es nicht möglich ist, sich ohne kritische Auseinandersetzung auf seine Ausführungen zu stützen. Eine solche Auseinandersetzung lag aber ganz außerhalb des Rahmens der gestellten Aufgabe. Wer Baruzi kennt, wird die Spuren seines Einflusses entdecken und auch die Ansatzpunkte für eine Kritik. Zu seinen unbestreitbaren Verdiensten gehört der unermüdliche Eifer, mit dem er sich für die Erschließung der Quellen und ihre angemessene Auswertung eingesetzt hat; zu den fraglichen Punkten seiner Auffassung, daß von den beiden handschriftlichen Fassungen, in denen uns der »Geistliche Gesang« und die »Lebendige Liebesflamme« vorliegen, die spätere – für die »Liebesflamme« möglicherweise, für den »Geistlichen Gesang« mit größter Wahrscheinlichkeit – als apokryph anzusehen sei, und daß wir vom »Aufstieg« und der »Dunklen Nacht«, bei denen die Überlieferung einheitlich ist, vermutlich nur die apokryphe und verstümmelte Fassung hätten. (Vgl. dazu in dem genannten Werk das I. Buch: »Les Textes«, S. 3 ff. und die Einleitung zu den einzelnen Werken in der neuesten spanischen Ausgabe der Schriften: »Obras de San Juan de la Cruz, Doctor de la Iglesia, Editadas y Anotadas por el P. Silverio de Santa Teresia, C.D.«, Burgos 1929 ff.).
Einleitung: Sinn und Entstehungsgrundlagen
der Kreuzeswissenschaft
Im September oder Oktober 1568 hielt der junge Karmelit Johannes de Yepes, mit dem Ordensnamen bisher Johannes vom hl. Matthias, Einzug in dem armseligen Häuschen von Duruelo, in dem er als Grund- und Eckstein die teresianische Reform beginnen sollte. Am 28. November verpflichtete er sich mit zwei Gefährten zur Beobachtung der ursprünglichen Regel und nahm den Adelstitel »vom Kreuz« an. Das war das Sinnbild dessen, was er suchte, als er sein Heimatkloster verließ und sich damit öffentlich von dessen gemilderter Observanz lossagte; was er dort schon angestrebt hatte, indem er mit persönlicher Erlaubnis nach der ursprünglichen Regel lebte. Es war zugleich darin ein wesentliches Kennzeichen der Reform ausgesprochen: Nachfolge Christi auf dem Wege des Kreuzes, Anteil am Kreuz Christi sollte das Leben der Unbeschuhten Karmeliten sein.
Wie eben bemerkt wurde, war Johannes damals kein Neuling in der Kreuzeswissenschaft. Der Adelstitel im Orden deutet an, daß Gott die Seele im Zeichen eines besonderen Geheimnisses mit sich verbinden will. Johannes zeigte durch seine Namensänderung, daß über seinem Leben als Wahrzeichen das Kreuz stand. Wenn wir von »Kreuzeswissenschaft« sprechen, so ist das nicht im üblichen Sinn von »Wissenschaft« zu verstehen: sie ist keine bloße Theorie, d. h. kein reiner Zusammenhang von – wirklich oder vermeintlich – wahren Sätzen, kein in gesetzmäßigen Denkschritten aufgeführtes ideales Gebäude. Sie ist wohlerkannte Wahrheit – eine Theologie des Kreuzes –, aber lebendige, wirkliche und wirksame Wahrheit: einem Samenkorn gleich wird sie in die Seele gesenkt, schlägt darin Wurzeln und wächst, gibt der Seele ein bestimmtes Gepräge und bestimmt sie in ihrem Tun und Lassen, so daß sie aus diesem Tun und Lassen hervorstrahlt und erkennbar wird. In diesem Sinn spricht man von einer »Wissenschaft der Heiligen« und sprechen wir von Kreuzeswissenschaft. Dieser lebendigen Form und Kraft im tiefsten Innern entspringt auch die Lebensauffassung, das Gottes- und Weltbild des Menschen, und so kann sie Ausdruck finden in einem Gedankenbilde, einer »Theorie«. Einen solchen Niederschlag haben wir in der Lehre unseres hl. Vaters Johannes vor uns. In seinen Schriften und in seinem Leben wollen wir nach dem suchen, was ihre Einheit und Eigenart bestimmt. Zuvor fragen wir, wie überhaupt eine Wissenschaft in dem soeben umschriebenen Sinne sich bilden kann.
Es gibt natürlich erkennbare Zeichen, die darauf hinweisen, daß die menschliche Natur, wie sie tatsächlich ist, sich in einem Zustand der Entartung befindet. Dazu gehört die Unfähigkeit, Tatbestände entsprechend ihrem wahren Wert innerlich aufzunehmen und zu beantworten. Diese Unfähigkeit kann in einem angeborenen »Stumpfsinn« (wörtlich verstanden) begründet sein oder in einer allgemeinen Abstumpfung, die sich im Laufe des Lebens herausgebildet hat; schließlich in einer Abstumpfung bestimmten Eindrücken gegenüber infolge häufiger Wiederholung. Was oft gehört wurde, was altbekannt ist, das »läßt uns kalt«. Dazu kommt überdies noch vielfach ein übermäßiges inneres Inanspruchgenommensein durch eigenpersönliche Belange, das für anderes unzugänglich macht. Wir empfinden unsere eigene innere Unbeweglichkeit als unsachgemäß und leiden darunter. Daß sie einem »psychologischen Gesetz« entspricht, hilft uns nicht darüber hinweg. Wir fühlen uns andererseits beglückt, wenn wir uns durch die Erfahrung überzeugen, daß wir noch zu tiefer, echter Freude fähig sind; und auch der tiefe, echte Schmerz ist uns wie eine Gnade im Verhältnis zur Starrheit des Nicht-empfinden-Könnens. Die Abgestumpftheit ist uns besonders schmerzlich auf religiösem Gebiet. Viele Gläubige fühlen sich bedrückt dadurch, daß die Tatsachen der Heilsgeschichte durchaus nicht (oder nicht mehr) den Eindruck auf sie machen, der ihnen gebührt, und sich in ihrem Leben nicht, wie sie sollten, als formende Kraft auswirken. Das Beispiel der Heiligen zeigt ihnen, wie es eigentlich sein müßte: wo wahrhaft lebendiger Glaube ist, da sind die Glaubenslehren und die »Großtaten« Gottes der Inhalt des Lebens, alles andere tritt dagegen zurück und wird von ihnen aus gestaltet. Das ist heilige Sachlichkeit: die ursprüngliche innere Empfänglichkeit der aus dem Heiligen Geist wiedergeborenen Seele; was an sie herantritt, das nimmt sie in der angemessenen Weise und in der entsprechenden Tiefe auf; und es findet in ihr eine durch keine verkehrten Hemmungen und Erstarrungen behinderte, lebendige, bewegliche und formungsbereite Kraft, die sich durch das Aufgenommene leicht und freudig prägen und leiten läßt. Nimmt die Kraft einer heiligen Seele in dieser Weise die Glaubenswahrheiten auf, so wird sie zur »Wissenschaft der Heiligen«. Wird das Geheimnis vom Kreuz ihre »innere Form«, dann wird sie zur »Kreuzeswissenschaft«.
