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Die »Terra Nova«, die mich bis zum Rand der dem Südpolarfestland vorgelagerten Eisbarriere bringen sollte, hatte am 1. Juni 1910 mit meiner Expedition an Bord London verlassen. Als das Schiff in Neuseeland anlangte, zeigte es ein Leck und mußte 3 Wochen ins Dock. Auch nach der Ausbesserung leckte es noch ein wenig, wie jedes alte Holzfahrzeug; täglich ¼ Stunde Arbeit an der Handpumpe reichte aus, das eindringende Wasser zu entfernen. Sonntag den 27. Nov. lief die »Terra Nova« Port Chalmers auf Neuseeland an. Dort ging auch ich an Bord, und Dienstag den 29. Nov. nachmittags 1/2 3 Uhr verließen wir bei strahlendem Sonnenschein den Hafen zur endgültigen Abfahrt nach Süden.
1. Dez. Aber Nacht wurde der Wind stärker, ich erwachte von der Bewegung. Die See geht hoch. Unter diesen Umständen bietet das Schiff einen nicht gerade erfreulichen Anblick. Sein Inneres ist dank der Geschicklichkeit unseres Proviantmeisters Leutnant Bowers so vollgepackt, wie es menschliche Geschicklichkeit nur ersinnen kann, und auf Deck ist's kaum anders. Unter der Großluke sind unsere Vorräte und ein Teil des Holzwerks für die Hütte geborgen; darüber auf dem Hauptdeck liegen der Nest des Holzwerks, die Schlitten, die Ausrüstung für die Landreise und alle Instrumente und Maschinen für unsere Wissenschaftler. Unter der Back sind Stände für 15 mandschurische Ponys; 7 auf der einen Seite, 8 auf der andern, die Köpfe einander zugewandt. Durch ein Loch im Schott sieht man die Reihe der Pferdeköpfe mit traurigen, geduldigen Augen emporschaukeln, jetzt die von der Steuerbordseite, dann die auf der Backbordseite. Die wochenlange Fahrt wird eine schlimme Probe für die armen Tiere sein. Der übrige Raum der Back ist mit 5000 Kilo Futter vollgepackt; dazwischen haust Anton, mein russischer Pferdeknecht, der arg an Seekrankheit leidet. Trotzdem rauchte er gestern abend eine Zigarre; er rauchte immer ein wenig, dann kam eine Pause, wo sich sein Magen umkehrte, darauf griff er wieder zu seiner Zigarre. »Nicht gut!« klagte er Rittmeister Oates, indem er sich den Magen rieb. Die 4 übrigen Ponys stehen außerhalb der Back auf der Leeseite der Vorluke in einem starken Holzbau, unter ihrem wasserdichten Segeltuchdach haben sie es jedenfalls besser als ihre 15 Kameraden.
Hinter der Vorluke ist das Eishaus, das 3 Tonnen Eis, 162 geschlachtete Hammel und 3 Rinder nebst einigen Büchsen Kalbsmilch und Nieren enthält. Hinter dem Eishaus stehen 2 ungeheure Packlisten, jede zu 5 x 1 1/2 x 1 ¼ Meter; sie enthalten zwei Motorschlitten. Der dritte ruht quer über der Hinterdecköffnung. Die Kisten sind mit Segeltuch überdeckt und mit schweren Ketten und Tauen festgemacht. Blechkannen und -fässer mit Petroleum für die Schlitten sind in starke Holzkisten verpackt, im ganzen 2 1/2 Tonnen Öl; weitere Behälter mit Petroleum, Paraffinöl und Alkohol stehen zwischen Großluke und Fockmast und längs der beiden Kühlgänge. Um die Packkisten herum steht das Deck voll aufgestapelter Kohlensäcke, die aber bald verschwinden werden, denn die »Terra Nova« frißt entsetzlich viel Kohlen: 8 Tonnen im Tag! Die anscheinende Verwirrung auf Deck vervollständigen unsere 33 Hunde; sie sind, 2 ausgenommen, sibirischen Ursprungs; Meares, der Führer unserer Hundeabteilung, hat sie ausgesucht und quer durch Sibirien nach Wladiwostok getrieben, von wo er sie zu Dampfer nach Neuseeland brachte. Sie sind, was bei der Wildheit der Tiere nötig ist, an Pfosten und Riegeln angekettet. Ihre Lage ist nicht eben beneidenswert; die Wellen brechen sich unaufhörlich an der Wetterseite des Schiffs, und das Spritzwasser regnet aufs Mitteldeck in dichten Wolken herunter. Die Schwänze diesem Regen zugekehrt, sitzen die Hunde trübselig umher, ihre Decken triefen, und ab und zu läßt einer ein wehmütiges Winseln hören. Ihre Nahrung, ungefähr 5 Tonnen Hundekuchen, ist allenthalben in die Lücken zwischen dem Gepäck eingekeilt.
