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Sonnabend, den 2. April.
Es war an einem Abend in Karlskrona, und es war Mondschein. Es war still und schön, aber früherhin am Tage hatte es gestürmt und geregnet, und die Leute glaubten wohl, daß noch schlechtes Wetter sei, denn kaum ein Mensch hatte sich auf die Straße hinausgewagt.
Wie nun die Stadt so verlassen dalag, kamen die wilde Gans Akka und ihre Schar über die Vämmö und den Pantorholm auf Karlskrona zugeflogen. Sie waren in der späten Abendstunde darauf aus, einen sichern Schlafplatz in den Schären zu suchen. Sie konnten nicht an Land bleiben, weil Reineke Fuchs sie störte, wo sie sich auch niederließen.
Als nun der Junge hoch oben in der Luft dahergeritten kam und das Meer und die Schären sah, die sich vor ihm ausbreiteten, fand er, daß alles so wunderlich und gespensterhaft aussah. Der Himmel war nicht mehr blau, er wölbte sich über ihm wie eine Kuppel aus grünem Glas. Das Meer lag milchweiß. So weit er sehen konnte, kamen kleine, weiße Wellen mit Silberglanz auf dem Kamm dahergerollt. Mitten in all dem Weiß lagen die vielfachen Schäreninseln ganz kohlschwarz. Mochten sie groß sein oder klein, mochten sie flach sein wie Wiesen oder voll von Klippen, sie waren gleich schwarz. Ja, selbst Häuser und Kirchen und Windmühlen, die sonst weiß oder rot sind, heben sich schwarz gegen den grünen Himmel ab. Der Junge fand, es war so, als sei die Erde unter ihm vertauscht, als sei er in eine andere Welt gekommen.
Er sagte zu sich selbst, heute nacht wolle er tapfer aushalten und nicht bange sein, aber dann erblickte er sogleich etwas, das ihm einen großen Schrecken einjagte. Es war eine hohe Felseninsel, die mit großen, eckigen Steinblöcken bedeckt war, und zwischen den schwarzen Steinblöcken glitzerten Punkte von klarem, schimmerndem Gold. Er konnte es nicht lassen, an den Maglestein bei Trolle-Ljungby zu denken, den die Kobolde einstmals auf hohen goldenen Säulen errichtet hatten, und er dachte, daß dies vielleicht etwas von derselben Art sei.
Aber das mit den Steinen und dem Gold hätte noch angehen können, wenn da nur nicht so viel Teufelkram rings um die Insel herum im Wasser gelegen hätte. Das sah aus wie Walfische und Haie und andere große Meerestiere, aber der Junge wußte ja sehr wohl, daß es Wassergeister waren, die sich um die Insel geschart hatten und nun da hinaufklettern und mit den Landgeistern kämpfen wollten, die dort wohnten. Und die da oben an Land waren gewiß bange, denn er konnte einen großen Riesen oben auf der Spitze der Insel stehen und, wie in Verzweiflung über all das Unglück, das über ihn und die Insel kommen würde, die Arme ausstrecken sehen.
Der Junge war nicht wenig erschrocken, als er merkte, daß Akka den Flug abwärts nahm, sobald sie über der Insel waren. »Huh! Wir wollen uns doch nicht dort niederlassen!« sagte er.
Aber die Gänse schwebten ruhig abwärts, und bald mußte der Junge staunen, daß er sich so geirrt hatte. Denn erstens waren die großen Steinblöcke nichts weiter als Häuser. Die ganze Insel war eine Stadt, und die schimmernden goldenen Punkte waren Laternen und Reihen von erleuchteten Fenstern. Der Riese, der oben auf der Spitze der Insel stand und die Arme in die Höhe streckte, war eine Kirche mit zwei viereckigen Türmen, und alle die Meeresgeister und Ungeheuer, die er zu sehen geglaubt, waren Boote und Schiffe jeglicher Art, die rings um die Insel vertäut lagen. Auf der Seite, die dem Lande zunächst lag, waren die meisten Ruderboote und Segelboote und kleinen Küstendampfer, aber auf der Seite nach dem Meere zu lagen gepanzerte Kriegsschiffe, einige breit, mit mächtig dicken, hintenüberliegenden Schornsteinen, andere lang und schmal und so gebildet, daß sie wie Fische durchs Wasser gleiten mußten.