Eine gewisse Verwandtschaft mit der heiligen Sachlichkeit hat die Sachlichkeit des Kindes, das noch mit ungeschwächter Kraft und Lebendigkeit und mit hemmungsfreier Unbefangenheit Eindrücke empfängt und beantwortet. Allerdings wird natürlicherweise die »Antwort« keineswegs immer die vernunftgemäße sein. Dazu mangelt noch die Reife der Einsicht. Außerdem fehlt es, sobald die Erkenntnis in Tätigkeit tritt, auch nicht an inneren und äußeren Quellen des Irrtums und der Täuschung, die in verkehrte Bahnen lenken. Entsprechende Umwelteinflüsse können vorbeugend wirken. Die Kindesseele ist weich und bildsam. Was in sie eindringt, kann leicht fürs ganze Leben formgebend sein. Wenn die Tatsachen der Heilsgeschichte schon in früher Kindheit und in geeigneter Form an die Seele herantreten, so kann dadurch leicht die Grundlage für ein heiliges Leben gelegt werden. Bisweilen treffen wir auch auf eine frühe außerordentliche Gnadenerwählung, so daß kindliche und heilige Sachlichkeit sich verbinden. So wird von der hl. Brigitta berichtet, sie habe im Alter von 10 Jahren zum erstenmal vom Leiden und Sterben Jesu gehört; in der Nacht darauf sei ihr der Heiland am Kreuz erschienen; seitdem habe sie niemals das Leiden des Herrn betrachten können, ohne Tränen zu vergießen.
Bei Johannes ist noch ein Drittes in Betracht zu ziehen: er war eine Künstlernatur. Unter den verschiedenen Handwerken und Künsten, in denen sich der Knabe versuchte, waren die des Bildschnitzers und Malers. Wir haben aus späterer Zeit noch Zeichnungen von ihm. (Allgemein bekannt ist eine Skizze des Aufstiegs zum Berge Karmel.) Er hat als Prior in Granada den Musterbau eines beschaulichen Klosters geschaffen. Und er war ebenso sehr Dichter wie bildender Künstler. Es war ihm Bedürfnis, in Liedern auszusprechen, was in seiner Seele geschah. Seine mystischen Schriften sind nur nachträgliche Erklärungen des unmittelbaren dichterischen Ausdruckes. So haben wir bei ihm auch noch mit der eigentümlichen Sachlichkeit des Künstlers zu rechnen. In der ungebrochenen Kraft der Eindrucksfähigkeit ist der Künstler dem Kinde und dem Heiligen verwandt. Aber – im Gegensatz zur heiligen Sachlichkeit – ist es eine Eindrucksfähigkeit, die die Welt im Licht eines bestimmten Wertbereiches – und leicht auf Kosten anderer – sieht. Dem entspricht eine eigentümliche Art des antwortenden Verhaltens. Es ist dem Künstler eigen, daß das, was ihn innerlich berührt, sich in ihm zum »Bild« gestaltet und auch von ihm nach außen gestaltet zu werden verlangt. »Bild« ist hier nicht auf den Bereich des Anschaulichen und der »bildenden Kunst« beschränkt; es ist jegliches künstlerische »Gebilde« darunter zu verstehen, auch das dichterische und musikalische. Es ist zugleich »Bild«, in dem etwas zur Darstellung kommt, und »Gebilde« als ein Gebildetes und in sich Geschlossenes, zu einer eigenen kleinen Welt Gerundetes. Jedes echte Kunstwerk ist überdies »Sinnbild«, gleichgültig ob es das nach der Absicht des Künstlers sein soll oder nicht, ob er »Naturalist« oder »Symbolist« ist. Sinnbild – d. h. es ist aus der unendlichen Fülle des Sinnes, in die jede menschliche Erkenntnis vorstößt, etwas darin erfaßt und ausgesprochen und spricht daraus; und zwar so, daß die gesamte Sinnfülle, die für alle menschliche Erkenntnis unerschöpflich ist, geheimnisvoll darin anklingt. So verstanden ist alle echte Kunst »Offenbarung« und alles künstlerische Schaffen heiliger Dienst. Dennoch bleibt es wahr, daß in der künstlerischen Veranlagung eine Gefahr liegt, und nicht nur dann, wenn der Künstler für die Heiligkeit seiner Aufgabe kein Verständnis hat. Es ist die Gefahr, daß er es beim Gestalten des Bildes bewenden läßt, als ob es für ihn keine anderen Forderungen gäbe. Was gemeint ist, läßt sich gerade am Beispiel des »Kreuz-Bildes« besonders deutlich zeigen. Es wird kaum einen gläubigen Künstler geben, der sich nicht gedrängt fühlte, einen Christus am Kreuz oder den Kreuztragenden zu gestalten. Aber der Gekreuzigte verlangt auch vom Künstler mehr als ein solches Bild. Er fordert von ihm wie von jedem Menschen die Nachfolge: daß er sich selbst zum Bild des Kreuztragenden und Gekreuzigten gestalte und gestalten lasse. Das Gestalten nach außen kann ein Hindernis für die Selbstgestaltung sein, muß es aber durchaus nicht sein; es kann sogar der Selbstgestaltung dienen, weil das »innere Bild« selbst erst mit der Gestaltung des äußeren völlig ausgeformt und innerlich angeeignet wird; damit wird es, wenn kein Hindernis in den Weg tritt, zur inneren Form, die zur Auswirkung im Tun, d. h. auf den Weg der Nachfolge drängt. Ja, auch das äußere Bild, das selbstgeschaffene, kann immer erneut als Ansporn zur Selbstgestaltung in seinem Sinne dienen. Wir haben allen Grund anzunehmen, daß es bei Johannes so gewesen ist: daß sich bei ihm kindliche, künstlerische und heilige Sachlichkeit verbanden und der Kreuzesbotschaft den günstigsten Boden bereiteten, um sie zur Kreuzeswissenschaft heranwachsen zu lassen. Daß die Künstlernatur sich schon im Kindesalter offenbarte, ist schon erwähnt worden. Es fehlt auch nicht an Zeugnissen, die für eine frühe Auserwählung zur Heiligkeit sprechen. Seine Mutter hat später den Unbeschuhten Karmelitinnen von Medina del Campo erzählt, ihr Sohn habe sich als Kind wie ein Engel betragen. Diese fromme Mutter hat ihm eine innige Liebe zur Gottesmutter eingeprägt, und es wird uns aus guten Quellen berichtet, daß der Knabe zweimal durch Marias persönliches Eingreifen vom Tode des Ertrinkens gerettet wurde. Auch sonst weist alles, was wir aus seiner Kindheit und Jugend wissen, darauf hin, daß er von den ersten Lebensjahren an ein Kind der Gnade war.