Wie wir es fertigbringen, an unserm Kajütentisch für 24 Offiziere Platz zu finden, ist mir noch unerklärlich. Meist sind zwar einige auf Wache, aber es ist trotzdem ein heilloses Gedränge.
2. Dez. Schon ein Unglückstag! Um 4 Uhr nachts frischte der Wind mit großer Heftigkeit auf. Das Schiff stampfte schwer und nahm über die Reling viel Wasser ein. Petroleumbehälter und Futterkisten begannen sich zu lösen, die Kohlensäcke wurden von den Sturzseen aufgehoben und drohten die Kisten zu zertrümmern; sie mußten wo anders verstaut werden, was eine ungeheure Arbeit machte. Von Stunde zu Stunde wurden Seegang und Wind stärker.
Das Schlimmste aber war die Meldung aus dem Maschinenraum: die Pumpen sind verstopft, und das Wasser steigt schon über den Feuerungsrost! Von diesem Augenblick an war der Maschinenraum der Mittelpunkt allgemeiner Aufregung. Oberheizer Lashly stand bis an den Hals in strömendem Wasser, um die Ansauger der Pumpen zu reinigen. Aber das Wasser stieg immer höher, zuletzt kam es an den Kessel und wurde bald so heiß, daß nichts übrig blieb, als das Feuer ausgehen zu lassen.
Die See ging höher als je; ein großes Stück des Geländers wurde von den Sturzwellen fortgerissen, und ein grüner Strom rollte über Reling und Achterdeck. Einige Petroleumfässer wurden über Bord geschwemmt, und im Maschinenraum strömte das Wasser beängstigend. Mitten hinein in diese Verwirrung plötzlich der furchtbare Ruf, daß durch die Ritzen des mit Kohlen gefüllten Achterraums Rauch emporsteige! Um das Feuer zu unterdrücken, wäre keine andere Hilfe gewesen, als die Luke zu öffnen, die Sturzseen hineinfluten zu lassen und so – das Schiff zum Sinken zu bringen. Es waren furchtbare Augenblicke, ehe wir die Gewißheit hatten, daß der Rauch in Wirklichkeit nur Dampf war von dem im Maschinenraum daneben befindlichen Schlagwasser.
Wir mußten nun versuchen, das Schiff auszuschöpfen. 4 Stunden lang gingen die Eimer von Hand zu Hand, vom untersten Feuerraum auf kleinen Eisenleitern zum obersten Deck hinauf, zusammen mit dem Tröpfeln der Pumpen, und wenn das Wasser auch nicht sank, so stieg es doch nur noch sehr wenig.
Unterdes kamen wir auf ein Mittel, um an das Saugwerk der Pumpen zu gelangen: wir schlagen ein Loch in das Schott des Maschinenraums, die Kohlen zwischen diesem und dem Wasserschacht der Pumpen werden entfernt und ein Loch in den Schacht gebrochen. Unsere Rettung wird ein halbes Wunder sein! Offiziere und Matrosen arbeiten verzweifelt, aber sie singen dabei, und keiner hat den Mut verloren. Ein Hund ist schon ertrunken, ein Pony ist tot und 2 andere werden auch nicht mehr lange mitmachen. Aber wenn wir nur des Wassers Herr werden, wird schon alles gut. Noch ein Hund, höre ich, ist eben über Bord geschwemmt worden – o weh! –
3. Dez. Gestern abend nahm der Wind langsam ab, und die Schöpfarbeit wurde mit 2 stündiger Ablösung ununterbrochen fortgesetzt. Es war eine unheimliche Nachtarbeit, bei dem heulenden Sturm, der Dunkelheit, den alle paar Minuten über das Schiff hinrollenden Sturzseen, ohne Maschinen und Segel, die Männer der Wissenschaft, schwarz von Maschinenöl und Schlagwasser, die überlaufenden Eimer weitergebend, ohne Rücksicht auf die Köpfe der Tieferstehenden; einige zogen es vor, nackt wie chinesische Kulis zu arbeiten, die andern hantierten in Trikotjacken, Schifferhosen und Seestiefeln. Alle 2 Stunden eilten die Abgelösten in ihre Koje, um zu ruhen; nach 2 Stunden schlüpften sie wieder in das triefend nasse Zeug und eilten aufs neue an die Arbeit. Und sie blieben Sieger: das Hin- und Herrauschen der Wellen auf dem Boden des Maschinenraums beim trüben Licht zweier Petroleumlampen wurde von Stunde zu Stunde geringer. Um 10 Uhr abends war das Loch ins Schott des Maschinenraums gebrochen – Leutnant Evans kletterte über die Kohlen hinüber in den Pumpenschacht hinein. Bald hatte er den Ansauger gereinigt, und ein Freudenruf begrüßte den ersten tüchtigen Wasserstrahl aus der Pumpe. Damit waren wir gerettet. Alle Mann arbeiteten nun abwechselnd an der Pumpe; obwohl sie sich noch mehrmals verstopfte, sank das Wasser im Maschinenraum gleichmäßig, und heute morgen konnte man sich wieder darin aufhalten. Am Vormittag wurde angeheizt, und jetzt segeln und dampfen wir schon in bester Ordnung südwärts.