Was für eine Stadt konnte dies nur einmal sein? Ja, der Junge ward sich klar darüber, sobald er die vielen Kriegsschiffe sah. Er hatte Schiffe geliebt, seit er klein war, obwohl er mit keinen anderen zu schaffen gehabt, als mit den Fahrzeugen, die er zum Segeln in den Gräben ausgesetzt hatte. Es unterlag keinem Zweifel, daß die Stadt, wo so viele Kriegsschiffe lagen, keine andere als Karlskrona sein konnte.
Der Junge hatte einen alten Großvater mütterlicherseits gehabt, der in der Marine gedient und so lange er lebte, jeden Tag von Karlskrona erzählt hatte, von der großen Marinewerft und von all dem andern, das in dieser Stadt zu sehen war. Hier fühlte sich der Junge ganz wie zu Hause, und er freute sich, daß er nun all das zu sehen bekam, wovon er so viel hatte reden hören.
Aber er bekam nicht mehr als einen Schimmer von den Türmen und Festungswerken, die die Einfahrt des Hafens sperrten, und von den vielen Gebäuden auf der Werft zu sehen, denn Akka ließ sich auf einem der beiden flachen Kirchtürme nieder.
Das war ja freilich ein sicherer Ort für jemand, der einem Fuchs entkommen wollte, und der Junge meinte, diese Nacht könne er gewiß ruhig unter den Flügel des Gänserichs schlüpfen. Ja, das konnte er wohl, es würde gut tun, ein wenig zu schlafen. Sobald es hell wurde, wollte er versuchen, etwas mehr von der Werft und von den Schiffen zu sehen.
Der Junge fand es selber wunderlich, daß er sich nicht ruhig verhalten und den nächsten Morgen abwarten konnte, bis er die Schiffe sah. Er hatte wohl kaum fünf Minuten geschlafen, als er schon unter dem Flügel hervorkroch und an dem Blitzableiter und den Dachrinnen auf die Straße hinabglitt.
Bald stand er auf einem großen Marktplatz, der vor der Kirche lag. Er war mit spitzigen Steinen gepflastert, und es war für ihn ebenso schwer dort zu gehen wie für Erwachsene auf einer Wiese voller Erderhöhungen. Leuten, die in der Einöde hausen oder weit draußen auf dem Lande wohnen, wird immer unheimlich zumute, wenn sie in eine Stadt kommen, wo die Häuser schnurgerade stehen und die Straßen offen liegen, so daß ein jeder den sehen kann, der darin geht. Und so erging es jetzt dem Jungen. Als er auf dem großen Karlskronaer Marktplatz stand, und die deutsche Kirche und das Rathaus und die große Kirche sah, von der er eben herabgestiegen war, da konnte er sich nicht enthalten, zu wünschen, daß er wieder oben auf dem Turm bei den Gänsen sein könne.
Zum Glück war es ganz leer auf dem Marktplatz. Da war kein Mensch, wenn man nicht eine Statue mitrechnen will, die auf einem erhöhten Sockel stand. Der Junge sah die Statue lange an, sie stellte einen großen, starkknochigen Mann dar mit dreieckigem Hut, langem Rock, Kniehosen und dicken Schuhen. Er grübelte nach, wer das wohl sein könne. Der Mann hatte einen langen Stock in der Hand und sah auch wohl aus, als ob er ihn gebrauchen könne, denn er hatte ein schrecklich strenges Gesicht mit einer großen, krummen Nase und einem häßlichen Mund.
»So eine Langlippe!« sagte der Junge. »Was will der Kerl hier?« Nie war er sich selbst so klein und elend vorgekommen wie an diesem Abend. Er suchte sich Mut zu machen, indem er ein flottes Wort sagte. Dann dachte er nicht mehr an die Statue, sondern ging eine breite Straße hinab, die an die See führte.
Aber er war noch nicht weit gegangen, als er hörte, daß jemand hinter ihm drein kam. Es ging einer hinter ihm und stampfte mit schweren Schritten und stieß mit einem eisenbeschlagenen Stock hart auf das Pflaster. Es klang so, als sei es der große Bronzemann vom Marktplatz selber, der sich auf die Wanderschaft begeben hatte.
Der Junge lauschte den Schritten, während er die Straße hinabging, und er wurde immer mehr davon überzeugt, daß es der Bronzemann war. Die Erde bebte und die Häuser zitterten. Kein anderer als er konnte so schwer auftreten, und der Junge wurde bange und dachte daran, was er eben noch zu ihm gesagt hatte. Er wagte nicht, den Kopf umzudrehen, um zu sehen, ob er es wirklich sei.