Wir fragen nun, wie die Saat der Kreuzesbotschaft in diese fruchtbare Erde gesenkt wurde. Wir haben kein Zeugnis darüber, wann und wie Johannes das Bild des Gekreuzigten zum erstenmal in sich aufgenommen hat. Es ist wahrscheinlich, daß die tiefgläubige Mutter ihn schon als kleines Kind in seiner Vaterstadt Fontiveros in ihre Pfarrkirche mitgenommen hat. Da war der Heiland am Kreuz zu sehen, das Gesicht vom Schmerz entstellt, echte Haare an den Wangen herabhängend bis auf die striemenbedeckten Schultern. Und wenn die junge Witwe, die soviel Not und Leid zu tragen hatte, ihren Kindern von der himmlischen Mutter sprach, dann hat sie sie gewiß auch zur schmerzhaften Mutter am Kreuz geführt. Wir dürfen wohl auch mit aller Ehrfurcht vor den Geheimnissen der Gnadenführung die Vermutung aussprechen, daß Maria selbst ihren Schützling frühzeitig in der Kreuzeswissenschaft unterwiesen haben wird. Wer könnte so gut darin unterrichtet sein und so durchdrungen von ihrem Wert wie die weiseste Jungfrau?
Dem Kreuzbild ist Johannes jedenfalls auch in den Werkstätten begegnet, in denen er arbeitete. Vielleicht hat er sich damals schon selbst daran gewagt, Kreuze zu schnitzen, wie er es später gern tat. Wenn wir für all das auf Vermutungen angewiesen sind, so finden wir doch eine gute Stütze für die Annahme einer frühen Begegnung mit dem Kreuz in der sicher bezeugten Tatsache einer früh hervortretenden Liebe zu Buße und Abtötung. Schon der Neunjährige verschmäht sein Bett und macht sich ein Reisiglager zurecht. Einige Jahre später gönnt er sich auf diesem harten Lager nur noch wenige Stunden Ruhe, weil er einen Teil der Nacht zum Studium verwendet. Als kleiner Schüler erbettelt er Almosen für seine noch ärmeren Kameraden, später für die Armen des Hospitals. Er widmet sich nach so vielen mißglückten Versuchen in andern Berufen dem schweren Krankendienst und harrt mit ganzer Hingabe darin aus. Nach der Aussage seines Bruders Francisco war es ein Pockenlazarett, in dem er zu pflegen hatte (»al hospital de las bubas«). Es ist aber auch die Vermutung ausgesprochen worden, daß in diesem Haus syphilitische Kranke untergebracht waren. Ob dies zutrifft oder nicht – sicher hat der Knabe bei seinen Patienten nicht nur körperliche Krankheit, sondern auch seelisches und sittliches Elend kennengelernt, und die treue Pflichterfüllung wird von dem reinen, tief und zart empfindenden Herzen oft schmerzlichste Überwindung gefordert haben. Was gab ihm die Kraft dazu? Gewiß nichts anderes als die Liebe zum Gekreuzigten, dem er nachfolgen wollte auf seinem harten, steilen und engen Wege. Der Wunsch, ihn näher kennenzulernen und sich noch besser nach seinem Bilde zu formen, hat Johannes wohl dazu bestimmt, neben dem Krankendienst das Studium im Kolleg der Jesuiten aufzunehmen als Vorbereitung auf den Priesterberuf. Um besser der Kreuzesbotschaft lauschen zu können, wird er das Angebot der einträglichen Kaplanstelle an seinem Hospital ausgeschlagen und dafür die Armut des Ordens erwählt haben. Derselbe Wunsch ließ ihn bei der gemilderten Observanz der damaligen Karmeliten keine Ruhe finden und führte ihn der Reform zu.
Vielleicht ist schon der Jesuitenzögling zur Beschäftigung mit der Heiligen Schrift angeleitet worden. Auch früher bereits sind ihm sicher in Predigt, Unterricht und Liturgie die Worte des Herrn – und darunter die Worte vom Kreuz – entgegengetreten. Bei den Karmeliten gehörte die tägliche Unterweisung in der Heiligen Schrift zur Tagesordnung. Als dann der junge Ordensmann zum Studium nach Salamanca geschickt wurde, bildete das Eindringen in die hl. Texte unter der Leitung geschulter Exegeten einen wesentlichen Teil seiner Pflichtarbeit. Aus späterer Zeit wissen wir, daß er ganz in und mit der Hl. Schrift gelebt hat. Sie gehörte zu den wenigen Büchern, die er immer in seiner Zelle hatte. Aus seinen eigenen Werken sind die Schriftworte nicht wegzudenken. Sie sind ihm zum natürlichen Ausdruck seiner inneren Erfahrung geworden und kamen ihm beim Schreiben unwillkürlich in die Feder. Sein Sekretär und Vertrauter in den letzten Jahren, P. Johannes Evangelista, erzählt, daß Johannes vom Kreuz die Heilige Schrift kaum noch aufzuschlagen brauchte, weil er sie fast auswendig wußte. So dürfen wir damit rechnen, daß die Kreuzesbotschaft des göttlichen Wortes sein ganzes Leben hindurch immer aufs neue in seinem Herzen gewirkt hat. Diese vielleicht wichtigste Quelle seiner Kreuzeswissenschaft erschöpfend zu behandeln, ist ganz unmöglich. Denn wir müssen voraussetzen, daß die ganze Heilige Schrift, das Alte wie das Neue Testament, sein tägliches Brot waren. Die Schriftzitate in seinen Werken sind so zahlreich, daß es nicht angeht, sie alle durchzusprechen. Andererseits wäre es töricht, sich auf sie zu beschränken und anzunehmen, daß andere Worte, die sich nirgends bei ihm angeführt finden, in ihm nicht auch lebendig wirksam gewesen wären. Es bleibt uns nichts übrig, als an verschiedenen Gruppen von Beispielen zu zeigen, wie wir uns das Eindringen der Kreuzesbotschaft etwa zu denken haben.