Unser Verlust ist nicht so groß, wie ich fürchtete, aber doch ernst genug. Abgesehen von der Zertrümmerung der Reling, haben wir 2 Ponys, nur einen Hund, 300 Liter Petroleum, 10 Tonnen Kohlen und einen Spiritusbehälter eingebüßt. Der dritte Pony hat sich wieder erholt.
5. Dez. Der Gedanke, Kap Crozier, die Ostspitze der Roßinsel, als Hauptstation zu wählen, wird hin- und her erörtert. Wir kämen früh dorthin, die große Eisbarriere ließe sich erreichen, ohne Spalten überschreiten zu müssen, und der Weg nach dem Pol führte von Anfang an genau südlich. Das milde Klima und das Fehlen der Schneestürme am Pinguinbrütplatz, die Gelegenheit, das Brüten der Kaiserpinguine zu studieren, das Interesse an der Geologie des Mount Terror, die Nähe brauchbarer Steine zu Schutzmauern usw., alles spricht dafür.
7. Dez. Eissturmvögel, antarktische Sturmschwalben und Raubmöwen umflattern das Schiff, und gestern zeigten sich Delphine; dunkle, finster blickende Albatrosse und Seeschwalben begegnen uns unaufhörlich. Gestern abend trieb weit hinten im Westen der erste Eisberg vorüber und glänzte hin und wieder auf, wenn die Sonne aus den Wolken hervortrat.
9. Dez. Heute früh 6 Uhr wurden Eisberge und Packeis gemeldet, und bald gerieten wir in einen Strom von kleinen Eisschollen. Wir steuerten deshalb nach Süden und Westen und konnten ziemlich geraden Kurs halten, obgleich wir 6 weitere Eisströme durchquerten, von denen aber keiner mehr als 300 Meter breit war. Mehrere schöne, meist tafelförmige Eisberge begegneten uns; ihre Höhe ging bis zu 25 Meter; einer kam so dicht heran, als, ob er kinematographiert werden wollte.
Wir beobachteten in diesen Tagen zahlreiche Riesenwale, die als die größten Säugetiere gelten. Zuerst sieht man einen kleinen dunkeln Höcker auftauchen; gleich darauf spritzt eine Fontäne grauen Nebels ungefähr 2 Meter hoch senkrecht auf. Nun verlängert sich der Höcker, und empor wälzt sich ein ungeheuer großer, schwarzgrauer runder Rücken mit einem schwachen Wulst längs des Rückgrats und einer kleinen hakenähnlichen Rückenflosse. Dann verschwindet das Tier wieder in der Tiefe.
Am Abend zeigt sich das Packeis in bedenklich großen Feldern. Der Abendhimmel war wundervoll; die Sonne trat von Zeit zu Zeit aus den Wolkenlücken hervor und beleuchtete mit blendendem Glanz ein Eisfeld, einen steil abfallenden Eisberg oder ein Fleckchen blauer See, und Sonnenlicht und Schatten jagten sich beständig über unsere Bahn. Sollte das Packeis dick werden, so lasse ich das Feuer unter den Kesseln ausgehen und warte, bis sich das Eis wieder öffnet; lange kann es auf diesem Breitengrad nicht geschlossen bleiben.