»Vielleicht geht er nur zu seinem Vergnügen spazieren,« dachte der Junge. »Er kann doch unmöglich böse auf mich sein, weil ich das vorhin sagte. Ich habe ja nichts Böses damit gemeint.«
Statt geradeaus zu gehen und den Versuch zu machen, zur Werft hinabzugelangen, bog der Junge in eine Straße ein, die nach Osten führte. Vor allen Dingen mußte er dem entkommen, der ihm folgte.
Aber gleich darauf hörte er den Bronzemann in dieselbe Straße einbiegen, und der Junge wurde so bange, daß er sich nicht zu helfen wußte. Und wie schwer war es doch, ein Versteck in einer Stadt zu finden, wo alle Türen geschlossen waren! Da sah er zu seiner Rechten eine alte hölzerne Kirche, die ein wenig abseits von der Straße in einer großen Gartenanlage lag. Er besann sich keinen Augenblicks sondern stürzte auf die Kirche zu. »Gelange ich nur dahin, so bin ich gegen alles Böse beschützt,« dachte er.
Wie er so davonlief, gewahrte er Plötzlich einen Mann, der mitten im Kiesgang stand und ihm zuwinkte. »Das ist gewiß einer, der mir helfen will,« dachte der Junge, freute sich sehr und eilte dahin. Er war wirklich so bange, daß ihm das Herz heftig in der Brust schlug.
Aber als er zu dem Manne hinkam, der auf einem Sockel hart an dem Kiesgang stand, wurde er ganz stutzig. »Der kann mir doch nicht gewinkt haben,« dachte er, denn er sah, daß der ganze Mann aus Holz war.
Er blieb stehen und starrte ihn an. Es war ein vierschrötiger, kurzbeiniger Mann mit einem breiten, rotscheckigen Gesicht, blankem, schwarzem Haar und einem schwarzen Vollbart. Auf dem Kopf trug er einen schwarzen, hölzernen Hut, auf dem Leibe einen braunen, hölzernen Rock, um die Taille einen schwarzen, hölzernen Gürtel, an den Beinen weite, graue, hölzerne Kniehosen und hölzerne Strümpfe und an den Füßen schwarze, hölzerne Stiefel. Er war frisch gemalt und frisch lackiert, so daß er im Mondschein schimmerte und glitzerte, was vielleicht dazu beitrug, ihm einen gutmütigen Ausdruck zu verleihen, so daß der Junge sofort Vertrauen zu ihm faßte.
Er stand mit einer hölzernen Tafel in der linken Hand da, und auf der Tafel las der Junge:
So herzlich flehe ich dich an,
Ach so, der Mann war also nichts weiter als eine Armenbüchse! Der Junge war enttäuscht. Er hatte sich etwas Merkwürdigeres hiervon versprochen. Und nun fiel ihm ein, daß der Großvater auch von einem hölzernen Mann erzählt und gesagt hatte, daß alle Kinder in Karlskrona ihn so liebten. Und das verhielt sich offenbar wirklich so, denn auch ihm wurde es schwer, sich von dem hölzernen Mann zu trennen. Er hatte etwas so Altmodisches an sich, daß man ihn gut mehrere hundert Jahre alt halten konnte, und doch sah er so stark und keck und lebensfroh aus, gerade so, wie man sich vorstellt, daß die Leute in alten Zeiten ausgesehen haben.
Es belustigte den Jungen so sehr, den hölzernen Mann anzusehen, daß er den andern, vor dem er geflohen war, ganz darüber vergaß. Aber jetzt hörte er ihn. Er bog von der Straße ab und gelangte auf den Kirchhof. Auch dort kam er hinter ihm drein. Was sollte der Junge doch nur anfangen?
Im selben Augenblick sah er, wie der hölzerne Mann sich zu ihm hinabbeugte und seine große, breite Hand ausstreckte. Es war unmöglich, ihm etwas Böses zuzutrauen, und mit einem Satz stand der Junge auf der flachen Hand. Und der hölzerne Mann hob ihn an seinen Hut und steckte ihn darunter.