Der Heiland selbst hat bei verschiedenen Gelegenheiten und in verschiedenem Sinn vom Kreuz gesprochen: wenn er sein Leiden und seinen Tod voraussagt, dann hat er in wörtlichem Sinn das Holz der Schmach vor Augen, an dem er sein Leben enden wird. Wenn er aber sagt: »… Wer sein Kreuz nicht auf sich nimmt und mir nicht nachfolgt, ist meiner nicht wert«, oder: »Wenn mir jemand folgen will, verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz und folge mir«, dann ist das Kreuz das Sinnbild alles dessen, was schwer und drückend ist und der Natur des Menschen so zuwider, daß es wie ein Gang zum Tode ist, wenn man es auf sich nimmt. Und diese Bürde soll der Jünger Jesu täglich auf sich nehmen. Die Todesankündigung stellte das Bild des Gekreuzigten vor die Jünger hin und stellt es noch heute vor jeden hin, der das Evangelium liest oder hört. Darin liegt eine stillschweigende Aufforderung zu einer entsprechenden Antwort. Die Aufrufe zur Nachfolge auf dem Kreuzweg des Lebens geben die entsprechende Antwort an die Hand und geben zugleich Einblick in den Sinn des Kreuzestodes; denn an die einladenden Worte schließt unmittelbar die Mahnung an: »Wer sein Leben retten will, wird es verlieren; aber wer sein Leben um meinetwillen verliert, wird es retten.« Christus gibt sein Leben hin, um den Menschen den Zugang zum ewigen Leben zu eröffnen. Doch um das ewige Leben zu gewinnen, müssen auch sie das irdische Leben preisgeben. Sie müssen mit Christus sterben, um mit ihm aufzuerstehen: den lebenslänglichen Tod des Leidens und der täglichen Selbstverleugnung, gegebenenfalls auch den blutigen Tod des Glaubenszeugen für die Botschaft Christi.
Das Bild des Leidenden und Gekreuzigten, das in den Worten des Herrn vorausdeutend entworfen wird, malen die Passionsberichte der Evangelien breit und ausführlich. Ein reines und weiches Kinderherz und die Phantasie eines Künstlers – es ist kaum anders denkbar, als daß diese Bilder sich unauslöschlich eingeprägt haben. Wir müssen auch damit rechnen, daß der Knabe dem großen Gottesdienst der Karwoche beigewohnt, sogar als Meßdiener daran mitgewirkt hat. Am Palmsonntag und an den Kartagen läßt ja die kirchliche Liturgie alljährlich die letzten Lebenstage Jesu, seinen Tod und seine Grabesruhe in dramatischer Lebendigkeit vor den Gläubigen erstehen – in erschütternden Worten, Melodien und Zeremonien, die unwiderstehlich zum Miterleben hinreißen. Wenn schon kaltherzige, sogar ungläubige und ins Weltleben verstrickte Menschen dabei nicht gleichgültig bleiben können – wie muß die Wirkung auf den jugendlichen Heiligen gewesen sein, von dem wir aus späterer Zeit wissen, daß er kaum über geistliche Dinge sprechen konnte, ohne in Ekstase zu geraten; den das Anhören eines Liedes in Entzückung versetzte!
Beim eigenen Schriftstudium kamen dann zu den Evangelienberichten die Weissagungen des AT hinzu, vor allem wohl die Darstellung des leidenden Gottesknechtes bei Isaias, auf die der junge Ordensmann schon durch die Lesungen des Breviers in den Kartagen hingewiesen werden mußte. Hier waren nicht nur neue Schilderungen des Leidens von schonungsloser Realistik zu finden, sondern es bot sich der große welt- und heilsgeschichtliche Hintergrund des Dramas von Golgotha dar: Gott, der allmächtige Schöpfer und Weltenherr, der die Völker zusammenschmettert wie Tongeschirr, und zugleich der Vater, der mit treuester Sorgfalt sein auserwähltes Volk umgibt; der zärtlich und eifersüchtig Liebende, der seine »Braut Israel« durch die Jahrhunderte hindurch umwirbt und immer wieder verschmäht und zurückgewiesen wird – wie es Johannes in seinem Hirtenlied besungen hat. Propheten und Evangelien in wechselseitiger Ergänzung zeichnen das Bild des Messias, der im Gehorsam gegen den Vater kommt, um die Braut zurückzugewinnen, der ihr Joch auf sich nimmt, um sie davon zu befreien, ja den Tod nicht scheut, um für sie das Leben zu gewinnen. Das klingt wieder in den Romanzen. Wenn darin das bräutliche Verhältnis von Israel auf die ganze Menschheit ausgedehnt ist, so entspricht das den Ankündigungen des Gottesreiches bei den Propheten wie in den Evangelien.
Noch etwas anderes mußte in den prophetischen Büchern für Johannes bedeutsam sein: das Verhältnis, in dem der Prophet selbst zu seinem Gott und Herrn steht; die Berufung und Aussonderung eines Menschen, auf den der Allmächtige seine Hand legt. Ein Verhältnis, das diesen Menschen zum Freund und Vertrauten Gottes macht, zum Mitwisser und Verkünder der ewigen Ratschlüsse; das andererseits von ihm restlose Übergabe und unbegrenzte Bereitschaft fordert, ihn herausnimmt aus der Gemeinschaft der natürlich denkenden Menschen und ihn für sie zu einem Zeichen des Widerspruchs macht. Darauf wies nicht nur die Hl. Schrift unmittelbar hin, sondern auch ihre Deutung in der Überlieferung des Ordens. Im Karmel lebte – auch unter der gemilderten Regel – die Erinnerung an den Propheten Elias fort, den »Führer und Vater der Karmeliten«. Die »Institutio primorum monachorum« stellte ihn den jungen Ordensleuten als Muster des beschaulichen Lebens vor Augen. Der Prophet, den Gott auffordert, hinauszugehen in die Wüste, sich in dem Bache Karith zu verbergen, dem Jordan gegenüber, vom Wasser des Baches zu trinken und sich von der Speise zu nähren, die Gott ihm senden werde – das ist das Vorbild all derer, die sich in die Einsamkeit zurückziehen, der Sünde und allen sinnlichen Genüssen, ja allen irdischen Dingen entsagen (so ist »dem Jordan gegenüber« zu verstehen) und sich in der Gottesliebe bergen (Karith wird als »caritas« gedeutet); der Strom der göttlichen Gnade wird sie mit Wonne tränken, und die Lehre der Väter wird ihnen feste Speise für ihre Seele bieten: das Brot des Reueschmerzes und der Buße, das Fleisch der wahren Demut. Fand Johannes hier nicht den Schlüssel zu dem, was Gott in seiner eigenen Seele wirkte? Wohl gehen Gottes Heilspläne auf die ganze Menschheit und um ihretwillen auf sein auserwähltes Volk. Aber dabei ist es ihm um jede einzelne Seele zu tun. Jede einzelne wird von ihm gleich einer Braut mit zärtlicher Liebe umworben, mit väterlicher Treue umsorgt. Wie dieses göttliche Liebeswerben zum Stachel wird, der die Seele nicht mehr zur Ruhe kommen läßt – auch dafür bot die Heilige Schrift den vollendeten Ausdruck: im Hohenlied. Dessen Widerhall ist der »Geistliche Gesang«. Wie darin das Kreuzmotiv wieder und wieder angeschlagen wird, muß später ausführlich gezeigt werden.