Sonntag, 11. Dez. 1910. Das Eis schloß sich während der Nacht enger zusammen, und um 6 Uhr erschien jeder Versuch, vorwärts zu kommen, aussichtslos; wir ließen also das Feuer ausgehen. Die Eisfelder sind fast 1 Meter dick, sehr fest und eng aneinander gedrängt.
12. Dez. Das Packeis war heute morgen etwas lockerer und eine langgezogene Dünung deutlich bemerkbar. Die Eisfelder, die gestern fest aneinander gepreßt waren, berührten sich nur noch mit den Ecken. Um Mittag haben wir wieder angeheizt und machen gute, aber ungleichmäßige Fortschritte. Bald dünne Eisfelder, die sich leicht zerbrechen lassen, bald ältere, die uns völlig lahm legen; hin und wieder auch ein massiger aufgepreßter Eisberg.
Ich sprach heute mit Wright, einem unserer Geologen, über die merkwürdige Erscheinung, die für Polarreisen von großer Wichtigkeit ist: emporgepreßtes Meereis scheidet, wenn es vom Seewasser nicht mehr benetzt wird, sein Salz vollständig aus; durch Schmelzen kann man daraus Süßwasser zum Trinken und zum Füllen der Dampfkessel gewinnen.
13. Dez. Einen so schnellen, immerwährenden Wechsel aller Aussichten habe ich noch nie erlebt. Eisschlamm, in dem das Schiff unter vollen Segeln 7 bis 9 Kilometer in der Stunde machte, wechselte mit festem Eis, gegen das aller Kampf vergeblich war. Dann kamen offene Kanäle oder nur leicht überfrorene Rinnen, aber mit einemmal saßen wir wieder in mächtigen Feldern mit höckrigem Buchteis, das 2 bis 3 Meter über Wasser emporragte und tief hinabreichte. Schließlich konnten wir nicht mehr von der Stelle und mußten die Feuer ausgehen lassen. Was soll unter diesen Umständen aus unsern Kohlenvorräten werden?
14. Dez. Vom »Krähennest« (der Ausgucktonne) aus ist an mehreren Selten offenes Wasser zu sehen, im übrigen aber ist die Szene unverändert: ödes, hügeliges Packeis. Das Schiff dreht sich mit dem Wind, und die Eisfelder ringsum sind in langsamer, verstohlen schleichender Bewegung. Dabei haben wir prächtigsten Sonnenschein und waren alle mit Schneeschuhen auf dem Eisfeld, an dem wir uns am Morgen verankerten. Es war so heiß, daß wir ein Kleidungsstück nach dem andern ablegten und einige Zeit nackt bis zum Gürtel umherliefen.
17. Dez. Gestern morgen setzte Wind aus Nordosten ein und brachte Schnee, leichten Hagel und Regen, der bis heute währte. Es ist das erstemal, daß ich jenseits des Südpolarkreises Regen erlebe. Das Eisfeld, auf dem wir Schneeschuh liefen, hat sich zerteilt; wir zogen daher gestern die Eisanker wieder ein, und mit Hilfe der Segel drängte sich das Schiff langsam etwa 6 Kilometer vorwärts. Schließlich mußten wir aber wieder an einem ungeheuern Eisfeld anlegen, und heute haben wir uns kaum von der Stelle gerührt. Eisberge, die uns im Lauf der Woche schon alte Freunde wurden, setzen sich in Bewegung, einer hat sich genähert und uns fast umkreist. – Heute abend sahen wir den ersten Kaiserpinguin.
19. Dez. In der Nacht drängten wir uns durch einige der ungeheuersten Eisfelder, die ich je gesehen habe. Die Preßeisrücken ragten 7 Meter über Wasser empor, das Eis ging also mindestens 9 Meter in die Tiefe. Später kamen wir in lange Wasserkanäle und machten Fortschritte. Aber der Ausblick heute morgen ist der schlimmste bisher: ringsum mächtiges, aufgepreßtes Packeis, soweit das Auge reicht! Es ist wirklich Pech!