Kaum war der Junge versteckt, und kaum hatte der hölzerne Mann seinen Arm wieder an Ort und Stelle, als der Bronzemann vor ihm stehen blieb und seinen Stock hart auf die Erde stieß, so daß der hölzerne Mann auf seinem Sockel erbebte. Und dann sagte der Bronzemann mit starker, gellender Stimme: »Was für einer ist Er?«
Der Arm des hölzernen Mannes fuhr in die Höhe, so daß es in dem alten Holzwerk krachte, und er griff an die Hutkrempe, als er antwortete: »Rosenbom, mit Ew. Majestät Erlaubnis. Seinerzeit Oberbootsmann auf dem Linienschiff Kühnheit, nach beendetem Kriegsdienst Kirchendiener an der Admiralitätskirche, jetzt, zuletzt, in Holz geschnitzet und als Armenbüchse auf dem Kirchhof aufgestellet.«
Es durchzuckte den Jungen, als er den hölzernen Mann Ew. Majestät sagen hörte. Denn jetzt, als er nachdachte, wußte er sehr wohl, daß die Statue auf dem Marktplatz den Gründer der Stadt vorstellte. Es war kein Geringerer als Karl der Elfte in höchsteigener Person, mit dem er aneinandergeraten war.
»Er gibt klaren Bescheid,« sagte der Bronzemann, »Kann Er mir nun auch sagen, ob Er einen kleinen Knirps gesehen hat, der zu nächtlicher Zeit in der Stadt herumläuft? Es ist eine naseweise Canaille, und wenn ich seiner nur habhaft werden kann, will ich ihn schon Mores lehren.« Und dann stieß er noch einmal mit dem Stock auf die Erde und sah fürchterlich zornig aus.
»Ich habe ihn gesehen, mit Ew. Majestät Erlaubnis,« sagte der hölzerne Mann, und der Junge wurde so bange, daß er in seinem Versteck unter dem Hut zitterte. Er konnte den Bronzemann durch einen Riß im Holz sehen. Aber er beruhigte sich wieder, als der hölzerne Mann fortfuhr: »Ew. Majestät sind auf falscher Spur. Der Junge hatte offenbar die Absicht, nach der Werft zu laufen und sich dort zu verstecken.«
»Sagt Er das, Rosenbom? Aber dann darf Er nicht länger ruhig auf seinem Sockel stehen. Komme Er lieber mit und helfe Er mir, ihn suchen. Vier Augen sehen mehr als zwei, Rosenbom.«
Aber der hölzerne Mann antwortete mit kläglicher Stimme: »Ich bitte untertänigst, daß ich stehenbleiben darf, wo ich stehe. Ich bin frisch angemalt, und daher sehe ich neu und glänzend aus, aber ich bin alt und gebrechlich und kann es nicht vertragen, mich zu rühren.«
Der Bronzemann gehörte nicht zu den Leuten, die Widerspruch dulden. »Was sind das für Ausflüchte? Will Er nicht sofort mitkommen, Rosenbom!« Und er erhob seinen langen Stock und versetzte dem andern einen Schlag auf den Rücken, so daß es dröhnte. »Sieht Er wohl, daß Er noch hält, Rosenbom?«
Damit machten sie sich auf den Weg und schritten groß und mächtig die Straßen von Karlskrona dahin, bis sie an ein hohes Tor gelangten, das zur Werft führte. Draußen ging ein Matrose von der Flotte Wache, aber der Bronzemann schritt nur an ihm vorüber und stieß das Tor mit dem Fuß auf, ohne daß der Matrose es zu sehen schien.
Sobald sie auf die Werft gekommen waren, sahen sie einen großen und breiten Hafen vor sich, der mit Bollwerken abgeteilt war. In den verschiedenen Hafenbassins lagen Kriegsschiffe und sahen hier aus der Nähe viel größer und schreckeinflößender aus als vorhin, da der Junge sie von oben herab gesehen hatte. »Es war gar nicht so dumm, zu glauben, daß es Seegeister seien,« dachte er.
»Wo, meint Er, ist es am vernünftigsten, mit dem Suchen zu beginnen, Rosenbom?« fragte der Bronzemann.
»So ein kleiner Wicht könnte sich wohl am ersten in dem Modellsaal verstecken,« antwortete der hölzerne Mann.