Wenn der Dichter in den farbenglühenden Bildern des alttestamentlichen Sängers reichliche Anregung fand, so konnte der Theologe noch aus einer andern ergiebigen Quelle schöpfen. Die Seele eins mit Christus, lebend von seinem Leben – aber nur in der Hingabe an den Gekreuzigten, nur wenn sie den ganzen Kreuzweg mit ihm gegangen ist: das ist nirgends klarer und eindringlicher ausgesprochen als in der Botschaft des hl. Paulus. Er hat schon eine ausgebildete Kreuzeswissenschaft, eine Theologie des Kreuzes aus innerster Erfahrung.
»Christus hat mich … gesandt …, das Evangelium zu verkünden; doch nicht mit Wortweisheit, damit das Kreuz Christi nicht seiner Kraft beraubt werde. Denn das Wort vom Kreuz ist zwar denen, die verlorengehen, Torheit; denen aber, die selig werden, das ist uns, ist es Gottes Kraft.« »… die Juden fordern Wunderzeichen, und die Griechen suchen Weisheit; wir aber verkünden Christus den Gekreuzigten, den Juden ein Anstoß, den Heiden aber eine Torheit, den Berufenen dagegen, Juden sowohl als Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit; weil das Törichte, das von Gott kommt, die Weisheit übertrifft; und das Schwache, das von Gott kommt, mehr vermag als die Menschen.«
Das »Wort vom Kreuz« ist das Evangelium Pauli – die Botschaft, die er Juden und Heiden verkündet. Es ist schlichtes Zeugnis, ohne jeden Redeschmuck, ohne jeden Versuch, durch Vernunftgründe zu überzeugen. Es schöpft seine ganze Kraft aus dem, was es verkündet. Und das ist das Kreuz Christi, d. h. der Kreuzestod Christi und der gekreuzigte Christus selbst. Christus ist Gottes Kraft und Gottes Weisheit nicht nur als Gottgesandter, Gottes Sohn und selbst Gott, sondern als Gekreuzigter. Denn der Kreuzestod ist das von Gottes unergründlicher Weisheit ersonnene Mittel der Erlösung. Um zu zeigen, daß Menschenkraft und Menschenweisheit unfähig sind, die Erlösung zu wirken, gibt er die erlösende Kraft dem, der nach menschlichen Maßstäben schwach und töricht erscheint; der aus sich selbst nichts sein will, sondern allein Gottes Kraft in sich wirken läßt; der sich selbst »ausgeleert« hat und »gehorsam geworden« ist »bis zum Tode am Kreuz.« Die erlösende Kraft: das ist die Macht, die zum Leben zu erwecken, in denen das göttliche Leben erstorben war durch die Sünde. Diese erlösende Kraft des Kreuzes ist eingegangen in das »Wort vom Kreuz« und geht durch dieses Wort über auf alle, die es aufnehmen, die sich ihm öffnen, ohne Wunderzeichen und Gründe menschlicher Weisheit zu verlangen; in ihnen wird es zu jener lebenspendenden und -formenden Kraft, die wir Kreuzeswissenschaft nannten. Paulus selbst hat es darin zur Vollendung gebracht: »Durch das Gesetz bin ich … dem Gesetz abgestorben, damit ich Gott lebe; ich bin mit Christus an das Kreuz geheftet. Ich lebe aber, doch nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Sofern ich aber jetzt im Fleisch lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich dahingegeben hat.« In jenen Tagen, als es Nacht war um ihn, aber licht wurde in seiner Seele, hat der Eiferer für das Gesetz erkannt, daß das Gesetz nur Lehrmeister war auf dem Wege zu Christus. Es konnte vorbereiten auf den Empfang des Lebens, aber selbst kein Leben geben. Christus hat das Joch des Gesetzes auf sich genommen, indem er es vollkommen erfüllte und für und durch das Gesetz starb. Eben damit hat er die vom Gesetz befreit, die von ihm das Leben empfangen wollen. Aber sie können es nur empfangen, wenn sie ihr eigenes Leben preisgeben. Denn die auf Christus getauft sind, sind auf seinen Tod getauft. Sie tauchen unter in sein Leben, um Glieder seines Leibes zu werden, als solche mit ihm zu leiden und mit ihm zu sterben, aber auch mit ihm aufzuerstehen zum ewigen, göttlichen Leben. Dieses Leben wird in seiner Fülle für uns erst kommen am Tage der Herrlichkeit. Wir haben aber jetzt schon – »im Fleisch« – Anteil daran, sofern wir glauben: glauben, daß Christus aus Liebe für uns gestorben ist, um uns das Leben zu geben. Dieser Glaube ist es, der uns mit ihm eins werden läßt wie die Glieder mit dem Haupt und uns öffnet für das Zuströmen seines Lebens. So ist der Glaube an den Gekreuzigten – der lebendige Glaube, der mit liebender Hingabe gepaart ist – für uns der Zugang zum Leben und der Anfang der künftigen Herrlichkeit; darum das Kreuz unser einziger Ruhmestitel: »Ferne sei es von mir, mich zu rühmen; außer im Kreuz unseres Herrn Jesu Christus, durch den mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt.« Wer sich für Christus entschieden hat, der ist für die Welt tot, und sie für ihn. Er trägt die Wundmale des Herrn an seinem Leibe, ist schwach und verachtet vor den Menschen, aber gerade darum stark, weil in den Schwachen Gottes Kraft mächtig ist. In dieser Erkenntnis nimmt der Jünger Jesu nicht nur das Kreuz an, das auf ihn gelegt ist, sondern kreuzigt sich selbst: »Die Christus angehören, haben ihr Fleisch gekreuzigt mit seinen Lastern und Begierden.« Sie haben einen unerbittlichen Kampf geführt gegen ihre Natur, damit das Leben der Sünde in ihnen ersterbe und Raum werde für das Leben des Geistes. Auf das Letzte kommt es an. Das Kreuz ist nicht Selbstzweck. Es ragt empor und weist nach oben. Doch es ist nicht nur Zeichen – es ist die starke Waffe Christi; der Hirtenstab, mit dem der göttliche David gegen den höllischen Goliath auszieht; womit er machtvoll an das Himmelstor pocht und es aufstößt. Dann fluten die Ströme des göttlichen Lichtes heraus und umfangen alle, die im Gefolge des Gekreuzigten sind.