Gegen ½ 5 kamen wir an einem halben Dutzend tafelförmiger Eisberge von 5 bis 6 Meter Höhe vorüber. Jenseits dieser Berge, wurde dann gemeldet, gebe es kein offenes Wasser mehr! Was nun? Mich packte die heftigste Unruhe. Ich sah uns schon endlose Wochen im Eis gefangen und erst in weit vorgeschrittener Jahreszeit wieder frei werden. Um so erfreulicher war gegenüber dieser trübseligen Vorstellung die Wirklichkeit. Das Eis ringsum erwies sich als kaum 1 Meter dick, Wassertümpel standen darauf, und allenthalben öffneten sich Durchfahrten mit losem Packeis. Welch eine Erleichterung! Es schien mir fast wie eine Erlösung aus langer, grauenhafter Gefangenschaft.
Wir sahen heute morgen einen jungen Kaiserpinguin; als wir ihn zu fangen versuchten, tauchte ein Walfisch mit einer über 1 Meter hohen, säbelförmigen Rückenflosse dicht neben dem Schiff auf; Dr. Wilson, der Leiter des wissenschaftlichen Stabes meiner Expedition, hält ihn für eine neue Art. Am Abend beobachteten wir 2 Seeleoparden; der eine machte kurze, lässige Tauchversuche unter den Eisfeldern und hatte schöne, schlängelnde Bewegungen.
20. Dez. Das Eis hat sich abermals geschlossen, und wir haben das Feuer ausgehen lassen müssen! Die Pressungen haben sich wieder verstärkt. Eisberge waren vorige Nacht nur wenige sichtbar, aber heute erscheinen sie wieder. Meine größte Sorge sind augenblicklich die Kohlen – wir reißen entsetzliche Lücken in unsere Vorräte.
21. Dez. In der Nacht waren wir an zwei große Eisberge beängstigend nahe herangetrieben, und im Südosten schien offenes Wasser zu sein. Wir heizten deshalb an und entgingen der drohenden Gefahr. Aber jetzt sitzen wir wieder fest, und auf unserer Leeseite zeigen sich neue Eisberge. Wir dürfen daher das Feuer nicht ausgehen lassen.
Wilson versuchte auf dem Eisfeld einige Pinguine zu fangen. Er legte sich der Länge nach auf den Boden und begann zu singen, worauf die Tiere eilig auf ihn zuwatschelten; aber sobald er aufhörte, machten sie sich wieder davon. Gesang übt auf sie die größte Anziehungskraft aus, Meares mit seiner vollen Stimme lockt sie am besten.
22. Dez. Alles ist unverändert, nur haben wir das Feuer ausgehen lassen, obgleich sich Eisberge dem Schiff nähern. Wir dürfen keine Kohlen mehr vergeuden. Auch mit den Ponys geht es beständig bergab.
23. Dez. Gestern Abend gegen 10 Uhr wurde der Wind gelinder, und das Schiff drehte sich um seinen Anker. Wir setzten die Segel auf dem Fockmast und drangen ½ Kilometer nordwärts vor, aber dann war es wieder aus. Der Wind trieb uns dicht an einen großen Eisberg heran, aber mit Hilfe aller Segel bewegte sich die »Terra Nova« mit dem Packeis langsam um ihn herum. Dann ließ das Pressen des Eises nach, und wir glitten dicht neben dem Berg in offenes Wasser hinaus. Ich befahl deshalb, anzuheizen. Ob wir wohl zum Heiligen Abend aus dem Packeis heraus sind?
24. Dez. Um 4 Uhr hörten alle fahrbaren Rinnen auf, um 7 Uhr lagen wir vor dem mächtigsten Eisfeld, das wir bisher sahen, und es blieb nichts übrig, als das Feuer abermals ausgehen zu lassen.
Sonntag, 25. Dez., Weihnachten. Wir sind regelrecht gefangen und können weder unter Segel noch unter Dampf einen Schritt vorwärts. Wieder heißt es Geduld und abermals Geduld! Doch sind wir hier wenigstens in ziemlicher Sicherheit. Das Eis ist so dünn, daß sein Pressen uns nichts anhaben kann, und Eisberge sind nur in weiter Ferne zu sehen.
Trotz unserer traurigen Lage ist die Offiziersmesse zur Weihnachtsfeier mit bunten Fahnen geschmückt, und heute morgen war allgemeiner Gottesdienst, wobei die Kirchenlieder kräftig über das Eis schallten. Unser Abendessen bestand aus Tomatensuppe, gedämpfter Pinguinbrust als Vorgericht, Rinderbraten, Plumpudding, kleinen Pasteten, Spargel, dazu Champagner, Portwein und Liköre, ein wahres Festmahl. 5 Stunden lang hat die Gesellschaft unter fröhlichen Gesängen bei Tafel gesessen. Die Mannschaft hatte ihr Festessen mit ungefähr den gleichen Speisen um Mittag, aber mit Bier und etwas Whisky, und schien ebenfalls sehr vergnügt.