Auf einem schmalen Streifen Land, der sich rechts vom Torweg an dem ganzen Hafen entlang erstreckte, lagen einige altmodische Gebäude. Der Bronzemann ging auf ein Haus mit niedrigen Mauern, kleinen Fenstern und einem hohen Dach zu. Er stieß mit seinem Stock gegen die Tür, so daß sie aufsprang und trampelte eine Treppe mit ausgetretenen Stufen hinauf. Dann kamen sie in einen großen Saal, der mit aufgetakelten und vollgerickten kleinen Schiffen angefüllt war. Der Junge begriff, ohne daß es ihm jemand sagte, daß dies Modelle von den für die schwedische Flotte erbauten Schiffen waren.
Da waren Schiffe von mancherlei Art. Da waren alte Linienschiffe, die Seiten mit Kanonen gespickt, mit hohen Überbauten vorne und achtern und mit Masten, die beschwert waren von einem Wirrwarr aus Segeln und Tauwerk. Da waren kleine Schärenfahrzeuge mit Ruderbänken längs der Schiffsseiten, da waren Kanonenboote ohne Deck und reichvergoldete Fregatten, die Modelle zu denjenigen, die von den Königen auf ihren Reisen benutzt waren. Endlich waren da auch die schweren, breiten Panzerschiffe mit Türmen und Kanonen an Deck, wie sie heutzutage gebraucht werden, und schmale, blanke Torpedoboote, die langen, dünnen Fischen glichen.
Als der Junge zwischen all diesem herumgetragen wurde, war er sehr verwundert.
»Nein, daß wir hier in Schweden so schöne, große Schiffe gebaut haben!« dachte er bei sich.
Er hatte gute Zeit, sich alles anzusehen, was da drinnen war, denn als der Bronzemann die Modelle sah, vergaß er alles andere. Er betrachtete sie alle, vom ersten bis zum letzten, und stellte Fragen darüber. Und Rosenbom, der Oberbootsmann auf der Kühnheit, erzählte alles, was er von den Baumeistern der Schiffe wußte und von denen, die sie geführt hatten, und was ihr Los gewesen war. Er erzählte von Chapman und von Puke und Trolle, von Hogland und Svendsksund bis hinab zu 1809, denn nach jener Zeit war er nicht mehr mit dabei gewesen.
Sowohl er als auch der Bronzemann fanden am meisten Gefallen an den schönen, alten hölzernen Schiffen. Auf die neuen Panzerschiffe verstanden sie sich offenbar nicht so recht.
»Ich merke, Rosenbom weiß nichts von diesen neuen Dingern,« sagte der Bronzemann. »Sehen wir uns deswegen lieber etwas anderes an, denn dies interessiert mich, Rosenbom!«
Es schien, als habe er den Jungen ganz vergessen, und der saß sicher und ruhig oben in dem hölzernen Hut.
Darauf wanderten die beiden Männer durch die großen Werkstättenräume: die Segelmacherwerkstatt und die Ankerschmiede, die Maschinen-und Tischlerwerkstätten. Sie besahen die Mastenkräne und die Docks, die großen Speicher, den Artilleriehof, das Zeughaus, die lange Reiferbahn und das große, verlassene Dock, das in die Klippe gesprengt war. Sie gingen auf die Bollwerke hinaus, wo die Kriegsschiffe vertäut lagen, gingen an Bord derselben und besahen sie wie zwei alte Seebären, staunten und tadelten, und bewunderten und ärgerten sich.
Der Junge saß ganz ruhig unter dem hölzernen Hut und hörte darüber reden, wie man an diesem Ort gekämpft und gearbeitet hatte, um alle die Flotten auszurüsten, die von hier ausgegangen waren. Er hörte, wie man Blut und Leben gewagt, wie man sein letztes Scherflein geopfert hatte, um Kriegsschiffe zu bauen, wie kluge Männer alle ihre Kräfte eingesetzt hatten, um diese Schiffe, die der Schutz des Vaterlandes waren, zu verbessern und zu vervollkommnen. Ein paarmal fehlte nicht viel, daß dem Jungen Tränen in die Augen traten, wenn er von alledem reden hörte. Und er freute sich, daß er so gut Bescheid darüber erhielt.
Zu allerletzt gingen sie in einen offenen Hof hinaus, wo die Gallionsfiguren von den alten Linienschiffen aufgestellt waren. Und etwas Merkwürdigeres hatte der Junge noch nie gesehen, denn diese Figuren hatten mächtige, schreckeinflößende Gesichter. Sie waren groß, dreist und wild, erfüllt von demselben stolzen Geist, der die großen Schiffe ausgerüstet hatte. Sie stammten aus einer andern Zeit als der seinen. Er fühlte sich so klein ihnen gegenüber.