Mit Christus am Kreuz sterben, um mit ihm aufzuerstehen – das wird für jeden Gläubigen und besonders für jeden Priester Wirklichkeit im hl. Meßopfer. Es ist nach der Glaubenslehre die Erneuerung des Kreuzopfers. Wer es in lebendigem Glauben darbringt oder daran teilnimmt, für den und in dem geschieht dasselbe, was auf Golgotha geschah. Johannes hat schon als Kind bei der hl. Messe gedient, ohne Zweifel auch im Orden bis zu seiner Priesterweihe. Wir wissen aus den Berichten über sein Leben, daß der bloße Anblick eines Kreuzbildes ihn in Ekstase versetzen konnte. Wie muß dann das wirklich vollzogene Opfer ihn gepackt haben – schon als dienend Teilnehmenden, erst recht später, wenn er selbst es darbrachte! Wir sind über sein erstes hl. Opfer unterrichtet. Er feierte es im Kloster der hl. Anna in Medina del Campo, im September 1567, vielleicht in der Oktav von Maria Geburt, in Gegenwart seiner Mutter, seines ältesten Bruders Francisco und dessen Familie. Heilige Furcht hatte ihn vor der priesterlichen Würde zurückschrecken lassen, und nur der Gehorsam gegenüber den Weisungen seiner Vorgesetzten ließ ihn seine Bedenken überwinden. Nun, beim Beginn der hl. Feier, war der Gedanke an seine Unwürdigkeit wohl besonders lebendig. Es erwachte in ihm das brennende Verlangen, ganz rein zu sein, um das Allerheiligste mit makellosen Händen zu berühren. So steigt aus seinem Herzen die Bitte auf, der Herr möge ihn davor behüten, ihn jemals tödlich zu beleidigen. Er wollte den Reueschmerz fühlen für alle Fehler, in die er ohne Gottes Beistand fallen könnte, aber die Schuld nicht begehen. Bei der hl. Wandlung vernimmt er die Worte: »Ich gewähre dir, worum du mich bittest.« Er ist von nun an in der Gnade befestigt und hat die Herzensreinheit eines zweijährigen Kindes. Rein sein von Schuld und doch den Schmerz fühlen – ist das nicht das wahre Einssein mit dem makellosen Lamm, das die Sünden der Welt auf sich nahm, ist es nicht Gethsemani und Golgotha?
Die Empfänglichkeit für die Größe der hl. Opferhandlung hat bei Johannes sicher niemals nachgelassen. Wir wissen, daß er in Baeza einmal in Verzückung vom Altar ging, ohne die hl. Messe zu beenden. Eine Anwesende rief, Engel müßten kommen, um diese hl. Messe zu beenden, da dieser heilige Pater sich nicht erinnerte, daß er sie nicht beendet habe. In Caravaca sah man ihn während der hl. Messe glänzend von Strahlen, die von der hl. Hostie ausgingen. Er selbst gestand in einer vertraulichen Mitteilung, daß er manchmal tagelang auf das hl. Meßopfer verzichtete, weil seine Natur zu schwach war, die Überfülle himmlischen Trostes zu ertragen. Besonders gern hat er die Messe von der Hl. Dreifaltigkeit gelesen. Es besteht ja der engste Zusammenhang zwischen diesem erhabensten Geheimnis und dem hl. Opfer, das nach dem Ratschluß der drei göttlichen Personen eingesetzt ist, zu ihrer Ehre geschieht und den Zugang zu ihrem ewig strömenden Leben erschließt. Welche Fülle von Erleuchtungen dem Heiligen im Laufe seines Priesterlebens am Altar zuteil geworden sind, das ahnen wir nicht. Jedenfalls ist das Wachstum in der Wissenschaft des Kreuzes, die fortschreitende geheimnisvolle Umgestaltung in den Gekreuzigten z. gr. T. im Dienst des Altars geschehen.
In Wort und Bild und liturgischer Feier klopft die Kreuzesbotschaft an das Herz jedes Menschen, der im christlichen Kulturkreis lebt, besonders eindringlich an das Herz des Priesters. Es ist nur nicht jeder fähig und bereit, sie so sachgemäß aufzunehmen und zu beantworten wie Johannes vom Kreuz. Sie ist an ihn aber überdies – auch abgesehen von den besonderen Gnaden beim hl. Meßopfer – in einer außerordentlichen Form ergangen. Der Gekreuzigte ist ihm wiederholt in Visionen erschienen. Über zwei solche Visionen sind wir genau unterrichtet. Johannes hat in seiner Lehre Visionen, Ansprachen und Offenbarungen als unwesentliches Beiwerk des mystischen Lebens behandelt. Er hat vor all dem immer wieder gewarnt, weil man dabei der Gefahr der Täuschung ausgesetzt ist und jedenfalls auf dem Weg der Vereinigung aufgehalten wird, wenn man auf solche Dinge Wert legt. Überdies war er sehr zurückhaltend mit Mitteilungen über sein Leben, das äußere wie das innere. Wenn er von diesen beiden Visionen gesprochen hat, so kommt ihnen jedenfalls eine besondere Bedeutung zu. Auf beide folgte in seinem Leben ein Sturm von Verfolgungen und Leiden. Es ist darum naheliegend, sie als Vorboten aufzufassen.
Die erste Erscheinung wurde ihm in Avila, im Kloster der Menschwerdung zuteil, wohin ihn die hl. Mutter Teresia als Beichtvater der Nonnen gerufen hatte. Als er eines Tages ganz in die Beschauung des Kreuzesleidens versunken war, zeigte sich ihm der Gekreuzigte, den leiblichen Augen sichtbar, mit Wunden bedeckt, blutüberströmt. So deutlich war die Erscheinung, daß er sie in einer Federzeichnung festhalten konnte, sobald er wieder zu sich kam. Das kleine vergilbte Blättchen wurde bis in unsere Tage im Kloster der Menschwerdung verwahrt. Die Zeichnung macht einen sehr modernen Eindruck. Das Kreuz und der Körper sind in starker Verkürzung dargestellt, wie von der Seite gesehen; der Leib in starker Bewegung, weit vom Kreuz gelöst, an den Händen hängend (die Hände, von mächtigen, auffallend hervorragenden Nägeln durchbohrt, sind besonders ausdrucksvoll); der Kopf ist vornübergeworfen, so daß die Gesichtszüge nicht zu unterscheiden sind, dagegen sieht man den Nacken und oberen Teil des Rückens, die mit Striemen bedeckt sind. Der Heilige hat das Blättchen der Schwester Anna Maria von Jesus geschenkt und ihr sein Geheimnis anvertraut. (Das ist wohl verständlich, da der Herr selbst dieser Seele etwas von seinen innersten Geheimnissen mitgeteilt hatte: die Gnade, die ihm bei seiner ersten hl. Messe gewährt wurde.) Wir wissen nicht, ob der Heiland Worte gesprochen hat, als er sich so tief vom Kreuz herabbeugte. Aber sicherlich hat ein Austausch von Herz zu Herz stattgefunden. Es war in der Zeit, ehe der Kampf der »Beschuhten« gegen die Reform einsetzte, dessen Opfer Johannes mehr als alle anderen werden sollte.