Heute abend setzte sich eine Skuamöwe auf den Rand einer Eisscholle, auf der sich verschiedene Pinguine zur Nachtruhe vorbereiteten. Zwischen diesen begann eine lärmende Beratung, deren Gegenstand offenbar die Möwe war. Endlich faßten sie sich ein Herz und rückten in geschlossener Reihe auf sie los. Ein paar Schritte vor ihr drückte sich der vorderste Pinguin beiseite, und so sehr die andern auch nachdrängten, scheute sich immer wieder der an der Spitze, als erster an den Feind heranzugehen. Die Möwe saß auf einem Eisblock und tat sehr gleichgültig. Als schließlich die Pinguine sich immer näher herandrängelten, flatterte sie auf die andere Seite der Angreifer. Diese machten kehrt und wiederholten ihre frühere Taktik, bis die Skua schließlich endgültig fortflog. Die schüchternen Protestbewegungen der Pinguine verrieten deutlich bestimmte Gemütszustände, die sich ohne weiteres in menschliche Empfindungen übersetzen ließen.
Auf der andern Seite des Schiffes zankten sich mehrere Pinguine um einen kleinen Eisblock, der noch dazu einen sehr unsichern Sitzplatz bot. Es war ungemein unterhaltend, wie jeder Vogel sich aufs äußerste anstrengte, den Platz zu behaupten, der eine den andern fortstieß, der glückliche Sieger, sobald er den Gipfel erklommen, sofort wieder das Gleichgewicht verlor und der Kampf aufs neue begann.
28. Dez. Wir haben gestern und heute einige Kilometer gewonnen; wir müssen der Südgrenze des Packeises ganz nahe sein; ich habe deshalb befohlen, anzuheizen.
Heute morgen tauchten um das Schiff herum und unter ihm eine Anzahl Pinguine. Der Adeliepinguin ist gar zu drollig, ob er nun schläft, zankt oder spielt, ob er neugierig, erschrocken oder böse ist; Bewunderung aber erweckt er, wenn er in 3 bis 4 Meter Tiefe pfeilschnell umherschießt, sich wie ein Delphin in die Luft schnellt oder über die gekräuselte Fläche einer Wasserrinne hinschwimmt. Seine Geschwindigkeit wird vermutlich überschätzt, aber seine Geschicklichkeit im Drehen und Wenden und seine vollkommene Herrschaft über alle Bewegungen sind eben so schön wie erstaunlich.
Blickt man über die öde Fläche des Packeises hin, so kann man sich schwer vergegenwärtigen, wieviel fruchtbares Leben unmittelbar unter seiner Oberfläche gedeiht. Das schwimmende Pflanzenleben hier ist sogar viel reicher, als in den Meeren gemäßigter oder tropischer Zonen! Ein Schleppnetz füllt sich in kurzer Zeit mit Algen. Von diesen Algen leben Tausende kleiner Krebse, die am Rand jedes Eisfeldes schwimmen. Diese Krebse sind die Nahrung der Krabbenfresser-Seehunde, Pinguine, Eissturmvögel und Schneesturmschwalben und einer Unzahl großer und kleiner Fische, die wieder die Beute der Robben und Pinguine, Raubmöwen und Sturmvögel werden. Und dann die größeren Säugetiere. Da ist zunächst der lange, geschmeidige Seeleopard, der einen Pinguin oder zwei, vielleicht sogar einen jungen Seehund im Magen hat, denn er ist mit fürchterlichen Reißzähnen bewaffnet. Der gefräßige Schwertwal zeigt sich selten im Packeis, mehr an den Küsten. Überaus zahlreich sind aber hier draußen die andern Wale, vom Riesenwal bis zum kleineren Schnabelwal und andern, noch namenlosen Arten. Welche Unmasse Nahrungsstoff ist zur Erhaltung dieser Riesen erforderlich; wie ungeheuer groß muß also in diesem Meer der Vorrat an kleinen Seetieren sein! So tobt auch unter den riesigen Eisfeldern unaufhörlich der alte Kampf ums Dasein.