Aber als sie da hinauskamen, sagte der Bronzemann zu dem hölzernen Mann: »Nehm’ Er jetzt den Hut ab, Rosenbom, vor denen, die hier stehen! Sie sind alle für das Vaterland im Kampf gewesen.«
Und Rosenbom hatte ebenso wie der Bronzemann vergessen, weshalb sie hierhergekommen waren. Ohne sich zu besinnen, nahm er den Hut ab und rief:
»Ich nehme meinen Hut ab vor dem, der den Hafen auserwählte und die Werft gründete und die Flotte neu erschuf, vor dem König, der dies alles ins Leben rief!«
»Danke, Rosenbom! Das war gut gesagt. Rosenbom ist ein Ehrenmann. Aber was ist denn das, Rosenbom?«
Denn da stand Niels Holgersen mitten auf Rosenboms kahlem Scheitel. Aber jetzt war er nicht mehr bange; er nahm seine weiße Mütze ab und rief:
»Hurra! Du sollst leben, Langlippe!«
Der Bronzemann stieß den Stock hart auf die Erde, aber der Junge erfuhr nie, was er zu tun beabsichtigt hatte, denn jetzt ging die Sonne auf, und im selben Augenblick verschwand sowohl der Bronzemann als auch der hölzerne Mann, als seien sie aus Nebel geschaffen. Während er noch dastand und ihnen nachstarrte, flogen die wilden Gänse vom Kirchturm auf und schwebten hin und her über der Stadt. Plötzlich erblickten sie Niels Holgersen, und der große weiße Gänserich schoß aus den Wolken herab und holte ihn.
Sonntag, den 3. April.
Am nächsten Morgen flogen die wilden Gänse auf eine Schäreninsel hinaus, um zu weiden. Dort trafen sie mit einigen grauen Gänsen zusammen, die erstaunt waren, sie zu sehen, denn sie wußten sehr wohl, daß ihre Verwandten, die wilden Gänse, es vorziehen, über das Innere des Landes dahinzufliegen. Als sie schwiegen, sagte eine graue Gans, die so aussah, als wenn sie ebenso alt und ebenso klug sei wie Akka selber: »Es war ein großes Unglück für euch, daß der Fuchs in seinem eigenen Lande für friedlos erklärt wurde. Er hält sicher Wort und verfolgt euch bis ganz nach Lappland hinauf. Wäre ich an eurer Stelle, würde ich nicht nordwärts über Smaaland reisen, sondern lieber den Seeweg über Öland nehmen, damit er die Spur ganz verliert. Um ihn so recht auf falsche Fährte zu bringen, solltet ihr ein paar Tage auf der Südspitze von Öland bleiben. Da ist Weide genug und Gesellschaft genug. Ich glaube, ihr werdet es nicht bereuen, wenn ihr dahinüber reist.«
Das war nun wirklich ein kluger Rat, und die wilden Gänse beschlossen, ihn zu befolgen. Sobald sie sich gehörig satt gefressen hatten, machten sie sich auf den Weg nach Öland. Keine von ihnen war jemals dort gewesen, aber die graue Gans hatte ihnen Anweisung auf gute Wegweiser gegeben. Sie sollten nur in gerader südlicher Richtung weiter fliegen, bis sie dem großen Vogelzug begegneten, der an der Küste von Bleking entlang flog. Alle Vögel, die ihre Wohnung an der Nordsee hatten und sich nun auf dem Wege nach Finnland und Rußland befanden, flogen den Weg, und sie pflegten sich alle im Vorüberfahren auf Öland niederzulassen, um auszuruhen. Den wilden Gänsen würde es nicht an Wegweisern fehlen.
An diesem Tage war es ganz warm und still wie an einem Sommertage, das beste Wetter für eine Seereise, das man sich denken konnte. Das einzige Bedenkliche war, daß es nicht ganz klar war, denn der Himmel war grau und bedeckt. Hier und da standen mächtige Wolkenmassen, die ganz bis zur Meeresfläche herabhingen und die Aussicht verdeckten.