Die zweite Erscheinung, gegen Ende seines Lebens, fand in Segovia statt. Er hatte seinen geliebten Bruder Francisco dorthin gerufen. Diesem verdanken wir den Bericht: »… Als ich 2 oder 3 Tage da war, bat ich ihn, mich abreisen zu lassen. Er sagte mir, ich sollte noch einige Tage länger bleiben, er wüßte nicht, wann wir uns wiedersehen würden. Und dies war das letzte Mal, daß ich ihn sah. Eines Abends nach dem Abendessen nahm er mich bei der Hand und führte mich in den Garten, und als wir allein waren, sagte er zu mir: ›Ich will dir etwas anvertrauen, was mir mit unserm Herrn begegnet ist. Wir hatten im Kloster ein Cruzifix, und eines Tages, als ich mich davor befand, schien es mir, daß es passender in der Kirche angebracht würde. Es war mein Wunsch, daß es nicht nur von den Mönchen, sondern auch von denen draußen geehrt würde. Und ich machte das, wie mir der Gedanke gekommen war. Nachdem ich es in der Kirche, so passend ich konnte, angebracht hatte, stand ich eines Tages im Gebet davor – da sprach er zu mir: Bruder Johannes, bitte mich um das, was ich dir für den Dienst gewähren soll, den du mir erwiesen hast! Und ich meinerseits sagte ihm: Herr, was ich von Dir haben möchte, das sind Leiden, die ich für Dich zu ertragen hätte, und daß ich verachtet und geringgeschätzt würde‹.«
Als Johannes diesen Wunsch aussprach, waren seine Lebensverhältnisse so, daß sich die Erfüllung schon aus natürlichen Bedingungen leicht ergeben konnte. An der Spitze des reformierten Karmels stand als Provinzial Nikolas Doria, der Heißsporn und Eiferer, der Teresias Werk nach seinen Ideen umformen wollte. Johannes verteidigte mit Entschiedenheit das Erbe der hl. Mutter und die Opfer des Fanatismus: P. Hieronymus Gratian und die Karmelitinnen. Am 30. Mai 1591 wurde das Kapitel der Unbeschuhten in Madrid eröffnet. Vor der Abreise dorthin verabschiedete sich der Heilige von den Karmelitinnen von Segovia. Die Priorin, Maria von der Menschwerdung, rief lebhaft erregt: »Vater, wer weiß, ob E. Hochw. nicht als Provinzial dieser Provinz daraus hervorgehen werden.« »Man wird mich in die Ecke werfen wie einen alten Lappen, wie einen alten Küchenlumpen«, war die Antwort. Und so geschah es in der Tat. Er erhielt kein Amt mehr und wurde in die Einsamkeit von La Peñuela geschickt. Dorthin folgten ihm Berichte über Bedrängnisse der Karmelitinnen. Man verhörte sie, um Material gegen Johannes zusammenzutragen. Man suchte Gründe, um ihn aus dem Orden auszustoßen. Nicht lange danach zwingt ihn die letzte Krankheit, La Peñuela zu verlassen, wo keine ärztliche Hilfe zu haben ist. So gelangt er an die letzte Station seines Kreuzweges: Úbeda. Bedeckt mit eiternden Wunden, findet er hier im Prior, P. Francisco Crysostomo, einen erbitterten Gegner, der seinem Verlangen nach entwürdigender Behandlung vollauf Genüge tut. Die Höhe von Golgotha ist erreicht.
Es ist noch ein drittes Zeugnis dafür vorhanden, daß Johannes von Kreuzbildern ungewöhnliche Einwirkungen empfing. Und wahrscheinlich ist es noch viel öfter geschehen, als es uns bezeugt ist. Wir fassen alle diese Einwirkungen als Botschaften auf, die zum Tragen des Kreuzes ermunterten und darauf vorbereiteten. Doch auch alles das, was wir sinnbildlich unter dem Namen »Kreuz« zusammenfassen, alle Lasten und Leiden des Lebens, müssen mit zur Kreuzesbotschaft gerechnet werden, weil daraus die tiefste Kreuzeswissenschaft zu gewinnen ist. Der Heilige hat Leid und Neid schon von den ersten Kinderjahren an kennengelernt. Der frühe Tod des Vaters, der Kampf der Mutter um das tägliche Brot für ihre Kinder, seine eigenen immer wieder scheiternden Bemühungen, etwas zum Unterhalt der Familie beizutragen – all das muß in dem zarten Kinderherzen tiefen Eindruck gemacht haben, aber es ist uns nichts darüber aufgezeichnet. Ebenso wenig wissen wir über die seelische Auswirkung der Krisen in den ersten Ordensjahren. Über die spätere Zeit liegen Berichte vor, die etwas mehr Einblick in das innere Leben gewähren.
Eines Abends kam Johannes in Avila zur Zeit des Angelusläutens nach dem Beichthören aus der Klosterkirche und betrat den kleinen Pfad nach dem Häuschen, das er mit seinem Gefährten P. Germanus bewohnte. Da stürzte sich plötzlich ein Mann auf ihn und bearbeitete ihn so mit Stockschlägen, daß er zu Boden stürzte. (Das war die Rache eines Liebhabers, dem er seine Beute entrissen hatte.) Als Johannes dieses Abenteuer erzählte, fügte er hinzu, er habe in seinem ganzen Leben noch nicht so süßen Trost empfunden: er war behandelt worden wie der Heiland selbst und hatte die Süßigkeit des Kreuzes erfahren.