29. Dez. Endlich der langersehnte Umschwung! Wir dampfen zwischen Eisfeldern von geringem Umfang. Der Übergang vollzog sich urplötzlich. Einmal hatten wir in der Nacht eine Stunde lang gar kein Eis. Heute morgen durchbrachen wir große, zusammenhängende Eisfelder, und jetzt werden die Eisschichten immer dünner und lockerer – der beste Beweis für die Nähe offenen Wassers. Nordwind hilft uns vorwärts, der Himmel ist bewölkt, und leichter Graupelregen fällt. In der letzten Nacht hatten wir Glatteis; jede Planke und jedes Tau war von einer dünnen Eisschicht überzogen. Kein Zweifel mehr; unsere Gefangenschaft geht zu Ende!
Freitag, 30. Dez. 1910. Diese Nacht um 1 Uhr steuerte Leutnant Bowers die »Terra Nova« durch den letzten Eisstrom, und heute früh um 6 schwammen wir in offener See.
Am Vormittag legte sich der Wind, und um 11 Uhr ergab die Lotung 2030 Meter Tiefe – wir waren offenbar am Rand der kontinentalen Bank, die das Südpolarfestland bildet. Um Mittag brach die Sonne durch Wolken und Nebel. Vom Tauwerk blätterte die Eisschicht ab und fiel klirrend auf Deck, wo in der warmen Luft der Eisschlamm schnell verdunstete.
Vom Packeis befreit, waren wir während des Tages tüchtig weitergekommen, und ich berechnete schon, daß wir Neujahr am Kap Crozier sein müßten – da hob sich um 3 Uhr nachmittags ein regelrechter Südsturm. Abends um 8 schlichen wir nur noch vorwärts! Schon wieder ist das Glück uns entgegen! Der kurze, scharfe Seegang ist für die Ponys das reine Gift.
31. Dez., Silvester. Die vorige Nacht war entsetzlich! Schlafen konnte ich nicht, denn ich mußte immer an die schauderhafte Lage der armen Ponys denken. Am Morgen nahmen Wind und Seegang noch zu, und um 6 wurde wieder loses Eis vor uns gesichtet. – Also vorwärts durch den Eisstrom – bei so hohem Seegang ein gefährliches Beginnen; aber bald kamen wir an ein festeres Eisfeld, und als wir es glücklich hinter uns hatten, fanden wir zu unserer Überraschung verhältnismäßig glatte See. Noch eine Strecke weiter und wir legten bei in einer Art Eisbucht, wo der Seegang abgeschwächt war. Im Lauf des Tages aber wurde unsere Zuflucht unsicher, und abends mußten wir anderswo Schutz suchen. Glücklicherweise legte sich der Wind, und als sich um 10 Uhr die Wolken verzogen, lagen im Westen alle Berge des Süd-Viktoria-Landes im prächtigsten Sonnenschein vor uns!
Sonntag, 1. Jan. 1911. Um 4 Uhr morgens dampften wir langsam nach Südwesten; um 8 waren wir aus dem Eis heraus und steuerten südwärts. Wir hatten den ganzen Tag strahlenden Sonnenschein; noch jetzt, um 11 Uhr abends, sonnen sich die Leute bei gänzlicher Windstille und sitzen lesend auf Deck. Die Ponys sollen sich gut gehalten haben. Unsere heutige Lotung ergab 340 Meter, gegenüber 2030 vorgestern: wie schnell also die kontinentale Bank ansteigt!
3. Jan. Meine nächste Hoffnung ist bereits zuschanden geworden: Am Kap Crozier können wir nicht überwintern! Schon am Morgen, als bei schönstem Wetter das Land immer deutlicher vor uns aufstieg, ahnte mir nichts Gutes: Wind und Dünung ließen für die Landung die größten Schwierigkeiten befürchten. Bald nach Mittag kamen wir 9 Kilometer östlich von Kap Crozier an die Eisbarriere heran, die sich von dieser Ecke der Roßinsel aus weithin nach Osten bis König-Eduard-Land erstreckt. Sie war nicht höher als 18 Meter und vom »Krähennest« aus gut zu überblicken; nach dem Rande zu senkte sich ein wenigstens 2 Kilometer langer sanfter Abhang. Seit den Tagen der »Discovery«, mit der ich 1902/3 hier überwinterte, hat sich hier nichts verändert; wir sahen unsere alte Posthausstange noch so gerade stehen, wie vor 8 Jahren, und haben alles mit unsern alten Photographien verglichen: nichts ist anders geworden.