Als die Reisenden über die Schären hinausgekommen waren, lag das Meer so glatt und spiegelklar ausgebreitet da, daß der Junge, der zufällig hinabsah, glaubte, das Wasser sei verschwunden. Es war keine Erde mehr unter ihm. Er hatte nichts als Wolken und Himmel um sich. Es schwindelte ihn, und er klammerte sich ängstlicher an den Gänserücken an, als da er zum erstenmal dort saß. Es war, als könne er unmöglich dort sitzen bleiben, als müsse er nach der einen oder der andern Seite herunterfallen.
Noch schlimmer wurde es, als sie die großen Vogelzüge trafen, von denen die graue Gans geredet hatte. Es kam wirklich eine Schar nach der andern ganz in derselben Richtung. Sie folgten gleichsam einem abgesteckten Weg. Da waren wilde Enten und graue Gänse, Sammetenten und Lummen, Eisenten, Fischenten und Krickenten, Haubentaucher und Strandläufer. Als sich nun aber der Junge vornüberbeugte und nach der Richtung hinsah, wo das Meer liegen sollte, sah er den ganzen Vogelzug sich im Wasser widerspiegeln. Aber er war so umnebelt, daß er nicht begreifen konnte, wie das zuging; es schien ihm, als fliege die ganze Vogelschar mit dem Bauch nach oben. Er wunderte sich jedoch nicht so sehr hierüber, denn er wußte selber nicht, was oben und was unten war.
Die Vögel waren ermattet und ungeduldig, über das Wasser zu gelangen. Keiner von ihnen schrie oder sagte ein vergnügliches Wort, und das bewirkte, daß alles gleichsam so sonderbar unwirklich war.
»Wenn wir nun von der Erde weggeflogen sind!« sagte er zu sich selbst. »Wenn wir uns nun auf dem Wege nach dem Himmel hinauf befinden!«
Er sah nichts als Wolken und Vögel nach allen Seiten und allmählich fand er es ganz natürlich, daß sie nach dem Himmel hinaufflogen. Er freute sich und beschäftigte sich mit dem Gedanken, was er wohl da oben zu sehen bekommen würde. Der Schwindel war auf einmal wie weggeblasen. Er war so froh bei dem Gedanken, daß er zum Himmel hinauffuhr und der Erde entrann.
Im selben Augenblick hörte er ein paar Schüsse knallen und sah ein paar kleine, weiße Rauchsäulen aufsteigen.
Bewegung und Angst breitete sich unter den Vögeln aus: »Jäger! Jäger! Jäger in Booten!« riefen sie. »Fliegt hoch! Fliegt fort von ihnen!«
Da sah denn der Junge endlich, daß sie noch immer über der Meeresfläche flogen und keineswegs im Himmel waren. Auf dem Wasser lag eine lange Reihe kleiner Boote voll von Jägern, die einen Schuß nach dem andern abfeuerten. Die ersten Vogelscharen hatten sie nicht rechtzeitig bemerkt. Sie waren zu niedrig geflogen. Mehrere dunkle Vogelkörper sanken auf das Meer hinab, und für jeden, der fiel, stießen die Überlebenden laute Klagerufe aus.
Es war wunderlich für jemand, der eben noch geglaubt hatte, daß er im Himmel sei, zu einer solchen Not und Angst zu erwachen. Akka schoß in die Höhe, so schnell sie konnte, und dann flog die Schar mit der größtmöglichen Geschwindigkeit dahin. Die wilden Gänse entkamen auch unbeschädigt, aber der Junge konnte sich nicht von seiner Verwunderung erholen. Daß die Menschen es übers Herz bringen konnten, auf Wesen wie Akka und Yksi und Katsi und den Gänserich und die andern zu schießen! Die Menschen wußten wirklich nicht, was sie taten!
Und dann zogen sie wieder weiter in der stillen Luft und alles war stumm wie zuvor, nur daß einige ermattete Vögel hin und wieder riefen: »Sind wir noch nicht bald da? Seid ihr auch sicher, daß wir den richtigen Kurs innehalten?« Hierauf antworteten diejenigen, die an der Spitze flogen: »Wir steuern gerade auf Öland zu, gerade auf Öland zu!«
Die Stockenten waren müde, und die Lummen flogen an ihnen vorüber. »Beeilt euch nicht zu sehr!« riefen dann die Enten. »Ihr freßt uns alles Essen weg.« – »Da ist genug für euch und für uns,« antworteten die Lummen. Ehe sie noch so weit gekommen waren, daß sie Öland sehen konnten, bekamen sie ganz schwachen widrigen Wind. Der führte etwas mit sich, das gewaltigen Massen weißen Rauches glich, ganz so, als wenn irgendwo eine große Feuersbrunst sei.