Überreiche Gelegenheit dazu bot die Zeit der Gefangenschaft in Toledo. Der Heilige hatte die Reform in Duruelo begonnen, war mit der heranwachsenden klösterlichen Gemeinde nach Mancera übergesiedelt, hatte dann im Noviziat zu Pastrana gewirkt und schließlich das erste Ordenskolleg zu Alcalá geleitet. 1572 berief ihn die hl. Mutter nach Avila, um ihr bei einer schweren Aufgabe beizustehen. Sie hatte den Auftrag erhalten, als Priorin ins Kloster der Menschwerdung zurückzukehren, aus dem sie hervorgegangen war; sie sollte unter Beibehaltung der gemilderten Regel die Mißstände, die dort eingerissen waren, beseitigen und die große Kommunität zu einem wahrhaft geistlichen Leben führen. Dazu schien es ihr unerläßlich, für gute Beichtväter zu sorgen. Sie konnte keinen geeigneteren finden als Johannes, dessen große Erfahrung im inneren Leben sie kannte. Von 1572–1577 wirkte er hier mit reichstem Ertrag für die Seelen. Während er so in aller Stille tätig war, hatte das Reformwerk draußen große Fortschritte gemacht. Die hl. Mutter reiste von einer Klosterstiftung zur anderen. Auch neue Männerklöster der Reform waren entstanden. Glänzende Persönlichkeiten waren in den Orden eingetreten und hatten die äußere Leitung übernommen, vor allem P. Hieronymus Gratian und P. Ambrosius Marianus. Nicht ohne ihre Schuld fühlten sich die »Beschuhten«, die Väter der gemilderten Regel, beeinträchtigt und organisierten einen heftigen Abwehrkampf. Warum die Verfolgung sich auch gegen Johannes richtete, dessen Wirksamkeit eine rein geistliche war, ja gegen ihn mit besonderer Heftigkeit, das ist hier nicht zu untersuchen. In der Nacht vom 3./4. Dezember 1577 drangen einige Beschuhte mit ihren Helfershelfern in die Wohnung der beiden Klosterbeichtväter ein und führten sie gefangen fort. Seitdem war Johannes verschollen. Die hl. Mutter erfuhr wohl, daß der Prior Maldonado ihn fortgeführt hatte. Aber wohin er gekommen war, das wurde erst 9 Monate später, nach seiner Befreiung bekannt. Mit verbundenen Augen hatte man ihn durch eine einsame Vorstadt in das Kloster U. L. Frau zu Toledo gebracht, das bedeutendste Karmelitenkloster der gemilderten Regel in Kastilien. Er wurde verhört, und da er sich weigerte, die Reform preiszugeben, als Rebell behandelt. Sein Gefängnis war ein enger Raum, etwa 10 Fuß lang und 6 Fuß breit; »in dem er, so klein er auch an Gestalt ist, kaum aufrecht stehen konnte« (schrieb Teresia später). Diese Zelle hatte weder Fenster noch Luftöffnung außer eine Spalte hoch oben an der Wand. Der Gefangene mußte, »um das Brevier beten zu können, auf das Arme-Sünder-Stühlchen steigen und warten, bis der Sonnenstrahl auf die Wand zurückfiel.« Die Tür war mit einem Vorlegeschloß gesichert. Als im März 1578 die Nachricht kam, daß P. Germanus entflohen sei, wurde auch noch der Saal vor der Gefangenenzelle abgeschlossen. Anfangs jeden Abend, später dreimal in der Woche, schließlich nur noch manchmal am Freitag wurde der Gefangene ins Refektorium geführt, um am Boden sitzend seine Mahlzeit – Brot und Wasser – zu nehmen. Im Refektorium erhielt er auch die Disziplin. Er kniete, bis zum Gürtel entblößt, mit geneigtem Haupt; alle zogen an ihm vorbei und schlugen ihn mit der Rute. Und da er alles »mit Geduld und Liebe« ertrug, nannte man ihn »Duckmäuser«. Dabei erwies er sich »unbeweglich wie ein Stein«, wenn man ihn zum Abfall von der Reform aufforderte, ihm als Lockspeise ein Priorat anbot. Dann öffnete er die schweigsamen Lippen und versicherte, daß er nicht zurückkehren werde, »koste es ihn auch das Leben«. Die jungen Novizen, die Zeugen der Schmähungen und Mißhandlungen waren, weinten vor Mitleid und sagten angesichts seiner schweigenden Geduld: »Das ist ein Heiliger.« Seine Tunika wurde bei den Geißelungen mit Blut getränkt – er mußte sie so wieder anziehen und während der 9 Monate seiner Haft behalten. Man kann sich denken, was er in den glühend heißen Sommermonaten davon zu leiden hatte. Das Essen, das man ihm brachte, verursachte ihm solche Beschwerden, daß er meinte, man wolle ihn dadurch töten. Er machte bei jedem Bissen einen Liebesakt, um der Versuchung der Verleumdung zu entgehen.
Wir wissen, wie eng er mit den nächsten Angehörigen verbunden war. Mit ganzem Herzen war er auch dem Reformwerk ergeben, der hl. Mutter und den anderen, die in dieser großen Aufgabe mit ihm eins waren, die ihr Leben gleich ihm – zum größten Teil unter seiner persönlichen Leitung – dem Ideal des ursprünglichen Karmels geweiht hatten. Er hat später, als die Pflicht ihn jahrelang in Andalusien festhielt, seinem Heimweh nach Kastilien und dem vertrauten Kreis offenen Ausdruck gegeben: »Seitdem mich jener Walfisch verschlungen und an diesen fernen Hafen ausgespieen hat, wurde mir nie mehr die Freude zuteil, Sie zu sehen, noch auch die Heiligen, die dort leben.« Nun war er so von ihnen allen getrennt, daß er keine Nachricht geben konnte all die Monate lang. »Bisweilen betrübte ich mich bei dem Gedanken, man würde von mir sagen, ich hätte dem Begonnenen den Rücken gekehrt, und ich empfand den Schmerz der hl. Mutter.«
Doch es gab noch viel schmerzlichere Entbehrungen. Am 14. August 1578 kam der Prior Maldonado mit zwei Ordensleuten in seinen Kerker. Der Gefangene war so schwach, daß er sich kaum rühren konnte. Er sah nicht auf, in der Meinung, sein Kerkermeister sei eingetreten. Der Prior stieß ihn mit dem Fuß an und fragte ihn, warum er in seiner Gegenwart nicht aufstehe. Als er um Verzeihung bat und versicherte, er habe nicht gewußt, wer da war, fragte P. Maldonado: »Woran dachten Sie, daß Sie so versunken waren?« »Ich dachte, daß morgen das Fest U. L. Frau ist und daß es mir ein großer Trost wäre, wenn ich die hl. Messe lesen könnte.« Wie muß er es in den neun langen Monaten entbehrt haben, daß er niemals das hl. Opfer feiern durfte! Das Fronleichnamsfest, an dem er sonst stundenlang in Anbetung vor dem Allerheiligsten kniete, mußte er ohne hl. Messe und Kommunion verbringen.