Als die Vögel die ersten weißen Rauchwirbel angetrieben kommen sahen, wurden sie ängstlich und mäßigten ihre Eile. Aber das, was Rauch glich, wurde dichter und schließlich hüllte es sie ganz ein. Es war kein Geruch zu spüren, und der Rauch war nicht dunkel und trocken, sondern weiß und feucht. Bald wurde es dem Jungen klar, daß es nichts weiter war als Nebel.
Als der Nebel so dicht wurde, daß man nicht eine Gänselänge vor sich sehen konnte, benahmen sich die Vögel wie wilde, ausgelassene Buben. Sie, die bisher in der schönsten Ordnung geflogen waren, fingen an, Haschen zu spielen. Sie flogen die Kreuz und die Quer, um sich irre zu leiten. »Hütet euch!« riefen sie. »Ihr fliegt ja nur im Kreise! So kehrt doch um! Glaubt nicht, daß ihr auf diese Weise nach Öland kommt!«
Sie wußten alle recht gut, wo die Insel lag, aber sie taten ihr Bestes, um einander irre zu leiten. »Seht doch die Eisenten!« ertönte es aus dem Nebel. »Die fliegen nach der Nordsee zurück.« – »Nehmt euch in acht, ihr grauen Gänse!« wurde von einer andern Seite gerufen. »Wenn ihr so weiter fliegt, kommt ihr ganz nach Rügen hin!«
Es herrschte, wie gesagt, keine Gefahr, daß, die Vögel, die gewohnt waren, diesen Weg zu ziehen, sich anderwärts hinlocken lassen sollten. Schwer aber war es für die wilden Gänse. Die Spektakelmacher merkten, daß sie des Weges nicht sicher waren, und taten alles, was sie konnten, um sie zu verwirren.
»Wo wollt ihr hin, ihr guten Leute?« rief ein Schwan. Er flog dicht an Akka heran und sah ernsthaft und teilnehmend aus.
»Wir wollen nach Öland, aber wir sind nie zuvor da gewesen,« sagte Akka. Sie meinte, er sei ein Vogel, dem sie trauen dürfe.
»Das ist schlimm!« sagte der Schwan. »Sie haben euch ja irre geleitet. Ihr seid auf dem Wege nach Bleking. Kommt jetzt mit mir, ich will euch den Weg zeigen.«
Und dann fuhr er mit ihnen von dannen, und als er sie so weit von der großen Heerstraße weggelockt hatte, daß sie keinen Ruf mehr hörten, verschwand er im Nebel.
Jetzt flogen sie eine Weile aufs Geratewohl umher. Kaum war es ihnen geglückt, wieder zu den Vögeln zurückzufinden, als eine wilde Ente auf sie zu kam. »Ihr tut am besten, wenn ihr euch auf das Wasser niederlegt, bis sich der Nebel verzogen hat,« sagte die Ente. »Man kann gleich merken, daß ihr nicht daran gewöhnt seid, euch auf Reisen zu behelfen!«
Fast wäre es den Spaßmachern gelungen, Akka ganz verwirrt zu machen. Soweit der Junge es beurteilen konnte, flogen die wilden Gänse eine lange Zeit im Kreise herum.
»Nehmt euch in acht! Seht ihr denn nicht, daß ihr auf und nieder fliegt?« rief eine Lumme, indem sie vorüberbrauste. Der Junge umfaßte unwillkürlich den Hals des Gänserichs fester. Davor war er schon lange bange gewesen.
Es ist unmöglich, zu sagen, wann sie Öland erreicht haben würden, wenn nicht in weiter Ferne ein dumpfer, dröhnender Schuß ertönt wäre.
Da streckte Akka den Hals aus, schlug hart mit den Flügeln und setzte sich in volle Fahrt, Jetzt hatte sie etwas, wonach sie sich richten konnte. Die graue Gans hatte ihr nämlich gesagt, sie solle sich nicht auf der äußersten Südspitze von Öland niederlassen, denn dort stünde eine Kanone, mit der die Menschen auf den Nebel zu schießen pflegten. Jetzt kannte sie die Richtung, und jetzt sollte niemand in der Welt sie mehr irreführen.